Editorial

Noch vor hundert Jahren war das Tessin ein armer Kanton. Viele Menschen wanderten aus, nach Kalifornien oder Australien. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte der wirtschaftliche ­Aufschwung ein, mit dem Tourismus als Motor. ­Lugano etablierte sich als Bankenplatz; doch seit das Bankgeheimnis Vergangenheit ist, läuft es dort nicht mehr so rund.

Das Tessin versteht man besser, wenn man sich die Geschichte vor Augen hält. Erst Napoleon setzte die Selbstständigkeit der Region gegen die Alte Eidgenossenschaft durch. Er schuf 1798 einen Kanton Lugano und einen Kanton Bellinzona. 1803 entstand der Kanton Tessin, benannt nach dem Fluss.

Bellinzona, Lugano und Locarno wechselten einander als Regierungssitz im Turnus ab. Erst 1878 wurde Bellinzona Hauptstadt.

Nun wird in wenigen Monaten der Gotthard-Basistunnel eröffnet. Dieses Heft fokussiert nicht auf die technische Meisterleistung, sondern auf die Auswirkungen dieses Bauwerks auf das ­Tessin. So viel ist klar: Das neue Verkehrs­angebot führt nicht automatisch zu Entwicklung. Erst in Kombination mit Eigeninitiative und neuen Ideen lässt es sich in Wert setzen. Und wenn die ­Raumplanung nicht aktiv auf die neue Situation ­reagiert, sind weitere Fehlentwicklungen vor­programmiert. Für den Beobachter aus der Deutsch­schweiz wirkt der Südkanton wie gelähmt; die Alltagsprobleme dominieren. Die neue Alpentransversale könnte dem Tessin wichtige Impulse verleihen. Dafür muss aber ein Ruck durch die Tessiner Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ­gehen. Dem Tessin (und auch der Schweiz) stehen spannende und entscheidende Jahre bevor.

Lukas Denzler, Daniela Dietsche

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Fleissarbeit im Industriequartier

11 PANORAMA
Bücher | Der Weg zu mehr Raumgeborgenheit | Erfolg oder Misserfolg? | Gelungene Revision

17 VITRINE
Neues aus der Bauindustrie | Ein Meisterstück der Ingenieurskunst

19 VIELSEITIGE ERWATUNGEN AN DEN PARK
Echo auf die Charta «Faire Honorare» | SIA-Register Bitumenbahnen | Reformstau im Beschaffungsrecht | Innovationen im Energiebereich

23 VERANSTALTUNGEN

24 DIE CHANCE PACKEN
Lukas Denzler
Im Dezember 2016 wird der Gotthard-Basistunnel eröffnet. Wir haben Stimmen und Stimmungen im Tessin gesammelt.

29 DER GOTTHARDPENDLER
Marco Bettelini
Manno–Regensdorf retour: Ein Pendler berichtet.

30 «WIR TESSINER BRAUCHEN EINE VISION»
Lukas Denzler, Daniela Dietsche
Der Tessiner Architekt Michele Arnaboldi fordert eine um­fassende Planung und konkrete Projekte für die Südschweiz. Ein Gespräch.

35 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Die Chance packen

In 16 Monaten fahren die ersten Züge durch den Gotthard­-Basistunnel. Der Südschweiz eröffnen sich damit neue Chancen – doch eine positive Entwicklung stellt sich nicht automatisch ein. Bleibt das Tessin passiv, droht ihm die Marginalisierung.

Die Fahrt in den Süden hatte schon immer ihren Reiz – und hat ihn bis heute. In Airolo steigt jeweils die Spannung: Wie wird sich das Wetter auf der Alpensüdseite präsentieren? Weiter fährt der Reisende durch die Ebene von Ambri-Piotta. Anschliessend windet sich die Bahn durch den Dazio Grande, eine schluchtartige Verengung ähnlich der Schöllenen-Schlucht zwischen Göschenen und Andermatt. Hier kassierten einst die Urner Landvögte Zölle. Der Ticino hat sich tief in die Felsen eingegraben – nur sieht der Bahnreisende kaum etwas davon, weil der Zug in zwei Kehrtunnels den Höhenunterschied überwindet. In Faido sind die Überreste der Alptransit- Baustelle noch erkennbar: Neben Sedrun war Faido der zweite Ort mit einem Zugangsstollen zum Gotthard-Basistunnel. Nun steht hier ein neues Unterwerk der Schweizerischen Bundesbahnen, das die Stromversorgung der Züge im Tunnel sicherstellt. Bald erreicht man die nächste Geländestufe, die Biaschina mit der wohl imposantesten Brücke der Gotthardautobahn (vgl. Abb. rechte Seite). Auf hohen Pfeilern überspannt sie den Talboden.

Als Carl Spitteler im Auftrag der Gotthardbahn 1897 seine Reiseerlebnisse im Buch «Der Gotthard»[1] veröffentlichte, gab es diese Brücke freilich noch nicht. Das Leitthema im Buch sind die Kulturen und Landschaften nördlich und südlich des Gotthards – ein literarisch gestalteter Reiseführer. Einige Jahre später wandte sich der inzwischen als Schriftsteller etablierte, aber noch nicht mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Spitteler dem angespannten Verhältnis zwischen Deutsch- und Westschweizern zu. Seine Sorge über das Auseinanderdriften der Landesteile gipfelte 1914 in seiner berühmten Rede «Unser Schweizer Standpunkt».

Beginn einer neuen Epoche?

Seither sind mehr als 100 Jahre vergangen, und demnächst wird ein neues Verkehrsprojekt von nationaler und europäischer Bedeutung in Betrieb gehen. Am 11. Dezember 2016 wird es Realität: In Erstfeld werden die ersten Züge in den Bauch des Gotthardmassivs eintauchen. Das Kirchlein von Wassen wird man nicht mehr dreimal sehen, die Leventina komplett unterfahren. Das Licht des Südens erblickt man in Bodio, auf einer Höhe von 300 m ü.?M. – rund 100 m tiefer, als Zürich liegt. Ist man an der neuen und markanten SBB-Verkehrsleitzentrale Süd in Pollegio vorbei, treten nach wenigen Minuten die Burgen von Bellinzona ins Blickfeld.

Beginnt mit der Inbetriebnahme des Gotthard- Basistunnels wirklich eine neue Epoche, so wie es 1882 nach der Eröffnung des Eisenbahntunnels von Göschenen nach Airolo unbestrittenermassen der Fall war? Für Siegfried Alberton, Ökonom an der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi), ist das etwas hoch gegriffen. «Der neue Tunnel bringt uns mit kürzeren Fahrzeiten ein besseres Verkehrsangebot. Aber vor dem alten Eisenbahntunnel gab es ausser der Postkutsche nichts.»

Was könnte sich ab 2016 ändern? Und was wäre zu tun, damit der Südkanton die Chance, die sich ihm mit der neuen Alpentransversale (Alptransit)[2] nun bietet, auch ergreift? Die Bedeutung von Alptransit habe man im Tessin noch zu wenig erkannt, meint Fabio Giacomazzi. Der Architekt und Raumplaner aus Manno bei Lugano präsidiert den Rat für Raumordnung, der das Bundesamt für Raumentwicklung und das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) berät. Im Tessin stünden im Moment vor allem die Alltagsprobleme mit den Grenzgängern, den verstopften Strassen und dem starken Franken im Vordergrund. Auch die Nachwehen der raumpolitischen Entscheide auf Bundesebene – die Revision des Raumplanungsgesetzes und die Zweitwohnungsinitiative – sorgten für Verunsicherung.

«Das absorbiert viel Energie, und als Folge davon fehlt auf politischer Ebene der Raum für strategisches Denken.» Doch gerade das wäre nötig, um die Chancen, die sich mit der neuen Alpentransversale ergeben, nutzen zu können, ist Giacomazzi überzeugt.

Kein zentraler Bahnhof im Tessin

Stärker noch als die verkürzten Reisezeiten nach Zürich und Mailand beeinflusst im Moment der Regionalverkehr das Tessin. Vor zehn Jahren wurde mit Tilo (Treni Regionali Ticino Lombardia) das Angebot des öffentlichen Verkehrs ausgebaut. Mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels im Jahr 2020 wird die Fahrzeit von Bellinzona nach Lugano nur noch zwölf Minuten betragen, diejenige von Locarno nach Lugano noch 22 Minuten. Das wird in diesen Agglomerationen einen Entwicklungsschub auslösen. Laut Giacomazzi, der auch Gemeindepräsident von Manno ist, wäre gerade in den Agglomerationen eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden wichtig. Ein aktuelles Projekt ist etwa das Tram im Grossraum Lugano. Die Siedlungsentwicklung ist in geordnete Bahnen zu lenken; die Fehler der Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen.

Letztlich geht es um den Übergang in eine urbane Gesellschaft – die Metapher dafür ist die Città Ticino (vgl. TEC21 13/2010 «Ticino Città diffusa»). Schon vor 20 Jahren existierten hierzu Visionen. So sollte etwa bei Camorino in der Magadinoebene der neue zentrale Tessiner Bahnhof entstehen. Mit Ausnahme vom Grenzort Chiasso wäre die Stazione Ticino der einzige Halt der neuen Alpentransversale im Tessin gewesen – vom Knoten Camorino wären die Reisenden mit Tilo in kürzester Zeit weiter nach Bellinzona, Locarno und Lugano gelangt. Bellinzona wäre zudem in einem Tunnel umfahren worden. Doch diese Projekte sind zurückgestellt. Die Etappierung der Neat hat der ursprünglichen Vision die Flügel gestutzt. Remigio Ratti, ehemaliger Tessiner Nationalrat und emeritierter Professor für Regionalwissenschaften an der Universität Freiburg, war Mitglied der Arbeitsgruppe «Alptransit Ticino», die unter Leitung des Tessiner Architekten Aurelio Galfetti in den 1990er-Jahren über die Zukunft des Bahnkorridors und der regionalen Verkehrserschliessung im Tessin nachdachte.[3] Die vom Tessiner Kantonsparlament eingesetzte «Gruppo di riflessione» sollte das von den SBB ausgearbeitete Projekt für die Hochgeschwindigkeitslinie durch den Kanton analysieren und die raumplanerischen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen abschätzen.[4]

Die Vorschläge – unter anderem die zentrale Stazione Ticino und die Fortsetzung von Alptransit von Lugano bis Chiasso – stiessen beim Kanton auf offene Ohren. Leider sei dies in der Planung aber nicht umgesetzt worden, sagt Ratti. Die Stazione Ticino habe im Moment keine Priorität. Das Land, das für deren Realisierung benötigt würde, sei aber immerhin gesichert. Vor fünf Jahren schlug Ratti zudem vor, dass der Kanton Tessin Alptransit zum zentralen Projekt für 2010 bis 2020 erklären sollte. «Als Leitbild für Politik und Wirtschaft ist das aber leider nicht oder nur bruchstückhaft und nur von einzelnen Personen aufgenommen worden.» Seiner Meinung nach fehlt der Wille, Alptransit als Zugpferd für Folgeprojekte zu sehen. Visionen zur territorialen Entwicklung seien rasch zu konkretisieren. Diese würden Gestalt annehmen, sobald sie in Projekte mündeten. Als positive Beispiele nennt Ratti die SBB-Projekte bei den Bahnhöfen von Bellinzona, Lugano und Mendrisio.

Das grösste Risiko sieht Remigio Ratti derzeit darin, dass das Alptransit-Projekt in Lugano endet. Eine Weiterführung bis Chiasso und Mailand sei aber zentral. Im Südtessin seien die Strassen mittlerweile derart verstopft, dass dem Ausbau der Bahn als echter Alternative zum Auto höchste Priorität eingeräumt werden müsse, sagt Ratti. Er selber benütze den Tilo fast jede Woche, wenn er nach Mailand reise. Die S-Bahn gehöre zur metropolitanen Mobilität.

Natur und Kulturlandschaft als Trumpf Vom Gotthard-Basistunnel und der besseren Erreichbarkeit profitieren nicht nur die Zentren. Auch für die Tessiner Täler gebe es Chancen, findet Ratti. Er denkt dabei unter anderem an die beiden Nationalparkprojekte im Centovalli, im Onsernonetal und in Teilen des Maggiatals (Parco Nazionale del Locarnese) sowie im Gebiet zwischen Lukmanier- und San-Bernardino-Pass (Parc Adula). Das sieht auch Fabio Giacomazzi so. Man habe im Tessin zwar kein Matterhorn, aber die enge Verflechtung von Natur und Kulturlandschaft der Tessiner Berge sei ein grosser Trumpf. Diese Chance gelte es zu nutzen.

Dass von Alptransit nicht nur der Tourismus profitieren kann, davon ist Siegfried Alberton überzeugt. Die Hochschulen und die noch junge Universität erlebten gegenwärtig einen Aufschwung. Auch als Forschungsstandort könnte sich die Südschweiz weiter etablieren; in Bellinzona etwa existiert bereits ein Zentrum für medizinische Forschung. Der Kanton und verschiedene Institutionen hätten die Chancen und Risiken von Alptransit analysiert. Nun gelte es, konkrete Projekte umzusetzen. «Gefragt ist jetzt vor allem die Initiative von Privaten und der Wirtschaft», sagt Alberton. Alptransit sei in erster Linie als Verkehrsprojekt geplant worden. Eine verbesserte Infrastruktur führe aber nicht automatisch zu Entwicklung.

Ökonomische Chancen und Risiken

2012 erschien ein Bericht über die ökonomischen Effekte von Alptransit auf das Tessin.[5] Auftraggeber war der Kanton. Die Autoren kamen zum Schluss, dass 700 bis 1400 neue Arbeitsplätze entstehen könnten; das wären 0.5 bis?1?% der heute Beschäftigten im Tessin. Zulegen dürfte besonders der Dienstleistungssektor einschliesslich des Tourismus. Regional zeigen sich Unterschiede. Profitieren werden besonders die Regionen von Bellinzona und Lugano, in geringerem Ausmass Locarno und Mendrisio. Die Tessiner Bergtäler – das Maggiatal, die Leventina und das Bleniotal – dürften laut der Studie hingegen kaum einen direkten Nutzen haben. Es wird vor allem entscheidend sein, ob es gelingt, diese Täler an den öffentlichen Verkehr anzubinden. Und in der Leventina stellt sich insbesondere die Frage, inwiefern das Zugangebot auf der Bergstrecke aufrechterhalten bleibt. Heute halten die Interregio-Züge in Airolo und Faido – die Leventina verfügt damit über gute Verbindungen nach Bellinzona und auf die Alpennordseite.

Das Tessin befindet sich in einer Sandwichlage – im Süden grenzt es an Italien, und so betont man gern das Schweizerische. Aber auch von der Deutschschweiz will man sich abgrenzen. In letzter Zeit habe das Tessin etwas zu sehr nach Süden geschaut, findet Siegfried Alberton. Durch die schnellere Verbindung zu den Städten im Schweizer Mittelland werde sich der Blick der Tessiner vielleicht wieder etwas mehr nach Norden richten. Und das sei nicht schlecht. «Die grosse Chance von Alptransit besteht vielleicht darin, dass die Südschweiz ihr Verhältnis zum Rest der Schweiz neu definieren kann», sagt Alberton. Wenn jedoch im Kanton selber keine Initiativen erfolgten, dann drohe lediglich mehr Transitverkehr – und, noch schlimmer, eine Marginalisierung innerhalb der Schweiz.

In diesem Sinn ist die neue Alpentransversale auch für die ganze Schweiz als Chance zu sehen. Nicht nur, weil die Menschen schneller vom Norden in den Süden gelangen und umgekehrt. Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels könnte auch bewirken, dass die Südschweiz wieder etwas stärker ins Bewusstsein der übrigen Schweiz rückt.

So ist es beispielsweise sehr erfreulich, dass sich die Stadt Zürich zusammen mit den Gotthardkantonen Schwyz, Uri und Tessin über die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land im Gotthard-Korridor im Zug der Neat-Eröffnung Gedanken gemacht hat. Die Ergebnisse sind im Rahmen des europäischen «Alpine Space»-Programms erarbeitet worden und in einem Bericht festgehalten.[6] Ende Juni war an der Expo in Mailand eine Veranstaltung im Schweizer Pavillon dem Thema gewidmet. Hoffentlich ist das erst der Anfang der Kooperation. Das 57 km lange Bauwerk durch den Gotthard würde dann nämlich nicht nur als Tunnel dienen, sondern auch als eine «Brücke» zwischen den Landesteilen wirken.


Anmerkungen:
[01] Carl Spitteler: Der Gotthard – Mit der Eisenbahn und zu Fuss über den Gotthard. Europa Verlag AG. Zürich 2014.
[02] Im Tessin wird die neue Alpentransversale durch den Gotthard oft Alptransit genannt. Damit ist die neue Verbindung mit den beiden Basistunnels gemeint – und nicht die AlpTransit Gotthard AG, die die Bauwerke im Auftrag des Bundes erstellt.
[03] Aurelio Galfetti et al.: Progetto di grande massima per una Alptransit Ticino. 1993.
[04] Paolo Fumagalli: Alptransit Gotthard – ein territorialer Entwurf für das Tessin. In: Werk, Bauen und Wohnen 87 (2000).
[05] Metron, RappTrans, consavis: Effetti economici della messa in esercizio di Alptransit in Ticino: opportunità e rischi – Rapporto finale. Republica e Cantone Ticino. 2012.
[06] Ecoplan, Institut für Betriebs- und Regionalökonomie Hochschule Luzern: Zürich – Gotthard – Mailand: Zusammenarbeit zwischen Stadt und Land im Gotthard-Korridor im Zuge der NEAT-Eröffnung. Stadtentwicklung Zürich, Kantone Schwyz, Tessin und Uri, 2015.

TEC21, Fr., 2015.08.07

07. August 2015 Lukas Denzler

Der Gotthardpendler

Im Tessin wohnen, in Zürich arbeiten und die Zeit im Zug für Sinnvolles nutzen: ein persönlicher Erfahrungsbericht

«Als mein Vater Ende der 1940er-Jahre im Kanton Glarus arbeitete, nahm die Rückfahrt zu seinem Wohnort Caslano den besten Teil eines Tags in Anspruch. Die Generation meiner Grossväter kam nur für die Festtage nach Hause. Die Heimfahrt des ersten Tessiner Bundesrats, Stefano Franscini, dauerte 1848 drei Tage. Mit der neuen Gotthardlinie wird die Fahrtzeit Lugano–Zürich um eine Stunde auf 1 Stunde und 45 Minuten reduziert. Das ist für Pendler gut machbar – und eröffnet ganz neue Perspektiven! Für den gelegentlich geschäftlich Reisenden ändert die verkürzte Reisezeit nicht viel. Das ergibt etwas längere Sitzungen bei den Kunden oder etwas kürzere Arbeitstage. Aber viele regelmässige Pendler treffen sich schon heute um 6:11 Uhr im ICN Lugano–Zürich. Einige schlafen, andere schwatzen, viele arbeiten. Ich gehöre seit sechs Jahren zu dieser Gruppe, seit ich eine Arbeitsstelle bei einem Ingenieurbüro im Grossraum Zürich angenommen habe. Mein Arbeitsplatz ist in Regensdorf, mit meiner Familie lebe ich in Manno bei Lugano. Ich fahre typischerweise zwei bis drei Mal pro Woche ins Büro und wenn möglich am selben Tag zurück. Das bedeutet: lange Arbeitstage, häufig kurze Nächte. Ich habe meine Wahl keinen Moment bereut. Die Reisezeit ist meine bevorzugte Zeit für die anspruchsvolleren Tätigkeiten: Studieren, Gestalten, Schreiben – und vor allem Denken. Im Büro in Regensdorf kann man mit Kollegen und Kunden zusammensitzen, arbeiten kann man im Büro zu Hause.

Spannend sind die Perspektiven für junge Berufseinsteiger aus dem Tessin. Nach dem Studium «jenseits der Alpen», vielleicht nach einer Dissertation und vielem mehr, ist man in der Regel gespalten. Die Bindung zum Heimatkanton ist manchmal gross. Der Ehrgeiz, in führenden Unternehmen tätig zu werden, die häufig keinen Sitz im Tessin haben, ebenfalls.

Mit der neuen Gotthardlinie bieten sich neue Optionen, um Persönliches und Berufliches optimal zu verbinden. Im Tessin leben und trotzdem eine grosse berufliche Flexibilität behalten. Den Traumjob angehen, Entwicklungsperspektiven nachgehen, die Nähe zur ETH aufrechterhalten, Weiterbildungen absolvieren, Neues schaffen. Neue Arbeitsmodelle und intelligente Unternehmer unterstützen diese Tendenz und er­öffnen neue Perspektiven. Die Südschweiz profitiert auch, indem sie durch die kürzeren Reisezeiten attraktiver wird als Arbeitsort für qualifizierte Arbeitskräfte, die nördlich der Alpen verwurzelt sind. Wie viele werden diese Chancen packen? Wie gross werden die gegenseitigen Vorteile für den mächtigen Wirtschaftsstandort Zürich und für meinen kleinen Ticino sein? Wichtig ist, dass die neue Chance wahrgenommen und konkret nutzbar wird. Dafür sind aber leistungsfähigere und zuverlässigere öV-Anbindungen im Tessin erforderlich. Ich zähle mich zu den Privilegierten, die den Wohnort auf Fahrraddistanz zum Bahnhof verlegen konnten. Das geht nicht jedem so, und praktikablere Lösungen sind erforderlich. Bisher gibt es nur einige Lösungsansätze.

Dieser persönlichen Sicht erlaube ich mir eine noch persönlichere Note anzufügen. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen hatte ich das Privileg, an der Planung des Gotthard-Basistunnels mitarbeiten zu dürfen. Dieses Bauwerk wird weltweit bewundert. Überall, wo ich beruflich oder privat hingehe, darf ich technische Herausforderungen und Lösungen erläutern. Es macht schon ein bisschen stolz, als Ingenieur dabei gewesen zu sein – und es freut mich, in 16 Monaten den Tunnel als Kunde nutzen zu dürfen. Ich freue mich unheimlich auf die neue Gotthardbahn. Den langsamen Wechsel der Jahreszeiten auf der schönen Berglinie werde ich zwar vermissen. Aber ich hoffe, dass meine beiden Töchter, zurzeit im Liceo, die neuen Chancen voll packen können!»

TEC21, Fr., 2015.08.07

07. August 2015 Marco Bettelini

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