Editorial

Reisen bildet. Und Bildung braucht Zeit. In unserem Fall fünf Tage Schiffsreise statt 75 Flugminuten. Oder anders: 1330 Seemeilen statt 600 km Landweg.

Anfang Mai begleitete TEC21 die Architekturkreuzfahrt des auslaufenden berufsbegleitenden Studiengangs Architektur der ZHAW auf der ­Mittelmeerroute Venedig – Split – Neapel –Rom –Porto-Vecchio – Nizza. Während die Rei­senden an diversen Buffets kulinarisch versorgt wurden, servierten die Referent/-innen Carlo Moos, Judith Hopfengärtner und Daniela Spiegel das intel­lek­tuelle Futter. Und sorgten so dafür, dass die 300 Studierenden und Architekten an Bord die Besichtigungsorte mit geschärftem Blick ­bewusst wahrnahmen.

Die geografischen und thema­tischen Koordinaten lieferte der «Razionalismo». Anhand dieses Kurses liessen sich die antiken römischen Stätten mit dem ­faschistischen ­Urbanismus verbinden – eine ­Navigation, die via Aldo Rossi bis in die Schweiz reichte.

Die Essenz dieser Reise möchten wir auch jenen nicht vorenthalten, die nicht dabei sein konnten; für die Teilnehmenden bietet die aktuelle Aus­gabe einen Rückblick auf die Kreuzfahrt.

Bedanken möchten wir uns bei den engagierten Mit­reisenden, die unsere On-Board-Redaktion mit ihren Eindrücken in Form eines Logbuchs be­reicherten. Einige ausgewählte Bilder finden Sie neben den komprimierten Vorträgen der Refe­renten im Schwerpunktteil dieses Hefts, ­weitere auf unserer Webseite www.espazium.ch. Und die Rubrik ­«Unvorhergesehenes» auf Seite 38 zeigt einen der Meldezettel im Original.
Viel Spass beim Cruisen!

Tina Cieslik, Danielle Fischer, Marko Sauer

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Urbanität am Stadtrand

11 PANORAMA
Wechsel an der Spitze des Verwaltungsrats | Tag für Tag mit Füssen getreten

16 VITRINE
Aus Holz und für Holz

17 BAULICHE MEILENSTEINE AN DER TRANSJURANE
SIA-Form Fort- und Weiterbildung | Trans­atlantische Win-Win-Situation

21 VERANSTALTUNGEN

23 CITTÀ DEL CUORE
Daniela Spiegel
Wie viel poli­tische Verantwortung trägt Architektur? Eine Untersuchung am Beispiel der Stadt Sabaudia.

27 DERTRAUM VOM «DRITTEN ROM»
Carlo Moos
Der italienische Faschismus brachte giganteske urbanistische Projekte hervor, vor allem aber überzog er das Land mit unfassbarer Gewalt.

30 ALDO ROSSI UND DIE SCHWEIZ
Judith Hopfengärtner
Die Zeit des grossen italienischen Architekten in der Schweiz war kurz, aber einflussreich – die Hintergründe.

AUSKLANG
32 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Città del Cuore

Die unter Mussolini erbaute Stadt Sabaudia bei Rom gilt als Manifest des Rationalismus. Ihre Entstehungsgeschichte zeigt, dass die spätere ­Rein­waschung der italienischen ­Moderne vom Vorwurf des ­Faschismus falsch ist.

Sabaudia ist der Traum aller Architekten, die sich für den italienischen Rationalismus begeistern – gelegen an der tyrrhenischen Küste, eingebettet zwischen zwei Seearmen hinter den Dünen, gestaltet mit weissem Travertin, römischen Ziegeln, hellgelbem und sienarotem Putz. Klar und puristisch in Form und Gestalt, klassisch modern, eben ein «gebautes Manifest des italienischen Rationalismus».

Geschaffen wurde Sabaudia 1933–1934, in der Blütezeit des italienischen Faschismus. Doch dieser Umstand tut der Faszination, die ihre städtebauliche Anlage wie auch ihre architektonische Formensprache nicht nur bei Fachleuten auslöst, keinen Abbruch. «Besser kann man eine Stadt nicht bauen!», lautete das Fazit der von der Exkursion zurückkehrenden Teilnehmer der Architekturkreuzfahrt. Schwer vorstellbar, dass ausgerechnet das faschistische Regime diese Modellstadt hervorgebracht haben soll. Visualisierung eines Terrorstaats – oder ein zufällig in dieser Zeit entstandenes, unpolitisches Städtebauprodukt? Was verbindet Sabaudia mit Mussolini?

Modern, italienisch, ländlich

Zunächst die Entstehungsumstände: Sabaudia wurde im Zug der Urbarmachung der pontinischen Sümpfe errichtet und war somit ein kleiner Baustein im umfangreichsten Landgewinnungsprojekt, das während der zwei Jahrzehnte der faschistischen Herrschaft durchgeführt wurde. Zwischen 1927 und 1939 wurden an die 840 km² Sumpfland südlich von Rom trockengelegt und für die Landwirtschaft parzelliert.

Dreitausend Siedlerstellen wurden geschaffen, die von Kolonistenfamilien aus Landesteilen mit starker Bevölkerungsdichte und hoher Arbeitslosigkeit bewirtschaftet werden sollten, hauptsächlich aus dem Veneto und der Emilia Romagna. Eine stadtfeindlich orientierte Ruralismuspropaganda begleitete das Projekt. Deshalb galten die fünf Neustädte Littoria (heute Latina, 1932), Sabaudia (1933–1934), Pontinia (1934–1935), Aprilia (1936–1937) und Pomezia (1938–1939), die zur Versorgung und Administration der Kolonisten errichtet wurden, nicht als Städte, sondern als «landwirtschaftliche Versorgungszentren». Gleichwohl wurden städtebaulich keine spezifisch ländlichen oder dörflichen Strukturen umgesetzt. Im Gegenteil fussen alle fünf Centri auf städtischen Konzepten, in denen traditionelle Elemente der römischen, mittelalterlichen, aber auch der Renaissance-Stadt verarbeitet wurden. Die Architektur war erstaunlich heterogen.

Dies lässt sich – neben architekturpolitischen Entwicklungen – auch mit der unterschiedlichen Herangehensweise erklären, mit der die beauftragten Architekten versuchten, die vom Regime geforderten Schlagworte modernità, italianità und ruralità umzusetzen.

Organisch und geometrisch angelegt

Die zweite Neustadt Sabaudia ging aus einem 1933 ausgelobten nationalen Wettbewerb hervor. Ihn gewann eine Gruppe von vier jungen Architekten und Ingenieuren, die sich auf Städtebau spezialisiert hatten. Planungskopf war Luigi Piccinato, der wie seine Kollegen Gino Cancellotti, Eugenio Montuori und Alfredo Scalpelli Absolvent der römischen Architekturhochschule war und zum Umkreis von Marcello Piacentini gehörte, dem einflussreichsten Architekten in faschistischer Zeit.Der städtebauliche Entwurf der Piccinato-Gruppe war auf die besondere Topografie des Orts zugeschnitten: Deutlich wird das Anliegen der Planer, die Stadt harmonisch in die Landschaft einzugliedern und zur Natur hin zu öffnen.

Die Siedlung für 5000 Einwohner war in drei Zonen organisiert: Den Kern bildete das administrative Zentrum mit den öffentlichen Bauten und einigen teilgewerblichen Wohnanlagen. Zum nördlichen Seearm hin wurde ein ausgedehntes Villengebiet projektiert, während die restliche Stadtfläche mit ländlichen Wohnungen bebaut werden sollte – vorgesehen als Zeilenbauten mit rückwärtigen Gärten zur Selbstversorgung. Allein das administrative Zentrum und eine Musterzeile der Villen wurden umgesetzt – ein Schicksal, das Sabaudia mit den anderen Neustädten teilte, da man versäumte, ausreichende Arbeitsmöglichkeiten für die potenziellen Einwohner mit einzuplanen.

Im Gegensatz zur organischen äusseren Form ist die Binnenstruktur des Centro geometrisch organisiert. Nach dem klassischen Cardo-Decumanus-Prinzip kreuzen sich zwei Hauptstrassen rechtwinklig im Zentrum der Siedlung. Dabei verspringt die Vertikalachse unmittelbar vor dem Hauptplatz, um einen Block weiter westlich über eine in den 1960er-Jahren errichtete Brücke den See zu überqueren. Das somit weitgehend verkehrsfreie Zentrum besteht aus einer Zweiplatzanlage aus Rathausplatz und quer dazu orientiertem Versammlungsplatz.

Städtebauliche Dominante ist das Rathaus, dessen seitlich vorgestellter Turm genau in die Blickachse gerückt ist. Der Turm fungiert dabei als trennendes und gleichzeitig zusammenfassendes Element der Plätze; sein zum Versammlungsplatz hin umlaufender Balkon, der ihn mit dem Rathaus verbindet, bot ausreichend Platz für die mannigfaltigen Manifestationen des Regimes – eine prominente Bühne für Parteifunktionäre und Honoratioren.

Symbole der Macht

Der Südteil des Versammlungsplatzes blieb unbebaut, um die Blickachse auf den Monte Circeo freizuhalten, der mit seinem eigentümlichen Profil das Wahrzeichen der Ebene ist. Ebenso unbebaut blieb der Bereich hinter dem Rathaus, sodass bei geöffneten Türen ein Durchblick bis zum See möglich war. Somit kam die Zweiplatzanlage in die kompositorisch und städtebaulich originelle Position, trotz ihrer zentralen Stellung in intensiver Kommunikation mit der Natur zu stehen. Diese Art der Platzkomposition hatte ein prominentes Vorbild in der Anordnung von Piazza und Piazzetta vor San Marco in Venedig.

Gegendominante zum Rathausturm ist der gleich hohe Kirchturm. Vervollständigt wurde die Blickachse durch den Turm des Parteigebäudes am Rathausplatz und den turmartig erhöhten Kasernenteil der Parteimilizkaserne, die am Ende des Versammlungsplatzes auf gleicher Linie mit der Kirche steht. Mit dieser Zusammenstellung ergab sich eine Blickachse, die die Machtstrukturen der italienischen Gesellschaft eindrucksvoll vor Augen führte. Die Vorbilder für diese Komposition sind die mittelalterlichen Geschlechtertürme Mittelitaliens, die den Machtanspruch ihrer Bauherren manifestieren. Die Übernahme traditioneller Motive entsprach der Entwurfslehre, wie sie in dieser Zeit die Städtebaulehrstühle der italienischen Architekturhochschulen vermittelten. Diese Lehre fusste zum Teil auf den Theorien von Camillo Sitte und Gustavo Giovannoni, der der Wettbewerbsjury für Sabaudia vorstand. Seine vom Durchgangsverkehr befreiten und von Kolonnaden flankierten Plätze, bei denen die Strassen an den Ecken einmünden, die zahlreichen inszenierten Blickachsen und die punktuell eingesetzten Höhendominanten zeugen davon. Trotz dieser traditionellen Motive im Städtebau galt und gilt Sabaudia als eine Beispielstadt der italienischen Moderne. Dies liegt vor allem an den Flachdächern, den geometrischen Formen und dem stark reduzierten Baudekor.

Doch wie der städtebauliche Entwurf weist auch die Architektur der Piccinato-Gruppe italienische Motive auf. Dazu gehört der Einsatz von Repräsentationselementen wie Freitreppen, Portalen und Baudekor, die den Rang der Gebäude hervorheben. Die daraus entstehenden Hierarchien werden durch traditionelle Materialien wie Travertin, Backstein und farbigen Putz unterstrichen. Darüber hinaus finden sich auch deutlichere Zitate aus der italienischen Architekturgeschichte, zu sehen etwa an der Kirchenfassade, deren Travertinverkleidung eine für den Sakralbau seit dem Mittelalter typischen Bänderung zeigt. Wie bei den städtebaulichen Zitaten handelte es sich jedoch auch hier nicht um getreue Kopien, sondern um die Verwendung italienischer, in eine eigene moderne Formensprache übersetzte Motive. Dahinter stand die Idee, den aus unterschiedlichen Landesteilen stammenden Bewohnern eine moderne, aber vertraute panitalienische Heimat zu schaffen. So brachten die Architekten den Wunsch des Regimes nach italianità und modernità miteinander in Einklang.

Zweifelhafte Reinwaschung

Die unbestrittene städtebauliche wie architektonische Qualität Sabaudias führte – mit prominenten Zeugnissen des italienischen Rationalismus wie der Casa del Fascio in Como (Giuseppe Terrani, 1936) oder dem Bahnhof von Florenz (Giovanni Michelucci, 1927) – in der Nachkriegszeit zur Reinwaschung der italienischen Moderne vom Faschismus. Dies gelang, indem allein der Neoklassizismus als faschistische Staatsarchitektur definiert wurde, dessen Monumentalstil besser zu einer Diktatur zu passen schien. Ungeachtet der Tatsache, dass die Rationalisten stets darum gekämpft hatten, das architektonische Gewand des Faschismus entwerfen zu dürfen, und dies mitunter erfolgreich, wie zahlreiche Bauten bezeugen, wurde den Inkunabeln des Rationalismus von anerkannten Architekturhistorikern wie Bruno Zevi eine antifaschistische Grundhaltung unterstellt.

Heute ist die Stadt stolz auf ihr bauliches Erbe, denn ihre in der landeseigenen Bautradition verwurzelte Moderne ist einzigartig und gelungen. Und doch bleibt ein unangenehmer Beigeschmack. Der rührt nicht nur aus der Vergangenheit, die sich in unerwarteten Details offenbart: faschistische Parteisymbole an Laternen und Schachtdeckeln, pathetische Inschriften, unter anderem am Rathausturm, die Mussolini als «Erlöser» des Sumpfs preisen, oder eine Darstellung des Duce im Fassadenmosaik der Kirche, die ihn im Hintergrund der Verkündigung Mariens – als Werkzeug des göttlichen Willens – bei der Getreideernte zeigt. Das Unbehagen erwächst aus der Unbeschwertheit, ja Unreflektiertheit, wie mit diesem Erbe umgegangen wird. Die spärliche touristische Information bleibt unpolitisch, fokussiert auf Schlagworte wie «gebaute Metaphysik», «Symbolstadt des Rationalismus» und Ähnliches. Kein erklärender Kommentar, weder zur Mussolini-Darstellung an der Kirche noch zur Einweihungsinschrift, die im Übrigen nach dem Krieg entfernt worden war und erst 1984 zum 50-jährigen Jubiläum rekonstruiert wurde. Sabaudia könnte sich einen reflektierteren Umgang leisten, vorausgesetzt, es gäbe den politischen Willen dazu. Die Kraft des Regimes äusserte sich eben nicht nur in übergrossen, antikisierenden Gesten, sondern, umso verführerischer, in überzeugenden Visualisierungen mussolinianischer Konsenspolitik, die in Form, Massstab und Gestaltung dem Individuum entgegenkam.

Die nicht nur für Architekten und Architekturhistoriker schwer verdauliche Mesalliance zwischen dem «schönen» italienischen Rationalismus und dem «bösen» faschistischen Regime, wo könnte man sie besser erklären als in Mussolinis «città del cuore»?

TEC21, Fr., 2015.07.24

24. Juli 2015 Daniela Spiegel

Der Traum vom «Dritten Rom»

Die Faszination für Mussolinis urbanistische Projekte ist ungebrochen. Diese lassen sich aber nicht ­losgelöst von der politischen Ideologie betrachten – der ­Faschismus zeichnete sich vor allem durch Gewalt aus.

Ein Hauptkennzeichen des italienischen Faschismus (und aller nachfolgenden Faschismen) war die Gewalt. Das zeigte sich bereits zu Beginn, als sich aus der 1919 gegründeten Bewegung, dem «gegen alles» gerichteten «anti-partito», 1921 der Partito Nazionale Fascista (PNF) entwickelte. Er wurde zur Speerspitze des Bürgertums gegen den Bolschewismus und schickte seine Schlägertrupps, die «Schwarzhemden», gegen die Sozialisten. Benito Mussolinis Machtergreifung im Herbst 1922 gelang aber nicht durch die Eroberung des Staats mit dem später hochmythisierten «Marsch auf Rom», sondern aufgrund des Versagens der Institutionen, vor allem der Monarchie: Im entscheidenden Moment weigerte sich König Viktor Emanuel III., das Notstandsdekret von Ministerpräsident Luigi Facta zu unterzeichnen. Der Weg nach Rom war offen, die Armee blieb untätig.

Charakteristisch für die 1920er-Jahre, nach einer ersten Krise wegen der Ermordung des Sozialistenführers Giacomo Matteotti durch Faschisten 1924, war die Installierung des «regime totalitario». Die mythische Konzeption von Politik als Kreuzzug gegen den inneren Feind wurde in die Tat umgesetzt. Damit einher ging eine heterogene, aber eigenständige Ideologie, deren Ziel ein kriegerischer neuer Mensch war, der «uomo nuovo fascista». Auffallend in diesen Jahren war der Einfluss auf den frühen Nationalsozialismus in Deutschland. Dieser war insofern folgenreich, als die Hitlerbewegung nach ihren faschistischen Anfängen eine explosive und zuletzt massenmörderische Rassen- und Raumlehre entwickelte, die ihrerseits auf den italienischen Faschismus rückwirkte und diesen radikalisierte.

Die anschliessenden 1930er-Jahre standen im Zeichen eines zwischen Zwang und Freiwilligkeit wechselnden «consenso». Dieser nahm seinen Anfang mit der Aussöhnung des faschistischen Staats mit der katholischen Kirche in den Lateran-Verträgen von 1929 und gipfelte 1936 in der Ausrufung des Mittelmeer-Imperiums. Der Konsens begann aber wegen der gleichzeitig einsetzenden und sich dann verschärfenden Radikalisierung des Regimes rasch zu bröckeln, was sich anlässlich der rassenpolitischen Wende von 1938 abzeichnete. Der Kriegseintritt 1940 und die militärische Misere besiegelten sein Zerbrechen.

Brutaler Rassismus

Der italienische Faschismus war immer rassistisch und spitzte seine im Lauf der Zeit verschärfte Rassenpolitik zuletzt in einer sich am Nationalsozialismus orientierenden Wende gegen die Juden antisemitisch zu. Ein genuin faschistischer Rassismus hatte sich sofort nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber den neu zu Italien gekommenen sprachlichen Minderheiten gezeigt: den Deutschen in Südtirol und den Südslawen (Slowenen und Kroaten) in der Venezia Giulia.

Während Erstere zwangsitalianisiert wurden, spielten sich den Südslawen gegenüber brutale Niederhaltungsmechanismen ab. Sie nahmen die Methoden der italienischen Besatzer im zerschlagenen Jugoslawien während des Zweiten Weltkriegs vorweg und standen denjenigen der Deutschen in nichts nach.

Rassistisch war auch die in den Kolonien betriebene Politik gegenüber der einheimischen Bevölkerung, die zu einem Apartheidsystem führte mit dem Ziel, jede «Verunreinigung» des Bluts der italienischen «Herrenrasse» zu verhindern. Die antisemitische Wende von 1938 war insofern eine Weiterentwicklung, als nunmehr auch die Juden als Fremdkörper galten, die aus Politik, Wirtschaft und allgemein aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden mussten. Von den Präfekturen erstellte Judenlisten und von der Direzione generale Demografia e Razza (DemoRazza) im Innenministerium konzipierte und umgesetzte Internierungsmassnahmen erleichterten den Deutschen, nachdem im Herbst 1943 die Wehrmacht Italien besetzt hatte, den Abtransport und die Ermordung jener Jüdinnen und Juden, die im von ihnen beherrschten Raum greifbar waren. Die Beihilfe der italienischen Behörden und insbesondere der Polizei und der Carabinieri war dafür allerdings unerlässlich.

Faschismus als neue Religion

Bei Mussolinis imperialen Ambitionen schlägt der «totale» Anspruch des Faschismus besonders deutlich durch. Ziel sollte nicht nur die Vollendung des Risorgimento und ein dritter Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus sein, sondern die Stiftung einer neuen Kultur und einer säkularisierten Religion im Zeichen des Mythos vom «Dritten Rom» (nach demjenigen der Imperatoren und demjenigen der Päpste). Dieses war dazu ausersehen, eine neue «pax romana» im faschistischen «mare nostrum» zu schaffen, mit Mussolini als neuem Cäsar und Augustus und – in leicht blasphemischer Verchristlichung – als Erlöser Italiens.

In diesem Sinn war die imperiale Politik des Faschismus nicht einfach eine Fortsetzung der Kolonialpolitik des liberalen Italiens, sondern brachte ihr gegenüber eine massive Brutalisierung. Dies manifestierte sich im Abessinienkrieg 1935/36 mit dem Einsatz von Giftgas gegen Stammeskrieger und hatte einen Rassismus zur Folge, der sich mit aller Härte gegen die einheimische Bevölkerung des 1936 proklamierten Kaiserreichs richtete (das neben der aus Eritrea, Somalia und Äthiopien neu gebildeten Africa Orientale Italiana vor allem Libyen und die Inseln des Dodekanes umfasste).

Sinistre Konsequenz des Äthiopienabenteuers war die sukzessive vertiefte Annäherung an das Hitlerreich. Diese führte über die am 1. November 1936 in einer Rede auf dem Mailänder Domplatz proklamierte «Achse Berlin-Rom» in den «Stahlpakt» vom Mai 1939. Als dessen Folge hätte Italien schon im September 1939 in den damals noch europäischen Krieg eintreten müssen. Wegen manifester Unvorbereitung verschob sich der Kriegseintritt auf Juni 1940 – gegen ein militärisch bereits geschlagenes Frankreich. Der Parallelkrieg, den Mussolini in der Folge in Nordafrika Richtung Suez- kanal und von Albanien aus gegen Griechenland führen wollte, scheiterte bereits im Winter 1940/41. Dies führte zum Engagement der Wehrmacht in Nordafrika und auf dem Balkan und satellisierte Italien als militärischen Partner zunehmend. Hitler versäumte nicht, Mussolini bei Bedarf daran zu erinnern, dass dieser im September 1937 auf dem Tempelhofer Feld in Berlin anlässlich einer Massenveranstaltung in seinem Beisein ausgerufen hatte, der Faschismus habe eine Ethik, die sich mit seiner persönlichen Moral decke: «Klar und offen reden, und wenn man einen Freund hat, mit ihm zusammen bis ans Ende marschieren.» Dieses Ende kam für Mussolini trotz seinem Sturz im Sommer 1943 allerdings erst im April 1945, als er von Partisanen am Comersee erschossen wurde. Hitler hatte ihn im Herbst 1943 als eine Art Statthalter an die Spitze der spätfaschistischen Repubblica Sociale Italiana (RSI) in Norditalien gestellt.

1941, fünf Jahre nach der Proklamation des faschistischen Imperiums als «impero di pace, di civiltà e di umanità», war der 1936 aus Abessinien vertriebene Kaiser Haile Selassie wieder zurück in Addis Abeba. Wenn massive urbanistische Eingriffe in Italien und im einstigen Kolonialreich noch immer von Mussolinis imperialer «Kulturrevolution» zeugen, ändert dies nichts daran, dass der italienische Faschismus, der eine neue Welt bauen und einen neuen Menschen züchten wollte, in einer beispiellosen militärischen Katastrophe endete und neben unzähligen Opfern ein kriegszerstörtes Land hinterliess.

TEC21, Fr., 2015.07.24

24. Juli 2015 Carlo Moos

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