Editorial

Schon seit Jahren ist eine grosse, internationale Revolution im Gange, die es kaum in die grossen Feuilletons schafft. Vielleicht in die Lokalteile der Zeitungen. Dabei ist Paris ebenso betroffen wie Zürich, Basel, Köln und Stuttgart, London, Wien, Barcelona und Sankt Petersburg. Und nicht nur das, im Zuge des Umbruchs ist ein hoch spezialisierter Aufgabenbereich für Landschaftsarchitekten und -planer entstanden – ohne, dass dieses Wissen an Hochschulen gelehrt wird. Es mag trivialer klingen als es ist: die Zooarchitektur. Wo Tiere in allerlei Grösse und aus vielerlei Ländern früher im Klein-Klein von Gehege an Gehege zur Schau gestellt wurden, laden heute aufwändig gestaltete und inszenierte Landschaften zum Erlebnis für die ganze Familie ein. Selten jedoch bietet sich die Chance für Neugründungen. Und so gilt es, die Anlagen zoologischer Gärten, einst errichtet in der bildungsbürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts und in der Zwischenzeit meist bereits mehrfach angepasst, erneut für die gewandelten Anforderungen zu überarbeiten.

Längst verschwindet die notwendige, zunehmend als störend empfundene funktionale Architektur mehr und mehr aus dem Blickfeld der Besucher. Stattdessen schwingen sich Pfade in luftige Höhen, queren Gehege mit exotisch klingenden Namen knotenfrei in der Luft und wirken nebenbei noch didaktisch. Organisch fügen sich die Anlagen in ihre Umgebung ein, arbeiten mit altem Baumbestand und lokaler Topografie, die hier und da inszenatorisch freilich überhöht wird. Ökologie und Verhaltensforschung beeinflussen die Raumkonzeptionen der Planer, hinzu kommen die Auflagen internationaler Artenschutz- und Erhaltungszuchtprogramme. Der Spagat zwischen einer natur­illusionistischen Gestaltung im Publikumsbereich und den funktional orientierten Anforderungen der Stallungen ist immens. Steigende Besucherzahlen belegen ein öffentliches Interesse, das die Zoos als Grossunternehmen mit ständig neuen Angeboten erweitern: Erlebnisführungen, Hochzeiten in exotischem Ambiente, Restaurants und Shoppingangebote auf dem Areal, Besucherzentren und Pinguinparaden.

Diese leise globale Revolution könnte sich zu einer Win-win-Situation entwickeln: Artgerechter gehaltene Tiere, erlebnisgesättigte grosse und kleine Besucher und international vernetzter Artenschutz. Schön wäre natürlich, wenn auch die grosse Leistung der transdisziplinären Teams, die die Gestaltungen entwickeln und umsetzen, breiter publik würde.

Wir freuen uns sehr, dass wir für die Ausgabe Christina May als Expertin und Gastredaktorin gewinnen konnten. Die Zooplanung als Berufsfeld weist nicht nur eine hohe Spezialisierung auf, sie hat auch ein eigenes Fachvokabular. Der besseren Verständlichkeit wegen war Christina May so freundlich, ein Glossar der wichtigsten Begriffe zusammenzustellen.

Sabine Wolf

Inhalt

François Gay: Natürliche Architektur
Walter Vetsch: Wohin die Reise führt
Lorenz Eugster, Stefan Schrämmli: Symmetrie und Exotik
Hubert Möhrle: Afrikanische Menschenaffen in der Wilhelma
Jan-Erik Steinkrüger: Über Inszenierungen von Natur
Peter Drecker: Die Landschaft kehrt in die Zoos zurück
Kilian Jost: Zoofelsen aus Zürich
Becca Hanson: I Can’t Hear You
Till Rehwaldt: Kattaanlagen in Dresden und Erfurt
Monika Fiby: Neues Berufsbild: Zooplanung
Jacqueline Osty: Die Verwandlung des Pariser Zoos
Kieran Stanley: Erlebnisarchitektur
Andras Jambor: Der neue Zoo von Sankt Petersburg
Christina Katharina May: Glossar

Die Verwandlung des Pariser Zoos

Die Transformation einer in die Jahre gekommenen Zooanlage in eine zeitgemässe Gestaltung, die genügend Entwicklungspotenzial für künftige Veränderungen offen lässt, ist eine ebenso herausfordernde, wie spannende Aufgabe.

Den 1934 entworfenen Pariser Zoo in einen zoologischen Garten des 20. Jahrhunderts mit allen modernen Eigenschaften umzugestalten, ist mehr als nur eine einfache Sanierungsaufgabe. Die umfassende Metamorphose basiert auf einer grossen Anzahl von historischen, umweltbezogenen und museumskundlichen Informationen. Unter diesem Spezialzweig der Ausstellungskunst verstehen wir die pädagogische Präsentation von 180 Tierarten aus fünf Regionen der Welt und fünf Biozonen (Patagonien, Sahara-Sudan, Europa, Guyana, Madagaskar). Die zeitgenössische Präsentation soll aktuellen gesellschaftlichen Zielen entsprechen: Hier wird für Artenschutz und eine feinfühlige Einführung in die Welt der Tiere und die Natur geworben. Die Tiere werden nicht einfach gezeigt, sondern in fünf ihren Bedürfnissen entsprechenden Landschaften in Szene gesetzt. Die Freiraumarchitektur ist der Leitfaden dieses Projekts, echte Massarbeit, um die Besucher in eine fremde Welt eintauchen zu lassen.

Fünf Biozonen

Der zoologische Garten von Paris liegt im geschützten Waldraum «Bois de Vincennes», er wurde von Jean-Charles Alphand (1817–1891) entworfen. Historische Linien konnten erhalten oder wieder hergestellt werden: Ausblicke auf See und Wald sowie Beziehungen zwischen Volumen und Leerräumen, die im Laufe der Zeit verloren gegangen waren. Die unterschiedlichen Dichten der bestehenden Vegetation trugen zur Wahl der Standorte für die fünf Biozonen bei. Die weiten, offenen Räume Patagoniens und der Sahelzone des Sudans befinden sich in den von nur wenigen Bäumen bestandenen Sektoren. Die sudanesische Sahel­savanne wird durch eine weite Ebene dargestellt, nutzt deren grosszügige Ausdehnung und spielt mit der Perspektive auf den «Grand Rocher»[1]. Die drei anderen Biozonen mit ihren dichten Wäldern – Europa, ­Gyana und Madagaskar – wurden dort angeordnet, wo der ursprüngliche Gehölzbestand sehr dicht war; sie repräsentieren visuell geschlossenere Landschaften.

Landschaftskulissen und Kunstbauten

Die wichtigste Herausforderung beim Bau eines urbanen Zoos ist heute die Schaffung wirkungsvoller Illusionen: wilde Natur, Exotik, ausgedehnter Raum. Im Zoo von Paris mit seiner Fläche von 14,5 Hektaren wird ein scheinbar grösserer Raum mit Hilfe von ­gartenkünstlerischen und dem Theater entliehenen Mitteln geschaffen: aufeinanderfolgende Bildebe­nen,  Bühnenbild und Hors-champ[2], Sichtbares und ­Verstecktes … So entsteht die Landschaftskulisse. Das  Design der Gehege entspricht den zur Landschaftsinszenierung kreierten Rundgängen und Aussichtspunkten. Grenzlinien werden verwischt, die Besucher können sich nur am Panorama orientieren, um Geländetiefe oder Vegetationsdichte einzuschätzen.

Landschaft vorbeiziehen lassen

Der zum Flanieren geschaffene Rundgang ähnelt einer langen Kamerafahrt, auf der man nach und nach unterschiedliche Landschaften entdeckt, mal von Nahem, mal aus der Ferne. Auch die nüchterne Sachlichkeit des aus hellem Beton gestalteten Hauptwegs hebt die Diversität der durchquerten Landschaften hervor. Die untergeordneten Wege bieten überraschende ­Einblicke und erlauben, die Tiere aus der Nähe zu ­betrachten. Die ausschliesslich für das Zoopersonal ­bestimmten Unterhaltswege ermöglichen den Angestellten, sich im Zoo zu bewegen, ohne die Besucher auf ihrer Reise zu stören. Diese Wege sind geschickt verborgen: Der Mensch erhält den Eindruck, er sei hier wirklich bei den Tieren zuhause. Dem Besucherrundweg folgend, erblickt man weite Perspektiven und präzise Bilder der Gehege. Die von feinem schwarzen Stahl gerahmten Blickbuchten verschwinden fast in der Landschaft. Hier kann der Besucher den Weg verlassen, um in den Rahmen hineinzutreten, oder von einem der Balkone aus ein ganzes Panorama zu überblicken.

Stein und Pflanze

Farben und Materialien passen sich der künstlich geschaffenen Topografie des Geländes an, sie tragen dazu bei, die fünf Biozonen voneinander zu trennen und unterstützen die Gestaltung des Wegesystems mit seinen Überraschungseffekten. Die Farben erinnern an die natürlichen Lebensräume der Tiere, die sandigen oder rauen Oberflächen sind den Bedürfnissen der verschiedenen Arten entsprechend gestaltet. Als Gegenstück zum historischen Grand Rocher imitieren künstliche Felsen die Geologie der dargestellten Landschaften. Sie dienen als Liegeplätze und bieten Vertiefungen für die Futterablage. Ihre Form hindert die Tiere zudem am Abweiden der Pflanzungen. Die künstlichen Felsen rufen, genau wie die Pflanzungen, Bilder fremder Landschaften hervor, um die Besucher auf ihre mentale Fernreise zu schicken.

Eine reiche Bepflanzung der Anlage ist unabdingbar, um dem Besucher das Eintauchen in die Welt der Tiere zu ermöglichen, eine grosse Anzahl neuer Pflanzen wird deswegen in die bestehende Vegetation «eingewebt». Da im Pariser Klima nicht die Pflanzenarten aller Ursprungsländer gedeihen, wurden die im Freiraum gelegenen Wälder Madagaskars und Guyanas mit Hilfe einer «Transposition» erzeugt: Eine Palette von mimetischen Pflanzen ersetzt dabei die endemischen Arten. Die europäischen Landschaften und der Tropenwald im Gewächshaus werden rekonstruiert.

Als Ort einer pädagogischen und naturschützerischen Ausstellung bietet der Zoo eine poetische Landschaft, von der wir hoffen, dass sie beim Besucher ähnliche Gefühle weckt, wie sie Kinder empfinden, wenn sie eine für sie noch grenzenlose Welt entdecken.


Anmerkungen:
[01] Seit seiner Eröffnung 1934 ist das Wahrzeichen des Pariser Zoos ein 65 Meter hoher künstlicher Felsen, der unter dem Namen «Grand Rocher» bekannt ist. 
[02] Der französische Begriff hors-champ ist ein Begriff der Filmwissenschaft (auf Deutsch «ausserhalb des Feldes»), der den Bereich ausserhalb der dargestellten Welt bezeichnet, zum Beispiel eine Off-Stimme.

anthos, So., 2015.05.24

24. Mai 2015 Jacqueline Osty

Der neue Zoo von Sankt Petersburg

«Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt und darauf ist er die Totalität der Welt. Der Garten ist seit dem ältesten Altertum eine selige und universalisierende Heterotopie (daher unsere zoologischen Gärten).» Michel Foucault

Der 1865 gegründete Zoo von Sankt Petersburg ist der älteste zoologische Garten Russlands. Wie viele historische Zoos in der ganzen Welt, mangelt es ihm heute an Platz und seine Lage im wertvollen historischen Zentrum der Stadt macht die Vergrösserung der Anlage vor Ort unmöglich. Sankt Petersburg hat deswegen beschlossen, ausserhalb einen besonders grosszügigen, neuen Zoo auf 300 Hektaren zu errichten. Das Projekt lässt einen grossen Teil des bestehenden Feuchtwalds intakt, der als Pufferzone für das angrenzende Naturschutzgebiet dient. Nur ein Drittel des heute von den Bewohnern der benachbarten Stadtviertel für Spaziergänge genutzten Geländes wird zum eigentlichen Zoo.

In einem gesellschaftlich-wissenschaftlichen Kon­text, in dem der Wunsch des Publikums nach ökologischer Wahrhaftigkeit grösser wird, können Zoos zu wichtigen Orten der Ökobewegung werden. Das Konzept des Zoos von Sankt Petersburg geht von der Idee aus, dass ein effizienter Schutz der Biodiversität nur möglich ist, wenn ihre Geschichte richtig verstanden wird.

Vor Millionen Jahren gab es einen einzigen Superkontinent auf der Erde, die Pangäa. Den tektonischen Kräften ausgesetzt, verschoben sich die Teile der paläolithischen Pangäa zu einer neuen, sich immer weiter verändernden Konfiguration. Die Evolution der Arten gleichen Ursprungs schlug auf jedem getrennten Stück des Erdmantels eine andere Richtung ein. Die geologische Wandlung des Kontinents ist deswegen eng mit der Geschichte der Biodiversität und der Evolution verbunden.

Die Illusion einer vereinigten Pangäa

Die Grundidee des Projekts besteht in der vergleichenden «Wiedervereinigung» der Biotope, die heute Tausende von Kilometern getrennt sind. Unser Konzept schlägt eine symbolische Probensammlung quer durch alle Kontinente vor, um im Zoo von Sankt Petersburg die Pangäa scheinbar wieder zusammenzuführen. Der so konstituierte Archipel wird aus Inseln mit evozierten Landschaften des süd-östlichen Asiens, Afrikas, Australiens, Südamerikas, Nordamerikas und Eurasiens gebildet, die beiden letztgenannten durch das Packeis der Arktis verbunden. Die natürliche Landschaft der Umgebung ist wegen ihres vielen Wassers besonders für eine inselartige Organisation der Lebensräume geeignet.

Die Verbindung zur historischen Pangäa ist nicht nur räumlich. Durch die Präsenz paläolithischer Arten, welche seit Tausenden von Jahren ohne signifikante Veränderungen existieren, unterstreicht die Tiersammlung die historische Dimension der Evolu­tion. Die Liste der präsentierten Tierarten wurde gemeinsam von Landschaftsarchitekten, Zoologen und den bestehenden Teams des Zoos von Sankt Petersburg entwickelt.

Optimierte Rundwege und Transportmöglichkeiten

Öffentliche Transportmittel halten vor dem Haupteingang des Zoos, der auch mit dem eigenen Auto erreichbar ist. Von der Innenstadt aus können die Besucher auch per Boot anreisen. Die Grösse der Anlage macht es praktisch unmöglich, sie in einem Tag vollständig zu durchlaufen, deswegen werden den Besuchern unterschiedliche Beförderungsmittel zur Verfügung gestellt (Boote, Zubringerbusse). Um den Zoo auch in der kalten Jahreszeit für Besucher attraktiv zu machen, wird ein optimierter Winterrundgang angeboten, der die Gewächshäuser und gedeckten Zonen verbindet. Die von den Pflegern benutzten Rundwege sind dank des abgelegenen Eingangs und ihrer durch Topografie und Vegetation verdeckten Linienführung kaum wahrnehmbar.

Das Team TN plus ist überzeugt, dass ein zeitgenössisches Zooprojekt sich einerseits auf einen wissenschaftlich begründeten Diskurs abstützen sollte und andererseits auf die Immersion als Präsenta­tionsprinzip, welche die pädagogische Vermittlung der Informationen umso effizienter macht. Daher binden wir jedes Gehege in eine vom Ursprungsmilieu der Tierarten inspirierte Gesamtlandschaft ein. Topografie, Pflanzendecke und Wasserhaushalt vermitteln dem Besucher den Eindruck, sich zum Beispiel in der afrikanischen Savanne südlich der Sahara oder in der südamerikanischen Pampa zu befinden. Um die natürlichen Lebensräume zu simulieren, spielt die Bepflanzung eine wichtige Rolle. In den hiesigen Breitengraden ist es relativ einfach, den Lebensraum Taiga nachzubauen, aber ungleich schwieriger, den Eindruck eines Regenwalds zu vermitteln. Für den Regenwald haben wir eine weite Palette mimetischer, dem kalten Klima im Norden Russlands angepasster Arten verwendet, die durch ihre Blätter, ihre Struktur und ihre Blüten an tropische Arten erinnern.

Tausend andere Orte

Der französische Philosoph Michel Foucault betrachtet Gärten und besonders zoologische Gärten als perfektes Beispiel einer Heterotopie: Orte, die uns an tausend andere Orte erinnern. In unseren zoologischen Gärten sehen wir arktische und tropische Landschaften in engster Nachbarschaft, Berge und Meere, Wälder und Steppen, alles Fenster zum «grossen Unbekannten». Unsere Zoolandschaften regen die Fantasie an und schicken den Geist auf Reisen.

Die meisten zoologischen Gärten sind geschlossene Räume, vollständig introvertierte Mikrokosmen, die auf gewisse Weise eine Rückkehr zum «hortus conclusus» des Mittelalter darstellen oder gar zum persischen «paradeisos», dem Beginn der Zeiten. Hinter der anscheinend zeitlosen Oberfläche stecken zeitgenössische Wissenschaft und Technik, die aus dem Zoo einen Botschafter des Biodiversitätsschutzes machen, indem sie das Publikum auf ihre extreme Zerbrechlichkeit und auf den insgesamt angeschlagenen Gesamtzustand unseres Planeten aufmerksam machen.

anthos, So., 2015.05.24

24. Mai 2015 Andras Jambor

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