Editorial
«Knappheit» lautet der Titel von diesem Heft, das für einmal die Architektur in anderer Art und Aufmachung zeigt. Es geht uns darum, Knappheit nicht nur aus der Opferperspektive zu sehen, sondern als – besonders schwieriges – Handlungsfeld, in dem sich jedoch unerwartete Opportunitäten finden oder schaffen lassen. Im Kontext von Krise, Arbeits- und Perspektivlosigkeit nutzen in den Ländern des europäischen Südens junge Architekten Spielräume, indem sie sich zusammenschliessen und ihre professionelle Kompetenz ohne den Umweg über offizielle Projekte denen zur Verfügung stellen, die zwar kein Geld, aber Ideen haben, damit aus fast Nichts etwas Neues entsteht. In Grossbritannien, dessen öffentlichens Beschaffungswesen in der Austeritätspolitik praktisch zum Erliegen gekommen ist, ergreifen Architekturbüros die Initiative und lancieren zusammen mit Künstlern und Theaterschaffenden eigene Projekte. Trotz der Knappheit der Mittel ist bei allen vorgestellten Projekten eine urtümliche Energie zu spüren.
Inhalt
Santiago Cirugeda
Recetas Urbanas
Selbsthilfe zur Verbesserung der Stadt
Anne Wermeille Mendonça
Auswandern oder durchhalten?
Neue Ansätze und Netzwerke in Portugal
Thomas Stahel, Pierre Kellenberger (Bilder)
Jenseits von Marktzwängen
Leben in besetzten Häusern
Stefan Zweifel
Lob der Idiotie
Roland Barthes' Vorlesung über den «Idiorhythmus»
Rosamund Diamond
Simple Things
Alternative Baukultur in Grossbritannien
Markus Bogensberger
Zurück in einen Alltag
VinziRast mittendrin in Wien von gaupenraub Architekten
Zudem:
Wettbewerb: Medienzentrum im Hochschulumfeld. Selektiver Studienauftrag RTS Campus in Lausanne
Markt: Verlassene Alpentäler. Zweitwohnungsinitiative oder struktureller Veränderungsprozess?
Bücher: «Herausforderung Erdgeschoss». Roland Züger über das neue Buch der Wüstenrot Sfitung
Ausstellungen: Alexander Brodsky im Berliner Museum für Architekturzeichnung
Nachruf: Frei Otto, 1925 – 2015
Erstling: Doppelwohnhaus von Peter C. Jakob in Mühlethurnen
Essay: Outside, looking in. Reflexionen von Sergison Bates
werk-material: Terrassenhäuser in Winterthur und Schindellegi
Recetas Urbanas
(SUBTITLE) Selbsthilfe zur Verbesserung der Stadt
«Dafür zu sorgen, dass die Stadt etwas besser funktioniert» ist das Ziel des Büros Recetas Urbanas aus Sevilla. Seine Aktionen werden von den Betroffenen in Selbsthilfe umgesetzt und sind nicht immer ganz legal.
Bereits während meiner ersten acht Berufsjahre – damals noch allein, aber schon mit der Vision einer kollektiven Arbeitsweise – suchte ich nach Wegen und Strategien, um in die Stadt einzugreifen, indem ich die Grenzen und möglichen Leerräume der Baugesetzgebung genau unter die Lupe nahm. Dies waren meine Ausbildungsjahre als Architekt, und sie führten dazu, dass ich meinen Fokus in der Folge auf die soziale Rolle der Architektur legte. Um die Effizienz meiner Arbeit als Einzelner zu verbessern – also das Untersuchen geltender Vorschriften und Normen –, gründete ich in Sevilla das Büro Recetas Urbanas. Ziel war von Anfang an, unsere Aktionen sichtbar zu machen und andere Kollektive für unsere Ideen zu gewinnen, die ebenfalls eine kritische Haltung zu baugesetzlicher Überregulierung und zur Stadtentwicklung hatten. Wir versuchten ganz einfach, dafür zu sorgen, dass die Stadt etwas besser funktioniert. Wir wollten viel schnellere Wege und partizipative Möglichkeiten zum Handeln haben, als es die ausschliesslich von Politik und Bürokratie kontrollierten Aufträge zuliessen. Es gibt städtische Probleme, die man in möglichst kurzer Zeit offenlegen und zu lösen versuchen muss, sogar wenn das manchmal bedeutet, ohne Bewilligung und am Rand der Legalität vorzugehen.
Vieles von dem, was wir in unserem Büro tun, ist illegal. Das heisst aber nicht, dass es ungerecht oder falsch ist. Es weist vielmehr auf einen Fehler in einem Gesetz oder auf eine eventuell nötige Anpassung hin – immerhin ist es ja eine Bürgerpflicht, Gesetze zu verstehen und auf ihre Richtigkeit hin zu prüfen. In Spanien nennt man uns oft «die Architekten der Krise»; dabei hat sich die Art unserer Arbeit seit unseren Anfängen, also seit rund zwanzig Jahren, überhaupt nicht verändert. Wir wollen aufzeigen, dass es andere Arten gibt, die Dinge zu sehen und diese zu verteidigen. Dafür kämpfen wir, und das wollen wir vor allem öffentlichen Verwaltungen klarmachen, die eine spezielle Affinität dafür haben, alles, was sich ihrer Kontrolle entzieht, zu zerstören oder zu behindern. Einfach, weil sie es nicht besser wissen – oder es nicht wissen wollen. Wir versuchen, unbequem zu sein und bestehende Vorstellungen in der offiziellen Politik aufzubrechen, die gewisse Konzepte wie zum Beispiel den öffentlichen Raum, Bildung, Selbstverwaltung und den Selbstbau gar nicht versteht.
Dabei lassen wir immer eine Tür offen für die Zusammenarbeit mit den Verwaltungen, aber sehr häufig ist es schwierig, ihnen das Recht auf Stadt plausibel zu machen, sodass sie es unterstützen würden. Dass wir Gesetzesänderungen vorschlagen oder sogar verlangen und mit unseren Projekten ihre Machbarkeit aufzeigen, wird uns als Rebellentum ausgelegt – ich nenne es Verantwortung. Ich habe mich mehrmals selbst angezeigt, um die Aufmerksamkeit der Verwaltung auf uns zu ziehen, und zwar nicht, um rebellisch zu sein, sondern um den Weg zu ebnen für Kommunikation und Partizipation, denn das fällt vielen Leuten schwer. Um unsere Arbeit noch effizienter zu machen und vermehrt Einfluss auf die armselige Politik der Öffentlichkeit in ganz Spanien zu nehmen, begannen wir 2007, uns mit anderen Kollektiven – Architekten, Anwälten, Hackern, Bürgern und vielen mehr – zusammenzuschliessen. Wir gründeten das Netzwerk Arquitecturas Colectivas (http://www.arquitecturascolectivas.net) und zeigten, dass die Arbeit der zahllosen spanischen und internationalen Kollektive durch gemeinsames Nutzen von Wissen und Strategien, durch Teamarbeit und auch durch das eine oder andere zusammen getrunkene Bier gestärkt wird und in der Politik Veränderungen erzwingt.
Heute setzen wir unsere Arbeit auch vor dem Hintergrund der aktuellen Krise gemäss diesen Rezepten fort. Denn es gibt in der Gesellschaft immer wieder Bevölkerungsschichten, die schikaniert oder übergangen werden von den öffentlichen Verwaltungen, die – vergessen wir das nicht – den grossen Manipulatoren aus der Wirtschaft in lächerlicher und unterwürfiger Art und Weise folgen.
Seit drei Jahren beschäftigen wir uns vermehrt mit dem Aspekt der Bildung. Dafür arbeiten wir mit den verschiedensten Schulen und Bildungszentren zusammen: öffentliche und freie Schulen, Kulturvereine, Sozialzentren. Sie alle stellen Zukunftsräume dar, in denen uns die Arbeit mit den unterschiedlichen Altersgruppen an eine Veränderung der Mentalität glauben lässt, die unumgänglich ist, um Alternativen zu planen. Unsere «urbanen Rezepte» entwickeln wir zusammen mit diesen Gruppen, die uns um Unterstützung bitten, wenn es darum geht, ihren Ideen eine praktische Form zu geben.werk, bauen + wohnen, So., 2015.05.17
Santiago Cirugeda ist Architekt in Sevilla und Gründer des Kollektivs Recetas Urbanas. Er baut, schreibt Artikel und beteiligt sich an Bildungs- und Kulturveranstaltungen. Er gibt Workshops, Vorträge in Schulen und Universitäten und nimmt an Einzel- und Gruppenausstellungen weltweit teil.
17. Mai 2015 Santiago Cirugeda