Editorial

In der Stadt Zürich wird nicht nur im ­Westen viel Neues gebaut; auch in den nördlichen Quartieren ist ein gross­räumiger Umbruch im Gang. Das Dreieck Oerlikon, Seebach und Schwamendingen soll Anschluss an die «Glattstadt», vom Glattpark bis zum Flughafen, finden und qualitative Inputs in die schwächelnde Struktur erhalten. Zwar wird Zürichs Norden auch in Zukunft von Geschäftsadressen dominiert; aber dazwischen sind Wohninseln mit hoher Lebensqualität ­geplant. Die Stadt selbst spurt die Quartieraufwertung mit Verbesserungen in den öffentlichen Zonen vor. Der Genossenschaftsbewegung, am nördlichen Stadtrand gut vertreten, wird die Rolle als Sozialraumentwickler anvertraut.

Vor acht Jahren feierten die Gemeinnützigen in der Stadt ihr 100-jähriges Bestehen; als Geschenk der öffentlichen Hand erhielt der Genossenschaftsverbund «mehr als wohnen» das Baurecht für das Hunziker-Areal. Anstatt darauf die Vorstadtzone auszuweiten, sollte ein peripherer Wohnstandort mit urbaner Dichte und anregendem Aussenraum entstehen. In den nächsten Wochen ziehen die letzten der rund 1400 Menschen ein.

Ohne den Budgetgedanken zu überstrapazieren, wurde ein gutes Beispiel für sozialen, durchmischten Wohnungsbau geschaffen. Das Be­bauungsmuster wirkt innerstädtisch; die ­architektonische Vielfalt scheint jedoch wenig an einem identitätsstiftenden Ausdruck interessiert. Ob das Modell für eine bessere Vorstadt funk­tioniert, haben die Bewohner nun aber selbst in der Hand.

Paul Knüsel

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Eine Lernhalle für Sissach

12 PANORAMA
Die Ausführung bestimmt das Projekt

16 VITRINE
Suisse Floor 2015 | Neues aus der Baubranche

20 ERLEBNISRAUM STADT VERSTEHEN
Neue Ordnung SIA 101 «Bauherrenleistungen»
auf dem Weg | a&k – Reisen und Exkursionen | SIA-Form Fort- und Weiterbildung

24 VERANSTALTUNGEN

26 DIE NEUE GRÜNDERZEIT
Jutta Glanzmann Gut
Ein Wohn­quartier in der Peripherie mit innerstädtischer Qualität

30 DAS BROCKENHAUS-QUARTIER
Paul Knüsel
Die heterogene Morphologie der 13 Wohn­häuser irritiert

33 VERZICHT IST AUCH EINE FORM DER REDUKTION
Nina Egger
«So wenig wie möglich» gilt für das Energie- und Gebäudetechnikkonzept

35 AUSGEWÄHLTE BEWOHNERSCHAFT
Paul Knüsel
Sozialer Wohnungsbau mit Selektionshürden

38 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Die neue Gründerzeit

Der Norden von Zürich wirkt wenig wohnlich und ist zwingend auf eine qualitative Weiterentwicklung angewiesen. Mittendrin setzt das Hunziker-Areal nun auf eine urbane räumliche Dichte, sowohl auf der
Ebene Quartier als auch in den Wohnungsgrundrissen.

Vor acht Jahren feierte der gemeinnützige Wohnungsbau in der Stadt Zürich sein 100-Jahr-Jubiläum und sam­melte Ideen zur Zukunft des genossenschaftlichen Wohnens. Dies trug zur Gründung der Baugenossenschaft «mehr als wohnen» bei und zur Absicht, eine in vielen Belangen neuartige Siedlung zu gestalten. Auf der rund 40?000 m² grossen Gewerbebrache «Hunziker-Areal» in Zürich Nord sollte qualitätsvoller, urbaner Raum zum Leben und Arbeiten entstehen, in Verbindung mit ökologischen und sozialen Zielen (vgl. «Verzicht ist auch eine Form der Reduktion», S. 33, und «Ausgewählte Bewohnerschaft», S. 35). Seit vergangenem November ziehen die Bewohner ein; am ersten Juliwochenende findet das Eröffnungsfest auf dem Hunziker-Platz statt. Genau dort lässt sich die Idee des städtebaulichen Entwurfs, statt einer Siedlung ein Stück Stadt zu schaffen, erstmals überprüfen. Der regelmässig zitierte Referenzort für den neuen Wohnkern war nämlich der Idaplatz im Zürcher Kreis 3. Dieser ist räumlich gefasst: Er zeichnet sich durch eine rundum laufende, dichte Bebauung von mehrgeschossigen Häusern aus, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit durch die Ausbildung und Nutzung des Erdgeschosses, die Art der Dachabschlüsse und die dazwischen liegenden Regelgeschosse zusammengehalten werden. Gleichzeitig lebt der Platz davon, dass er Teil eines gut funktionierenden Stadtquartiers ist. Auch das Hunziker-Areal verbindet sich durch Wege, Strassen sowie grös­sere und kleinere Plätze mit der bestehenden Umgebung, die aber anders als der innerstädtische Kreis 3 typische Eigenschaften eines Stadtteils an der Grenze zur Agglomeration aufweist: grosse Büro- und Wohnbauten mit gesichtslosen Erschlies­sungsflächen, Industrie- und Gewerbebauten, breite Strassenräume und erste Ansätze einer kleinteiligeren Struktur mit öffentlichen Erdgeschossnutzungen wie Restaurants, die aber nur werktags geöffnet sind. Kehrichtverbrennungsanlage, Bahnlinie und eine stark befahrene Strasse sind die weiteren Nachbarn in diesem beanspruchten Gebiet.

Trotzdem traut man dem Hunziker-Areal nun zu, dieses Konglomerat mit einem neuen räumlichen Schwerpunkt zu bereichern oder zumindest aufzubrechen. Die Wege von aussen ins Areal führen nicht einfach in eine Tiefgarage, sondern auf kleinere und grössere Plätze, die sich verengen und weiten, sowie auf Gassen und Gässchen. Der Aussenraum enthält spannungsreiche Sequenzen; die Häuser bieten daran angrenzend Platz im Erdgeschoss für publikumsorientierte ­Nutzungen. Der vielfältige Freiraum und die unterschiedlichen Häuser sollen die Wahrnehmung von gewachsenen Strukturen im wenig attraktiven Entwicklungsgebiet betonen. Das räumliche Potenzial des Quartiers wirkt im Vergleich zur Umgebung geradezu innerstädtisch.

Intensive Aushandlungsphase

Der Architekturwettbewerb betrat selbst Neuland: Es waren parallele Vorschläge für eine städtebauliche Konzeption und ein exemplarisches Einzelgebäude einzureichen. Ab Mai 2009 gingen die Gewinner Futura­frosch/Duplex Architekten (als Arbeitsgemeinschaft), Müller Sigrist Architekten, Architekturbüro Miroslav Šik und pool Architekten gemeinsam daran, räumliche Antworten für eine Durchmischung auf den zwei Massstabsebenen Stadtquartier respektive Wohnungsgrundrisse zu suchen (vgl. TEC21 7/2011). Die Wohnmodelle sollten die Vielfältigkeit und demografische Entwicklung der modernen Gesellschaft berücksichtigen (vgl. «Ausgewählte Bewohnerschaft», S. 35). Auch dieser ­Planungsprozess war zuvor selten gesehen (vgl. oben «Frei interpretierbare Rahmenbedingungen»): In einem intensiven halbjährigen Dialog handelten die Architekten zusammen mit den Verantwortlichen der Baugenossenschaft eine Lösung aus, die Hauskonzepte zu einem Ganzen zu verbinden. Diskussionspunkte waren unter anderem ein Regelwerk für die teils sehr unterschiedlichen Häuser[1], die Gestaltung der Erdgeschosse sowie die Nutzungsvarianten für den Aussenraum, basierend auf der Studie von Müller Illien Landschaftsarchitekten. Am Verhandlungsprozess war auch das Amt für Städtebau eingebunden. Abschliessend fand eine Besprechung mit der Wettbewerbsjury statt.

Die Abstimmung unter den Architekten scheint aber nicht immer gelungen. Der Wille zur formalen Gestaltung einzelner Fassaden wurde etwas stark ausgereizt (vgl. «Das Brockenhaus-Quartier», S. 30). Nicht abschliessend beurteilen lässt sich die Nutzung des Aussenraums. Dieser ist noch im Bau und durch temporäre Parkplätze belegt.

Individuell und gemeinschaftlich

Das dichte Stück Stadt sollte jedoch auch im Innern der Gebäude funktionieren. Unter anderem waren Wohnungen für ein gemeinschaftliches Miteinander zu entwerfen respektive mit individueller Rückzugsmöglichkeit auszustatten. Exemplarisch stehen dafür die Satellitenwohnungen: Mehrere autonome Kleinstwohnungen gruppieren sich um gemeinsam nutzbare Flächen (Küche, Nasszelle, Aufenthaltsraum). Der Wohnungsspiegel ist breit gemischt vom Einzelstudio bis zur WG mit zwölf Zimmern; die Angebotsvielfalt enthält weitere Spezialitäten wie Duplexwohnungen oder überhohe Räume.

Trotz der grossen Dichte überraschen die insgesamt 370 Wohneinheiten immer wieder mit Aus- und Durchblicken ins Freie. Problematisch wird es, wenn die teils sehr tiefen Abmessungen der Baukörper und die gewählten Grundrissdispositionen dunkle Wohnräume entstehen lassen, wobei dies sehr stark von der gewählten Wohnungstypologie abhängt. Angesichts der moderaten Mieten verfügen die Wohnungen über einen guten Ausbaustandard, und generell ist die räumliche Qualität der Grundrisse sehr hoch. Die in den Wohnungen gewählten Materialien und Ausbauten sind in der Regel für alle Häuser gleich.

Eine zusätzliche Entdeckung sind die Treppenhäuser: In mehreren Bauten erschliessen grosszügige mehrgeschossige Räume die Wohnungen und bilden im Innern ein öffentliches Wegnetz. Sind die einen eher reduziert karg und entwickeln daraus ihre Anziehungskraft, erinnern andere an klassische Stadthäuser mit innerem Wandelgang.


Anmerkung:
[01] Häuser im Dialog. Ein Quartier entsteht. Projekt Hunziker-Areal, Baugenossenschaft «mehr als wohnen»; Arbeitsgemeinschaft Futurafrosch und Duplex Architekten, Zürich 2010.

TEC21, So., 2015.04.05

05. April 2015 Jutta Glanzmann

Das Brockenhaus- Quartier

Ein übergeordnetes Regelwerk und der Planungsdialog waren zur Vereinheitlichung der 13 Wohnhäuser auf dem Hunziker-Areal gedacht. Dennoch ist die Gebäudemorphologie äusserst heterogen und autonom ausgestaltet worden.

Die Besichtigung des Hunziker-Areals zwischen den Sunrise-Towern und der KVA Hagenholz kann irritierende Wirkung haben: An der Grenze zwischen Oerlikon und Schwamendingen entsteht gerade die grösste autoarme Siedlung der Schweiz. Doch weil dies noch einige Wochen dauern wird, versperrt anstelle eines (hoffentlich) gut organisierten Velodschungels eine Vielzahl von Pkw und Lieferwagen mögliche Flanierwege durch das Quartier respektive die Sicht auf ein frisch herausgeputztes Architekturensemble. Selbst beim Blick über die Sockelgeschosse der neuen Häuser hinaus löst sich die Irritation nur bedingt auf. Das gemeinsame Wirken von fünf Architekturbüros hat einen bunten Reigen aus unterschiedlichsten Fassaden in ebenso vielen Farb-, Gestaltungs- und Konstruktionsvarianten hervorgebracht. Die Wohnhäuser selbst treten zwar fast einheitlich dimensioniert als brockenmässige Baukörper auf, ihr Ausdruck wirkt jedoch so breit assortiert wie das Mobiliar einer städtischen Brockenstube. Neben stilechten Reproduktionen füllen zeitlose Kommoden, sperrige Prototypen und auch Dutzendware das Hunziker-Areal. Mehr als nur eine Assoziation verweist auf Merkmale der Reformarchitektur[1]; ebenso sind Fragmente der klassischen Moderne oder romantisierende Elemente aus der Schweiz und Italien zu erkennen. Und während einzelne Häuser in bester Absicht urbane Coolness oder Grossbürgerflair verbreiten, schmücken sich andere mit alpinem Kolorit. Eine stimmige formale Klammer für die aussergewöhnliche Gebäudedimension zu finden, scheint keine einfache Aufgabe gewesen zu sein. Doch zu viele Nachbarn leiden unter der zusammenhanglosen Vielfalt und wirken bemerkenswert farb- und eigenschaftslos.

Das Panoptikum der 13 verschiedenen Brockenhäuser wird vom Sichtbetonwürfel (pool Architekten) am Hunziker-Platz angeführt. Seine Vorzeigefront ist kahl und streng, trotz der an das Computerspiel Tetris erinnernden Fensterbemusterung. An der Nordflanke folgt ein siebenstöckiges Gebäude mit Holzfassade und umlaufender Balkonschicht (Müller Sigrist): Zusätzlichen Kontrast sollen die vertikalen Metallspaliere – nach erfolgter Begrünung – schaffen. Nach Süden und Westen runden pastell-dezente Bauzeilen das Gebäudeensemble um den Hunziker-Platz ab: Erst die stadtvillenartigen Häuser (Šik) und die Wohnmaschine (Duplex) sorgen für eine Beruhigung der Quartiermorphologie. An peripherer Lage tauchen damit verwandte Häuser sowie zurückhaltende Stadtparkhäuser (Futurafrosch) auf. Doch je weiter weg vom Zentrum, umso schwerer fällt ihnen ihrerseits der selbstbewusste Auftritt: Zum einen ist der Abstand für eine angemessene Panoramabetrachtung verkürzt; zum anderen fehlt ein Gegenüber, das als gestalterischer Sparringspartner dient. Etwas aus der Balance zu fallen, droht der Häuserdialog dort, wo das kleinste Gebäude auf dem Areal, das Holzhaus mit Laubengang und Schindelfassade, die kalte Kehrseite des Dämmbetonhauses zu spüren bekommt. Erstaunlich dabei ist, dass beide Häuser aus derselben Architekturküche stammen. Zu loben ist die Absenz einer in vielen Neubauquartieren grassierenden Beliebigkeit sowie einer autistischen Architektur. Trotzdem hätte ein «Weniger ist mehr» dem Hunziker-Areal urbaneren Charakter verliehen und wäre der selbst formulierten Analogie zum Idaplatz gerechter geworden.

Standörtliche Unentschlossenheit

Was die Verortung der Häuser zwischen Grossstadt und Agglomeration ebenfalls erschwert, ist die heterogene Fassadenstruktur: Zwar werden fast durchwegs französische Fenster mit innerstädtischer Ausstrahlung gewählt, was unter anderem dem Lichteinfall in die tiefen Wohnräume förderlich ist. Demgegenüber entlarven herausgezogene Balkonschubladen und auskragende Balkonschichten eine standörtliche Unentschlossenheit. Die Gemeinschaftsterrassen über dem ersten oder zweiten Sockelgeschoss sind jedoch geschickt gesetzte, privilegierte Emporen im Quartier.

So subjektiv sich die Wohnhäuser präsentieren, so verschiedenartig sind ihre Konstruktionsmerkmale. Der Betonfindling ist eine «monolithische» Konstruktion aus Wärmedämmbeton (vgl. Kasten S. 32). Zwei Gebäude wurden mit einwandigem Mauerwerk aus innengedämmten Backsteinen erstellt. Zwei weitere sind Vertreter des mehrgeschossigen hybriden Holzbaus.

Und der Rest besteht aus konventionellem Mauerwerk mit verputztem Wärmedämmverbundsystem (vgl. TEC21 44/2014). Was trotz grosser Vielfalt in Gestaltung und Bautechnik für alle äusserst kompakten Häuser fast gleich gut funktioniert, sind der hohe Energieeffizienzstandard und das Bemühen, ökologisch-rationell zu bauen. Die Bilanzwerte aus dem Vorprojekt weisen darauf hin, dass sowohl der Aufwand für den Heizenergiebedarf als auch derjenige für die graue Energie gering sind. Eine Verifizierung der Kenngrössen steht noch aus; ein vom Bund mitfinanziertes Evaluationsprojekt soll in den nächsten Jahren zusätzliche Daten aus dem Betrieb liefern.


Anmerkung: [01] Wohnqualität als Reformarchitektur, Vortrag von Miroslav Šik, Professor für Architektur und Entwurf, Departement Architektur, ETH Zürich, ETH-Wohnforum 2007.

TEC21, So., 2015.04.05

05. April 2015 Paul Knüsel

4 | 3 | 2 | 1