Editorial

Pendeln zwischen zwei Grossstädten oder doch eine zweite Wohnung? Leben in der Stadt und am Wochenende raus ins Grüne – oder ländlich wohnen und in der Stadt arbeiten? Stundenlange Zugreisen zu alten Freunden oder durchs Quartier schlendern, um Neues zu ent­decken? Die Kinder übers Wochenende zum ­entfernt lebenden Elternteil bringen und selbst zur neuen Liebe reisen? Einfach mal abschalten:

ein Kurztrip in eine europäische Metropole oder zum Verwandtenbesuch nach Übersee? Eine Bildungsreise mit dem Kreuzfahrtschiff oder zur Po­diumsdiskussion in die Innenstadt fahren …?
Gründe fürs Unterwegssein gibt es unzählige. Jeder ist unterwegs. Wer stehen bleibt, wird je nach Gesinnung belächelt oder bewundert.

Jeder hat seine Gründe für seinen aktuellen Wohnort und sein Verkehrsverhalten. Wahrscheinlich denkt auch jeder darüber nach, ob es sinnvoll wäre, etwas daran zu ändern – und sei es nur aus Kostengründen.

«Wie lange dauert es noch?», «Wann sind wir da?» – diese klassischen Kinderfragen halten sich seit Generationen, und die Eltern wissen ­darauf in der Regel eine Antwort. Doch sie lassen sich auch ganz allgemein auf Verkehr und Mobi­lität übertragen, und dann gehen uns schnell die Antworten aus. Im Gegenteil – in der Diskussion aus wissenschaftlicher, historischer und philo­sophischer Sicht tauchen immer neue Fragen auf. Ganz am Anfang stehen diese: Woher kommen wir? Und wohin wollen wir?

Daniela Dietsche

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Das Besondere weicht dem Gewöhnlichen

12 PANORAMA
Erdbebensicherheit rechtlich verankert | «Was über die reine Funktion hinausgeht, bleibt dem Zufall überlassen» | Verkehrsnachrichten in Kürze

18 VITRINE
Nützliches für Fassaden

20 KURSPROGRAMM WIRD MAGAZIN
Wert und Spezifik der Böden erkennen | Zu viel Technik im Bauwerk? | Beitritte zum SIA im 4. Quartal 2014

25 VERANSTALTUNGEN

26 DIE FAHRZEIT IST ENTSCHEIDEND
Dr. Kay W. Axhausen
Die Reisezeiten auf den Schweizer Strassen haben sich in den vergangenen 50 Jahren ­halbiert. Wie werden Geschwindigkeit und gewünschte Erreichbarkeit künftig den Verkehr beeinflussen?

30 «DIE ANTWORT SCHMERZT: ICH BIN ES»
Katharina Möschinger, Daniela Dietsche
Ein Gespräch mit der Philosophin Eva Schiffer und dem Wissenschafts­journalisten Marcel Hänggi über Mobilität im weiteren Sinn.

35 STELLENINSERATE

45 IMPRESSUM

46 UNVORHERGESEHENES

Die Fahrzeit ist entscheidend

Gemessen an der Reisezeit zwischen zwei Orten ist die Schweiz zwischen 1950 und 2000 auf die Hälfte ihrer Fläche geschrumpft. Die Forderung nach noch besserer Erreichbarkeit steht im Raum. Wie soll das Land damit umgehen? Ein Verkehrsexperte gibt seine Einschätzung.

Gemessen an der Reisezeit zwischen zwei Orten ist die Schweiz zwischen 1950 und 2000 auf die Hälfte ihrer Fläche geschrumpft. Die Forderung nach noch besserer Erreichbarkeit steht im Raum. Wie soll das Land damit umgehen? Ein Verkehrsexperte gibt seine Einschätzung.

Text: Kay W. Axhausen

Die letzten 250 Jahre in Westeuropa und insbesondere in der Schweiz sind eine Geschichte des Wachstums und des Reicherwerdens. Seit dem Beginn der Industrialisierung um 1750 hat die Schweiz in ihre Verkehrsnetze investiert, um am internationalen Handel und später am Tourismus teilnehmen zu können. Im frühen 19. Jahrhundert standen die Strasseninvestitionen im Vordergrund, um dann für 100 Jahre von den Eisenbahninvestitionen abgelöst zu werden.[1,2] Die letzte grosse Phase der Einigkeit darüber, dass höhere Geschwindigkeiten notwendig und wünschenswert seien, waren die Jahre des Nationalstrassenbaus. Es gab keine Fundamentalkritik, sondern nur Auseinandersetzungen über die beste Art, die gewünschten Erreichbarkeiten zu produzieren. Alle wollten damals ein Verkehrsnetz, das die erwartete dichter besiedelte und reichere Schweiz mit den herbeigesehnten Pkw und Zügen schnell und effektiv bedienen konnte. Die grosszügig geplanten und gebauten Kapazitäten reichten bis Ende des letzten Jahrtausends aus, um der wachsenden Bevölkerung die gewünschten Geschwindigkeiten zu ermöglichen. Seit 1990 merkt man aber, dass dies nicht mehr überall gelingen will – zuerst am Genfersee und rund um Zürich.

Die Schweiz ist eingelaufen

Die Zeitkarten (unten) zeigen, wie die Schweiz durch die öffentliche Investition in bessere Netze und die privaten Investitionen in schnellere Fahrzeuge geschrumpft ist. Die Karten haben denselben Massstab. Sie sind das Ergebnis einer Anpassung der Landeskarte an die Reisezeiten zwischen den Gemeinden. Die Abstände sind nicht mehr in Kilometern, sondern als Fahrzeit in Stunden angegeben. Vereinfacht gesagt ist die Strassen-Schweiz zwischen 1950 und 2000 um die Hälfte eingelaufen. Beim Schienenverkehr war die Schrumpfung nicht ganz so stark (Karten S. 28).

Der Optimismus der 1960er-Jahre ist verflogen, Verkehrs- und Infrastrukturplanung sind heute in einer Zwickmühle. Die Externalitäten bestimmen die Diskussion: Unfälle, Lärm, Stau, Abgase, Kohlendioxid, zusätzliche Fahrleistungen, Bevölkerungswachstum im Umland der Städte. Gleichzeitig werden immer noch höhere Erreichbarkeiten gewünscht, die genau diese Externalitäten erzeugen.

Distanz und Erreichbarkeit

Erreichbarkeit ist in der allgemeinen Diskussion ein relativ unbestimmter, aber positiv besetzter Begriff, der weniger Staus, höhere Geschwindigkeiten, niedrigere Fahrkosten, grössere Verlässlichkeit und allgemein mehr Mobilität verspricht. In der Fachdiskussion ist die Erreichbarkeit aber eine messbare Grösse, die die Fahrzeit zwischen zwei Orten, deren Bewertung durch die Reisenden und die Anzahl der am Ziel vorhandenen Aktivitätsgelegenheiten (Einkaufszentrum, Sportanlage etc.) zueinander in Beziehung setzt. Die Bewertung bringt zum Ausdruck, dass weiter entfernte Aktivitäten nicht so nützlich sind und damit ein tieferes Gewicht haben sollten. Die Erreichbarkeit ist ein Mass der Möglichkeiten, die die Bewohner einer Gemeinde, eines Stadtteils, eines Gebäudes haben. Man kann das Mass auch umkehren und fragen, wie viele Personen einen Punkt erreichen können. So definiert, wächst die Erreichbarkeit mit höheren Geschwindigkeiten und damit rückläufigen Fahrzeiten.

Eine erhöhte Erreichbarkeit wird von den Bewohnern einer Region anfänglich genutzt, um schneller unterwegs zu sein, dann aber allmählich auch, um an besseren, auch weiter entfernteren Orten zu arbeiten, sich zu vergnügen oder zu wohnen – ohne auf die alten Freunde oder Kontakte verzichten zu müssen. Mehr Erreichbarkeit produziert mehr Verkehr der Bewohner und Firmen, die dann im Mittel besser zusammenpassen. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Wachstum der Fahrleistung, Pendlerdistanzen und Einzugsbereiche kleiner ist als das Wachstum der Erreichbarkeiten, das der Auslöser war.[3]

Ausserorts versus innerorts

Auf nationaler und kantonaler Ebene versucht die Verkehrspolitik, mit ihren Engpass- und Agglomerationsprogrammen sowie Investitionen in das Schienen- und Strassennetz diese Erreichbarkeit zu erhöhen, da sie die Geschwindigkeiten zwischen den Gemeinden sichern oder erhöhen werden. Auf kommunaler Ebene jedoch strebt man zum Teil das pure Gegenteil an. Vor allem die grossen Städte verschieben den Verkehr auf langsamere Verkehrsmittel, indem sie den Strassenverkehr langsamer oder teurer, sprich unattraktiver machen. Zudem hat sich die Schweiz gegen eine weitere Zersiedlung ausgesprochen: mit dem neuen Raumplanungsgesetz mit seiner forcierten Innenentwicklung, dem 20%-Deckel für Ferienwohnungen und der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative (vgl. Dossier «Nachhaltigkeit planen» auf www.espazium.ch).

Anders gesagt: Die Städte reduzieren die möglichen Gewinne der kantonalen Programme, während gleichzeitig der Volkswille die Möglichkeiten einschränkt, die Gewinne aus der erhöhten Erreichbarkeit einfach zu realisieren. Ob die angestrebte Innenentwicklung ausreicht, um diese Prozesse auszugleichen, wird man sehen.

Es ist nicht offensichtlich, wie sich die Strassengeschwindigkeiten in der Summe entwickeln werden. Die Verdichtung der Takte der öffentlichen Verkehrsmittel und ihr punktueller Geschwindigkeitsausbau erhöhen die erlebte Geschwindigkeit. Der immer intensivere Flugverkehr steigert die mittleren Jahresgeschwindigkeiten massiv. Die verstärkte Nutzung des Internets ebenso: Wie viele langsame Wege und Wartezeiten werden hier durch kurzes Nachschlagen, Bestellen, Anmelden, Einkaufen ersetzt! Können die Nutzerinnen und Nutzer auf diese Weise ihre wachsende Ungeduld befriedigen und gleichzeitig ihren Umweltansprüchen genügen? Die wachsende Ungeduld ist ein Ergebnis des wachsenden Wohlstands, der aber auch dazu führt, dass die Erwartungen an die Umwelt und das Umfeld steigen.

Was passieren könnte

Die jährliche Verkehrsmenge im Individualverkehr ist das Produkt aus der Anzahl der Bewohner eines Landes mal deren Fahrleistung – plus allfälliger Ziel-, Durchgangs- und Besucherverkehre, die aber neben der Verkehrsmenge der Einheimischen nur lokal ins Gewicht fallen. Die zukünftige Bevölkerungszahl steht in den Sternen, politisch wie ökonomisch. Jede Annahme ist problematisch, aber eine konservative ist, dass die Bevölkerung konstant bleibt, die nächsten Jahrzehnte erst älter und dann durch Zuwanderung und natürliches Wachstum verjüngt wird. Eine wachsende Bevölkerung verschärft alle anderen Trends durch ihre Nachfrage nach Wohnraum, Verkehr und das durch sie realisierte und ausgelöste Wirtschaftswachstum.

Die künftige Bevölkerung wird einen grösseren Zugang zu Pkw haben. Ob es sich dabei um eigene oder um geteilte Fahrzeuge handelt, ist für die Fahrleistung gleichgültig. Die höheren sichtbaren Unkosten der geteilten Fahrzeuge werden die Nachfrage zwar dämpfen, aber nicht auf null reduzieren. Die grössere Verfügbarkeit wäre auch noch zu berücksichtigen und die damit vielleicht in der Summe grössere Fahrtenmenge. Es gibt zwar Hinweise, dass insbesondere junge Männer ihre Fahrerlaubnis später erwerben, aber noch nicht darauf, dass sie in grösserer Anzahl darauf verzichten werden.

Verkehrsnutzung politisch steuern

Spannender ist die eminent politische Frage, ob die Schweiz in Zukunft davon abrücken wird, die Erreichbarkeit substanziell zu erhöhen, indem sie keine neuen Kapazitäten mehr baut, oder ob sie die Kapazitäten durch erhöhte Preise der Nutzung quasi rationiert.

Bei neuen Kapazitäten stellt sich das Problem, dass die Anforderungen in Sachen Lärmschutz, Sicherheit, Trassenführung überproportional gewachsen sind und ihre Kosten deshalb stärker als die allgemeinen Baukosten gestiegen sind. Während die Eisenbahnen ihre Finanzierungspakete bisher genehmigt bekamen, ist es nicht klar, ob dies auch bei den Strassen so sein wird (vgl. TEC21 5–6/2014, «Was hinter FABI steckt»).

Die Rationierung durch Preise hätte zwar den Vorteil, dass das System verlässliche und je nach Preis sogar höhere Geschwindigkeiten anbieten könnte, aber die politische Akzeptanz ist bisher noch nicht erkennbar.

Die Schweiz muss also bauen oder rationalisieren. Sonst wird der Strassenverkehr langsamer, und wachsende Belastungen und Preissteigerungen im öV sind zu erwarten, da die Fahrweiten der Bevölkerung weiter wachsen werden. Familien oder Paare mit zwei arbeitenden Erwachsenen werden weiter Schwierigkeiten haben, Arbeitsplätze am selben Ort zu finden – je spezialisierter die Wirtschaft wird, desto unwahrscheinlicher. Neben der zeitlichen Belastung der Bevölkerung verzichtet die Schweiz durch den fehlenden Ausbau oder Rationierung aber auch auf die Produktivitätsgewinne durch eine höhere Erreichbarkeit.

Fast so gut wie «beamen»

Eine Hoffnung auf billige höhere Kapazitäten und Erreichbarkeiten gibt es aber im Moment: autonome (elektrische) Fahrzeuge, vielleicht ab 2030 fahrerlose Fahrzeuge. Die Vision kleiner, schneller, aber sicherer Elektrofahrzeuge fasziniert wegen ihrer Möglichkeiten im Moment alle an Verkehrs- und Stadtplanung Interessierten. Sie wären leise, sie würden allen Personen zur Verfügung stehen, sie könnten Dinge holen und bringen, sie könnten sich selbst umsetzen, sie könnten effektiv geteilt werden. Fast so gut wie «beamen».

Die Hürden auf dem Weg zu einer solchen Schweiz sind im Moment noch hoch: Kann das Recht so angepasst werden, dass ein Fahrzeug ohne letztverantwortlichen Fahrer betrieben werden kann? Wer legt die Regeln für die Fälle fest, in denen sich das System zwischen zwei unglücklichen Ergebnissen entscheiden muss (vgl. das «Trolley Problem»4)? Ist es überhaupt möglich, die notwendigen Karten zu erstellen und praktisch in Echtzeit so aktuell wie nötig zu halten? Wie kann, wie muss man sich als Fussgänger in einem solchen Verkehr verhalten? Neben den technischen, rechtlichen und moralischen Problemen stehen die verkehrlichen Fragen: Wie viel mehr Verkehr würde ein solches System erzeugen? Würden die Erreichbarkeitsgewinne durch die höhere Fahrleistung erschöpft? Würde am Ende doch mehr CO2 als vorher erzeugt?

Geschwindigkeit und Erreichbarkeit stehen nicht im Mittelpunkt

Die Zwickmühle ist klar: Die Schweiz möchte höhere Erreichbarkeiten, ist aber im Moment weder bereit, den Ausbau der Kapazitäten durch Steuern zu finanzieren, noch will sie die Nachfrage über Preise so einschränken, dass die erhöhte Erreichbarkeit allen Verkehrsteilnehmern nur zeitweise zur Verfügung steht. Hoffen auf autonome Fahrzeuge ist angesichts ihrer Hürden keine wirkliche Lösung. Politische Diskussionen über Strassengebühren oder Mobility Pricing scheitern an genau dieser Zwickmühle, vor allem, da die Geschwindigkeiten und damit die Erreichbarkeiten nicht in den Mittelpunkt gestellt werden. Es wäre den Versuch wert, den Prozess mit einer Diskussion über die gewünschten Geschwindigkeiten zu beginnen. Diese Zielgrösse würde dann die baulichen, preislichen, finanziellen Massnahmen festlegen. Die Diskussion wäre wieder auf Visionen gerichtet und nicht mehr wie jetzt auf allfällige Verluste.


Anmerkungen:
[01] T. Frey und H.-U. Schiedt: Transformation periods in Switzerland’s transport system, 1810–1910 – The structures and processes of traffic acceleration, paper presented at the 1st International Conference on the History of Transport, Traffic and Mobility (T2M), Eindhoven, November 2003.
[02] H.-U. Schiedt: Die Strassennetze 1750–1850 – Aspekte des Wandels, 1998, Historicum: Zeitschrift für Geschichte 57, S. 10–17.
[03] C. Weis und K. W. Axhausen: Aktivitätenorientierte Analyse des Neuverkehrs: Leitfaden 2012/02, SVI, St. Gallen 2013.
[04] Eine Strassenbahn (Trolley) ist ausser Kontrolle geraten und droht, fünf Personen zu überrollen. Durch Umstellen einer Weiche kann die Bahn auf ein anderes Gleis umgeleitet werden. Dort befindet sich eine weitere Person. Darf der Tod dieser einen Person in Kauf genommen werden, um das Leben von fünf Personen zu retten? Bei diesem Gedankenexperiment geht es um die Frage, ob man den Tod weniger in Kauf nehmen darf, um viele zu retten, oder zu diesem Zweck sogar herbeiführen muss. Das Entscheidungsproblem wird in der Fachliteratur variiert mit der Absicht, Grenzen für die moralische Bewertungen von Handlungen auszuloten und festzustellen, ab wann und mit welcher Begründung eine bestimmte Entscheidung als moralisch gerechtfertigt oder verwerflich gilt.

TEC21, So., 2015.02.22

22. Februar 2015 Kay W. Axhausen

«Die Antwort schmerzt: Ich bin es»

Mit der Philosophin Eva Schiffer und dem Wissenschaftsjournalisten Marcel Hänggi sprachen wir über Verkehr und Mobilität im weiteren Sinn. Das Experiment eines interdisziplinären Dialogs hat
Überlegungen hervorgebracht, die weit über technische Lösungsansätze hinausgehen und nachdenklich stimmen.

TEC21: Was bedeutet Fortschritt im Zusammenhang mit Mobilität?
Marcel Hänggi: Fortschritt ist ein grosses Wort. Ich wäre schon froh, wenn es keinen Rückschritt mehr gäbe. Es wird oft behauptet, unsere Gesellschaft werde mobiler. Ich behaupte das Gegenteil.

Wie kommen Sie zu dieser These?
Hänggi: Verkehr und Mobilität – oder sagen wir Mittel und Zweck – werden oft verwechselt. Der Verkehr nimmt natürlich zu, mit allen negativen Folgen. Kinder haben motorische Defizite, die Krankheiten infolge von Bewegungsmangel nehmen zu. Mir geht es um die Möglichkeit, meine Mobilitätsbedürfnisse im umfassenden Sinn befriedigen zu können. Unsere Mobilität, verstanden als Fähigkeit, das Bedürfnis nach Ortsveränderung zu befriedigen, unterscheidet sich nicht wesentlich von jener der Menschen vor 100 Jahren. Das gilt auch für die «Unterwegszeit»: Schnellere Verkehrsinfrastrukturen führen nicht zu Zeitersparnissen, sondern dazu, dass wir längere Wege zurücklegen. Die Mobilität ist konstant geblieben, der Mobilitätsaufwand – Kosten, Umweltverschleiss usw. – hingegen hat sich vervielfacht. Deshalb ist auch die Behauptung falsch, Mobilität sei zu billig. Heute gibt ein durchschnittlicher Schweizer Haushalt 8 % seines Budgets für Mobilität aus, mehr als für Lebensmittel. Vor 50 Jahren war es ein Bruchteil dessen.

Frau Schiffer, Sie haben einmal geschrieben, wir müssen zuerst den Stau im Kopf überwinden, um alles wieder in Fluss zu bringen (vgl. Kasten S. 32).
Eva Schiffer: Aus philosophischer Sicht müssen wir einen Schritt zurückgehen und uns fragen, wie wir als Gesellschaft in eine bestimmte Situation geraten sind.

Wir alle hetzen ständig hinter etwas her. Kay Axhausen schreibt in seinem Beitrag «Die Fahrzeit ist entscheidend» (vgl. S. 26) von einer «Befriedigung der Ungeduld, die ein Ergebnis des wachsenden Wohlstands ist».
Hänggi: Das ist offensichtlich.
Schiffer: Dieser frenetische Aktivismus ist etwas Entsetzliches. Jeder kennt das: diese Atemlosigkeit, die Unfähigkeit zu verweilen ... In der Geisteswissenschaft kann diese Entwicklung wunderbar nachvollzogen werden. Die christliche Heilsvorstellung verweist von hier nach dort. Und der Fortschrittsgedanke zur Zeit der Aufklärung, dass es «künftig» besser sein wird, knüpft an diese Vorstellung an. Diese Muster sind tief in uns verankert. In der vorchristlichen Zeit war das noch nicht so. Das griechische Wort für Bewegung, «Kinesis», bedeutet nicht die Verschiebung von Körpern im Raum, sondern bezeichnet «das, was uns bewegt». Hier muss niemand «weiterkommen».

Nun steht die Verkehrsplanerin, der Verkehrsplaner im Alltag vor der Aufgabe, ganz konkret die Infrastruktur so zu bauen, wie sie gewollt ist. Aber was wollen denn die Menschen wirklich? Herr Hänggi, Sie haben in Ihrem Referat am Berner Verkehrstag 2013 gesagt: Der Trend zur Verkehrszunahme wird gemacht. Was heisst das?
Hänggi: Wollen ist vielschichtig. Es gibt auch Dinge, die ich nur meine zu wollen. Ich glaube, in der Verkehrsdebatte hat vieles mit Fehlwahrnehmungen zu tun, mit der Verwechslung von Mittel und Zweck. Jede neue Verkehrsinfrastruktur schafft Zwänge. Was meist übersehen wird – und das finde ich psychologisch erklärbar –, ist, dass jede neue Strasse oder Bahnstrecke mir zwar grundsätzlich die Möglichkeit gibt, sie zu benutzen – also mir die Freiheit dazu schafft –, mich aber auch zu einem gewissen Grad dazu zwingt. Es ist ein mittelbarer Zwang, beispielsweise für mich als Konkurrent auf dem Arbeitsmarkt, wenn ich dieselben Chancen wie meine Mitkonkurrenten haben will. Oder wenn ich mir nicht mehr leisten kann, an einem Ort zu wohnen, weil eine neue S-Bahn-Linie die Mieten steigen lässt. In den USA gibt es die Diskussion um den «urban sprawl». Es wird behauptet, die Zersiedelung sei Ausdruck für den Willen der Menschen, immer weiter ausserhalb zu wohnen. Dabei ist die Suburbanisierung unter anderem eine Folge gezielter Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Zurückkehrende Veteranen bekamen Land in den Vororten. In der Boomzeit nach dem Krieg hat man in den Levittowns sogar bewusst fussgängerfeindlich gebaut, denn mit Fussgängern assoziierte man die Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren.
Schiffer: Der Fussgänger ist ein gutes Beispiel. Wenn vor meinen Augen das Bild eines «Herumlungernden» entsteht, möchte ich kein Fussgänger sein. Der japanische Dichter Takiguchi zeichnet ein anderes Bild des Fussgängers: Sein Körper und sein Geist sind leicht, deshalb vermag er unterschiedliche Dinge wahrzunehmen. Da erscheint der Fussgänger als freier Mensch. Es ist wichtig, dass wir über die Bilder, die uns ergreifen, nachdenken und uns nicht nur mit technischen Lösungsvorschlägen befassen. Bis zu einem gewissen Grad sind wir selbst für die Wirkung von Bildern auf uns zuständig.
Hänggi: Vieles von dem, was Sie sagen, ist sicher mehrheitsfähig. Es gibt viele Menschen, die kein Interesse daran haben, ständig herumzurennen oder in der verstopften S-Bahn bzw. im Stau zu sitzen. Aber gleichzeitig sind wir infrastrukturellen Zwängen ausgeliefert. Ein Autofahrverbot würde die Freiheit der Menschen einschränken, die ein Auto benutzen. Sie haben sich ihr Leben so eingerichtet, dass sie es brauchen – auch wenn sie meine Einschätzung der Verkehrssituation teilen. Was aber viel mittelbarer ist: Das Fahrzeug befriedigt Bedürfnisse, die die Menschen nicht hätten, wenn es das Auto nicht gäbe. Würden die Autos von heute auf morgen abgeschafft, wäre der Verlust mittelfristig verhältnismässig klein. Aber der Gedanke ist zunächst erschreckend. Was ich damit sagen will: Bei einer Verkehrsreduktion wird die Einschränkung der Freiheit unmittelbarer erfahren als der Zugewinn von Freiheit, der daraus resultiert. Das erklärt ein Stück weit diese Diskrepanz, dass viele Leute durchaus lieber eine Welt hätten, in der weniger gehetzt wird ...
Schiffer: Es geht doch um die differenzierte Selbstwahrnehmung. Wenn ich als Autofahrerin mit dem Auto von A nach B will und mich auf diesem
Weg etwas begrenzt, dann nervt mich das – aber ich bin ja nicht nur Autofahrerin. Bin ich frei genug, über meine Autofahrerinnenwünsche hinauszudenken? Mich beispielsweise zu fragen, wozu ich da eigentlich herumfahre? Für den Philosophen Peter Bieri ist Freiheit ein Handwerk – eine Kunst, die wir ständig üben müssen. Es ist schwierig, sich von etwas zu befreien; noch schwieriger jedoch ist die Reflexion der Frage, wozu wir denn nun frei sind. Sind wir imstande, Freiheit in Sinn zu verwandeln? Im Übrigen ist das Gegenteil eines Übels nicht schon per se das Gute, so einfach ist es nicht. Wichtig ist der Wille zur Nachdenklichkeit des Einzelnen. Es ist für mündige Bürger keine Lösung, die Verkehrsprobleme den Planern auf den Tisch zu legen.

Was kann ein Auslöser sein, sich solche grundsätzlichen Fragen zu stellen? Braucht es die Erfahrung der staatlich verordneten Begrenzung, die doch wiederum ein Eingriff in die individuelle Freiheit ist?
Hänggi: Ich erlebe häufig in Debatten, dass Personen, die sich als liberal bezeichnen, staatliche Eingriffe befürworten, wenn es um Massnahmen zur Verkehrsreduktion geht und die Leute «gezwungen» werden sollen, weniger zu fahren. Aber die ganze Verkehrspolitik ist doch interventionistisch! Privatverkehr ist nur zur Hälfte privat, die Strassen gehören dem Staat. Es ist auch der Staat, der sie baut. Und es ist der Staat, der mich durch seinen Strassenbau zwingt, meine Kinder in ihrer Freiheit einzuschränken, damit sie nicht überfahren werden. Das Recht des Kinds, sich im öffentlichen Raum wie ein Kind zu bewegen, ist aber ein existenzielleres Recht, als mit 50 durchs Quartier zu rasen. Von daher geht es nicht um staatliche Intervention ja oder nein, sondern wenn schon, um die Form der staatlichen Intervention.
Schiffer: Unser ethisches Empfinden ist zutiefst von der Vorstellung einer Morallehre geprägt, bei der es nur um Verbote und Gebote geht. Was uns fehlt, ist eine zeitgemässe Strebens-, Glücks- und Wertethik – die ernsthafte Reflexion dessen, was uns wirklich wichtig ist. Auch ein kluger Techniker ist nicht nur Techniker, der technische Lösungen austüftelt, sondern zudem ein reflexiver Mensch, der über Sachfragen hinaus über grössere Zusammenhänge nachdenkt.
Hänggi: Ein realpolitischer Faktor, der in der Schweiz zum extremen Verkehrskonsum beiträgt, ist das gegenseitige Hochschaukeln von Schiene und Strasse. Im Bahnland Schweiz legen die Leute viel mehr Kilometer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück als im Autoland Deutschland. Aber die Schweizer fahren deswegen nicht weniger Auto – sondern gleich viel wie die Deutschen! Wir tun also beides exzessiv. Unser öV löst das Auto nicht ab, sondern produziert hauptsächlich Mehrverkehr. Beispielsweise kann ich dank der S-Bahn in Winterthur leben und in Baden arbeiten. Trotzdem nehme ich abends das Auto für die Freizeit. Da liegt der Verdacht nah, dass die S-Bahn kontraproduktiv war.

Je besser die Verkehrsinfrastruktur ist, umso selbstverständlicher wird der Anspruch auf Erreichbarkeit.
Schiffer: Wer produziert denn den ganzen Verkehr? Die Antwort schmerzt: Ich bin es. Die
Entscheidung, ob ich abends noch das Auto für die Freizeit nutze, liegt bei mir. Wir sollten über den realpolitischen Diskurs hinaus über uns selbst nachdenken, um zu verstehen, wie wir überhaupt hierher gekommen sind. Wie wollen wir unsere Probleme lösen, wenn wir nicht einmal die Problemstellungen selbst genauer in den Blick nehmen? Die «Lösungen», die wir produzieren, bleiben immer auf der Ebene von «Schiene oder Strasse», «längeren
oder kürzeren Verkehrswegen» usw. Die eigentliche Frage – was wir uns unter einem guten menschlichen Leben vorstellen – berühren wir nicht einmal.

Zum Schluss eine Frage zu einem technischen Lösungsansatz. Um den Verkehr zu steuern, wird Mobility Pricing in verschiedenen Varianten diskutiert. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Hänggi: Ich finde diesen Ansatz gefährlich. Betrachtet man Mobilität als das, was die Ökonomie als Gemeingut ansieht, geht der Wert verloren, wenn Einzelne das Gemeingut übernutzen. Die klassische Antwort der Ökonomie ist, dass man das Gut handelbar macht. Mobility Pricing ist genau das. Die Leute übernutzen die Verkehrsinfrastrukturen, also muss man sie verteuern. Aus ökonomischer Sicht wird es meist positiv bewertet, aber die Schwächsten kommen unter die Räder. Mobilität ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Mit Mobility Pricing spart derjenige Zeit, der es sich leisten kann. Das ist gesellschaftlich von einer unglaublichen Tragweite. Wenn ein Mensch, der mehr Geld zur Verfügung hat, mich dazu zwingen kann, Zeit zu verlieren, ist das für eine egalitäre Gesellschaft inakzeptabel. Ich bin durchaus der Meinung, dass der Verkehr weit davon entfernt ist, seine Infrastrukturen zu finanzieren, und dass das korrigiert werden muss, aber mit Mobility Pricing führen wir soziale Probleme ein.
Schiffer: Soziale Probleme, von denen wir glauben, sie überwunden zu haben, und die einer liberalen Gesellschaft unwürdig sind. Bei dem amerikanischen Philosophen Michael Sandel bin ich in diesem Zusammenhang noch auf ein anderes Argument gestossen: Klimaabgaben und Mobility Pricing würden zur Annahme verführen, es gebe ein Recht auf Emissionen und beschleunigte Mobilität, und dieses sei käuflich. Zudem entstehe die Illusion, ständig herumzufliegen oder mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs zu sein seien Werte an sich, schliesslich habe man dafür bezahlt, und wofür man bezahle, sei wertvoll. Worum es einer zeitgemässen philosophischen Ethik geht, ist die Reflexion und der Dialog über das, was wir wirklich wertvoll finden. Können wir uns überhaupt ein anderes, weniger gnadenlos beschleunigtes menschliches Zusammenleben vorstellen als das gegenwärtige?

TEC21, So., 2015.02.22

22. Februar 2015 Daniela Dietsche, Katharina Möschinger

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