Editorial

In den 1960er- und 70er-Jahren wurden die Kernreaktoren in Beznau und Mühleberg gebaut. Wie die späteren KKW Gösgen und Leibstadt sind sie imposante und riskante Anlagen, von der Kon­struktion und Material­wahl für die Ewigkeit gebaut – doch mit nur kurzlebig nutzbarem und hochriskantem Inhalt.

Bemerkenswert war ­damals der öffent­liche ­Widerstand gegen fossile Grosskraftwerke und den Ausbau der Wasserkraft, weshalb die Stromwerke des Kantons Bern und der Nord­ost­schweizer Kantone die unbestrittene Ersatz­variante Atomkraft bevorzugten. Auch der ­Bundesrat hat den Bau der ersten Kernkraft­werke ausdrücklich unterstützt.

Ein halbes Jahrhundert später hat der Wind gedreht: Nach dem Reaktorunfall in Fukushima im März 2011 will die Schweiz definitiv aus der Kernenergie aussteigen, so der Bundesplan.

Gemäss Energiestrategie 2050 sind alle fünf ­Reaktoren vom Netz zu nehmen, kontrolliert still­zulegen und schadlos zu demontieren. Über die Laufzeiten, die Entsorgungskosten und die End­lagerung der radioaktiven Abfälle wird seither heftig gestritten. Wofür das Parlament plädiert, war bis Redaktionsschluss nicht bekannt; den Grund­satz­entscheid wird aber das Stimmvolk fällen und die Umsetzungsveranwortung somit an die Behörde und die KKW-Betreiber delegieren.

Und hier interessiert nun, wie die Fachleute und die Ingenieure diesen Auftrag anpacken sollen. Darauf gilt es sich gefasst zu machen: ­Stilllegung und Rückbau von Kernkraftwerken sind eine ­Generationenaufgabe; der zeitliche und ­materielle Grossaufwand sowie die Einhaltung höchster Qualitätsanforderungen erfordern aussergewöhnliche Gewissenhaftigkeit.

Paul Knüsel, Daniela Dietsche

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Der Solarenergie Gestalt geben

10 PANORAMA
Ein Jahrhundert für die Architektur | Barcelona ­berührt | In Kürze | Bücher

14 VITRINE
Farbiges für Büro und Wohnen | Neues aus der Bauindustrie

18 SCHWEIZER BAUWIRTSCHAFT SPÜRT GEGENWIND
Stabdübelverbindungen gemäss SIA 265:2012

21 VERANSTALTUNGEN

22 RÜCKBAU VON KKW: WO STEHT DIE SCHWEIZ?
Paul Knüsel
Was die Schweizer Betreiber planen und worauf sie achten müssen.

27 VON HEISS ZU KALT
Paul Knüsel
Beim Auskernen von Forschungsreaktoren konnte das Paul-Scherrer-Institut Erfahrungen sammeln.

­30 «DER RÜCKBAU IST EIN KREATIVES FELD»
Daniela Dietsche, Paul Knüsel
Ein Gespräch mit Sascha Gentes, dem einzigen Professor im deutschsprachigen Raum für Stilllegung und Rückbau von Kernkraftwerken.

32 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Rückbau von KKW: Wo steht die Schweiz?

Die ersten Kernkraftwerke sind ohne grossen Aufruhr in Betrieb genommen worden. Die Stilllegung der rund 40 Jahre alten Energieerzeugungsanlagen hat jedoch politische Grabenkämpfe provoziert. Sicher ist: Mühleberg geht 2019 vom Netz. Aber wie geht es danach weiter?

Ein Turm, der fast alle Bauwerke in der Schweiz überragt; daneben eine Kuppel aus fast 2 m dicken, bombensicheren Wänden sowie ein Maschinenhaus mit riesigen Turbinen und Generatoren. Moderne Kernkraftwerke fallen durch ihre räumlichen Dimension in ungewohntem Massstab auf; ihre Bausubstanz ist derart unverkennbar und massiv, weil darin eine schwer fassbare Gefahr kontrolliert genutzt werden muss: der Kernreaktor. Die Hauptingredienz, das gespaltene Uranatom, strahlt mindestens 200 000 Jahre lang für Mensch und Umwelt gefährliche Alpha- und Gammastrahlen ab. Doch nur für einen Bruchteil dieser Spanne ist die sorg- und gefahrlose Nutzung von Nuklearenergie überhaupt möglich. Der Kernzerfall nagt am Material: Spätestens wenn der Reaktordruckbehälter aus Edelstahl (bis 160 bar) versprödet, ist die technische Lebensdauer von Kernkraftwerken zu Ende. Selbst die Betreiber wissen, dass die nukleare Energieerzeugungsmaschine nicht ad infinitum funktioniert; kein KKW ist für die Ewigkeit gebaut.

Würden neue Anlagen errichtet, das Rückbaukonzept wäre bereits vor dem Spatenstich fest eingeplant. Die verwendeten Materialien wären geringer aktivierbar, die festen Einrichtungen einfacher demontierbar, die Sperrzonen kleinräumiger abschliessbar und zudem mehr Flächen im Voraus für die Entsorgungslogistik reserviert. Darauf hat das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi zumindest hingewiesen, als vor sechs Jahren die Rahmenbewilligungsgesuche für drei Ersatzkernkraftwerke in Gösgen, Beznau und Mühleberg eingereicht worden sind. Diese Vorhaben sind inzwischen sistiert; stattdessen wird nun über die ersatzlose Stilllegung und Rückbau der fünf inländischen Leistungsreaktoren debattiert (Abb. S. 24). In der Energiestrategie 2050 des Bundes bleibt einzig die Frage offen, wann es die Kernkraftwerke abzuschalten und unschädlich abzuwracken gilt (vgl. Kasten S. 24). Dieser Zeitpunkt sei noch «in weiter Ferne» respektive werde so lang nicht eintreten, «bis der sichere und wirtschaftliche Betrieb nicht länger aufrecht erhalten werden kann», erklärt Axpo-Sprecher Tobias Kistner. Nur in Leibstadt und Mühleberg werden Rückbautermine genannt: «Vor 2045 möchten wir die Anlage nicht ausser Betrieb nehmen», hofft Leibstadt-Sprecherin Andrea Portmann. Die BKW AG hat jedoch «unternehmerisch» entschieden, das KKW Mühleberg, die drittälteste Anlage der Schweiz, 2019 endgültig stillzulegen.

Stilllegung Mühleberg planen

Der 372-MWel-Siedewasserreaktor ist dreimal kleiner als die jüngeren Anlagen in Gösgen oder Leibstadt; und im Vergleich dazu fehlt in Mühleberg der Kühlturm. Doch auch so bleibt ein Koloss aus rund 200 000 t Beton, Stahl, Metall und Dichtungsmaterial, der 42 Jahre betrieben werden konnte und dessen Rückbau halb so lang dauern sollte. «Die Arbeiten beginnen unmittelbar nach dem Abschalttermin. Die radioaktiven Quellen werden schnellstmöglich aus dem Reaktor beseitigt», erklärt BKW-Konzernsprecher Tobias Fässler. Zuerst wird der Reaktorkern ausgeräumt: Die hochaktiven Brennelemente werden zum Auskühlen in ein Abklingbecken verschoben. Aus Sicherheitsgründen werden die Lüftungs- und Filteranlagen weiterhin funktionieren; die Strom- und Wasserversorgung sowie die Überwachungssysteme bleiben ebenfalls in Betrieb. Fünf Jahre später werden die radioaktiven Strahlungsquellen abtransportiert.

Solange die Standortsuche für ein geologisches Tiefenlager in der Schweiz läuft (vgl. TEC21 41/2010), werden alle schwach bis hoch radioaktiven Stilllegungsabfälle in das Zwischenlager Zwilag in Würenlingen gebracht. Exporte zur Abfallentsorgung oder Wiederaufbereitung sind seit 2006 ausgesetzt und werden im revidierten Kernenergiegesetz definitiv verboten. Der Standort Mühleberg wird ab 2024 von den übrigen nuklearen Anlageteilen befreit, sodass sechs Jahre später Abbruch und Demontage der konventionellen Kraftwerksteile beginnen können. Vier Jahre später soll der KKW-Standort an der Aare aufgehoben sein. Doch wird er ab 2034 wieder grüne Wiese? «Der Entscheid für eine industrielle oder naturnahe Nachnutzung folgt in den nächsten Jahren», ergänzt Fässler. Der Abschluss des Stilllegungsprojekts wird unabhängig davon im Kernenergiegesetz definiert: Sobald das Areal frei von radiologischen Gefahrenquellen ist, die Strahlendosis Dutzender Radionuklide (vgl. Kasten «Kerntechnische Begriffe», S. 23) die Richtwerte einhält, die Bauten kontaminationsfrei sind und Abfälle sachgerecht entsorgt sind, wird die Anlage aus der Aufsichtspflicht entlassen.

Die Kontrollbehörde Ensi ist aber jetzt schon in die Mühleberg-Planung involviert: Bis Ende Jahr erwartet sie von der BKW ein Konzept für den Abtransport und die Zwischenlagerung des Kernbrennstoffs, inklusive Beschaffung der Transport- und Lagerbehälter. Und zudem hilft eine Begleitgruppe, bestehend aus Ensi, den Bundesämtern für Energie, Umwelt und Raumentwicklung sowie dem Standortkanton Bern, die «pionierhafte Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg» zu koordinieren. «Ziel ist ein möglichst effizientes, sicherheitsgerichtetes und zielführendes Bewilligungsverfahren», erklärt David Suchet, Mediensprecher der Ensi. Bis in zwölf Monaten möchte die BKW das offizielle Stilllegungsdossier übergeben. Grünes Licht für den Rückbau gibt der Bund danach per Verfügung, die von der direkt betroffenen Bevölkerung mit Beschwerde angefochten werden kann. Der Blick nach Deutschland zeigt, dass Laufzeit und Kosten politisch umstritten sind, der technische Rückbau aber kaum Widerstand provoziert.

Referenz-Rückbaustellen in Deutschland

Das nördliche Nachbarland nimmt bei Stilllegung, Abbruch und Entsorgung von Kernanlagen eine europäische Führungsrolle ein. Die grössten Rückbaustellen sind das KKW Mülheim-Kärlich am Niederrhein, 1988 stillgelegt und bis 2025 abgeräumt, sowie die Grossanlage in Greifswald mit fünf Leistungsreaktoren – hier läuft die Demontage seit 20 Jahren. Der Rückbau des 670-MW-KKW Würgassen soll nach 17 Jahren demnächst seinen Abschluss finden (Abb. unten). 17 Anlagen sind offline und warten auf baldigen Abbruch. Weitere Stilllegungsprojekte sind aus Spanien, Belgien und Schweden bekannt. «Wir haben die Erfahrungen von 37 Kraftwerken analysiert, davon 22 in Deutschland», erklärt BKW-Sprecher Tobias Fässler. Derweil hat der Energiekonzern Alpiq selbst ein deutsches Rückbauunternehmen eingekauft.

Die inländischen KKW-Betreiber sind jedoch gesetzlich gezwungen, sich auf dem Laufenden zu halten: Alle fünf Jahre sammelt der Verband Swissnuclear die aktuellen Angaben zu den anlagespezifischen Stilllegungskosten. Die letzten Daten stammen von 2011; sie beruhen auf einem Standardmodell und Erfahrungswerten aus Deutschland. So wird der Nachbetrieb etwa fünf Jahre dauern; der Rückbau sollte rund zehn Jahre später mit der Entlassung aus dem Kernenergiegesetz beendet sein. Weitere grundlegende Erkenntnisse sind: Nukleare Hauptbestandteile wie Druckbehälter oder Teile des biologischen Schilds und der Betonhülle werden prioritär abgebaut. Der Rückbau von Reaktorkuppel und anderen Sperrbereichen erfolgt frühestens in zehn Jahren, erst aber im ausgeräumten Zustand. Und Siedewasserreaktoren erhöhen den Rückbau- und Entsorgungsaufwand im Vergleich zum Druckwasserreaktor.

Eine alternative Stilllegungsvariante bietet der «sichere Einschluss»: In Deutschland wurden drei Reaktoranlagen nicht sofort zurückgebaut, sondern technisch angepasst und vorläufig stehen gelassen. Die Strahlendosis der Reaktorkomponenten klingt natürlich ab; bis zu 50 Jahre Warten hilft dadurch, den Dekontaminationsaufwand wesentlich zu reduzieren. Obwohl inländische KKW-Betreiber die Einschlusstrategie für preisgünstiger halten, bevorzugt das Ensi den zeitnahen Rückbau (vgl. Kasten «Internationale Standards», S. 23).

Unabhängig vom Zeitplan verursacht jeder Rückbau sehr viel qualitativ unterschiedliches Material. Zwar sind nur die Brennelemente hochaktiv. Und insgesamt fallen rund 3 % der Mühleberg-Baumasse in die Kategorie der radioaktiven Abfälle, wofür Zwischenlagerung respektive geologisches Tiefenlager der richtige Entsorgungsweg ist. Doch jedes Kilogramm Rückbaumaterial, das dank sorgfältiger Trennung, Reinigung oder Dekontamination nicht als radioaktiver Abfall, sondern konventionell entsorgt werden kann, entlastet das Stilllegungsbudget überproportional. Wie viele Reaktorkomponenten als verstrahlt anzunehmen sind, lässt sich aktuell aber nur mit grossen Unsicherheiten abschätzen: Beim Rückbau deutscher Anlagen ist zuletzt aufgefallen, dass der Betonmantel stärker kontaminiert ist als zuvor angenommen. Und zudem soll der Bewertungsrahmen für die Freimessung strenger werden: Gemäss David Suchet sind die Freigrenzen der Isotopenpalette an internationale Standards anzugleichen; in anderen Staaten werden bis zu 800 Radionuklide erhoben. Swissnuclear hat seinerseits die Kosten für Stilllegung und Entsorgung zwischen 2006 und 2011 um fast 20 % nach oben korrigiert. Und sogar die Entsorgung von freigemessenem Betonabbruch und Stahlschrott kann Probleme bereiten. Anwohner von deutschen Deponien beginnen sich gegen die Ablagerung von unbedenklichen Stilllegungsabfällen zu wehren.

Viele solcher Details werden an den regelmässigen Fachkonferenzen über die Stilllegung und den Rückbau von Kernkraftwerken diskutiert. In den Tagungsprogrammen haben sich weitere, ungewöhnliche Themen etabliert: die Rolle der Fachkräfte, die ihren eigenen Arbeitsplatz aufheben sollen, und die Gefahr eines Know-how-Verlusts, bevor die Anlage stillgelegt ist. Auch die BKW ist sich bewusst, dass der Mühleberg-Rückbau mit angemessenen personellen Ressourcen umzusetzen ist. «Wir legen grossen Wert darauf, das interne Know-how für die Stilllegung zu nutzen, und bilden die jetzigen Mitarbeitenden dazu aus», bestätigt Tobias Fässler. Wichtig für Ensi-Vertreter David Suchet ist zudem, dass die «Zusammenarbeit zwischen internem Werkspersonal und externen Spezialisten funktioniert».

TEC21, Fr., 2014.12.05

05. Dezember 2014 Paul Knüsel

Von heiss zu kalt

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.

In der Schweiz sind bereits mehrere Forschungsreaktoren stillgelegt, teilweise demontiert und für die Endlagerung vorbereitet worden. Das Paul-Scherrer-Institut hat beim Entkernen und Dekontaminieren der Versuchsanlagen besonderes Geschick gezeigt.
Text: Paul Knüsel

Der Traum vom eigenen Reaktor begann auf einer grünen Wiese im unteren Aargauer Aaretal. Ab Mitte der 1950er-Jahre lotete ein Konsortium der damaligen Grossfirmen Brown Boveri & Cie, Gebrüder Sulzer sowie Escher, Wyss und Cie das industrielle Potenzial der zivilen Atomtechnologie aus.[1] Walter Boveri persönlich schloss den Kaufvertrag für die abgelegene Parzelle zwischen Aare und Wald ab; in der Folge entstand darauf das Reaktorzentrum Würenlingen (Schweizerische Bauzeitung, Jg. 76, H. 38), und heute ist dies das östliche Gelände des Paul-Scherrer-Instituts (PSI). Hier erforschen Physiker und Chemiker der ETH nun Materialien, Supraleiter und Photovoltaikzellen; vor 57 Jahren trat die Schweiz an diesem beschaulichen Standort aber ins Atomzeitalter ein: Am 30. April 1957 wurde der erste Versuchsreaktor hochgefahren und die Uranspaltung in Gang gesetzt.

Die Testanlage war ein Swimmingpool-Reaktor mit Leichtwasser im Kühlbecken, dessen bläulicher Schimmer dem Reaktor den Namen Saphir verlieh. Die Anlage war eine US-amerikanische Entwicklung und zwei Jahre zuvor als Demonstrationsobjekt für die erste UNO-Atomkonferenz aus Übersee nach Genf gebracht worden. Die inländische Reaktor AG konnte den funktionstüchtigen Kleinreaktor erwerben und erhielt als Gastgeschenk noch 6 kg hoch angereichertes Uran dazu. Über drei Jahrzehnte dienten Saphir und die Brennstäbe der inländischen Reaktorforschung. Ende 1993 war Schluss: Anstandslos nahmen die Amerikaner die Uran-Isotope zurück; die Leute vor Ort kümmerten sich um den grösseren Aufwand für Ausserbetriebnahme, Dekontamination und Rückbau der Saphir-Anlage.

1998 reichte die PSI-Direktion das offizielle Stilllegungsgesuch ein, zwei Jahre später genehmigte der Bundesrat die Demontage. Die Rückbauarbeiten begannen 2002, und bis 2008 waren die Reaktorbestandteile, insbesondere die Unterwasserinstallationen und der Pool, mithilfe fernbedienter Werkzeuge zerlegt. Die Aufsichtsbehörde, die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK, heute: Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi), erlaubte, das Reaktorwasser ohne Kontaminationsgefahr für die Umwelt in die Aare einzuleiten. Vollständig aus der Welt sind die zerlegten oder eingeschmolzenen Rückbaumaterialien der Saphir-Testanlage trotzdem nicht: Die 500 t schwere Masse wurde möglichst klein verpackt und in 200-l-Fässer und Kleincontainer für die Zwischenlagerung einbetoniert (konditioniert).[2]

Weil sich im Untergeschoss des Saphir-Gebäudes ein temporäres Kernbrennstofflager befindet, bleibt die Aufsichtspflicht bestehen, und eine anderweitige Nutzung ist ausgeschlossen.[3]

Einmaliger Entlassungsentscheid

Auf dem östlichen PSI-Areal steht ein weiteres Gebäude, das seine kerntechnische Vergangenheit bereits überwunden hat. Über Jahrzehnte wurde darin ein zweiter Forschungsreaktor, Diorit, betrieben. Die schmucklose Halle mit Hochkamin verrät kaum, dass in ihr zwei Pionierleistungen für das Atomland Schweiz stattgefunden haben: 1960, drei Jahre nach Saphir, wurde der erste Forschungsreaktor «made in Switzerland» in Betrieb genommen; ein Team unter Leitung des ETH-Physikers Paul Scherrer hatte den Schwerwasser-Natururan-Typ mit 20 MW Leistung entwickelt. 53 Jahre später ist erstmals der vollständige Rückbau inklusive Entlassungsbescheid an einer kerntechnischen Forschungsanlage umgesetzt worden. Aber auch deren Bestandteile sind nur teilweise verschwunden: In der Zwilag-Spezialhalle für hochaktive Abfälle steht ein Castor-Transportbehälter mit einbetonierten Diorit-Brennelementen; 26 dickwandige Sicherheitscontainer mit 4.5 m³ Volumen stapeln sich in der Halle für schwach- und mittelaktive Abfälle. Hier warten sie auf die Eröffnung eines Tiefenlagers.

Stilllegung und Rückbau des Diorit-Forschungsreaktors nahmen fast zwei Jahrzehnte in Anspruch; eine solche Zeitspanne reicht inzwischen für das Abräumen ganzer Kernkraftwerke aus. Zwar lassen sich weder Dimension, Struktur noch Geometrie der Versuchsanlagen mit einem KKW vergleichen, doch bei der Vorgehensweise und dem Umgang mit radioaktiven Materialien sind Parallelen unverkennbar. Bei der Wahl der Rückbaustrategie und mit teilweise selbst entwickelten Dekontaminations- und Konditionierungsverfahren haben die Verantwortlichen am PSI sogar gut verwertbare Pionierarbeit geleistet. Einerseits war Mitte der 1980er-Jahre die Umsetzung eines Rückbauentscheids für die Schweiz technisches, organisatorisches und regulatorisches Neuland. Konzeption und Planung übernahmen die mit den Kleinreaktoren vertrauten PSI-Forscher. Für zusätzlichen Wissenstransfer sorgten Kontakte nach Süddeutschland: In Bayern begann 1987 der Rückbau des mittelgrossen Kernkraftwerks Niederaichbach; ebenso waren in Karlsruhe Stilllegungsarbeiten an Testanlagen im Gang. Andererseits gelang es den PSI-Verantwortlichen, mehr als die Hälfte des über 7 m hohen Zylinders aus Baryt- und Colemanit-Beton, Stahlblech, Gusseisen und Aluminium in strahlungsfreie und daher konventionelle Abbruchmaterialien aufzutrennen.

1994 bewilligte der Bundesrat den Rückbau

des Diorit-Reaktorblocks. Definiert waren vier Demontagephasen und ein Dutzend Auskern- und Zerlegungsschritte, verteilt auf neun Jahre. Leicht verstrahlte Rückbauteile wurden anfänglich in ein geschütztes Abklinglager gebracht. Der Einsatz von Diamantkreissägen und Bohrmaschinen wurde aus dem Kommandoraum fernbedient gesteuert und überwacht; solche Trennverfahren (vgl. Kasten S. 29) werden bei Leistungsreaktoren inzwischen standardmässig eingesetzt. Neuartige Techniken waren am 1 : 1-Modell («Mock-up») hinsichtlich des Störfallrisikos zu erproben. Und eine zusätzliche Erkenntnis war, dass das Zerlegen und Konditionieren der Abfälle den Aufbau einer Infrastruktur vor Ort bedingt: Im Kellergeschoss des Diorit-Gebäudes steht ein Induktionsofen, in dem der zerteilte Aluminiumtank eingeschmolzen wurde. Eine Betonieranlage diente dem Verfüllen der Entsorgungscontainer. Diese Dekontaminierungs- und Konditionierungsinfrastruktur kann für künftige Rückbauarbeiten verfügbar sein. Ausserdem war ein Mess- und Überwachungssystem in- und ausserhalb des Diorit-Forschungsgebäudes einzurichten. Eigens dazu wurden Grundwasserbrunnen ausgehoben, um den allfälligen Austritt von Radioaktivität nicht zu verpassen.

Premiere bei der Abfallkonditionierung

Die Rückbauformel in aktuellen Stilllegungskonzepten lautet: von heiss zu kalt. Bereits der Diorit-Reaktorzylinder ist von innen nach aussen und von oben nach unten ausgeräumt worden.[4] Standard damals und heute ist ebenso, das Reaktor-Containment – die biologische und die thermische Schutzhülle – sowie die Lüftungsanlage so lange nicht anzutasten (vgl. «Rückbau von KKW», S. 22), bis das hochaktive Kernmaterial und weitere radioaktive Reaktorteile entfernt sind. Die grösste Innovation ist den Forschern der PSI-Sektion Rückbau und Entsorgung allerdings bei der Konditionierung der verstrahlten Diorit-Abfälle gelungen. Um das Volumen von rund 40 t radioaktivem Grafit zu reduzieren, entwickelten sie ein Verfahren, von dem die Kraftwerksbranche bis heute profitiert. Statt das Grafit, ein Puffermaterial im Kernreaktor, separat in Endlagerbehälter einzubetonieren, wird es vermahlen als Sandersatz dem Füllmörtel beigemischt.[5] Die Konditionierungstechnik mit PSI-Patent verringert die Zahl der Abfallgebinde, zudem festigt grobkörniger Grafit die Füllmasse.

Aktuell wartet auf dem PSI-Gelände eine dritte Forschungsanlage auf die kerntechnische Demontage; Proteus, ein wandelbarer Reaktortyp, wurde 2011 nach 43 Jahren ausser Betrieb genommen. Der Rückbau ist bereits geplant; er wird von den positiven Erfahrungen und den unvorhersehbaren Ereignissen bei den Demontagearbeiten an Saphir und Diorit profitieren. Zweimal musste die Aufsichtsbehörde damals intervenieren:
So war die Strahlendosis für das Rückbaupersonal kurze Zeit leicht erhöht, wurde aber als «tolerierbar» eingestuft.[6] Und als beim Auftrennen einer Rohrleitung Asbest auftauchte, wurden die Abbrucharbeiten mehrere Monate unterbrochen. Mehraufwand ohne erhöhtes Sicherheitsrisiko verursachte zudem die Demontage des Diorit-Zylindermantels. Radiologische Messungen in der 2.5 m dicken Betonwand zeigten eine stärkere Verstrahlung als ursprünglich gedacht. 25 cm tief war die radioaktive Schicht mit einem Hohlrohrbohrer zu entkernen. Der äussere Mantel blieb unverschmutzt, sodass rund 60 % der Diorit-Reaktormasse, vor allem Beton und Stahl, nach dem Freimessen Abbruchmaterial von unbedenklicher Entsorgungsqualität sind.


Anmerkungen:
[01] Tobias Wildi, Die schweizerische Atomtechnologie-Entwicklung 1945–1969, Zürich 2003
[02] Hans-Frieder Beer, Radioactive waste management at the Paul Scherrer Institute, Nuclear technology & radiation protection 2009
[03] Ensi-Gutachten zum Stilllegungsprojekt der PSI-Versuchsverbrennungsanlage, Brugg 2012
[04] Fritz Leibundgut, Decommissioning and dismantling of the diorit research reactor, PSI 1998
[05] Hans-Frieder Beer, Complete Conditioning of Activated Reactor Graphite, Strahlenschutzpraxis 4/2009
[06] Aufsichtsbericht zur nuklearen Sicherheit und zum Strahlenschutz in den schweizerischen Kernanlagen, Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) 2004

TEC21, Fr., 2014.12.05

05. Dezember 2014 Paul Knüsel

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