Editorial

Viele von Ihnen kennen die Geschichte in groben Zügen: Vor 140 Jahren erschien erstmals die Wochenzeitschrift «Die Eisenbahn». Es war ­die Zeit, als in der Schweiz konkurrierende Bahngesellschaften um die Wette bauten. Die anspruchsvolle Topografie des Landes erforderte Kunstbauten, die Maschinenindustrie florierte. Ingenieure erschlossen das Land, ­schufen die Infrastruktur für seine künftige ­Entwicklung – und gründeten ein gedrucktes Medium für den fachlichen Austausch, das zwei Jahre später zum Vereins­organ des SIA wurde. Die nächste Generation brachte die Architektur als zusätz­liches Thema ein.

Von aussen betrachtet hat sich seither wenig ­geändert: TEC21 – Schweizerische Bauzeitung erscheint nach wie vor wöchentlich als inter­disziplinäre Zeitschrift, die sich der gebauten Umwelt in all ihren Aspekten widmet, und sie ist das offizielle SIA-Publikationsorgan.

Doch der Schein trügt. Im letzten Jahrzehnt hat sich die Medienwelt gewandelt – und TEC21 mit ihr. Wir nutzen die Gelegenheit aufzuzeigen, was dieser Wandel für unser Blatt bedeutet, und stellen die Menschen vor, die hinter TEC21 stehen. Architektin, Bauingenieur, Gebäude­technikerin, Umweltnaturwissenschaftler, Verkehrsingenieurin, Innenarchitektin, Tiefbau­spezialist – sie alle vereinen ihr Fachwissen und ihr Engagement für eine Zeitschrift, die über die Grenzen der Disziplinen hinweg die Baukultur ausleuchtet.

Inhalt

AKTUELL
07 WETTBEWERBE
Ausschreibungen

08 PANORAMA
1874–2004 | 2004–2014 | Fragen und Antworten | Grussworte der Trägervereine | Leser­briefe | 140 Jahre Werbung

52 VITRINE
Geburtstagskinder

65 KLARE WORTE, GEKONNTE BILDER
Konjunkturbericht 3/2014 | Wegweiser Norm SIA 118

71 VERANSTALTUNGEN

THEMA
73 140 Jahre TEC21

73 CARTE BLANCHE ZUM GEBURTSTAG
Nathalie Cajacob

74 DEN HUT ZIEHEN
Marko Sauer

ARCHITEKTUR – BILD
76 Prêt-à-porter
Clementine Hegner-van Rooden
Ingenieurwesen – Tragkonstruktion

78 WOHNZIMMER DER MÄCHTIGEN
Tina Cieslik
Innenarchitektur – Politik

80 WER LAS, LÖST LEICHTER
Daniela Dietsche
Ingenieurwesen – Tiefbau

82 DAS UFO UND DIE STADT
Christof Rostert
Städtebau – Verkehr

84 VOM WERT DES NICHTSTUNS
Lukas Denzler
Forstwirtschaft – Umwelt

86 DICHTE IST NUR EINE ZAHL
Susanne Frank
Städtebau – Raumplanung

88 NÜTZLICHES AUS DER RAUMFAHRT
Nina Egger
Gebäudetechnik – Materialtechnologie

90 BRÜCKENBAUEN MIT FÜHLSINN
Thomas Ekwall
Ingenieurwesen – Brückenbau

91 JENSEITS DES ZEICHENBRETTS
Pauline Bach
Architektur – Kritik

93 FEHLSCHLUSS MIT FOLGEN
Judit Solt
Architektur – Sprache

94 HIP UND HISTORISCH
Danielle Fischer
Städtebau – Geschichte

96 WIE NACHHALTIG IST DAS, WAS WIR TREIBEN
Paul Knüsel
Umwelt – Journalismus

AUSKLANG
98 STELLENINSERATE

105 IMPRESSUM

106 UNVORHERGESEHENES

Carte blanche zum Geburtstag

(SUBTITLE) Die vielen Facetten einer Redaktion

Sieben Disziplinen sind in der Redak­tion von TEC21 vertreten, und jedes Teammitglied hat sein Steckenpferd. So erstaunt es nicht, dass wir nicht alle Themen unterbringen können, über die wir gern berichten würden – obwohl wir rund 44 Hefte, über 1000 redaktionelle Seiten und gut 90 t bedrucktes Papier pro Jahr produzieren.

Für die Jubiläumsausgabe gab es deshalb Carte blanche: Jede und jeder schreibt, worüber sie oder er schreiben will, ohne das Thema im Vorfeld im Team abzustimmen. Entstanden ist deshalb für einmal kein interdisziplinäres Ganzes, sondern ein bunter Mix – vom Plädoyer über die Buch­rezension bis zum Kreuzworträtsel –, so facettenreich wie die Interessen der Schreibenden.

Um Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dennoch unsere fachüber­greifende Diskussionskultur zu ­vermitteln, sind die Beiträge mit handschrift­lichen ­Anmerkungen der Kollegen versehen – so, wie wir es jeweils bei der Besprechung der Artikel machen. Durch diesen Austausch entstehen oft neue Heftideen. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!

TEC21, Fr., 2014.09.19

19. September 2014 Nathalie Cajacob

Den Hut ziehen

Referenzen sind ein wichtiges Arbeitsmittel in der Architektur. Die meisten Bauwerke zitieren Vorbilder – doch wie gehen Entwerfer mit diesen Vorbildern um? Eine kleine Spurensuche.

Unsere Baukultur haben Generationen von Architekten geformt. Denn der Ausdruck von Gebäuden entwickelt sich in unzähligen kleinen Schritten: Architektur ist Evolution, nicht Revolution. Ohne Unterlass werden Typologien und Formen geschliffen und geschärft. Zwar wollte die Moderne einen Schnitt setzen und die Architektur neu erfinden, aber selbst ihre Protagonisten waren bestens vertraut mit der klassischen Stilkunde und bauten ihren Formenkanon auf dem Fundament der Geschichte auf. So bleibt auch im 21. Jahrhundert der Umgang mit Vorbildern eine der Grundfesten des Berufs.

Nach einigen Ausflügen in parametrische Experimente und Versuche, Gebäude ex nihilo zu ent­werfen, steht die Ausbildung anhand Referenzen wieder im Mittelpunkt. Als Gastkritiker steht man deshalb meistens vor Semesterarbeiten, die historische Vorbilder zitieren. Dabei entstehen manchmal interessante Collagen: zum Beispiel eine Fassade nach Fernand Pouillon – momentan wieder hoch im Kurs – in Kombination mit einem gründerzeitlichen Grundriss. Oder ein italie­ni­scher Rationalist, der mit organisch geformten Räumen vermählt wird. Kurzum: Die Vorbilder prallen meis­tens mit den eigenen Entwurfsabsichten zusammen.

«If you copy, copy good.» Diesen Ratschlag von Elias Zenghelis, seines Zeichens Lehrer von Rem Koolhaas und Mitbegründer des Office for Metropolitan Architecture (OMA), habe ich als Student selbst oft gehört. Dabei war nicht immer ganz klar, was Zenghelis damit nun meinte: Sollte die Kopie gut sein – was wohl ein «well» am Ende bedingt hätte? Oder müsste wenigstens das Original, nach dem die Kopie gefertigt ist, «good» sein? Am besten wohl beides. Doch wo befinden sich die Grenzen zwischen Plagiat, Kopie und Referenz? Wann ist das Zitat gelungen? Diese Fragen sind nicht nur im Studium von Bedeutung, denn in der Praxis spielen Referenzen eine ebenso wichtige Rolle.

Um dem Umgang mit Vorbildern nachzuspüren, eignet sich das Beispiel der Färberei der Hutfabrik in Luckenwalde (1923) bestens. Elegant verknüpfte Erich Mendelsohn Funktion und Gestalt; aus den Vorgaben der Produk­tion (über die Haube des Dachs wurden ­giftige Dämpfe abgesaugt) entstand eine eigenwillig spannungsvolle Form.

Ihr Bild brennt sich jedem ein, der es sieht. Und so taucht die Dachform – meistens verfremdet – immer wieder in den einschlägigen Publika­tionen auf.

Offensichtlich diente Mendelsohns Gebäude Joseph Smolenicky als Vorbild für den Golfklub am Sempachersee – auch wenn vom Programm kaum etwas weiter entfernt sein könnte als ein Golfklub von einem Industriebetrieb. Als Apologet der Lehren von Miroslav Šik und Hans Kollhoff kommt Smolenicky kaum darum herum, historische Vorbilder zu zitieren. Doch mit einem kreuzförmigen Grundriss, der sich in die Landschaft verzahnt, erschafft er ein eigenes, eigenständiges Werk. Das prägnante Dach bildete den Ausgangspunkt der entwerferischen Suche: Die Form löste sich von der Funktion und fand an einem neuen Ort und unter veränderten Bedingungen eine zeitgenössische Interpretation. Das Zitat ist weit mehr als Dekoration oder blosser Beweis für die Belesenheit des Architekten: Die eigenwillige Form hat die Gestalt des Hauses geprägt.

Auch beim Umbau der Kantonsbibliothek Liestal schimmert die Färberei von Mendelsohn durch – selbst wenn in der Fachpresse der Bezug auf die ursprüngliche Dachform der ehemaligen Lagerhalle hervorgehoben wird (vgl. TEC21 49–50/2005 sowie «werk, bauen   
wohnen» 10/2005). Liechti Graf Zumsteg Architekten überlagern beide Zitate – Mendelsohn und den Vorgängerbau –, wodurch die Dachform aus den Fugen gerät. Die Haube wird zur Laterne, die Eindeckung des Dachs geht nahtlos in eine mansardenähnliche Wand über. Die Gauben, als Zitat der ehemaligen Lagerhalle, unterbrechen die Dachform und verleihen ihr einen völlig neuen Ausdruck. Wäre dies nach Zenghelis noch «copy good»? Ist in diesem Fall die Färberei als Vorbild noch geeignet oder bloss ein fernes Echo? Vielleicht wäre dies der Moment gewesen, eine neue Referenz zu suchen. Kill your darlings.

TEC21, Fr., 2014.09.19

19. September 2014 Marko Sauer

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