Editorial

Während andernorts Kunstbauten aus der Anfangszeit der Eisenbahn weichen müssen, steht beim knapp 20 km langen Simplontunnel ein Neubau nicht zur Debatte. Hier ist die originale Bausubstanz noch weitgehend erhalten.

Die Alpentransitlinie Lötschberg–Simplon ist eine wichtige Verkehrsachse durch die Schweizer ­Alpen – für den Personenverkehr und vor allem für den Gütertransport. Ein wesentlicher Teil dieser Verbindung ist der Simplontunnel – bis 1982 der längste Gebirgstunnel weltweit. Die dem Bau­entscheid zugrunde gelegten Verkehrsprognosen lagen bei 100 000 Nettotonnen pro Jahr. Diese Menge erreichten die SBB mit vier täglich geführten Güterzügen bereits 1908.

Inzwischen nutzen jeden Tag über 100 Huckepack­kompositionen und zahlreiche Züge mit Schiffscontainern und Wechselaufbauten den über ­Hundertjährigen – 12.8 Mil­lionen Nettotonnen waren das im Jahr 2013. Die Züge durchfahren ihn auf ihrem Weg von Freiburg im Breisgau und Basel nach Novara und Mailand und umgekehrt. Die seinerzeit revolutionäre Entscheidung, zwei separate Röhren zu bauen, erweist sich heute als Vorteil: Sie vereinfacht die laufenden Erneuerungs­arbeiten und die Organisation des Bahn­betriebs. Ab Dezember 2015 sollen die Züge durch einen modernisierten historischen Tunnel verkehren.

Daniela Dietsche, Clementine van Rooden

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Bauen auf römischen Ruinen

11 PANORAMA
Der Fluss- und Auenkanton | Abwasserfacts für Ingenieure | Visionäre Bahnprojekte | Standorte für Erdwärmesonden

16 VITRINE
Neues aus der Bauindustrie

18 NATIONALE BAUKULTURSTRATEGIE AUF DEM WEG
Norm Lüftungs- und Klimaanlagen revidiert | siaPay: Mobiler Lohnrechner für Architekten und Inge­nieure | «Wirkungsvolle, praxiserprobte Instrumente»

23 VERANSTALTUNGEN

24 BEWEGTE GESCHICHTE
Daniela Dietsche
In den über 100-jährigen Simplontunnel wird kräftig investiert, um die Betriebssicherheit zu erhöhen.

27 ABSTIMMUNG IST ZENTRAL
Roland Heinzmann
Die ­Baumassnahmen im Tunnel stellen die Logistik vor grosse Herausforderungen.

28 «EIN NEUBAU DRÄNGT SICH NICHT AUF»
Daniela Dietsche, Clementine van Rooden
Ein Gespräch mit den Projektverantwort­lichen über die laufenden Arbeiten.

32 DAUERHAFTE SPEZIALLÖSUNG
Werner Kradolfer
Der Platz für das neue Entwässerungs­system im Tunnel­ ist knapp.

33 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Bewegte Geschichte

Der rund 20 km lange Simplontunnel im Kanton Wallis wurde vor über 100 Jahren gebaut. Erst 1982 wurde er als längster Tunnel der Welt abgelöst. Obwohl er für sein Alter in einem guten Zustand ist, braucht es nun grössere Investitionen.

Am Anfang stand die Vision, die Alpen im Allgemeinen und das Simplonmassiv im Besonderen eisenbahntechnisch zu durchqueren. Nach vielen Projekt­ideen und Studien begann 1898 der Bau des rund 20 km langen Simplontunnels. Er verläuft mit Ausnahme der Ein- und Ausfahrtskurven bei Brig VS und Iselle geradlinig und liegt je zur Hälfte in der Schweiz und in Italien. An­stel­le der ursprünglich geplanten Doppelspurröhre wurde die ­Unternehmervariante ausgeführt: Erstmals wurden zwei einspurige Tunnelröhren gebaut, die mit Querschlägen verbunden sind. Bei seiner Inbetriebnahme war der Tunnel auf dem neuesten Stand der Technik: zwei Röhren mit Gleiswechselmöglichkeit in der Tunnel­mitte und elektrischem Zugbetrieb. Seitdem wurden keine gravierenden Baumassnahmen durchgeführt.

Die grösste Anpassung war die Sohlenabsenkung

mit der Erneuerung der Entwässerung zwischen 1981 und 2002, um das benötigte Lichtraumprofil für den ­Huckepackkorridor zu gewährleisten. Seither können Züge der rollenden Autobahn, deren Lastwagen 4 m Eckhöhe aufweisen, durch den Simplon verkehren. Doch die Anforderungen an Kapazität und Sicherheit im ­ Güter- und Personenverkehr stiegen und veranlassten die SBB dazu, den Tunnel anzupassen. Denn trotz seiner 100 Jahre ist er seit 2007 Teil der Alptransit-Lötschberg-Simplon-Achse und damit des ersten Asts der ­Neuen Eisenbahn-Alpentransversalen (NEAT).

Am 6. Juni 2011 brannte es im Simplontunnel. Der Brand entstand, als die Plane eines Güterwagens die Oberleitung berührte und Feuer fing, worauf ein Kurzschluss den Zug zum Stehen brachte. Das Feuer breitete sich auf zehn weitere Güterwagen aus. Nach deren Bergung konnte das Tunnelgewölbe des vom Brand betroffenen Abschnitts untersucht werden. Dabei zeigte sich, dass die Schäden zwar grösser waren als angenommen, die ­Tragfähigkeit des Gewölbes aber nicht gefährdet war. Das Natursteingewölbe wies auf einer Länge von rund 300 m Abplatzungen auf, die sich beim Abklopfen lösten. Auch die Fahrbahn mit den Holzschwellen und den Schienen sowie die Fahrleitung waren beschädigt. Diese Schäden mussten bis Dezember 2011 behoben sein, damit die vorgesehenen Instand­setzungsarbeiten 2012 beginnen konnten. Nun wird seit zweieinhalb Jahren im Simplontunnel gearbeitet. Ausschlaggebend für die Instandsetzung sind die Massnahmen zur Erhöhung der Tunnelsicherheit, die sich aus Vorgaben des Bundesamts für Verkehr und Richtlinien der SBB zusammensetzen. Für die Selbstrettung mussten in beiden Tunnelröhren die Brandnotbeleuchtung und die Beschilderung verbessert und auf der Seite der Querschläge ein seitlicher Gehweg mit Handlauf erstellt werden.

Bei den Arbeiten zwischen Ende der 1980er-Jahre und 2004 hat man überall die Gleise und den Oberbau ersetzt – mit Ausnahme der Tunnelmitte, wo die beiden Röhren durch Diagonalen miteinander verbunden sind (vgl. schematische Übersicht oben). An dieser Stelle genügten die vier Weichen den Anforderungen noch. Jetzt holt man notwendig gewordene Erneuerungen nach und reguliert in der sogenannten Tunnelstation auch gleich die noch unzureichende Sohlenabsenkung. Das Schotterbett ist hier für heutige Ansprüche nicht dick genug.

Des Weiteren ersetzen und vergrössern die SBB auf 25 km die Entwässerungsleitungen, da die bestehenden verstopft oder versintert sind (vgl. S. 32). Zudem wird die Stromversorgung angepasst. Zum einen wird die Stromversorgung des Tunnels von 4 kV auf 16 kV umgerüstet und komplett neu erstellt. Zum anderen sind die Oberflächenkabelkanäle der 132-kV-Hochspannungskabel für die Bahnstromversorgung der ­Südseite nicht mehr regelkonform. Neu werden zwei Kabelrohrblöcke von 19.8 km Länge mit je zwei Kabelschutzrohren erstellt und neue Kabel eingesetzt. Dafür werden alle 1500 m grössere Muffennischen benötigt, die seitlich längs der Tunnelröhren angeordnet sind und im Sprengverfahren ausgebrochen werden.

Hinzu kommen die üblichen Unterhaltsarbeiten für die Zeit zwischen 2012 und 2015. Die Arbeiten dauern voraussichtlich vier Jahre, der Zugbetrieb läuft derweil weiter (vgl. unten: «Abstimmung ist zentral»). Die Investitions­kosten sind auf rund 200 Mio. Franken veranschlagt. Die Arbeiten werden von der SBB ausgeführt. Italien ist weder an den Arbeiten noch an den Kosten beteiligt. Genehmigt wird das gesamte Projekt durch das Bundes­amt für Verkehr in Bern. Dies ist im Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Italien geregelt.[1]


Anmerkung:
[01] SR 0.742.140.21: Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Italien betreffend den Bau und Betrieb einer Eisenbahn durch den Simplon von Brig nach Domodossola; abgeschlossen am 25. November 1895, von der Bundesversammlung genehmigt am 21. Dezember 1896, Ratifikationsurkunden ausgetauscht am 28. Juli 1898. Erneuerung des Staatsvertrags: 28.3.2006.

TEC21, Fr., 2014.09.05

05. September 2014 Daniela Dietsche

Abstimmung ist zentral

Der Raum ist begrenzt, das Zeitfenster schmal – die Herausforderungen für die Baulogistik am Simplontunnel sind vielfältig.

Grosse Einschränkungen für die Arbeiten im Simplontunnel ergeben sich durch die Logistik. Der Installationsplatz für die Instandsetzung liegt mitten im Bahnhof Brig. Das bedingt einen enormen Koordinationsaufwand mit den verschiedenen Nutzern des Bahnhofs. Die Gleisbelegung und -nutzung werden teilweise minutengenau vorausgeplant. Der Bahnbetrieb muss während der ­Arbeiten von 2012 bis 2015 vollumfänglich aufrecht­erhalten werden. In der Regel stehen dem Personen- und Güterverkehr drei Viertel der Tunnelanlage zur Verfügung. Nur jeweils ein Viertel der Anlage, das heisst die Hälfte einer Tunnelröhre auf 10 km Länge zwischen dem Portal und dem Spurwechsel in Tunnelmitte, kann gesperrt werden. Die Sperrung einer Tunnelröhre über die gesamte Länge erfolgt nur in Ausnahmefällen und über eine kurze Zeit.

Herausfordernd ist auch die eingeschränkte Zugänglichkeit zu den verschiedenen lokalen Baustellen, verteilt auf 20 km Tunnellänge. Der Zugang kann nur über ein zur Verfügung stehendes Gleis erfolgen. Ge­arbeitet wird zweischichtig an fünf Tagen pro Woche, das heisst zum einen von fünf Uhr morgens bis etwa ein oder zwei Uhr mittags. Nachmittags gibt es eine Logistikschicht auf dem Installationsplatz. In dieser Zeit werden die Bauzüge im Bahnhof Brig abgeladen und wieder neu bestückt. Am Abend beginnt die zweite Schicht. Sie dauert bis fünf Uhr morgens. Die gesamte Bauausführung erfolgt mit Bauzügen, wobei maximal vier gleichzeitig eingesetzt werden können. Beladen werden die Züge von der Schweizer Seite. Erstens, weil der zur Verfügung stehende Platz in Iselle nicht ausreicht, und zweitens, weil es auf diese Weise keine Schwierigkeiten mit den Zollbedingungen gibt.

Das Bauprogramm wurde auf die Projekte auf der Gotthardachse im Tessin und in Italien abgestimmt, da die Teilsperrungen des Simplontunnels während der Bauarbeiten zusätzlichen Verkehr auf der Gotthard­achse generieren. Für die Hauptbauarbeiten steht ein Zeitfenster vom Frühjahr 2012 bis Dezember 2015 zur Verfügung. Fertigstellungsarbeiten müssen in Nacht­intervallen 2016 ausgeführt werden.

TEC21, Fr., 2014.09.05

05. September 2014 Roland Heinzmann

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