Editorial

Dieses Heft erscheint an einem Freitag, dem Dreizehnten. Obendrein bei Vollmond. Was hätte wohl Bogdan Bogdanovic´ – der Mystiker und Surrealist der jugoslawischen Architektur – dazu gesagt? Bringt dieser Tag nicht Unglück? Eine Tragödie hat sich schon ereignet, die in Europa unvorstellbar schien: der Krieg der 1990er-Jahre in Jugoslawien. Er liess uns eine ganze Generation talentierter Architekten vergessen. Als Baumeister der Gesellschaft hatten sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Gebäude erschaffen, die die Identität des jungen Vielvölker­staats Jugoslawien prägten – in der Moderne fanden sie den geeigneten Ausdruck dafür.

Doch ihr Talent war nur eine Komponente dieser baukulturellen Blüte. Der Weg zwischen den ­Blöcken der Nachkriegsordnung erlaubte selbstverwalteten Sozialismus und eine vergleichsweise offene Gesellschaft. Sozialistische Ideale und westliche Finanzhilfe beflügelten den Urbanisierungsprozess des Landes. Dieser fruchtbare Nährboden erodierte rasch nach Titos Tod, in den Folgestaaten muss ein neuer Humus erst noch entstehen. Basis für dieses Heft bilden zwei Studienreisen der ETH Zürich, die ich im Herbst 2012 (Kroatien) und 2013 (Bosnien) als Gast begleiten durfte.

Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich beim Lehrstuhl von Annette Spiro bedanken. Die Bilder stammen von der ersten Reise – sie wurden analog fotografiert, passend zur Epoche der Spätmoderne.

Marko Sauer

Inhalt

07 WETTBEWERBE
Ausgezeichnete Erhaltungskonzepte

10 PANORAMA
Holz und Beton elegant kom­biniert | Eintauchen in Belgrad

15 VITRINE
Neues aus der Bauindustrie

17 NEUE IMPULSE FÜR DEN SIA
Zwei Frauen verstärken den Vorstand | Forschung zum Bauwerk Schweiz

21 VERANSTALTUNGEN

22 HETEROGENITÄT UND EGALITARISMUS
Maroje Mrduljaš
Zwischen den Blöcken erlebte Jugoslawien eine baukulturelle Blüte.
Ein synoptischer Rückblick.

26 AUSGESCHLAGENES ERBE
Marko Sauer
Was bleibt von der jugoslawischen Moderne? Eine Spurensuche in Kroatien mit autobiografischen Notizen.

31 «NICHT JEDER SCHÄTZT DIE PLATTE SO WIE WIR»
Marko Sauer im Gespräch mit BHSF Architekten, die ein Jahr lang in Belgrad wirkten. Einsichten aus Südosteuropa.

34 STELLENINSERATE

37 IMPRESSUM

38 UNVORHERGESEHENES

Heterogenität und Egalitarismus

Mit dem Untergang Jugoslawiens verblasste das Wissen um seine Architektur. Forschung und Theorie nehmen den Faden wieder auf und durchleuchten die einzigartigen gesellschaftlichen Grundlagen.

Die Architektur des ehemaligen Jugoslawien ist weitgehend unbekannt. Zwar beginnt sich die Fachwelt allmählich dafür zu interessieren, aber eine architekturhistorische Einordnung der Epoche steht noch aus; es existiert keine umfassende Würdigung oder Synthese. Selbst die offizielle «innere Sichtweise» der Nachfolgestaaten erschöpft sich in nationalen Chroniken und monumentalen Monografien einzelner Architekten. Ein Grund dafür mag sein, dass die Aufarbeitung der politischen Vergangenheit ebenfalls noch aussteht: Die Baukultur jener Zeit ist ebenso eng an die Verdienste des Sozialismus geknüpft wie an seine gebrochenen Versprechen. Die Beschäftigung mit der gemeinsamen Architektur würde auch einen unbequemen Blick zurück auf eine kollektive Utopie bedeuten, die in einem Krieg endete.

Die Populärkultur hat eine eigene Sichtweise auf Jugoslawien gefunden. Ihr Fokus ist «exotisierend», wobei häufig die zerstörten Denkmäler des antifaschistischen Kampfs und der sozialistischen Revolution gezeigt werden. Ihres Kontexts beraubt, werden die bildhaften Bauten herumgereicht wie die Artefakte einer längst verschwundenen Zivilisation. Auf der anderen Seite findet der akademische Diskurs meist abgeschottet unter Fachleuten statt. Dabei spielen die spezifischen Umstände des selbstverwalteten Sozialismus in Jugoslawien eine entscheidende Rolle – in ökonomisch-politischer wie auch in kultureller Hinsicht. Zudem bewegt sich eine Schar junger Forscher an den Rändern der Mainstreamkultur. Sie untersucht mit viel Leidenschaft das Erbe der urbanistischen Erneuerung und ihre Auswirkungen auf die heutige Zeit. Architektur und Urbanismus des ehemaligen Jugoslawien werden bisher also aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet.

Wie aber lassen sich die Zusammenhänge zwischen Baukultur und Politik unter den ökonomisch-sozialen Bedingungen des selbstverwalteten Sozialismus beschreiben?

Die Vorkriegszeit

Den Modernismus absorbierte Jugoslawien noch während der 1920er- bis 1930er-Jahre, da viele Architekten in den damaligen Epizentren der Kultur verkehrten: Paris, Wien, Berlin, Prag. Auf dem polytechnischen Modell aufbauend, betrieben Belgrad, Zagreb und Ljubljana eigene Architekturschulen. Im Lauf der 1930er-Jahre wirkte ein Zweig des CIAM unter dem Namen «Arbeitsgruppe Zagreb», geleitet von Ernest Weissmann, einem Mitarbeiter – und später erbitterten Kritiker – von Le Corbusier. Eine ganze Kolonie jugoslawischer Architekten arbeitete bei Le Corbusier; einige unter ihnen wurden zu treibenden Kräften der Nachkriegsarchitektur in Jugoslawien, etwa Edvard Ravnikar aus Ljubljana, Juraj Neidhart aus Zagreb, der seine Karriere später in Sarajewo fortführte, oder Milorad Pantovic´, der in Belgrad wirkte. Die Mehrheit der modernistischen Architekten der Vorkriegszeit war politisch links orientiert und gesellschaftlich engagiert. Viele unter ihnen – erwähnen wir nur Nikola Dubrovic´, den ersten Planer von Neu-Belgrad – nahmen am antifaschistischen Kampf während des Zweiten Weltkriegs teil und genossen dadurch das Vertrauen der neuen politischen Nomenklatur. Folglich war die Architekturszene gut auf den politischen und kulturellen Kontext vorbereitet, den der Sozialismus ihnen brachte.

Bauen im selbstverwalteten Sozialismus

Unmittelbar nach dem Krieg gehörte Jugoslawien zu den treuesten Verbündeten der UdSSR. Grosse, zentralisierte Büros leiteten die Planungen, und eine kurze Debatte um den Sozrealismus flammte auf. Doch 1948 folgte der Bruch mit Stalin, und Jugoslawien trat aus dem Ostblock aus. Bereits 1950 wurden die Grundlagen für den «selbstverwalteten Sozialismus» gelegt, ein spezifisches sozio-politisches Projekt, das Elemente direkter Demokratie und politischer Dezentralisation aufnahm. In der Kultur wurde die Freiheit des Ausdrucks propagiert, und mannigfache Formen moderner Kunst und Gestaltung entwickelten sich rasant während der 1950er-Jahre.

Dieser Prozess begleitete auch die Modernisierung des alltäglichen Lebens, worin die Erweiterung der Städte eine entscheidende Rolle spielte und die während der 1960er-Jahre ihren grossen Aufschwung erlebte. Auch wenn man nicht behaupten kann, dass es eine staatliche Doktrin hin zum Modernismus gegeben hätte, so wurde dieser doch zunehmend zum symbolischen Ausdruck für ein System, das sich authentisch gab, offen und progressiv. Dies illustrierte insbesondere der Pavillon von Vjenceslav Richter für die Expo 1958 in Brüssel. Das elegante Gebäude aus Glas und Stahl hatte keine Türen, sondern empfing seine Besucher mit einer grenzenlosen «Total design»-Umgebung.

Vielgestaltige Architektur

Bereits zu Beginn der 1950er-Jahre nahm die Zahl der zentralisierten Büros ab, und es wurden kleinere, unabhängige Ateliers gegründet. Ein Teil der Büros war mit Bauunternehmen verbunden; interdisziplinäre und von den Teilstaaten geführte urbanistische Institute nahmen ihre Arbeit auf; Hochschulprofessoren bearbeiteten konkrete Bauaufgaben an ihren Lehrstühlen. Diese Vielfalt an Arbeitsformen brachte Dynamik in die Szene. Ausser Montenegro führten alle Bundesstaaten Architekturschulen, die einen eigenständigen Zugang zur Baukultur lehrten. Die Protagonisten der Teilstaaten tauschten sich mit unterschiedlichen internationalen Strömungen der Architektur aus, während sich gleichzeitig ein Dialog mit der lokalen Bautradition und Kultur entwickelte. Slowenien pflegte Beziehungen zu skandinavischen Ländern, Kroatien mit den niederländischen Vertretern des Team X, in Sarajewo untersuchte Juraj Neidhart die Möglichkeiten, die osmanische Tradition mit modernistischen Raumkonzepten zu verschmelzen, in Belgrad war Bogdan Bogdanovic´ Teil des surrealistischen Kulturkreises. Die mazedonischen Architekten standen in unmittelbarem Kontakt zu Kenzo Tange, Alfred Roth und der polnischen Gruppe TIGER, die sich nach dem verheerenden Erdbeben von 1963 zusammen mit jugoslawischen Architekten am Wiederaufbau von Skopje beteiligten – das zu einer architektonisch kosmopoliten «globalen Stadt» wurde.

Inmitten dieser Vielgestaltigkeit kann man unmöglich von einer «jugoslawischen» Architektur sprechen. Vielmehr waren die autonomen Strömungen der Ausdruck selbstbewusster jugoslawischer Kulturkreise an der Nahtstelle zwischen Ost und West und weit mehr als die blosse Reflexion globaler Bewegungen. Davon zeugt unter anderem die Weisse Moschee von Zlatko Ugljen in Visoko (BiH), 1983 mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet, die auf wunderbare Weise modernistische Poesie mit den Metaphern des Islam verbindet.

Freiheiten in der gelenkten Wirtschaft

Nach den Wirtschafts- und Bankreformen Mitte der 1960er-Jahre entstand ein Hybrid aus Plan- und Marktwirtschaft, was sich direkt auf die Bautätigkeit auswirkte. Zum Beispiel erleichterte die staatliche Kontrolle über den Boden – der nicht dem Staat gehörte, aber dennoch als kollektives Gut betrachtet wurde – grosse Stadterweiterungen wie Neu-Belgrad und Neu-Zagreb, und sie garantierte die Gleichbehandlung in der Verteilung von Wohnungen. Das «Recht auf eine Wohnung» bildete ein wichtiges Element der sozialen Fürsorge. Die Kräfte des Markts wiederum beeinflussten die Qualität der Architektur, denn jede Baufirma entwickelte ein eigenes System für den Wohnbau, was monotone Wohnviertel verhinderte.

Für den Massentourismus, der sich ab Mitte der 1960er-Jahre zu einem bedeutenden Industriezweig entwickelte, war Architektur ein entscheidender Bestandteil des Angebots. Die Adriaküste ist übersät mit Hotels, die zu den weltweit bedeutendsten Vertretern ihrer Typologie gehören. Die jugoslawischen Architekten arbeiteten in einem Umfeld, in dem sie weitgehende gestalterische und programmatische Freiheit genossen, solange dies mit den verfügbaren Ressourcen in Einklang stand.

Die Planung im grossen Massstab hat den Wandel von einem landwirtschaftlich geprägten Staat zu einer modernen Gesellschaft ermöglicht. Sie sicherte einer Vielzahl von Bürgern die soziale Infrastruktur und ein zeitgemässes Leben auf annehmlichem Niveau. In diesem Sinn war die sozialistische Urbanisierung eine zivilisatorische Aufgabe mit dem Ziel gesellschaftlicher Gleichberechtigung. Nichtsdestotrotz verliefen Raumplanung und Städtebau selten ideal. Sie mussten ihren Weg finden zwischen utopischen Ambitionen, den pragmatischen materiellen Möglichkeiten und bürokratischen Hürden. Doch in einigen Fällen, die stark von der Fähigkeit der lokalen Eliten und dem mikropolitischen Klima abhängen, wurden feinfühlige und international relevante Resultate erzielt.

Ein glaubwürdiges Beispiel dieser Synergie zwischen Ökonomie, Stadtverwaltung und Architektur bildete die Stadterweiterung von Split, bekannt unter dem Namen «Split 3», wo die unterschiedlichen jugoslawischen Architekturszenen zusammentrafen. Den Masterplan erarbeitete ein slowenisches Team unter Braco Mušic´, Marijan Bežovan und Nives Starc, während die Ausarbeitung lokale Architekten wie Ivo Radic´, Frane Gotovac und Dinko Kovacˇic´ übernahmen. In diesem Projekt, das eine Fussgängerzone mit Megastrukturen verbindet, gelang die Synthese einer ganzen Bandbreite internationaler Tendenzen: von der Kritik am Modernismus einer Jane Jacobs bis hin zu metabolistischen Konzepten. Doch bleiben diese Einflüsse nicht reine Zitate: Split 3 integriert die Lektüre der historischen Altstadt ebenso wie die lokale Bautradition.

Post mortem

Die Bewohner des ehemaligen Jugoslawien leben auch heute noch zu einem grossen Teil in einer «sozialistischen Stadt», besuchen Schulen und Krankenhäuser, die in der Ära des Sozialismus erbaut wurden. Die Tourismusindustrie nutzt nahezu ausschliesslich Hotelkomplexe aus den frühen 1970er-Jahren, die auch für die lokale Bevölkerung ein grosses Angebot und öffentliche Räume bieten. Lang wurde der Begriff «sozialistisch» abwertend gebraucht, doch die Bürger erkennen langsam die Vorteile der Planstadt mit ihren grossen öffentlichen Plätzen und funktionalen Grundrissen – so mausert sich zum Beispiel Neu-Belgrad zu einem begehrten Wohnort.

Längst vorbei sind die Zeiten, als Jugoslawien in Zusammenarbeit mit UN-Behörden Millionen in Regionalpläne zu einer nachhaltigen Entwicklung der Adriaküste steckte. Verschwunden ist die labile, aber immerhin rationale Zusammenarbeit zwischen politischen Eliten, urbanistisch-architektonischer Fachwelt und Investoren. Die Planungsämter wurden gezielt geschwächt, oder sie zerfielen während des Transitionsprozesses. Deshalb werden die Städte heute nicht mehr von Fachleuten geplant, sondern von Developern, die mit der klientelistischen Politik zusammenspannen – was sich verheerend auf die gebaute Umwelt auswirkt. Das deregulierte, neoliberale Modell der Stadtentwicklung ist zwar kein Spezifikum Post-Jugoslawiens, aber es steht dort in scharfem Kontrast zur unmittelbaren Geschichte. Urbanisten und Architekten suchen noch nach Möglichkeiten, innerhalb dieses Rahmens operativ zu werden. Die Architektur hat als isolierte Disziplin überlebt, und in Slowenien sowie Kroatien konnten sich eigenständige Szenen etablieren, die das modernistische Erbe weiterführen. Auch in den anderen Folgestaaten gibt es Büros, die die Errungenschaften der Moderne hochhalten – allerdings mit geringen Chancen, diese auch umzusetzen.

Eine interessante Entwicklung ist das gesellschaftliche Engagement zum Schutz modernistischer Stadtstrukturen. An der Diskussion um das «Recht auf die Stadt» und im Protest gegen ungerechte Stadtplanungen in Belgrad, Zagreb und Skopje entfacht sich ein aktiver architektonischer Diskurs. Gleichzeitig werden dadurch die Mechanismen der Zivilgesellschaft und der Bürgerbeteiligung gestärkt, die in dieser Region noch in den Kinderschuhen stecken. Das urbanistische Erbe der Moderne in Jugoslawien zeigt seine langfristigen Effekte und infiziert vielleicht wie ein Virus auch folgende Generationen – mit der romantischen Vorstellung von Architektur als Allgemeingut.


[Maroje Mrduljaš, Architekt und Kritiker, Redaktor der Zeitschrift «Oris» und Leiter der Forschungsplattform «Unfinished Modernisations»
Übersetzung aus dem Kroatischen: Marko Sauer]

TEC21, Fr., 2014.06.13

13. Juni 2014 Maroje Mrduljaš

Ausgeschlagenes ­Erbe

Eine Studienreise führte den Autor zu den Bauwerken der Spätmoderne, die in Kroatien zur Zeit des jugoslawischen Staats errichtet wurden. Ein Reisebericht mit biografischen Notizen.

Gerüche sitzen am tiefsten im Gedächtnis. Wie der Geschmack der in Tee getunkten Madeleine erinnert mich gerösteter Kaffee an meine Kindheit in Zagreb, dessen Duft bei Hochdruck über der ganzen Stadt lag, oder der Geruch nach Zunder, wenn die Monteure auf der anderen Strassenseite Stahl schweissten. Auch heute noch stellt sich in mir unvermittelt ein Gefühl von Heimat ein, wann immer ich eine Schlosserei betrete. Für einen kurzen Moment taucht dann aus der Erinnerung der Wohnblock mit dem steinernen Treppenhaus und den Kakteen hinter den Fenstern auf, die Strasse mit den Schlaglöchern, die an der Polizei vorbei zur Tramhaltestelle führte. Meine Kindheit fand auf beiden Seiten der Alpen statt: in der Schweiz und – im Rhythmus der Schulferien – bei meinen Verwandten in Kroatien. Die Reise zu den Bauwerken der Spätmoderne Jugoslawiens öffnete mir eine neue Sicht auf meine erste Heimat, denn mein Bild wies grosse weisse Flecken auf.

Erste beide Reisetage: Zagreb, Innenstadt und Erweiterung der sozialistischen Ära

Zu Beginn ein Spaziergang durch die Innenstadt und die erste Stadterweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Offensichtlich inspirierte die Donaumonarchie diese Ära von Zagreb, die baumbestandenen Prachtstrassen säumen fünfgeschossige Wohnhäuser mit Hochparterre und bröckelndem, meist gelblichem Putz. Die Blockränder sind geschlossen, doch ab und zu lässt eine Durchfahrt, im Zagreber Dialekt «Haustor» genannt, einen Blick in die Innenhöfe zu. Wir sind lang unterwegs und laufen in die Nacht hinein, vorbei an modernistischen Einzelstücken, die den Rhythmus der Häuserzeilen unterbrechen. An einer Strassenecke weicht die Baulinie zurück und lässt Platz für einen kleinen Park. Eine zehngeschossige Scheibe ragt dahinter auf: das Wohnhaus der Nationalbank aus dem Jahre 1963 von Ivan Vitic´. Er komponierte eine einspringende Ecke im Blockrand, gesäumt vom Scheibenhochhaus, das als Schlüsselwerk der Spätmoderne in Jugoslawien gilt. Die hölzernen Schiebeläden fallen aus der Fassade, rotweisse Bänder sperren den Bereich ab, wo man Gefahr läuft, von ihnen erschlagen zu werden.

Am zweiten Tag folgt ein Ausflug in die sozialistische Erweiterung der Stadt jenseits der Save. In der topfebenen Fläche wechseln sich Zeilen und Punkthochhäuser ab, dazwischen – mehr als nur Abstandsgrün – Parks mit Gemeinschaftsbauten und Spielplätzen. Die Leute sitzen im kleinen Quartierzentrum von Zaprud¯e und pflegen die Lieblingsbeschäftigungen der Kroaten: Kaffee trinken, rauchen und plaudern. Ein friedliches Bild, ohne die Konflikte von Retortenstädten an anderen Orten. Offenbar wirken die Rezepte der Modernisten, wenn sie bis zu Ende gebaut werden – wenn nicht nur die rentablen Wohnungen entstehen, sondern auch die gemeinschaftlich genutzten Nebenbauten wie Kinderkrippen und Quartierzentren. Und da in Zaprud¯e der Staat als Auftraggeber, Planer und sogar als Unternehmer wirkte, wurde das gesamte Paket geliefert. Vor Ort treffen wir Bogdan Budimirov, der den Stadtteil in den 1960er-Jahren mit Plattenbauten made in Yugoslavia erstellt hatte. Im Versammlungssaal erläutert der Architekt das Prinzip des Vorfertigungssystems Jugomont ’61. Er erklärt die Besonderheiten einer Baustelle für Tausende von Wohnungen: Bauen bedeutet für den vitalen Mann mit dem dichten, schlohweissen Haar Balkendiagramme, Netzpläne, Stücklisten. Er hat Wohnungen geschaffen für die Menschen, die nach dem Systemwechsel in die Zentren zogen, weil die Planwirtschaft Bauern zu Fabrikarbeitern machte. Auch wenn er dies mit keinem Wort erwähnt: Budimirov hat nicht bloss Häuser errichtet, sondern eine Gesellschaft umgebaut. Die Wände hinter ihm säumen Fotos des kroatischen Militärs. Sie zeigen Bilder der Rückeroberung der Krajna, des Landstreifens in Richtung Bosnien, der seit Jahrhunderten von Serben bewohnt war und wo mit deren Protesten der letzte Krieg 1991 seinen Anfang nahm. Der Quartierstreff ist das Zentrum der Veteranenorganisationen aus der Gegend geworden.

Dritter Tag: Durch das Hinterland, Petrova Gora

Die Partisanen spielten in meiner Familie keine Rolle. Auf jeden Fall keine bessere als alle anderen Armeen. Im Dorf meiner Grosseltern, einen Steinwurf von der ungarischen Grenze entfernt, zogen mit wechselndem Kriegsglück die Heere der Grossmächte wie die Wogen eines aufgewühlten Meeres hin und her: Wehrmacht, Ustaše, Domobrani und gegen Ende des Kriegs dann Russen und die Partisanen. Alle marschierten durch das kleine Donje Viljevo, alle plünderten sie die Kammern der Bauern. Es erstaunt nicht, dass die siegreichen Partisanen dort nicht auf Begeisterung stiessen. Zumal sie Kommunismus und staatlichen Besitz predigten, während die Grossmütterchen jeden Morgen vor dem Tagwerk zur Frühmesse eilten und die Bauern sich mit den Zehen auf ihrem Grund festkrallten. In meiner Familie war der Partisanenkult nicht üblich, weshalb ich auf dem Weg nach Split zum ersten Mal ein Partisanendenkmal besuchte. Oder was davon noch übrig war.

Auf der Petrova Gora lag dicker Nebel, und selbst der kroatische Chauffeur kannte den Weg nicht. Erst als der Bewacher des Denkmals unseren Bus abholte und durch dichte Wälder lotste, fanden wir den Ort, an dem die Partisanen während des Zweiten Weltkriegs ihr zentrales Krankenhaus betrieben. In Erinnerung an ihren Kampf krönt ein Denkmal in Form eines begehbaren Turms die Spitze des Hügels, mit Vortragssälen und Galerien. Die gekurvten Fassaden in Chromstahl glänzten einst weit in die Region hinaus. Erdacht und entworfen wurden sie vom Bildhauer Vojin Bakic´. Im Garten seiner Familie in Zagreb liegt auch heute noch das Modell aus ineinander verschlungenen Metallbändern. Das Denkmal blieb im Rohbau stecken: Zuerst kam das Geld abhanden, dann die Ideologie und am Ende der Staat. Das Betongerippe der organischen Struktur ragt immer noch in die Höhe, doch die Platten an den Fassaden sind abgerissen oder abgeschraubt, pelzige Dämmung quillt aus der Unterkonstruktion hervor. Das Denkmal ist zur Halde verkommen, an der sich die Heimwerker der Region bedienen. Augenscheinlicher kann eine Utopie nicht zerfallen. Diese Ruine des Partisanenkults liess als Fanal schon lange vor dem Krieg ahnen, was die Geschichte bringen würde. Heute zeugt sie von der Demontage der ehemaligen Staatsideologie. Und dennoch liegen am Tag unseres Besuchs Blumen auf dem Gedenkstein. Ganz vergessen sind sie noch nicht, die Kämpfer gegen die faschistische Regierung und die deutsche Besatzung.

Vierter Tag: Split, Krvavica

Ankunft in Split am späten Abend. Das Hotel liegt in der Altstadt, die in den Diokletianpalast hinein gebaut wurde, die Altersresidenz des römischen Kaisers. Doch unser Interesse gilt am nächsten Tag Split 3, einer Stadterweiterung ausserhalb des Zentrums, erstellt in den 1970er-Jahren für rund 13 000 Bewohner. Wer die Pläne sieht, fragt sich unweigerlich: Kann so etwas funktionieren? Von den Hügeln des Hinterlands zieht sich über knapp einen Kilometer eine Kette von Wohnblöcken entlang einer Folge von Treppen, Plätzen und Terrassen bis fast zur Küste hinab. Die Hauptachse liegt parallel zur Ausrichtung der Altstadt, an ihrem oberen Ende befindet sich die Universität. Vor Ort zeigt sich ein ähnlicher Effekt wie in Zaprud¯e: Die Fussgängerzone ist belebt, die Ladenlokale in den Erdgeschossen grösstenteils vermietet. Split 3 bildet den rauen Hintergrund für das echte Leben von Split, fernab der touristischen Gruppeninvasion. In bester brutalistischer Manier verschmelzen Ausdruck und Struktur des Gebäudes, riesige Betonschotten teilen die Blocks, die der Topografie des Hügels folgen. Überformte Strukturen machen aus den Wohnblocks gigantische Plastiken im Stadtraum.

Später, auf dem Weg hinunter in das winzige Krvavica schrammt der Bus beinahe die Häuser entlang der engen, gewundenen Strasse zum Meer. Als wir ankommen, überzieht die Abendsonne den Ort gerade mit einem glänzenden, honigfarbenen Licht. Die Saison ist vorbei, und so verlassen wie der Strand liegt auch das Kindersanatorium (1961) von Rikard Marasovic´ im Pinienhain. Elegant tragen massige Betonstützen eine auskragende Scheibe. Raffiniert verweben sich Tragwerk und Raum, verschmilzt der lichte und weite Raum des Meeres mit dem Haus. Spuren der Zerstörung entrücken das Gebäude in eine eigene Sphäre. Glasscherben verwandeln den Steinboden in ein funkelndes Lichtermeer, aus den Wänden gezerrte Kupferleitungen und eingetretene Türen reissen Wundmale in die Textur des Hauses. Hier hat kein Krieg gewütet, sondern der Mob mit einem System abgerechnet. Als das Haus im September 2012 endlich unter Schutz der Denkmalpflege gestellt wurde, verlagerte sich die Aggression auf die Leserkommentare der Lokalzeitungen.

Fünfter Tag: Šibenik, Zadar

In Šibenik, seiner Geburtsstadt, treffen wir wieder auf Ivan Vitic´. Auf die Renaissancegemäuer um die Stadt setzt er 1961 das Kulturzentrum der Jugoslawischen Volksarmee. Aus den Strukturen der Städte wachsen die modernistischen Gebäude der sozialistischen Utopie, ohne Bruch, ohne den Bestand zu verdrängen. Ein Prinzip, das in besonderer Ausprägung den historischen Kern von Zadar durchdringt, wo wir die Nacht verbringen. Decumanus und Cardo, von den Römern in den Boden geritzt, bestimmen die Ausrichtung der Strassen in der Altstadt, und zwischen die historischen Gebäude fügen sich nahtlos modernistische Bauten. Den meisten Touristen dürfte dies wohl gar nicht auffallen. Ausgesprochen zurückhaltend bauten die Architekten nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadt wieder auf, die von der US Air Force zu zwei Dritteln zerstört wurde. Aus den Trümmern wuchs eine Stadt, in der die historischen Strukturen mit der Baukunst des Sozialismus verschmelzen zu etwas Neuem, das auch politisch seinen Ausdruck fand: der dritte Weg zwischen den Blöcken der Nachkriegsordnung.

Sechster Tag: Magistrale, Krk

Im Sommer erholte sich die Arbeiterklasse an der Küste der Adria. Auch dafür stellte der Staat die Infrastruktur in Form von grossen, staatlich betriebenen Ferienkolonien. Der Tourismus war darüber hinaus ein Mittel, Devisen ins Land zu holen und eine Art freundlichen Klassenkampf zu präsentieren. Die Führung schien keine Berührungsangst vor dem «dekadenten Westen» zu haben wie in anderen Staaten Osteuropas. Die Regierung erstellte 1972 in einem Joint Venture mit dem Magazin «Penthouse» das mondäne Resort Haludovo auf der Insel Krk. An der Eröffnung standen Seite an Seite Bob Guccione, der Inhaber des Hefts, und Marschall Tito – umgeben von «Penthouse Pets». Plötzlich musste der Sozialismus nicht mehr real, sondern durfte sexy sein. Doch vergänglich sind Schönheit und Ruhm: Auf den Zerfall Jugoslawiens folgte auch derjenige von Haludovo. Der Architekt Boris Magaš hat ihn noch erlebt. Auch hier hatte nicht ein Krieg die Fassaden zerstört. Als wir in die Ruine schleichen, hängen Zettel mit den Quadratmeterpreisen für die Holztäferung und den Steinboden an den Wänden. Was einst dem Volk gehörte, wird von Kleinkrämern Stück um Stück abgewrackt.

Siebter Tag: Rijeka, Opatija

Nach den lieblichen Destinationen entlang der Küste empfängt uns die Hauptstadt des nördlichen Küstenabschnitts mit Nieselregen und dem schneidenden Realismus einer Hafenstadt. Grosse Schiffswerften und Zollfreilager erzählen von der maritimen Bedeutung Rijekas. Seine Architektur ist das Amalgam einer Stadt in Bewegung. Wie kaum ein anderer Architekt konnte Igor Emili diesen Geist einfangen und zu Gebäuden formen. Seine Moderne ist nicht von strengen Dogmen geprägt. Sie nimmt die feinen Strömungen vor Ort auf und schmiedet sie zu einer lokalen Legierung. Lang bevor die Moderne in ihre Krise kam, spürte der feinfühlige Geist die Sackgasse, in die sie führen würde, und erweiterte ihre Werkzeuge. Räumlicher und formaler Reichtum bedeutete ihm mehr als die Umsetzung gesellschaftlicher Analysen in Gebäude und Städte. Und so bewegte er sich an den Rändern der Spätmoderne. Genauso geschmeidig wie die blockfreien Genossen in ihrem Balanceakt zwischen Sozialismus und freier Marktwirtschaft.

Zurück in Zagreb

Ich berichte meiner Familie begeistert von der Reise, zeige ihnen die Bilder, die Entdeckungen. Ihr Interesse ist gering, das Verständnis noch kleiner. Jeder will noch bessere Bauten kennen, kontert mit Sportstadien, Banken, Shoppingmalls und Luxushotels an der Adria, die in den letzten Jahren in Kroatien gebaut wurden und doch viel eher einen Besuch lohnten. Dieses Jugoslawien ist offenbar nicht ihr Staat gewesen. Oder zumindest nicht mehr.

TEC21, Fr., 2014.06.13

13. Juni 2014 Marko Sauer

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