Editorial

Sie sind die Quintessenz des Gartens. Ihre überwältigende Schönheit ist wohl eine der wichtigsten Motivationen für die Leidenschaft des Gärtnerns. Ihre unermessliche Vielfalt bietet Grund zum Staunen und erweckt Neugier. Sie machen Lust, immer wieder neu hinzuschauen: hinab zum Mooswinzling und hinauf zum Mammutbaum. Ihre Blüten, Blätter, Wurzeln legen vom unglaublichen Erfindungsgeist der Evolution Zeugnis ab. Sie belegen die evolutionäre Gestaltungskraft für Hochtechnologie im Kleinen und im Grossen und haben teil an der bisher unnachahmbaren Komplexität und Resistenz von Ökosystemen. Pflanzengesellschaften – Teil der Landschaftsgemälde der Natur – inspirieren die Arbeit von Landschaftsarchitekten.

In der Renaissance wurden Natur und Kunst als schöpferische Kräfte gesehen, die sich dialektisch gegenüberstehen und deren Beziehung durch ein gegenseitiges Geben und Nehmen gekennzeichnet ist.

Auch heute – und vielleicht seit seinen Anfängen in der Jungsteinzeit – bleibt der Garten der Ort, an dem wir Natur und Kultur zu einem Kunstwerk verflechten.

Aus dieser Verbindung entwickelte sich ein reicher landschaftsarchitektonischer Wortschatz der Pflanzenverwendung: Allee, Baum-, Strauch- und Staudenhecke, Staudenrabatte, Pflanzung nach Lebensbereichen, Misch- und Flächenpflanzung, Rasenfläche, -weg und Rasenbeet, Blumenbeet, Blumenstreuung, Blumenwiese, Pflanzenfigur, Fassaden- und Dach­begrünung, Säulengang, Pergola, Palisade, Knotengarten und Broderieparterre … Begriffe, die nur einen Bruchteil der Werkzeuge gestalterischer Gartenkunst benennen.

Das vorliegende anthos präsentiert aktuelle, fein entworfene Gärten, weist auf durch langjährige Forschung gestützte Pflanzsysteme hin, gibt Gedanken zu Geschichte und Lehre der Pflanzenverwendung Platz. Es zeigt, wie ideenreich und gekonnt das «alte» Material Pflanze für heutige Bedürfnisse verwendet werden kann.

Zwei wichtige Akteure der Freiraumgestaltung in der Schweiz erhalten in dieser Ausgabe Raum: Der Bund Schweizer Landschaftsarchitekten und Landschaftsarchitektinnen BSLA startet seine Interviewserie «Ansichtssache», die von nun an ihren festen Platz in anthos hat. Persönlichkeiten, welche die Schweizer Landschaftsarchitektur in besonderer Weise geprägt haben, kommen darin zu Wort.

Ausserdem erscheint anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Vereinigung Schweizerischer Stadtgärtnereien und Gartenbauämter VSSG eine zwölfseitige Festschrift. Die VSSG wirft darin einen Blick in Vergangenheit sowie Gegenwart und formuliert Visionen für ihre Zukunft. anthos gratuliert!
Stéphanie Perrochet

Inhalt

Lars Ruge: Ein Spaziergang mit Linné
Mark Krieger: Drei aktuelle Tendenzen der Pflanzenverwendung
Natacha Guillaumont: Landschaft lernen
Ursula Yelin, Stephan Aeschlimann Yelin: Natürliche Pflanzkonzepte für den Garten
Axel Heinrich: Stauden_Misch_Pflanzungen
Elisabeth Jacob: Wenn die Gärtnerin und der Landschaftsarchitekt …
Françoise Martinez Monney: Lebendige Gemälde
Nicole Badin: Historische Rosensorten
Hikari Kikuchi, Blaise Bourgeois: Spiel mit den einheimischen Arten
Maja Tobler, Olivier Zuber: Der verlorene Garten im Herzen Brasiliens
Claudia Moll: Pflanzenvielfalt als Repräsentation
Jacqueline Osty: Natürlich städtisch
Bertil O. Krüsi: Hochlagenbegrünung
Margrith Göldi Hofbauer: Beeinflussen neue Schadorganismen künftig das Bild unserer Städte?
Alexandre Aebi, Nicolas Derungs, Joël Amossé, Gaëtan Morard, Julien Vuilleumier: Die Universität Neuenburg im Dienst der städtischen Biodiversität

Spiel mit den einheimischen Arten

Wie können wir in der allgemeinen Abschottungsstimmung unsere Lust auf die weite Welt und den ­botanischen Austausch leben? Vom Grundsatz ausgehend, dass es keine schlechten Pflanzen gibt, ist der Landschaftsarchitekt eingeladen, auf feinfühlige Weise mit ihnen zu spielen.

Die Profession kann mit unterschiedlichen Prioritäten, Arbeitsfeldern und Blickwinkeln ausgeübt werden. Für das Büro OXALIS architectes paysagistes associés Sàrl sind der direkte Bezug zur Materie und die Pluridisziplinarität grundlegend. In unserer Epoche der Querbeziehungen der Arbeitsbereiche scheint es entscheidend, die Schichten und Kreisläufe eines landschaftlichen Ensembles zu identifizieren, um anschliessend eine schöne Palette von pflanzlichen – und anderen – Komponenten auf passende und dauerhafte Art in den spezifischen Ort zu integrieren. Wegen ihrer Vielfalt, ihrer Unbeständigkeit und ihrer Bedürfnisse sind Pflanzen das faszinierendste Kompositionsmaterial.

Unser Team stillt seine Neugier und seine Lust auf Exotik im Ausland, vergisst dabei aber nicht, auch die vielfältige lokale Landschaft grossräumig zu erkunden. Einheimische Pflanzen sind «Inspira­tionsquelle» oder sind «perfekt angepasst» für ihre Einbindung in die Gestaltung der Umgebung und /oder der Architektur, aber sie sind nicht das Auswahlkriterium sine qua non. Ausserdem ist der Begriff «einheimisch» natürlich relativ. Es genügt, seinen Aufenthaltsort zu ändern, und der Fremde wird zum Einheimischen.

Ausser Landes spielt das Büro mit den Silhouetten des Torre Agbar und der Sagrada Familia, die aus der Skyline Barcelonas aufragen.

Die Fassaden des Singapore Freeport werden von einer ganzen Reihe aus endemischen, aber nicht im Land kultivierten Aronstabgewächsen besiedelt, sie sind wegen ihres Rufs als Unkraut nicht sehr beliebt. Um diese Pflanzensammlung zusammenzustellen, mussten Mutterpflanzen aus dem Botanischen Garten in Genf durch Stecklinge vermehrt werden. Der Gipfel!

Im Innenhof des UEFA-Gebäudes entsteht durch grosse Trauer-Mammutbäume ein eindrucksvoll-pittoreskes Bild, welches im Kontrast zu den ausserhalb gepflanzten einheimischen Sträuchern steht. In Schönried wurden einheimische Gehölze gewählt, in Sorten, die an Zwergkiefern erinnern oder andere Höhenvegetation nachahmen. Der Steingarten in den Fugen der Bodenplatten ist eine Re-Interpretation mit Thymian, Fetthenne und Ziersteinbrech. An der Brücke Wilsdorf erinnern typische Arten des Auenwalds an die naheliegende Arve und zeigen einen Ort mit Erlen an: «Les Vernets». Auch hier wurden gezüchtete Erlen- und ­Weidensorten gewählt, wegen ihrer besonderen Wuchsform, ihrer Leichtigkeit, des jahreszeitlichen und poetischen Ausdrucks.

anthos, Mo., 2014.05.26

26. Mai 2014 Hikari Kikuchi, Blaise Bourgeois

Der verlorene Garten im Herzen Brasiliens

Nicht weniger als eine Modellanlage des Botanischen Gartens im 21. Jahrhundert möchte das Kunst- und Parkprojekt Inhotim sein. Mit seiner feinfühligen Gestaltung und dem enormen Artenreichtum ist es auf dem besten Weg dazu.

Der Besuch des wunderbaren «Centro de Arte Contemporânea Inhotim» (Zentrum für Gegenwartskunst) ist kein gewöhnlicher Tagesausflug. Ist man erst einmal in Brumadinho, einer rund 600 Kilometer nordöstlich von São Paulo gelegenen Kleinstadt im Bundesstaat Minas Gerais, müssen für die Erkundung der für das Publikum geöffneten 20 Kunstgalerien und 110 Hektaren Park­flächen mindestens zwei Tage einberechnet werden.

Nach der Übernachtung in einer für brasilianische Verhältnisse nahe gelegenen Pousada fahren wir gespannt durch die hügelige Landschaft, welche uns mit ihrem Mosaik aus Wäldern und Weiden entfernt an die wildromantische Kulturlandschaft des Emmentals erinnert. An der Kasse werden wir von Malu erwartet. Sie fährt uns mit einem Elektromobil zum Park- und Gartendirektor Pedro Nehring, der uns herzlich empfängt. Nehring ist verantwortlich für die Pflege und Entwicklung der Parkanlagen sowie der eigenen Pflanzenproduktionen. Ihm sind 140 Mitarbeiter unterstellt: Biologen, Agronomen und angelernte Fachkräfte. Seit Beginn ist er mit den Gartenanlagen verbunden und weiht uns in die Geschichte dieses aussergewöhnlichen Projekts ein.

Burle Marx als Berater

Der Gründer und Besitzer von Inhotim, Bernardo Paz, kaufte in den 1980er-Jahren die ersten Landwirtschaftsflächen, welche heute etwa 900 Hektaren umfassen. Er verliebte sich in einen riesigen Tamboril Enterolobium contortisiliquum, welcher nach seinen Angaben das Hauptmotiv für den Landkauf war. Seine Kunstsammlung umfasste damals auch Werke des bekannten brasilianischen Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx, zu welchem er Kontakt pflegte. Burle Marx besuchte Paz im Jahr 1984, um ihn vor Ort für die Gestaltung der Parkanlage zu beraten.

Im älteren Parkteil ist Burle Marx‘ Handschrift bis heute ersichtlich. Wir schlendern durch grosszügige tropische Pflanzungen. Zusammen mit den in organischen Formen angelegten Seenlandschaften bilden sie den Rahmen für die zahlreichen Galerien und Kunstwerke unter freiem Himmel. Die Wegführung ist so angelegt, dass die Kunstobjekte optisch nicht direkt miteinander in Bezug stehen, sondern im Dickicht der üppigen Vegetation entdeckt werden müssen. Zumindest für uns europäische Besucher ist bereits der Weg zum nächsten Kunstwerk eine spezielle Erfahrung.

Verschlungene Schönheit

Wir biegen vom Hauptweg ab und steigen über einen mit Treppenstufen unterbrochenen, geschwungenen Pfad in eine Senke hinunter. Er ist gesäumt von eindrücklichen Ingwer- und Zierbananengewächsen, deren opulente Schönheit den Blick auf sich lenkt und den Weg mystifiziert. 1807 Palmengewächse Arecaceae, 637 Aronstabgewächse Araceae, 420 Orchideengewächse Orchidaceae, 129 Bromeliengewächse Bromeliaceae, 126 Hülsenfrüchtler Fabaceae, 101 Akanthusgewächse Acanthaceae, 97 Spargelgewächse Asparagaceae, 89 Helikoniengewächse Heliconiaceae … Pedro Nehring zählt uns die wichtigsten Familien seiner umfassenden botanischen Pflanzensammlung auf. Während wir über Farben, Formen und Vielfalt der Vegetation sprechen und staunen, taucht plötzlich das Fiberglas-Iglu von Olafur Eliasson vor uns auf: «By Means of a Sudden ­Intuitive Realization» (1996), eingebettet in eine kleine Lichtung.

Nachdem wir die tropische Dichte wieder verlassen haben, werden wir durch einen Wald von Elefantenfüssen Beaucarnea stricta zum imposanten Tamboril geführt, von wo aus man einen wundervollen Blick auf den nahe gelegenen See geniessen kann. Spätestens hier wird uns klar: Der ältere, von Burle Marx beeinflusste Parkteil beeindruckt vor allem durch die subtile Wegführung und die Intensität der verwendeten Pflanzen und deren Kombinationen, welche meist auf den Gestaltungsprinzipien von Wiederholung und Kontrast beruhen.

Auf die Frage hin, welches die zukünftigen Herausforderungen sind, führt uns Nehring in den neueren Parkteil. Hier wird das Zusammentreffen der brasilianischen Vegetationstypen Mata Atlântica (Küsten­regenwald) und Cerrado (Savanne) naturnah thematisiert. Entlang der weitläufigen Wege geniessen wir den dichten Schatten der Erholungsnischen, welche meist mit speziellen Blütenpflanzen oder Fruchtbäumen gebildet werden und Sitzgelegenheiten anbieten.

Modellanlage

Die Parkanlage soll zum Modell des Botanischen Gartens im 21. Jahrhundert werden. Bereits vor zwei Jahren wurde die umfassende Pflanzensammlung international anerkannt. Eine grosse Herausforderung stellen zweifelsohne auch die zukünftigen Projekte dar: In Planung ist nebst neuen Kunstgalerien auch das Projekt «Green House», in dem die verschiedenen Vegetationstypen Brasiliens in riesigen Gewächshäusern erlebbar gemacht werden sollen.

«Inhotim ist eine neue Form von Leben, in dem es nichts Böses gibt», sagt Bernardo Paz, «denn es wird von der Schönheit besiegt.» Für Paz ist sein Lebenswerk weit mehr als eine Kunstsammlung oder eine Parkanlage! Inzwischen streicht die Abendsonne mit ihren goldenen Strahlen über das Gelände und lässt die tropischen Farben noch intensiver erscheinen.

anthos, Mo., 2014.05.26

26. Mai 2014 Maja Tobler, Olivier Zuber

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