Editorial

Man muss nicht immer neue Begriffe erfinden. Doch manchmal schadet das nicht. Etwa wenn ein vernachlässigtes Thema so zu Geltung gelangt: «Grosssiedlungsgrün». Nach der Stigmatisierung grosser Wohnsiedlungen mitsamt ihren Aussenräumen als «Ghettos» und «Sozialbunker» und dem gegenläufigen Faible für Plattenbauten im Mäntelchen neuen Revoluzzertums machen sich heute verschiedene Ansätze bemerkbar, die «Planwelten der Moderne» zu normalisieren.

Vielleicht ist es unser derzeitiger Abstand zu städtebaulichen Schablonen, der unsere zwischen «Planstadt» und «Informalität» changierende Gegenwart charakterisiert. Doch wenn formlose Agglomerationen Randständiges verschlucken, können neue Ordnungsmuster deutlich werden, die eine alternative Geschichte des Städtebaus erzählen. Diese würde Grosssiedlungen nicht als reaktive Projekte verstehen, sie nicht aus dem alten Stadtkörper herauslösen, als isolierte Rümpfe brandmarken, die wir in den spielerischen Collagen eines Hans Hollein gerade noch akzeptieren.

Eine solche Narration dürfte diesen Typus nicht per definitionem nach 1945 ansiedeln, als homogen, schnell gebaut, dicht, gross und fremd werten, sondern würde ihn in der «europäischen Stadt» verankern. Schliesslich gehorchten auch die gigantischen Umbauprojekte des 19. Jahrhunderts einer ähnlichen Logik, böten somit Ausgangspunkte einer Neueinschätzung. Das freilich sollte uns dabei helfen, Grosssiedlungen weiterhin auch kritisch zu sehen. Und gerade dabei hilft «Grosssiedlungsgrün».

Grosssiedlungen sind von der Landschaftsarchitektur aus betrachtet keine Figur-Grund-Wahrnehmungen mehr. Sie sind nicht aus grossräumlichen Aspekten lösbar, sind mehr oder weniger gut in der (Stadt-)Landschaft verortet und prägen diese. Es ginge um eine Typologie, die in Ebenezer Howards «Magneten», Georg Metzendorfs «Hügelstadt», Ernst Mays Trabanten über den Niddaauen Frankfurts oder den Grosssiedlungen in Berlin und Aarau diverse Entwicklungsschritte macht. Wenn einzelnen Grosssiedlungen heute bereits Würdigung zukommt, bezieht sich diese noch immer fast ausnahmslos auf Gebäude. Indes übernehmen gerade hier die Aussenräume zentrale Funktionen, auch im Sozialleben der Bewohner. Was aber ist das überhaupt: Grosssiedlungsgrün? Wer misst ihm jene Bedeutung bei, die ihm beim Funktionieren, Weiterbestehen und Reaktivieren von Siedlungen, mehr noch als der Neuanstrich über Dämmplatten, zukommt?

Dass nichts neu erfunden werden kann, ist eine alte Pointe. Neue Lesarten, die Kontinuitäten erkennen, verhelfen aber zu produktiven Blicken – etwa auf die Grosssiedlung und ihr «Grün». Diese Ausgabe möchte helfen, sie freizulegen.
Sabine Wolf, Albert Kirchengast

Inhalt

Eveline Althaus, Marie A. Glaser, Claudia Mühlebach: Weite Dichte: Schweizer Grossüberbauungen
Christian Stern: Betrachtungen zu Eigenart und Unterhalt von Freiräumen in grossen Wohnsiedlungen
Andreas Hofer: Der Raum zwischen den Häusern
Vreni Püntener, Sigrun Rohde: Drei Fragen zum Aussenraum
Daniel Schläpfer: «… wie das rauheste Seitental im entlegensten Krachen zwischen Amsteg und Göschenen»
Johannes Stoffler: Unbequemes Erbe
Thilo Folkerts: Das Kleine im Grossen – Grosssiedlung Berlin-Hellersdorf
Thomas Herrgen: Reformsiedlung der klassischen Moderne
Collectif Etc: Projekte vor Ort gestalten
Samuel Craquelin: Intervention in einer Grosssiedlung in der Normandie
Stéphanie Perrochet: Eine aussergewöhnliche Siedlung
Peter Wullschleger: Siedlungsverdichtung und urbane Freiräume: Kein Widerspruch, sondern Teile eines Ganzen
Charlotte Fauve: Rückeroberung der Strassen

Unbequemes Erbe

Die Feindbilder von einst sind inzwischen Gegenstand der Denkmalpflege. Doch die zeugnishafte Bedeutung der Aussenanlagen von Grosssiedlungen ist bisher nur ungenügend gewürdigt worden. Wir brauchen qualifizierte Entwicklungskonzepte, Garteninventare und mehr Forschung.

«Eine Zukunft unserer Vergangenheit!» lautete das Motto des Europäischen Denkmalschutzjahres 1975. Unter der Schirmherrschaft des Europarats hatte sich erstmals auf internationaler Basis eine gesellschaftlich breit abgestützte Protestbewegung formiert, welche die Städtebaupolitik der Nachkriegszeit lautstark kritisierte. Statt Flächensanierung forderte man eine bewahrende Stadterneuerung. Die Politik griff den Protest auf und erliess die bis heute bestehenden Denkmalschutzgesetze.

Wirft man einen Blick in den Katalog der zum Denkmaljahr gehörigen Ausstellung, so tritt vor Augen, woran sich der Unmut vor fast 40 Jahren entzündete. In plakativen Bildern waren hier die Grosssiedlungen der Nachkriegsmoderne mittelalterlichen Altstädtchen wertend gegenübergestellt. Nicht ohne Polemik wurden Grosssiedlungen als Produkte einer entgleisten Moderne dargestellt, die regionale Bezüge und Traditionen, aber auch die Menschen selbst aus dem Auge verloren hatten. Dieses Verständnis traf nicht nur den Nerv der Mehrheit der Denkmalpfleger, sondern bediente auch die sentimentalen und bisweilen heimattümeligen Sehnsüchte der breiten Öffentlichkeit.

Inzwischen ist die Auslegeordnung unübersichtlicher und der Denkmalbegriff erweitert worden. Die schmucken mittelalterlichen Riegelhäuschen sind Bestandteil von komplexen Denkmallandschaften geworden, die zeitlich weit in das 20. Jahrhundert reichen und nun auch Zeugen der Moderne und der Industriekultur umfassen. Die Ironie der Geschichte will es, dass inzwischen ausgerechnet die Feindbilder von damals – die Grosssiedlungen der Nachkriegsmoderne – zu potenziellen Schutzobjekten der Denkmalpflege avanciert sind. Während aus fachlicher Sicht die zeugnishafte Bedeutung mancher dieser Ensembles im wahrsten Sinne des Wortes kaum übersehbar sind, halten die breite Öffentlichkeit und auch die Politik mit dieser Entwicklung nur mühsam Schritt. Umso wichtiger wird es, die Bedeutung dieser Siedlungen verständlich zu erklären und aktiv Aufklärungsarbeit zu betreiben.

Sorgfältige Entwicklung

Grosssiedlungen sind oftmals multifunktionale Kleinstädte im Grünen. Während manche mit banalem ­Abstandsgrün aufwarten, finden sich auch gestalterisch herausragende Beispiele. So bietet der Koloss Lieb­rüti in Kaiseraugst bei Basel (1966–1979) neben ­verschiedensten Wohntypen und Gemeinschaftseinrichtungen auch eine ungewöhnliche Vielfalt an Aussenräumen an. Gemeinsam mit den Architekten Schachenmann & Berger schuf hier Helmut Vivell ­einen Stadtplatz, Spiel- und Ruheplätze, Einzelgärten, Gartenhöfe und Parkflächen in kluger Kammerung. Wie Liebrüti bildet auch bei der Wohnsiedlung Grünau in Zürich (1972–1977) der Park das eigentliche Zentrum der Anlage. Auch hier wurde der Aushub nach Entwürfen von Willi Neukom zu einer expressiven Topografie aufgetürmt – ein kunstvolles und nutz­bares Gegenüber der Grossbauten.

Doch längst haben sich bauliche Mängel bei den Siedlungen bemerkbar gemacht. Während energetische Sanierungen nur die Gebäude betreffen, stellen statische Probleme bei Tiefgaragen mancherorts ganze darüberliegende Parklandschaften in Frage.

Hinzu kommen veränderte Nutzungsgewohnheiten der Bewohner im Aussenraum, heruntergekommene Möbel und Infrastrukturen und ein Pflanzenbestand, der von jahrzehntelanger Totalpflege durch Hauswartungsfirmen arg gezeichnet ist. Um verloren gegangene gestalterische Qualitäten wiederzugewinnen, wären Entwicklungskonzepte notwendig, die – einem Parkpflegewerk vergleichbar – auf der Basis des historisch Gewachsenen und aktueller Nutzungsbedürfnisse eine Perspektive für den dauerhaften Erhalt des wertvollen Zeugen eröffnet.

Wissen aufbauen

Dass aber auch Grosssiedlungen und insbesondere ihre Aussenräume Denkmale sein können, ist ihren Eigentümern nur mit Mühe plausibel zu machen. Wenig förderlich dabei ist, dass gartendenkmalpflegerisches Fachwissen in den zuständigen Denkmalpflegeämtern der Schweiz immer noch die Ausnahme ist – und dies, obwohl Garten und Grünfläche die massgeblichen Leitmotive für die letzten 100 Jahre im Städtebau des Landes waren.

Auch können Planer bisher wenig auf Erfahrungen und fast gar nicht auf Grundlagenforschungen zum Thema aufbauen. Es existieren bisher nur wenige substanzielle gartenhistorische Arbeiten zur Epoche und fast gar keine Beiträge zur angewandten Forschung in diesem Bereich. Wer ernst genommen werden will, muss mehr vorzuweisen haben.

Mit der Erweiterung des Bau- und Garteninventars um die Epoche 1960 bis 1980 hat sich die Stadt Zürich vergangenes Jahr (2013) den anstehenden Problemen gestellt. Wegweisend war dabei die gemeinsame Inventarisierung der Ensembles durch Bau- und Gartendenkmalpflege, zumal erfahrungsgemäss der Aussenraum ohne die Gebäude nicht erhalten werden kann. Zugleich beteiligt man sich an anwendungsorientierter Forschung. Gemeinsam mit der Hochschule Rapperswil und dem Verfasser dieses Artikels erarbeitet die Stadt den Leitfaden «Fliessendes Grün» zur Wiederbepflanzung von Grünflächen des organischen Städtebaus 1940 bis 1970, unterstützt von der Stiftung zur Förderung der Denkmalpflege.

Ob die im Inventar verankerten Bemühungen um den Erhalt der neuen Denkmalgruppe der Stadt Zürich erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Die Stadt hat sich der Problematik des sperrigen Erbes jedoch fachübergreifend gestellt.

anthos, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Johannes Stoffler

Intervention in einer Grosssiedlung in der Normandie

Für das Quartier Ramponneau am Rand von Fécamp ist die Stadterneuerung eine echte Herausforderung. Das in der Umsetzung befindliche Projekt beantwortet Fragen zur Nutzung des öffentlichen Raums und zur Wohnstadtproblematik.

Das Projekt ist besonders auf den Menschen und auf seinen Umgang mit «dem Urbanen» bedacht. Mehrere Monate Geländearbeit, Zuhören und Abstimmung mit den in der Siedlung lebenden Menschen haben einen Entwurf möglich gemacht, welcher den Erwartungen aller Beteiligten entspricht.

Das Stadterneuerungsprojekt wurde von allen Akteuren der Siedlung getragen: der Stadt, dem Quartierhaus, der Interessengemeinschaft der Kommunen, dem Departement, der Region, der Direktion des Departements DDTM, der Nationalen Agentur für Stadt­erneuerung ANRU und den Wohnungsträgern (Habitat 76, Immobilière Basse Seine). Die Stadt hat eine Koordinatorin OPCU beauftragt, um die Wünsche der verschiedenen Bauherren zusammenzubringen.

Die Herangehensweise

1. Die Abgeordneten überzeugen: Zuerst musste der Landschaftsarchitekt die Abgeordneten von der Idee überzeugen, mit der Quartier-Arbeitsgruppe das Projekt gemeinsam zu entwerfen. Ein Besuch von städtischen Parks wurde organisiert. Mit Hilfe von Diskussionen und Fragebögen wurden die Eindrücke und Wünsche der Menschen festgehalten. Gleich zu Beginn der Mission überzeugte der Landschaftsarchitekt die Abgeordneten davon, einen Chefgärtner anzustellen, der die Anlagen (den öffentlichen Raum und den Pädagogischen Garten) lebendig erhält und dafür sorgt, dass mit ihnen sorgfältig umgegangen wird.

2. Eine Arbeitsgruppe bilden: Anschliessend wurde eine für das Quartier repräsentative Arbeitsgruppe gebildet, an der die Abgeordneten, Bewohner, Hausmeister, Einzelhändler und Selbständigen teilnahmen sowie auch Lehrer und Kinder, die Verwaltungsinstitutionen des öffentlichen Raums und die Kirchengemeinde.

3. Eine quartiernahe Stadterneuerungsorganisation aufbauen: Vom Entwurf bis über die Realisierung hinaus soll diese Einrichtung den Kontakt zu den Bewohnern, Einzelhändlern und sonstigen im Quartier aktiven Bevölkerungsgruppen erhalten, um den zukünftigen respektvollen Umgang mit den neu geschaffenen Anlagen sicherzustellen.

4. Bestandsaufnahme durch Begehen: Mit Hilfe von Aufnahmeblättern wurden folgende Themen behandelt: allgemeine Umweltfragen, Gestaltung, Unterhalt und Verwaltung der Aussenräume, die Aufteilung der Räume in öffentliche und private Bereiche, Zugänglichkeiten, Fussgänger- und Strassenverbindungen, Beseitigung der Haushaltsabfälle und des Sperrguts, Sicherheit und öffentliche Ordnung sowie allgemein die Lebensqualität im Quartier … Diese Analyse erlaubte einen möglichst weitgehend den Interessen der Menschen entsprechenden Projektentwurf.

5. Entwurf und Präsentation des Projekts: Die Neugestaltung hierarchisiert die Nutzungen räumlich, von den Fussgängern über die Fahrradfahrer bis zum Autoverkehr. Der Park im Zentrum der Siedlung bietet Erholungsflächen sowie Möglichkeiten für kreative und pädagogische Aktivitäten. Er besteht aus einem Gemüse- und Blumengarten, Spielflächen, einem Kiefernwald, einem tropischen Gewächshaus, einem grünen Theater und einer grossen Anzahl verschiedener Pflanzenarten. Am Ende der Entwurfsphase wurde das Projekt den Bewohnern der Siedlung präsentiert, den Einzelhändlern, den Vereinigungen, den Abgeordneten … Für eine auf die Schulen ausgedehnte Mitbestimmung wurden Architekturmodelle erstellt und der Kinder-Gemeinderat an der Auswahl der Spielthemen beteiligt. Diese Partizipation möglichst vieler Menschen führte zu einem massgeschneiderten Projekt.

Die Projektbilanz ist bisher positiv, in Bezug auf:
 – die Stärkung der sozialen Bindungen, vor, während und nach der Realisierung des Projektes,
 – die vielfältigen Nutzergruppen, welche die soziale, kulturelle und altersmässige Durchmischung gewährleisten,
 – die Beteiligung der Bewohner und Familien,
 – den Austausch von Kenntnissen und Erfahrungen rund um den Garten,
 – die Verbindung mit anderen Interessengruppen des Quartiers und der Stadt (Assoziationen, Sozialsta­tionen, Schulen, Quartiershaus, Familiengärten …),
 – die Begleitung durch die Stadtverwaltung (Öffentlichkeitsarbeit, Gärtner, Schulen …),
 – die Entwicklung des Lernens über landwirtschaft­liche Kultur und Ernährung.
Das Projekt, welches gleichzeitig einen ländlichen und einen urbanen Bezug zum Ort hat (auch einen maritimen durch den Blick auf das Meer), wird auch von der in der kollektiven Erinnerung gespeicherten «Zugehörigkeit» geprägt. Heute mehr als jemals zuvor wird die Modernität öffentlicher Räume vor allem durch die Aufmerksamkeit definiert, die man den Menschen und den Dingen der Region, der Stadt oder dem Dorf entgegenbringt.

In diesem Sinne wurde das Projekt mit Sorgfalt bis ins Detail entwickelt, damit die Anlagen, die Bewohner und die Menschen, die sie pflegen, hier auch zukünftig respektvoll behandelt werden.

anthos, Mo., 2014.02.24

24. Februar 2014 Samuel Craquelin

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