Editorial
Schon immer hat die Natur die Menschen inspiriert. Ihre Formen beeinflussen Fragen der Gestaltung, ihre Ressourcen sind überlebensnotwendig. Mit dem zunehmenden technologischen Fortschritt jedoch breitet sich auch das diffuse Unbehagen der Entfremdung von der Natur aus. Ein deutliches Indiz für dieses Phänomen ist unsere Reaktion darauf: Die Sehnsucht nach Natur ist derzeit so allgegenwärtig wie schon lange nicht mehr. Sie artikuliert sich auch in der Architektur und im Design in vielfältigen Ideen, Konzepten und Initiativen, die wir in den Mittelpunkt unserer vierten Ausgabe der deutschen Domus gestellt haben.
Für den italienischen Architekten und Designer Michele De Lucchi beispielsweise ist die Natur eine neue Art von Religion, die auch eine ethische Verantwortung bedingt. „Ich wollt ein Gebäude konzipieren, das wie früher mit Händen gebaut wird“, sagt De Lucchi zu seinem Entwurf der Jakobskapelle. Die Architektur der archaischen kleinen Kirche plante er als Dispositiv der Landschaft. Der reduzierte Innenraum verzichtet bewusst auf christliche Symbole und konzentriert sich stattdessen auf das Erlebnis der umliegenden Wiesen und Wälder.
Die Natur besser kennenzulernen, ist auch das Ziel der deutschen Designerin Julia Lohmann. In London erforscht sie die vielfältigen Möglichkeiten von Seetang, einer schnellwachsenden Meerespflanze, deren Potenzial bislang unterschätzt wurde. Lohmanns Materialexperimente mit Algen haben zu ersten erstaunlichen Ergebnissen geführt, die vielversprechende Perspektiven eröffnen. Ähnlich zukunftsorientiert ist generell das organische Design. Paola Antonelli vom New Yorker Museum of Modern Art stellt in ihrem Artikel einen Überblick aller Ansätze vor, die unter diesem Stichwort zusammengefasst sind. Besonders spannend dabei ist, dass die Gesetze der Natur als Algorithmen definiert und auf die Gestaltungswelt übertragen werden können. Anders als früher stehen uns heute die technologischen Mittel zur Verfügung, mit denen wir nicht nur den Formen der Natur, sondern auch ihren Funktionsweisen und ihrer Ökonomie auf den Grund gehen können. Natürlichkeit und Künstlichkeit, die eigentlich als Gegensätze galten, rücken so immer weiter zusammen.
Viel Inspiration beim Lesen dieser Ausgabe.
Sandra Hofmeister
Ob Bauten auf ihre Umgebung reagieren oder sich brutal und selbstgefällig über die Landschaft hinwegsetzen, spielt nicht nur formal eine Rolle. Manchmal ist es lebensentscheidend. Das Fogo Island Inn von Todd Saunders Architecture steht in Neufundland am Ende der Welt: Seit jeher werden Häuser an der felsigen Küste auf Stelzen aufgeständert, um gegen die Fluten gewappnet zu sein. Auch Todd Saunders hielt sich beim Bau des Hotels an diese Regel. Die Enden des expressiven Baukörpers schweben über einem hohen Stützenwald, alle 29 Zimmer haben den Atlantik im Blick. Hier wird das Leben unter extremen Bedingungen deutlich spürbar. Auch in der Steinzeit wussten die Menschen genau, was es heißt, von der Natur abhängig zu sein. Aus dieser Zeit – etwa 40.000 v. Chr. – wurden in der Vogelherdhöhle im schwäbischen Niederstotzing ein kleines Mammut und ein Wildpferdchen aus Elfenbein gefunden. Sie zählen zu den ältesten Kunstwerken der Menschheit: Grund genug für den Bau eines Ausstellungsgebäudes. Das realisierte Projekt von Ritter Jockisch Architektur zeigt, was es heißt, sensibel auf einen Ort zu reagieren. Ihr sichelförmiges Gebäude verschwindet fast im Gelände und wird so zum Bestandteil des Rundweges durch den Archäopark, wo man die originale Fundstätte betreten kann. Ein Weg an den Ursprung.
Still wird auch, wer sich auf einer Variante des Jakobswegs pilgernd in der archaischen Kapelle von Michele De Lucchi unweit von Fischbachau wiederfindet. Ganz anders der neue Campus der Wirtschaftsuniversität Wien: Dort bildet ein urbaner Freiraum am Übergang zum Wiener Prater das verbindende Element zwischen sehr verschiedenen Bauten von No.MAD Arquitectos, Estudio Carme Pinós, CRAB studio Architects, Zaha Hadid Architects, dem Atelier Hitoshi Abe und BUSarchitektur, die mit boa und dem Büro Landschaftsarchitektur auch den Freiraum planten.
Dass man in Bewegung am besten lernt, weiß auch Bjarke Ingels von BIG. Er plante eine unterirdische Sporthalle für das Hellerup Gymnasium, wo er selbst zur Schule ging. Ihr wellenförmiges Dach ist einer der liebsten Aufenthaltsorte der Schüler. Eine glückliche Kombination von Architektur und Landschaft ist einfach unschlagbar!
Die deutsche Domus gibt es auch als ePaper im iTunes- Store, Abos sind unter www.domus-abo.de zu beziehen.
Die fünfte Ausgabe erscheint Ende Dezember.
Isabella Marboe