Editorial
In marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftssystemen lösen Auf- und Abschwung einander in schöner Regelmässigkeit ab. Zugrunde liegen Zyklen unterschiedlicher Dauer, die sich gegenseitig überlagern, durchdringen und beeinflussen. Lange Perioden von vierzig bis sechzig Jahren, sogenannte Kondratieffzyklen, bestimmen letztendlich das gesellschaftliche und marktwirtschaftliche Geschehen.
Nun soll es hier nicht um einen Crashkurs in Wirtschaftstheorie gehen, aber auch für Landschaftsarchitekten interessant ist, dass der deutsche Wirtschaftstheoretiker und Zukunftsforscher Leo A. Nefiodow nachweist, dass mit der weltweiten Rezession der Jahre 2001 bis 2003 der letzte Zyklus, der von der Informationstechnik getragen wurde, zu Ende ging. Parallel dazu habe ein neuer Langzyklus, der sechste Kondratieff, begonnen: Er wird vom Bedarf nach Gesundheit im ganzheitlichen Sinne angetrieben und im 21. Jahrhundert Träger einer neuen, langen Phase der Prosperität sein.
Die Rechnung ist einfach: Wirtschaftliches Wachstum orientiert sich am schwächsten Glied in der Kette, und das ist längst der anfällige Mensch. Ergo muss in sein Wohlergehen investiert werden. Da schlägt auch die Stunde der Landschaftsarchitektur!
Studien, die die positiven Auswirkungen ansprechender Grün- und Freiräume für Leib und Leben belegen, gibt es zuhauf. Und bereits die frühen Anlagen der Volks- und Kurgärten des 17. Jahrhunderts hatten als «Natursanatorien» insbesondere die kontemplative Erholung und Gesundung der Besucher zur Aufgabe. Anders herum konnte die Neurowissenschaft inzwischen nachweisen – siehe dazu den Beitrag von Professor Meyer-Lindenberg in dieser Ausgabe –, dass sich das Fehlen entsprechender Freiräume tatsächlich negativ auf unsere Gesundheit auswirkt. Grosskonzerne wie Novartis haben den Trend längst erkannt und legen für ihre Mitarbeiter aufwendig gestaltete Grünanlagen an. Was bedeutet es aber für den öffentlichen Raum, wenn künftig immer mehr «Gated Green» mit verschiedenen Arten von Zugangsbeschränkungen im Stile des Novartis Campus in Basel entsteht?
Nicht nur die Kommunen werden gefordert sein, sich über rein marktwirtschaftliche Interessen hinweg für das Wohl aller einzusetzen. Fragen zur Verfügbarkeit und Qualität des öffentlichen Raums, seiner Zugänglichkeiten und Funktionen werden auch vor dem Hintergrund zunehmender Verdichtung in Agglomerationen bei immer leereren Haushaltskassen noch intensiver geführt werden müssen. Jetzt, da es nicht mehr nur um uns, sondern auch um unsere Wirtschaft geht!
Sabine Wolf
Inhalt
Andreas Meyer-Lindenberg: Seelische Gesundheit in der Stadt
Donald Jacob und Joanna Lawson: Der Park in einer urbanisierten Zukunft
Wojciech Czaja: Frühjahr im Lebensherbst
Susanne Karn: Therapiegärten in Bad Zurzach und Gibeleich
Mathias Knigge: Fit im Alter mit Bewegung
Sigrid Hausherr: mit-spielen
Anke Jurleit: Klinik-Heilgärten in der Bucht von San Francisco
Lucile Pasche: Ein Schlemmergarten am psychiatrischen Krankenhaus
Evelyne Schneider-Bénentendi: Erinnerungslandschaften für Senioren
Victor Condrau: Erholungsangebote in der Landwirtschaft
Christine Kilcher und Pascal Gysin: Tiere als Therapeuten
Raimund Rodewald: Kriterien für die gesundheitsfördernde Wirkung von Landschaft
Erinnerungslandschaften für Senioren
Das Konzept für die Altersresidenz mit medizinisch betreutem Tagesaufenthalt für Alzheimer-Patienten in Lièpvre beruht auf der Idee, im Park Erinnerungen an diejenigen Landschaften zu evozieren, welche die Menschen ihr Leben lang begleitet haben.
Eine Altersresidenz mit Tagesaufenthalt für Alzheimer- Patienten … für mich war dies die Gelegenheit, den betagten Menschen ein wenig von dem zurückzugeben, was sie mir während meiner Freiwilligenzeit mit ihnen gegeben hatten. Für den Entwurf haben wir einerseits die imaginären und realen Landschaften analysiert sowie andererseits die körperlichen und seelischen Bedürfnisse der Nutzer, ihrer Familien und des Pflegepersonals.
Lièpvre, von Wäldern und Wiesen umgeben, liegt in einem Tal der Vogesen, seine Geschichte ist industriell und landwirtschaftlich geprägt. Die Menschen, die in dieser Residenz EHPAD (Etablissement d’hébergement pour personnes âgées) leben, kommen aus der näheren Umgebung, sie verlassen ihren Hof, ihre Villa, ihre Wohnung – die Umstellung ist schwierig. Ältere Menschen fühlen sich mit ihren Landschaften stark verbunden: Mit der weiteren Landschaft mit ihren Bergen, Wäldern, Bächen und Wiesen verbinden sie Kindheitserinnerungen wie spielen oder Früchte stibitzen, als Erwachsene arbeiteten sie dort, ernteten, gingen mit der Familie spazieren … Die nähere Landschaft mit dem Garten, den Gemüsebeeten, in denen sie als Kind spielten, als Erwachsene gärtnerten, mit der Familie die Mahlzeiten einnahmen, meditierten … Die Elsässer sind der Natur noch sehr nahe und verarbeiten alles, was sie bietet, als Eingemachtes, Konfitüre, Kräutertee oder Likör.
Tiefe Erinnerungen werden von der Landschaft hervorgerufen und ermöglichen den Alzheimer-Patienten, das Empfinden ihrer Lebensrealität zu stärken. Die Idee, sich anstrengen zu müssen, um in Form zu bleiben, ist unbeliebt, Vergnügen hingegen ist ein mächtiger Antrieb, um Fortschritte anzustreben, und es erhält die Lebenslust wie von selbst.
Das Konzept der Gartenanlagen
Mit den drei Stimmungsbereichen «Kontemplation», «Gärtnern» und «Spazieren» soll der Park all diese Bedürfnisse befriedigen: eine Terrasse mit weinberankter Pergola; ein Gemüsegarten mit Pflanzbeeten, Obstbaumgarten und Dorfplatz-Springbrunnen; eine Berglandschaft mit Bergsee, über Steine springenden Bach, Kiesel, Naturwiesen, Wald (Abb. 2). Über eine kleine Brücke hinweg oder durch das Öffnen einer Pforte bewegt man sich von Bereich zu Bereich – und gelangt von einer Erinnerung zur nächsten.
Die drei Räume können nach Lust und Laune auch den körperlichen Möglichkeiten entsprechend genutzt werden. Die Terrasse ist am leichtesten zugänglich, dort kann man essen, Tee trinken, plaudern, die verschiedenen Ausblicke geniessen – und Lust bekommen, weiter zu gehen.
Im Gemüsegarten kann man sich ausruhen, dem Plätschern des Springbrunnens lauschen, gärtnern, Früchte und Blumen ernten und mit Freunden, Nachbarn und der Familie teilen. Die «natürliche» Landschaft scheint wilder, man findet dort ungestörte Plätzchen, an denen man in aller Ruhe reden kann, Wiesenhügel und Täler, die verbergen oder zu sehen geben, Orte zum Früchte stibitzen … Um den Eindruck langer Spaziergänge zu erwecken, sind die Wege geschwungen, «Abkürzungen» existieren als therapeutische Pfade mit unterschiedlichen Bodenbelägen: Sand, Fein- und Grobkiesel. Diese Pfade können von den Senioren in Begleitung der Physiotherapeuten benutzt werden, um die Sinneseindrücke beim Gehen noch zu verstärken.
Die Landschaft stimuliert das Erinnerungsvermögen und die Lebenslust. Aber auch die natürlichen Elemente wie Bäume, Büsche, Blumen, Früchte, Gemüse, blütenbestäubende Insekten und auf dem Boden krabbelndes Getier wirken stark anregend. Die Jahreszeiten werden durch ihre Blüten, Gerüche und Ernteprodukte in Erinnerung gerufen, man erinnert sich an die wachsenden und blühenden Pflanzen und verarbeitet sie als Konfitüren und Kräutertees.
Für die «natürliche» Landschaft haben wir die in den Tälern der Vogesen einheimischen Pflanzenarten verwendet (Himbeersträucher, Feldahorn, Hainbuche, Vogelbeere, Naturwiese). Im Gemüsegarten gibt es jene Pflanzen, welche in den Gärten des Tals gedeihen (Gemüse, aromatische Kräuter, Rosen, Zwiebelpflanzen, Johannes- und Stachelbeeren, Apfel-, Kirsch- und Birnbäume). Alle diese Pflanzen sind dem Klima und den Böden der Vogesen perfekt angepasst. Wir wählten sie als ausgewachsene Pflanzen aus, um der Stadtgärtnerei von Lièpvre einen extensiven Unterhalt der Anlagen zu ermöglichen. Es ist nur wenig Gehölzschnitt notwendig, lediglich für Totäste oder bei Gefahr für die Senioren; die Wiese wird zweimal im Jahr gemäht.
Eine Landschaft für die Gesundheit
Der Park dieser Seniorenresidenz soll dem Vergnügen und dem Komfort der Einwohner, ihren Familien und Freunden dienen sowie als angenehmes Arbeitsumfeld des Pflegepersonals. Für die Kinder ist er auch ein Ort zum Spielen, zum sich Austoben, zum Naschen von Früchten, zum Sammeln und Ernten für die Küche und zum Teilen all der schönen Momente, die neue Erinnerungen schaffen und Wissen vermitteln.
Der Park stellt die Täler der Vogesen dar, angepasst an die körperlichen Fähigkeiten der Senioren und an ihre imaginäre Landschaft.anthos, Mo., 2013.09.30
30. September 2013 Evelyne Schneider-Bénentendi
Tiere als Therapeuten
Therapeutische Ansätze mit Tieren versprechen Heilung oder zumindest Linderung von Symptomen bei psychiatrischen sowie neurologischen Erkrankungen und Behinderungen. Bei der Gestaltung gilt es nicht nur die Bedürfnisse der Patienten und Fachkräfte zu berücksichtigen, sondern auch die der Tiere.
Der Auftrag war ebenso klar wie herausfordernd: Gesucht wurde ein Konzept für eine Anlage, in der Tiere als Therapeuten verstanden werden, welche die Patienten auf ihrem Weg zurück ins Leben unterstützen. Und damit begann die Entwicklung des Therapie-Tiergartens Eckenstein-Geigy für das REHAB Basel, Zentrum für Querschnittgelähmte und Hirnverletzte. Das Konzept der Tiergestützten Therapie geht davon aus, dass die Begegnung zwischen Mensch und Tier ohne Vorurteile oder Wertungen abläuft. Dadurch findet eine verletzungsfreie Art der Kommunikation statt, in welcher die Patienten offener interagieren als bei zwischenmenschlichen Kontakten. Im Rahmen der Therapie werden domestizierte Tiere in ein therapeutisches Setting einbezogen, mit dem Ziel, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Dabei sind unterschiedliche Formen der Begegnung zwischen Mensch und Tier für den entwicklungsfördernden, pädagogischen oder therapeutischen Prozess zentral.
Bei der Konzeption und Gestaltung dieser in der Schweiz einmaligen Anlage haben wir auf diese Bedingungen reagiert, indem wir drei Bereiche definierten: Tiere sehen, Tiere beobachten und mit Tieren in Kontakt treten. Der Therapie-Tiergarten ist ein Prototyp.
In enger Zusammenarbeit mit der Direktion des REHAB Basel und Experten der Tiergestützten Therapie entwickelten wir ein Projekt, das zwar Strukturen vorgibt, aber dennoch für künftige Anpassungen genügend Raum lässt. So können wir den sich im Lauf der Zeit verändernden Bedürfnissen, beispielsweise bei neuen Anforderungen an die Zugänglichkeit der Gehege, auch künftig begegnen.
Tiere für alle Sinne
Bei der Auswahl der Tiere beschränkten wir uns bewusst auf bekannte Tiere wie Schafe, «Minipigs», Kaninchen, Zwergziegen, Hühner und Esel, die in der Anlage artgerecht leben können. Es sind zudem Arten, welche das ganze Spektrum der menschlichen Sinne ansprechen und den ganzheitlichen Rehabilitationsprozess der Patienten unterstützen. Die Tiere fördern unter anderem die Aufmerksamkeit und die Konzentration, steigern die Eigeninitiative, geben kognitive Anregungen, können positive Erinnerungen an Erlebnisse mit anderen Tieren wachrufen und sie ermöglichen bei vielen Patienten Nähe und Körperkontakt.
Erde, Wasser und Himmel
Die Stallungen und Aussengehege gruppieren sich um eine Therapiezone, welche den verschiedenen Bedürfnissen der Patienten nach Intimität Rechnung trägt. Sie ist durch einen Hügel von der den Tieren vorbehaltenen Weide getrennt. Ein kleiner Weiher vermittelt zwischen dem Eingangsbereich mit Restauration und dem Lebensraum der Tiere. In der Voliere herrscht buntes Treiben, die flinken Akrobaten der Lüfte eröffnen dem Beobachter eine weitere Dimension. Zwei Esel begleiten Patienten und Besucher auf einem Teil des Rundwegs. Ihr Gehege umfasst den Therapie-Garten wie ein Gürtel. Dadurch entstehen Räume, welche die Begegnung zwischen Patienten und Tieren nicht nur physisch ins Zentrum rücken.anthos, Mo., 2013.09.30
30. September 2013 Pascal Gysin, Christine Kilcher