Editorial
Beton ist der meistverwendete Baustoff weltweit. Unzählige Menschen planen und arbeiten seit Generationen mit Beton, haben einen enormen Erfahrungsschatz über den alltäglichen künstlichen Stein geäufnet. Trotzdem sollten Architekten, Ingenieure und Werkstoffwissenschaftler nicht aufhören zu fragen: Was kann man mit Beton noch weiter machen? Wo liegen unerkannte Potenziale dieses Baustoffs brach?
Mögliche Antworten auf diese Fragen wurden am 28. November 2012 an einer von der Professur für Architektur und Konstruktion (Assistenzprofessor Dirk E. Hebel) veranstalteten Tagung am Future Cities Laboratory FCL der ETH Zürich in Singapur beleuchtet: «Concrete – Sleeping Beauty»[2]. Der poetische Titel ist Programm und bringt die Anliegen der Referenten auf den Punkt: Im Baustoff Beton schlummern noch viele Schönheiten, ästhetische, funktionale und ökologische, die es zu aktivieren gilt.
In diesem Heft stellen wir eine Auswahl der präsentierten Forschungsarbeiten vor; das Spektrum ist breit, von der Interaktion zwischen digitalem Entwerfen und der Fabrikation von Betonfertigteilen über die Verwendung von Bambus als Bewehrung bis zur Entwicklung eines selbstreparierenden Betons oder zur Vision von Betonfertigteilen, die «biologisch» Strom produzieren. Die präsentierten Forschungen sind bewusst «exotisch», am Rand des Gesichtskreises der Betontechnik angesiedelt; ihre Berührungsfläche mit artfremden Disziplinen ist grösser als jene mit der eigenen «Zunft».
Die gezeigten Projekte sind Experimente, und ihr Ausgang ist naturgemäss ungewiss. Sie bauen aber auf gesichertem Wissen und Erfahrung auf, die Ideen erscheinen nicht aus der Luft gegriffen. Zweifellos lassen sie sich nicht von heute auf morgen in die Praxis umsetzen, viel Detailarbeit ist noch zu leisten, eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Man mag die vorgestellten Projekte – aus Sicht der alltäglichen Arbeit mit Beton – belächeln und als «Spielereien aus dem Elfenbeinturm» abbuchen. Aber wie sähe die Bauwelt aus, wenn sich Joseph Monier vor rund 150 Jahren durch die Skeptiker von der Arbeit an seinen Betonpflanzkästen hätte abbringen lassen?
Dr. Aldo Rota
Anmerkungen:
[01] «Die perforierte Wand» ist ein Lehr- und Forschungsprojekt, das 2006 an der Professur für Architektur und Digitale Fabrikation (Prof. Fabio Gramazio, Prof. Matthias Kohler) an der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit dem IFB, ETH Zürich, durchgeführt wurde.
[02] www.hebel.arch.ethz.ch/?p=1737
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Swissgrid in Aarau | 2000 Watt für Investoren
16 MAGAZIN
Griff in die Schatztruhe | Potenzialmessung an Stahlbetonbauten | Otto Kolb – Architekt und Designer | Kurzmeldungen
28 SCHALUNGEN DIGITAL FORMEN
Jan Willmann, Fabio Gramazio, Matthias Kohler
Aus der experimentellen Anwendung digitaler Entwurfs- und Produktionsmethoden leiten sich neuartige industrielle Fabrikationstechniken für Betonfertigteile ab.
36 BAMBUS STATT STAHL
Dirk E. Hebel, Felix Heisel, Alireza Javadian
Durch den Einsatz von Bambus als Bewehrung im Beton liesse sich die Abhängigkeit der Länder des Südens von Stahlimporten mindern.
41 BAKTERIEN KITTEN BETON
Henk M. Jonkers
Bakterien, die dem Frischbeton zugegeben werden, können später Risse in Bauwerken selbsttätig reparieren.
43 STROM AUS SAFT UND BETON
Thorsten Klooster
Die Graetzel-Zelle könnte die photovoltaische Stromgewinnung revolutionieren. Ihre Applikation auf Betonfertigteilen wäre eine «Low-Cost Energy Source».
47 SIA
«In Anlehnung an Ordnung SIA 142» | «Den Gebäudetechniker gibt es nicht»
52 PRODUKTE | FIRMEN
Similor | BAFU | Holzkonzept | Swiss Kitchen Award | Domotec | Richner | Consel Group | Bürli | Keramik Laufen | Gabag | Feller | Holz Baustoff
53 MESSE
Bauen & Modernisieren
69 IMPRESSUM
70 VERANSTALTUNGEN
Schalungen digital formen
Seit 2005 werden an der Professur für Architektur und Digitale Fabrikation von Fabio Gramazio und Matthias Kohler an der ETH Zürich die Möglichkeiten digitaler Entwurfs- und Produktionsmethoden ausgelotet. Im folgenden Beitrag stellen die Architekten fünf Forschungs- und Installationsprojekte, in denen verschiedene unorthodoxe Fabrikationsverfahren für Betonprodukte entwickelt wurden, und eine praktische Anwendung digital fabrizierter Schalungen für die Herstellung ornamentaler Deckenelemente vor.
Heute erfüllt sich in der Architektur die Synthese von Daten und Material. Durch das Wechselspiel zwischen digitalen und materiellen Prozessen beim Entwerfen und Bauen treffen zwei scheinbar separate Welten aufeinander. Von da an lassen sich Daten und Material nicht mehr nur als Ergänzung, sondern als konstruktiv bedingter und somit wesentlicher Ausdruck der Architektur im digitalen Zeitalter interpretieren.[1]
Die gezeigten Projekte verdeutlichen, dass architektonische Materialität durch digitale Fabrikationsprozesse keineswegs relativiert wird, sondern sich als zentrales Motiv zwischen Entwurf und Herstellung, zwischen Programmierung und Konstruktion etabliert. Der Einsatz digitaler Werkzeuge erschöpft sich nicht in der reinen Gestaltung oder Optimierung der Fabrizierbarkeit einzelner Bauteile. Vielmehr ist er unmittelbar den jeweiligen Materialeigenschaften angepasst. Das manifestiert sich im Betonbau auf exemplarische Weise und eröffnet ein weites Spannungsfeld zwischen Material, Information und Plastizität. Dabei gilt es, fernab von industrieller Einheitlichkeit oder formaler Vordergründigkeit eine materielle Vielfalt zu ermöglichen, um neue Ordnungen in der Architektur zu entdecken. So gelingt die Erforschung und Aufnahme der neuesten digitalen Technologien in den Gehalt der Architektur; gleichzeitig wird es möglich, diese architektonisch nutzbar zu machen und ästhetisch, konstruktiv und räumlich aufeinander zu beziehen.
Ziel der Forschung ist die Entwicklung computergestützter Entwurfs- und Fabrikationsverfahren sowie die Untersuchung roboterbasierter Materialprozesse. So wird es möglich, neuartige räumliche und funktionale Konfigurationen effizient und präzise zu fabrizieren. Dabei ist nicht allein der Entwurf einer architektonischen Form entscheidend, sondern ebenso der Entwurf eines Herstellungsprozesses. Dieser liefert die Grundlagen sowohl für die materielle Organisation eines Bauteils als auch für dessen Ausführung. Diese Reichhaltigkeit zielt auf das tatsächliche Potenzial des Materials ab und könnte zu völlig neuen Ausdrucks- und Bedeutungsformen des Bauens im digitalen Zeitalter führen.
Frei formbar und effizient
Beton rückt dabei zunehmend in den Mittelpunkt der digitalen Fabrikation. Er ist ein wichtiger Baustoff, der sich im 20. Jahrhundert aufgrund seiner konstruktiven Leistungsfähigkeit und seiner vielfältigen Einsatzmöglichkeiten in der Architektur etabliert hat. Beton lässt sich in eine Vielzahl von Formen bringen, dadurch können Betonbauteile in unterschiedlichen Massstäben unter Integration vielfältiger funktionaler und ästhetischer Anforderungen realisiert werden. Der Schalungsprozess ist eine zentrale Grundlage, um die beinahe unbegrenzte Formbarkeit des Betons ausschöpfen zu können. Die Herstellung individuell geformter Schalungen verursacht bis zu 60 % der Kosten von Betonbauteilen – und gerade bei Unikaten entsteht viel Abfall, denn in den meisten Fällen wird die Schalung nach dem Ausschalen weggeworfen. Umgekehrt ermöglicht erst die freie Formgebung einen optimalen Einsatz von Beton, was im heutigen Bewusstsein begrenzter materieller Ressourcen eine nicht unerhebliche Erkenntnis ist. So werden effiziente und flexible Herstellungsverfahren im Lauf der Zeit zunehmend an Bedeutung gewinnen – jedoch nicht nur, um Ressourcen zu schonen, sondern ebenso, um die entwerferischen und konstruktiven Freiheitsgrade zu erhöhen.[2]
Am Anfang war der Würfel
Fabio Gramazio und Matthias Kohler befassen sich in Praxis, Lehre und Forschung seit Längerem mit diesem Thema.[3] Einen ersten Ansatz zeigte ihre 2003 im Rahmen der Swiss Art Awards realisierte architektonische Installation «Interference Cube».[4] Als prototypische Raumeinheit wurde ein Würfel gewählt, bei dem fünf Seiten aus vorfabrizierten Betonelementen aus Weisszement bestanden. Hergestellt wurden die individuellen Wandelemente mithilfe von fünf CNC-gefrästen, hochaufgelösten Schalungsmatrizen, die in eine standardisierte Schalung eingelegt werden konnten. Die Wände bildeten auf den Innenseiten ein imaginäres räumliches Kräftefeld ab, das mittels Programmierung ein kontinuierliches, eckübergreifendes Oberflächenrelief auf der Geometrie des Würfels zeichnete. In der Installation wurden die Raumbegrenzungen zu «Rezeptoren», es entstand ein Wechselspiel zwischen den dreidimensionalen Mustern im Inneren und ihrer rhythmischen Ausbreitung über mehrere Raumeinheiten hinweg. Auf diese Weise erschien der Beton für den Betrachter flüssig, und die Schwere der Betonelemente schien sich aufzulösen (Abb. 02–03).
Im Projekt «Interference Cube» erhielt die digitale Veredelung im Betonbau eine grosse Bedeutung. Durch sie wurde der Baustoff plastisch, stofflich und differenziert. Er vereinte dabei die Logik des Digitalen und des Materiellen – sowohl in der Herstellung als auch im Ausdruck.[5]
Digitale Perforation
Das Projekt «Die perforierte Wand» von 2006 führte den Ansatz des «Interference Cube» weiter.[6] Hier erzeugte ein Industrieroboter unterschiedliche Perforationen in Schalungselementen, die wiederum die Grundlage für geometrisch differenzierte Betonelemente im Massstab 1 : 1 bildeten. Vier Parameter definierten die individuellen Löcher: Position auf der Wandfläche, Durchstosswinkel, Rotation um den Lochmittelpunkt und Lochdurchmesser (vgl. Titelbild, Abb. 01). Global wirkende Anziehungs- und Abstossungskräfte steuerten die Verteilung der Löcher. Ein dynamisches System sorgte dafür, dass sich die Löcher nicht überlappen. Der Durchstosswinkel der Lochdurchmesser wurde dagegen über die Farbwerte einer digitalen Bilddatei definiert. Die «perforierten Wände» demonstrierten dabei nicht nur das Potenzial effizienter roboterbasierter Herstellungsprozesse, sondern auch eine neuartige Tiefe und Transparenz von digital hergestellten Betonbauteilen (Abb. 04).
Dabei stellte der robotergestützte Fabrikationsprozess nicht nur die notwendige Präzision und Effizienz sicher, sondern erlaubte auch eine Vielzahl geometrischer Variationen und konstruktiver Anpassungen. Das Projekt zeigte, dass materialbewusste Entwurfs- und Fabrikationsverfahren eine Annäherung an die bauliche Realität im Sinne realer Massstäbe, Verfahren und Anforderungen ermöglichten. Sie waren zugleich auch eine grundlegende Voraussetzung für das Erkunden, Beschreiben und Verstehen neuartiger digitaler Herstellungsprozesse. Daher galt es, neben traditionellen Bauverfahren für Betonelemente auch gänzlich neue Verfahren und Materialaggregationen zu untersuchen.
Streuen und aufbauen statt fräsen
Das Projekt «Prozedurale Landschaften» übertrug 2011 traditionelle Sandgussverfahren, die in der Metallgiesserei seit Jahrhunderten gebräuchlich sind, auf die Formgebung von Beton (Abb. 05–09).[7] Nicht standardisierte Betonschalungen werden hingegen traditionell durch subtraktive Fräsprozesse aus Vollmaterial hergestellt. Mit dem Einsatz von wiederverwendbaren Sandschalungen beschritt das Projekt «Prozedurale Landschaften» ähnliche Wege wie der Metallguss. Dabei erzeugte ein Industrieroboter unterschiedliche Sandformierungen, die mit Beton abgegossen und immer wieder neu fabriziert und variiert werden konnten. Eine besondere Herausforderung für derartige robotergenerierte Gussformen war das Eigenverhalten von granulösem Material wie Sand, weil es durch das Streuen und Verdichten nicht vollständig vorhersehbare Aggregationen einnahm (Abb. 05–07).
Nach dem Auftragen des Sands durch den Roboter wurde eine Trennschicht aus Silikon aufgesprüht, die das Einsickern des Betons in den (offenporigen) Sand verhinderte, das spätere Ausschalen erleichterte und vor allem den Sand in Form hielt. Die geometrischen Möglichkeiten waren naturgemäss limitiert und beispielsweise auf flache Kurvaturen beschränkt. Aus diesem Grund wurde im gleichen Projekt zudem «Formsand» (Tonsand, der ursprünglich aus dem Maschinen- bzw. Formenbau stammt) eingesetzt. Dieser Sand lässt sich durch Stampfen mit dem Roboter sehr stark verdichten und behält seine Form auch während des Abgiessens; die Trennschicht konnte in dieser Variante entfallen.
Der mit Sensortechnik ausgestattete Industrieroboter ermöglichte es, die entstehenden Formationen während des Fabrikationsprozesses zu kontrollieren und zu gestalten. Bereits vorhandene Schüttkegel wurden gescannt und die Messdaten für weitere Masseanhäufungen ausgelesen, sodass Sandmenge, Bewegungsgeschwindigkeit und Fallhöhe von neuen Sandaggregationen gezielt angepasst werden konnten. Damit befasste sich das Projekt mit materiellem Eigenverhalten und brachte dieses in einen Zusammenhang mit digitalen Entwurfs- und Fabrikationsprozessen. Die Auswirkungen lassen sich – im Unterschied zur experimentellen Forschung der 1970er-Jahre[9] – in der vollen physischen Komplexität untersuchen und reproduzieren. Sie eröffneten anderseits auch die Möglichkeit, diese in unterschiedlichen Massstäben und architektonischen Anwendungen zu interpretieren (Abb. 08–09).
Wachs anstelle von Sand
Einen ähnlichen Weg geht das gegenwärtig laufende, mit dem Global Holcim Innovation Award ausgezeichnete EU-Forschungsprojekt «TailorCrete».[10] Auch hier steht ein materialeffizientes Fabrikationsverfahren für frei geformte Ortbetonbauteile im Vordergrund. Grundlage dafür sind digital produzierte Wachsschalungen, die immer wieder eingeschmolzen und neu auf der Baustelle verwendet werden können. Die nahezu abfallfreie Schalungstechnik basiert auf einem Formtisch, der durch einen Industrieroboter justiert werden kann. Darauf wird das erhitzte Wachs in einen Rahmen gegossen. Nach dem Aushärten können die individuell geformten Wachselemente in eine herkömmliche Schalung eingelegt und für die Erzeugung von Ortbetonbauteilen mit komplexer Geometrie verwendet werden (Abb. 12).[11] Derartige Herstellungsprozesse, die vor der Verfügbarkeit digitaler Fabrikationstechniken kaum machbar waren oder sinnvoll gewesen wären, lassen sich mit dem Roboter heute ressourceneffizient realisieren. Vorgelagert sind Untersuchungen der Wachseigenschaften wie Schrumpfungs- und Verformungsverhalten oder Druckfestigkeit und die Entwicklung digitaler Planungswerkzeuge und produktionsspezifischer Abläufe. Die Innovation von «TailorCrete» besteht darin, dass sich eine neue digitale Fabrikationstechnik mit konventionellen Arbeitsweisen und Werkzeugen vor Ort effizient und flexibel realisieren lässt, was das Repertoire an nachhaltigen Herstellungstechniken für Betonbauteile erweitert (Abb. 13).
Ohne Schalung geformt
Dabei rückt vor allem das Abstimmen der Fabrikation auf die materiellen Besonderheiten von Beton in den Mittelpunkt, um daraus zentrale Entwurfs- und Herstellungsparameter ableiten zu können. Dies zeigt das laufende Forschungsprojekt «Smart Dynamic Casting».[12] Hier lassen sich individuell geformte Betonbauteile ohne Schalung realisieren. Eine auf den digitalen Fabrikationsprozess abgestimmte Betonmischung wird in eine rohrförmige Gleitschalung gefüllt. Sobald die eingebrachte Betonfüllung stabil genug ist, um das eigene Gewicht zu tragen, kann die Schalung sukzessive durch den Roboter nach oben gezogen werden. Zugleich werden Geometrie und Geschwindigkeit dem individuellen Härtegrad der im Rohr gerade aushärtenden Betonmasse anpasst. Auf diese Weise wird der Beton als plastische Masse in eine geometrisch differenzierte Form gezogen (Abb. 14).
Entscheidend ist, das zeitliche Materialverhalten von Beton so zu beherrschen, dass es in einem digitalen Entwurfs- und Fabrikationsprozess genutzt und umgesetzt werden kann. «Smart Dynamic Casting» operiert – im Gegensatz zu schichtenbasierten dreidimensionalen Betondruckverfahren – unmittelbar im architektonischen Massstab und wendet dabei ein genuin materielles Entwurfsverständnis an. Die entstehenden Objekte werden nicht «klassisch» entworfen, sondern entlang dem zeitlichen Materialverhalten «generiert».
Material, Information und Plastizität
Einen weiteren interessanten Einblick in die Praxis der Verknüpfung von materieller Plastizität und digitalen Fabrikationstechniken im Betonbau gewähren die Paneele, mit denen die Kuppeln des Bundesstrafgerichts in Bellinzona ausgekleidet sind (S. 32). An diesen Bauteilen wird deutlich, dass die digitale Fabrizierbarkeit von Beton dort ihr grösstes Potenzial erhält, wo die Anzahl der Abhängigkeiten, Anforderungen und Freiheitsgrade besonders gross ist; diese Verknüpfungen sind nicht zufällig, sondern bedingen einander gegenseitig und können für architektonische Zwecke genutzt und entwickelt werden.
Anmerkungen:
[01] Fabio Gramazio, Matthias Kohler: Digital Materiality in Architecture, Baden: Lars Müller Publishers, 2008, S. 7–11.
[02] Tobias Bonwetsch, Fabio Gramazio, Matthias Kohler: «R-O-B. Towards a Bespoke Building Process», in Bob Sheil (Hrsg.): Manufacturing the Bespoke Making and Prototyping Architecture, London: Wiley, 2012, S. 78–87.
[03] Jan Willmann, Fabio Gramazio, Matthias Kohler, Silke Langenberg: «Digital by Material – Towards an Extended Material Performance in Architecture», in: RobArch 2012 Robotic Fabrication in Architecture, Art and Design, Wien: Springer, 2012, S. 2–27.
[04] Die Installation «Interference Cube» wurde 2003 von Gramazio & Kohler realisiert; Auftraggeber: BAK Bundesamt für Kultur; Industriepartner: Wey Elementbau (Elementbau), Jura Cement (Weisszement), CNC Dynamix (CNC-Fräsung).
[05] Vgl. hierzu: Fabio Gramazio, Matthias Kohler: «A New Physis of Architecture», in: Fabio Gramazio, Matthias Kohler, Raffaello D’Andrea: Flight Assembled Architecture, Orleans: Editions HYX, 2013, S. 102–103.
[06] Das Projekt «Die perforierte Wand» ist ein Lehr- und Forschungsprojekt, das 2006 an der Professur für Architektur und Digitale Fabrikation (Prof. Fabio Gramazio, Prof. Matthias Kohler) an der ETH Zürich in Zusammenarbeit mit dem IFB, ETH Zürich, durchgeführt wurde; Mitarbeiter: Daniel Kobel (Projektleitung), Ralph Bärtschi, Michael Lyrenmann; Studenten: Sasha Cisar, Natalia Dorta, Ladina Esslinger, Philipp Eversmann, Sabrina Gehrig, Chris Keller, Florian Poppele, Stefan Rohrer, Willy Stähelin, Michael Walton, Melanie Weidmann, Lorenz Weingart, Xu Zhang; Ausgewählte Experten: Patrick Stähli (IFB), August Morf (Holzco-Doka AG), Marcel Schneider (Holcim AG); Industriepartner: Holcim AG, Holzco-Doka AG, Geberit AG.
[07] Das Projekt «Prozedurale Landschaften» ist Teil einer 2011 an der ETH Zürich abgehaltenen Lehrveranstaltung (Projektleiter: Michael Knauss, Studenten: Tobias Abegg, Jonathan Banz, Mihir Bedekar, Daria Blaschkiewitz, Simon Cheung, Dhara Dhara Sushil Surana, Felix Ernst, Hernan Garcia, Kaspar Helfrich, Pascal Hendrickx, Leyla Ilman, Malte Kloes, Jennifer Koschack, Caspar Lohner, Jitesh Mewada, Lukas Pauer, Sven Rickhoff, Martin Tessarz, Ho Kan Wong), die zusammen mit Prof. Christophe Girot, Institut für Landschaftsarchitektur (ILA), ETH Zürich, und Yael Girot, Atelier Girot, betreut wurde.
[08] Matthias Kohler, Fabio Gramazio, Jan Willmann: «Die Operationalität von Daten und Material im Digitalen Zeitalter», in: Die Zukunft des Bauens, München: Detail – Institut für internationale Architektur-Dokumentation, 2011, S. 8–17.
[09] Vergleiche hierzu Frei Otto: Gestaltwerdung. Zur Formentstehung in Natur, Technik und Baukunst, Köln: Müller Verlag, 1988, S. 5 ff.
[10] Das Projekt «TailorCrete» ist ein laufendes Forschungsprojekt im Rahmenprogramm 7 der Europäischen Gemeinschaft. Die Professur für Architektur und Digitale Fabrikation (Prof. Fabio Gramazio, Prof. Matthias Kohler), ETH Zürich, ist verantwortlich für die Entwicklung einer wiederverwendbaren Betonschalung auf Wachsbasis und für ein Softwarepaket, bestehend aus digitalen Entwurfs- und Fabrikationswerkzeugen; Mitarbeiter: Silvan Oesterle (Projektleitung), Ammar Mirjan, Daniel Rohlek, Axel Vansteenkiste, Tobias Bonwetsch, Andrea Kondziela, Samuel Bernier-Lavigne, Selen Ercan, Petrus Aejmelaeus-Lindström, Dominik Ganghofer; Ausgewählte Experten: Danish Technological Institute (Gesamtkoordinator), Chalmers University of Technology, University of Southern Denmark, Czech Technical University, El Caleyo Nuevas Technologías, Paschal Danmark A/S, Superpool, Giben Scandinavia A/S, DesignToProduction, Grace Bauprodukte GmbH, Dragados, Aalborg Portland A/S, NV Bekaert SA, Fischer Rista AG, Jäggi & Hafter AG, Holcim Schweiz AG, Walt & Galmarini.
[11] Silvan Oesterle, Nick Williams, Hanno Stehling, Fabian Scheurer, Fabio Gramazio, Matthias Kohler: «A Case Study of a Collaborative Digital Workflow in the Design and Production of Formwork for ‹Non-Standard› Concrete Structures», in: The International Journal of Architectural Computing, IJAC, Volume 9, Issue 3, 2011.
[12] «Smart Dynamic Casting» ist ein laufendes Forschungsprojekt der Professur für Architektur und Digitale Fabrikation (Prof. Fabio Gramazio, Prof. Matthias Kohler), ETH Zürich, und dem Institut für Baustoffe (Prof. Robert J. Flatt, Prof. Hans Herrmann); Mitarbeiter: Ena Lloret Kristensen (Projektleitung, Ph. D.), Andreas Thoma, Ralph Bärtschi, Thomas Cadalbert, Beat Lüdi.TEC21, Fr., 2013.08.23
23. August 2013 Jan Willmann, Fabio Gramazio, Matthias Kohler
Bambus statt Stahl
An der Professur für Architektur und Konstruktion von Dirk E. Hebel am ETH Future Cities Laboratory FCL in Singapur werden Wege gesucht, die begrenzte Verwendbarkeit von Bambus als Konstruktionsmaterial mit neuartigen Bambus-Verbundwerkstoffen zu verbessern. Dadurch sollen neue Anwendungsbereiche für Bambus erschlossen werden – insbesondere in der Betonindustrie.
Bambus wird seit Jahrhunderten rund um den Globus als vernakulärer Baustoff genutzt (Abb. 01). Viele seiner technologischen Eigenschaften wie die hohe Zugfestigkeit (Abb. 02) sind jenen moderner Hightech-Werkstoffe ebenbürtig, preislich ist er konkurrenzlos. Auch sein rasches Wachstum und die Fähigkeit, grosse Mengen CO2 aus der Atmosphäre zu binden, machen ihn für das Bauwesen attraktiv. Seit Jahrzehnten versucht die Baustoffforschung, das Potenzial von Bambus für das Bauwesen zu erschliessen und ihn von einem lokal verwendeten Material in ein industrielles Erzeugnis zu transformieren. Die wenig erforschten technologischen Materialeigenschaften schränken aber den Einsatz von Bambus in vielen Bereichen bis heute ein. Insbesondere seine Dauerhaftigkeit ist nicht immer ausreichend. Auch als Bewehrung im Beton schien er bisher nicht geeignet. Die Baustoffforschung sucht deshalb neue Wege für die technische Nutzung dieses Naturprodukts.
Bambus und Beton – eine unbeständige Verbindung
Das Interesse an Bambus als industriell nutzbarem Baustoff geht auf das Jahr 1914 zurück, als Prof. H. K. Chow am MIT Boston erstmals die Eignung von dünnen Bambusstangen und -streifen als Bewehrungen für Beton prüfte. Aber erst 1950 startete Prof. H. E. Glenn am Clemson Agricultural College of South Carolina eine ambitionierte und umfangreiche wissenschaftliche Forschungstätigkeit zur Eignung von natürlichem Bambus als Bewehrung in Betonbauwerken.1 Mit seinem Forschungsteam baute er auf früheren Erfahrungen mit bambusbewehrten Betonbalken auf und erstellte zahlreiche Gebäude im Massstab 1 : 1 (Abb. 04–05). Er verwendete ausschliesslich dünne Bambusstangen und -streifen (die Durchmesser lagen in der Grössenordnung von Stahlbewehrungen, vgl. Abb. 04) und demonstrierte damit die prinzipielle Machbarkeit von Bambusbewehrungen. Allerdings wiesen sie im Vergleich zu Stahlbewehrungen grosse Nachteile, teilweise auch völliges Ungenügen auf bezüglich Elastizitätsmodul, thermischem Ausdehnungskoeffizient, Schrumpf- und Quellverhalten sowie Widerstand gegen Insekten- und Pilzbefall. Die mit unbehandeltem Bambus bewehrten Tragkonstruktionen versagten einige Zeit nach ihrer Erstellung, weil sich der Bambus vom umgebenden Beton löste (Abb. 06–09). Nach diesen niederschmetternden Ergebnissen kam die Forschungstätigkeit weitgehend zum Erliegen.
Fast 40 Jahre später initiierte Prof. Khosrow Ghavami an der Pontificia Universidade Católica in Rio de Janeiro eine Versuchsreihe zur Bestimmung der mechanischen Kennwerte verschiedener Bambusarten. Damit sollten die am besten als Bewehrung für neu entwickelte Leichtbau-Betonbalken geeigneten Bambussorten eruiert werden.2–4 Es gelang zwar, die Tragkraft der Balken damit deutlich zu erhöhen, doch das Langzeitverhalten von Bambus in Beton wurde weiterhin nicht untersucht. Neben den durch die unterschiedlichen thermischen Ausdehnungskoeffizienten bedingten Trenneffekten muss auch berücksichtigt werden, dass Bambus als natürlicher Baustoff im Kontakt mit Frischbeton Wasser aufnimmt und quillt. Die Volumenzunahme des Bambus bewirkt die Bildung von Mikrorissen in der Betonmatrix (Abb. 10). Im Lauf der Zeit dringt hier Feuchtigkeit ein und ermöglicht biologische Angriffe aus der Umgebung auf den unbehandelten Bambus.
ETH-Forschung in Singapur
Angesichts der beschriebenen Einschränkungen könnte die in Südchina in den letzten Jahrzehnten entwickelte «Woven Strand Bamboo»-Technologie (WSB) eine Alternative aufzeigen (Abb. 11). Die ursprünglich als Bodenbeläge für bewitterte Terrassen eingeführten Produkte zeichnen sich durch gute Wasser- und UV-Beständigkeit aus – Eigenschaften, die auch Ziele der Forschung am FCL sind. Dank einer weiterentwickelten Technologie am FCL Singapur wird Bambus zum Verbundwerkstoff, der die hervorragenden physikalischen Eigenschaften nutzbar macht, ohne gravierende Nachteile aufzuweisen. Bei der Herstellung des Verbundmaterials werden natürlich verarbeiteter Bambus und organischer, formaldehyd- und VOC-freier Klebstoff zu einem wasserbeständigen, nicht quellenden und äusserst langlebigen Werkstoff vereinigt (Abb. 12).
Im Gegensatz zum südchinesischen Verfahren klärt die Forschung in Singapur sanftere Methoden für die Behandlung des Bambus ab. Um die ursprünglichen Eigenschaften des Bambusgrases zu erhalten, muss sichergestellt werden, dass die Fasern und die Zellstruktur des Bambus während des Verarbeitungsprozesses intakt bleiben. Um dies zu untersuchen, ist ein Forschungslabor, das Advanced Fiber Composite Laboratory (AFCL) in Singapur, eingerichtet worden. Es beinhaltet sowohl Produktions- als auch Prüf- und chemische Analysekomponenten, um die Forschung in schnellen Rückkopplungsintervallen vorantreiben zu können.
Ermutigende erste Ergebnisse
Erste Versuchsergebnisse in Singapur zeigen, dass die für das Werkstoffverhalten entscheidenden Faktoren im Labor gesteuert werden können (Abb. 13–16). Ein Forschungsziel ist die Etablierung eines schonenden Produktionsprozesses im Industriemassstab, um Beschädigungen oder Zerstörungen einzelner Bambuszellen oder -fasern zu verhindern. Das ist wichtig für die Zugfestigkeit, neben der thermischen Ausdehnung die entscheidende Werkstoffeigenschaft für den Einsatz als Betonbewehrung. Besondere Aufmerksamkeit wird auch den Oberflächeneigenschaften der Bambusfasern in Verbindung mit Klebstoffen gewidmet. Hier gilt es, sowohl adhäsive (zwischen Komponenten) als auch kohäsive (innerhalb der Komponenten) Eigenschaften zu verstehen und zu verbessern.
Der Klebstoff ist ebenfalls in die Untersuchung einbezogen. In Zusammenarbeit mit einem europäischen Hersteller von chemischen Baustoffen werden geeignete Klebstoffe für verschiedene Anwendungen evaluiert. Im Vordergrund der Untersuchung stehen die Wasser- und Bakterienbeständigkeit, die thermische Ausdehnung, das Brandverhalten und das Potenzial für die Produktion im grossen Massstab. Ein multidisziplinäres Team aus Ingenieuren, Chemikern, Werkstoffwissenschaftlern und Architekten geht diesen Fragen nach. Weltweit sind rund 1400 Bambusarten mit sehr unterschiedlichen Werkstoffkennwerten bekannt. Eine Aufgabe des Forschungsteams ist daher auch die Entwicklung von Normen und Standards für die Durchführung der Arbeiten unter wissenschaftlichen Bedingungen.
Globale Perspektiven für Bambus
Wenn die Forschung in Singapur an einem neuen Bambuswerkstoff ihre Ziele erreicht, kann sie eine Technologie auf der Grundlage einer weit verbreiteten natürlichen Ressource zur Verfügung stellen. Heute wird Bambus zu einem Bruchteil der Kosten von Stahl gehandelt. Allein in Südostasien ist das Potenzial für die Herstellung von Bambus-Verbundwerkstoffen – unter Einbezug aller mit Bambus bewachsenen Flächen – rund 25-mal grösser als der aktuelle Bedarf an Baustahl.5 Zudem ist diese erneuerbare Ressource für ihre grosse Kapazität als Kohlenstoffspeicher bekannt. Sie kann deshalb, insbesondere wenn man die Energieeinsparung bei der Produktion im Vergleich zu Stahl mit berücksichtigt, eine wichtige Rolle bei der weltweiten Senkung der CO2-Emissionen spielen. Die Technologie an sich ist als «low-tech» mit injizierten Hightech-Kenntnissen und -Komponenten zu bewerten. Sie kann daher leicht in Regionen mit natürlichem Bambusbestand, die häufig in Entwicklungsländern liegen, eingerichtet werden (Abb. 03). Dank ihres tropischen Klimas könnten diese Länder einen alternativen Baustoff produzieren und sich von der Last massiver Stahlimporte befreien. Der Aufbau lokaler Wertschöpfungsketten kann auch die Bindungen zwischen städtischen und ländlichen Gebieten stärken und alternative, auf erneuerbaren Ressourcen beruhende Technologien als Schlüsselindustrien in Entwicklungsregionen installieren.
Als Ansatz des «umgekehrten Modernismus» könnte der sogenannte «Süden» für einmal die treibende Kraft hinter einer technologischen Entwicklung sein und die erzeugten «grünen» Güter in den sogenannten «Norden» exportieren. In diesem Sinn versteht sich das FCL als transdisziplinäres, auf urbane Nachhaltigkeit im globalen Rahmen fokussiertes Forschungszentrum.TEC21, Fr., 2013.08.23
23. August 2013 Dirk Hebel, Alireza Javadian, Felix Heisel