Editorial

Normalerweise fürchten kommerzielle Immobiliengesellschaften die Denkmalpflege wie der Teufel das Weihwasser. Eine Unterschutzstellung entwertet ein Objekt, da sie die Entscheidungsfreiheit im Umgang mit der Bausubstanz – bzw. der Parzelle – ­einschränkt, Verzögerungen nach sich zieht und möglicherweise teure Renovationsvarianten nötig macht. In den Parlamenten wird die Denkmalpflege von bürgerlichen Politiker­innen und Politikern deshalb gern als «Verhinderer» einer wirtschaftlich erfreulichen baulichen Entwicklung angeprangert.

Nicht so im Fall der Grossüberbauung Le Lignon bei Genf, die dieses Heft vorstellt. Hier haben die Besitzer, fünf Pensionskassen, nach einer genauen, von der EPFL wissenschaftlich unterstützten Evaluation möglicher Erneuerungsvarianten den Kanton Genf darum gebeten, das Ensemble aus den 1960er-Jahren unter Schutz zu stellen. Mittlerweile ist es nämlich so, dass es vor allem Vorschriften zu den baulichen Energiesparmassnahmen sind, die die Handlungsfreiheit der Bauherrschaften einschränken. Die immer schärferen Regeln verlangen Investitionen, die nicht mehr amortisierbar sind, zumal wenn die Liegenschaftenbesitzer wie im Fall von Le Lignon den Wert der Architektur nicht schmälern und die Investitionen, die den Mietern schliesslich keine Wertvermehrung bringen, nicht auf die Bewohnerschaft überwälzen wollen. Im Kanton Genf ist dies im Übrigen gar nicht erlaubt.

Mit der Unterschutzstellung wird jedoch eine Güterabwägung zwischen Klimaschutz und Denkmalschutz nötig – oder eben möglich – und damit die Suche nach einer Eingriffstiefe, die ökologische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Aspekte gleichermassen berücksichtigt und gegeneinander abwägt. Und genau diese Gesamtschau braucht es, wenn wir wirklich nachhaltige Handlungsweisen ohne ungewollte negative Folgen entwickeln wollen.

Es lohnt sich deshalb, unseren Bericht über die Fassadenerneuerung in Le Lignon genauer zu studieren («Spielraum dank Denkmalschutz», S. 21). Das schöne Buch, das das Laboratoire des Techniques et de la Sauvegarde de l’Architecture ­Moderne über seine Untersuchung zu Le Lignon herausgegeben hat (Anm. 1, S. 20), ist leider schon vergriffen. Und auch ein Besuch der Siedlung, die in den nächsten Jahren nach dem Vorschlag der EPFL renoviert wird, lohnt sich. Nicht nur wegen der bis heute überzeugenden Architektur und des längsten Hauses in Europa, sondern auch, um zu erkunden, was sonst noch eine Satellitenstadt auszeichnet, die immer funktioniert hat und bei ihren Bewohnern so beliebt ist.

Ruedi Weidmann

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Sekundarschule Hinterbirch, Bülach

10 MAGAZIN
Graswurzeln und Blasen | Bücher

16 LE LIGNON – MONUMENT DER SPÄTEN MODERNE
Giulia Marino
Dank guter Versorgungs­infrastruktur und gelungener sozialer Durchmischung ist die Grossüber­bauung bei Genf eine Erfolgsgeschichte.

21 SPIELRAUM DANK DENKMALSCHUTZ
Jürg Graser
Im Spagat zwischen Energieauflagen und Kulturguterhaltung strebten die Eigentümer von Le Lignon die Unterschutzstellung an. So lässt sich die Renovierung der Fassade nachhaltiger angehen.

27 SIA
Bewegung im Beschaffungswesen | «Der SIA ist eminent politisch»

31 PRODUKTE | WEITERBILDUNG
Schöck | TCS Themoclima | Krüger | FHNW

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Le Lignon – Monument der späten Moderne

Die Genfer Wohnungsnot hat Le Lignon nicht lange lindern können. Doch die Überbauung mit dem grössten Wohnhaus der Schweiz beweist, dass eine Satellitenstadt lebendig sein kann, wenn die Bevölkerung sozial durchmischt ist und genug Versorgungsfunktionen vorhanden sind. Ihre Entstehung von 1963 bis 1971 ist so bemerkenswert wie die Architektur, die seit 2009 auf Wunsch der Eigentümer geschützt ist.

In der konjunkturellen Blüte der 1960er-Jahre wuchs die Genfer Bevölkerung exponentiell an.[1] Angesichts der Wohnungsnot, die schon seit 1945 andauerte, war die Schaffung von Wohnraum ein vorrangiges Ziel der Genfer Regierung. Nachdem die Grundsätze der räumlichen Expansion und Entwicklung festgelegt waren[2], konnte mit dem Bau der ersten Wohnkomplexe begonnen werden. Nach der ersten Satellitenstadt der Schweiz, der Cité Meyrin[3], und der Cité Nouvelle d’Onex[4] entstand von 1963 bis 1971, von den Behörden umfassend medial vermarktet, die Grosssiedlung Le Lignon.

Direktauftrag von neuer Dimension

1961 hatten informelle Verhandlungen zwischen dem Kanton und der Architektengruppe um Georges Addor über eine Überbauung des Gebiets Le Lignon begonnen. Wie schon bei den Projekten Meyrin Parc und Le Ciel Bleu in der Cité Meyrin, hinter denen die gleichen Bauherren standen wie hinter Le Lignon, wandte sich der Vorsteher des Baudepartements, Staatsrat Jean Dutroit, über den Planungsamtschef André Marais an das Architekturbüro von Georges Addor und Louis Payot. Die Architekten bekamen den Auftrag, die Machbarkeit einer grossen Wohnüberbauung zu prüfen. Dabei unterstützte sie Horace Julliard, der streitbare Direktor der Immobilienabteilung des Büros Addor et Julliard. Er arbeitete die Verträge mit den privaten Bauträgern und den Finanzierungsplan aus. Letzterer wurde 1961 gleichzeitig mit dem Einzonungsgesuch eingereicht.

Der Standort im Westen des Kantons gehörte zu einem grossen Landgut bei Aïre in der Gemeinde Vernier. Man schlug vor, das Land einzuzonen und dafür ein Drittel der Fläche dem Kanton zu übereignen. Das Überbauungsprogramm für die 280 000 m² grosse bewaldete Fläche zwischen der Rhone und dem Bach Nant des Grebattes war ehrgeizig: Das Bauvorhaben umfasste eine Grosssiedlung mit Wohnraum und Infrastrukturanlagen für 10 500 Menschen. Verglichen mit den grossen Wohnbauprojekten in Frankreich, das gerade den Wiederaufbau beendete, war das zwar bescheiden, für Genf und die Schweiz aber stellte es eine neue Dimension dar. Neben den Wohneinheiten sollten eine katholische und eine protestantische Kirche, eine Schulanlage und ein Einkaufszentrum entstehen. «Wir haben nicht vor, hier eine Schlafstadt zu bauen»[5], versicherte Staatsrat François Peyrot, der das Dossier von seinem Vorgänger übernommen hatte.

Das Bewilligungs- und Finanzierungskonzept folgte einem ganz neuen Ansatz, der von den zuständigen staatlichen Stellen unterstützt und von der Presse als Modelllösung für die Überwindung der Wohnungsnot gelobt wurde. Das Bauprojekt wurde auf informelle Anregung des Kantons von einer unabhängigen Architektengruppe eingereicht und schliesslich von privater Seite lanciert: Zwei Immobiliengruppen kauften das gesamte Bauland. Umgesetzt wurde das Projekt dann in einer öffentlich-privaten Partnerschaft. Der Kanton Genf und die Gemeinde Vernier, die einen Teil der Infrastruktur erstellte, wurden von der Handelskammer des Verbands der Genfer Metallindustrie (Union des Industriels en métallurige), dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV) sowie von den zwei privaten Bauträgern unterstützt, die das Projekt initiierten. Hinter einer dieser zwei Gruppen stand der Geschäftsmann Joseph Jaglom, die andere wurde von Ernst Schmidheiny, dem Direktor des Holderbank-Konzerns, vertreten. Die öffentlich-private Partnerschaft führte zu einer neuartigen Kombination von Wohnungstypen: Hinter den einheitlichen Fassaden wurden sowohl subventionierte als auch freitragende Wohnungen untergebracht, darunter auch solche im Stockwerkeigentum. Diese «vielleicht gewagte Formel, in die aber alle Bauträger grosses Vertrauen haben, vereint in einem grossartigen Umfeld verschiedene soziale Milieus und begünstigt so das harmonische Zusammenleben»[6], lobte Staatsrat Peyrot die Lösung beim Richtfest. Das Prinzip der sozialen Durchmischung, das heute wieder aktuell ist, hat sich seither bewährt. Le Lignon ist bei den Bewohnern beliebt; sie entkräften damit die pessimistischen Szenarien einiger Soziologen und Architekturkritiker in den 1970er-Jahren.[7]

Linearer Städtebau

Die behördlichen Vorgaben zur Nutzung und Siedlungsdichte waren streng. Der Plan, den die Architektengruppe vorlegte, verband hohe Dichte mit sparsamer Bodennutzung – eine Lösung, die die kantonalen Stellen vor allem wegen der wirtschaftlichen Vorteile begrüssten. Die Wohnbauten besetzen nur 8 % der zur Verfügung stehenden Fläche. Die tiefe Ausnutzungsziffer (1.0) wurde durch die Verteilung der Wohneinheiten auf drei Objekte erreicht: zwei Hochhäuser mit 26 bzw. 30 Stockwerken im tiefer gelegenen Teil des Geländes und ein 11- bis 15-stöckiges Gebäude, das sich in einer geknickten, aber lückenlosen Linie über mehr als einen Kilometer erstreckt und dabei dem Umriss und der Neigung der Parzelle folgt. Die Gemeinschaftseinrichtungen – Schule und Gemeindesaal vom Büro Billaud, katholische Kirche von Arthur Bugna, protestantisches Kirchgemeindezentrum von René Koecklin und Marc Mozer sowie Läden – entstanden gleichzeitig. Die Architekten platzierten sie im Zentrum, das von dichtem Baumbestand umgeben und in die Landschaft des Rhoneufers eingebettet ist. Die Umgebungsgestaltung des Landschaftsarchitekten Walter Brugger hob die Wirkung der Natur hervor: Streng geometrische Kompositionen, wie der Platz zwischen den Hochhäusern, wechseln mit bewaldeten Flächen ab.

Mit diesem Ansatz wählten die Architekten eine Alternative zu den rechtwinkligen Rastern aus Hochhäusern und Riegeln, die zu jener Zeit bei neuen Wohnsiedlungen die Norm waren. Damit positionierten sie sich in der architektonischen Strömung der 1960er-Jahre, die die dogmatischen Grundsätze der klassischen Moderne kritisierte und schliesslich in den Experimenten des Teams X8 gipfelte. Sie lehnten die «Zerstückelung des unbebauten Raums»[9] ab und bevorzugten die Idee einer «möglichst grossen Parkanlage, die allen Bewohnern die Aussicht auf einen ruhigen und sonnigen Garten ermöglicht und gleichzeitig die Annehmlichkeiten einer urbanen Siedlung in unmittelbare Nähe bringt»[10], wie es Eugène Beaudouin 1955 vorgeschlagen hatte. Addor und sein Architektenteam bekundeten ihr Interesse an den Bauten dieses französischen Architekten, der damals Direktor der Genfer Hochschule für Architektur war. Doch das Projekt Le Lignon orientierte sich stärker an den Experimenten des «linearen Städtebaus», wie sie vor allem in Toulouse-le-Mirail zur Anwendung kamen. Mitarbeiter von Addor erinnern sich, wie sie an einem Vortrag in Genf von diesem spektakulären Projekt für eine Trabantenstadt für 100 000 Einwohner in Toulouse erfuhren. Der Wettbewerbsentwurf des Architektentrios Candilis-Josic-Woods hatte entscheidenden Einfluss auf das Projekt Le Lignon. 1961 arbeiteten die Architekten des Büros Addor und Julliard unter Jacques Bolliger, dem Chef der Projektabteilung, an Entwürfen des Überbauungsplans. Sie führten einen kleinen internen Wettbewerb durch, bei dem sie sich an die für Toulouse-le-Mirail erarbeiteten Grundsätze hielten: eine kompakte, an einem Sechseckraster ausgerichtete Volumetrie, ein streng modulares System, das sich drei Achsen entlang entwickelte. Aus den zahlreichen Varianten wählten Addor und Bolliger diejenige von Werner Francesco. Nach dessen Aussage wurde der mittlere Bereich des Sechsecks, der senkrecht zum langen Riegel stand und Le Mirail nachempfunden war, schon bald wieder verworfen, um Platz für das Einkaufszentrum zu schaffen, das als unabhängiges Gebäude konzipiert wurde. Dieser Entscheid führte dazu, dass die ursprüngliche Idee, Kleingewerbe im Erdgeschoss der Wohngebäude unterzubringen, aufgegeben wurde.

Grund für diesen entscheidenden Schritt war die Rentabilitätsberechnung des unerbittlichen Horace Julliard. Sie hatte noch eine weitere Konsequenz: Die Wohnungen, die im rechtwinkligen Flügel vorgesehen waren, wurden in den Attika- und Galeriegeschossen untergebracht, die ursprünglich als offene, umbaute Flächen mit einigen Gemeinschaftseinrichtungen geplant waren. Obwohl das Konzept auch einige besorgte Stimmen hervorrief – «Eine 50 Meter hohe Mauer kann nicht schön sein!»[11] –, genehmigte der Grosse Rat das Projekt. Im Frühling 1964 war Baubeginn.

Flexible Wohnungstypen

Die Form des langen Hauptgebäudes ermöglichte es, alle Wohnungen nach zwei Seiten, Richtung Jura und Mont Salève, auszurichten. Da keine gegenüberliegenden Bauten im Weg stehen, sind die Wohnungen optimal besonnt und belüftet. Wenn sich auch die Anordnung der Gebäude radikal von derjenigen der Cité Meyrin unterschied, so nahm man bei der Verteilung der Wohnungen und der Raumaufteilung doch deutlich darauf Bezug. Die Bauträger waren mit der Wohnungstypologie, die Addor und Payot in der Cité Meyrin umgesetzt hatten, zufrieden, weshalb die Architekten sie für Le Lignon wieder aufnahmen. Jedes Treppenhaus erschliesst zwei Wohnungen, die sich über die ganze Gebäudetiefe erstrecken und aus standardisierten, 6.60 m breiten, von tragenden Innenwänden begrenzten Raumeinheiten bestehen. Die Standardwohnung ist nicht ganz 90 m² gross und verfügt über dreieinhalb Zimmer und eine integrierte Loggia. Dank dem raffinierten Reduit-Flur-System lassen sich durch Umschlagen eines Zimmers auf einem Stockwerk auch eine 4.5- und eine 2.5-Zimmer-Wohnung einrichten, je nach Nachfrage auf dem Immobilienmarkt.

«Wie viel Platz eine Familie braucht, hängt nicht davon ab, wie viel Geld sie hat»[12], meinte Addor. Deshalb unterscheiden sich die 3900 subventionierten Wohnungen von den 6600 freitragenden nicht durch die Raumaufteilung oder die Wohnfläche, sondern nur durch den einfacheren Innenausbau. Auch das Äussere der Gebäude gibt keine Unterschiede preis, was zu einem eindrücklich kohärenten Erscheinungsbild führt. Die Architekten verfolgten auf allen Ebenen systematisch das Prinzip einer architektonischen Einheit durch Wiederholung der Typologien. Dieser Wille, den sie mit dem Massstab des Bauvorhabens rechtfertigten, äusserte sich im rhythmischen Raster der statischen Elemente und in der Kontinuität der Gebäudehülle: Die 125 000 m² grosse Vorhangfassade ist ein Markenzeichen von Le Lignon, ihre plastische Wirkung spielt bei diesen gewaltigen räumlichen Dimensionen eine entscheidende Rolle. Georges Addor gibt uns hierzu eine wertvolle Interpretationshilfe: «Es handelt sich um eine architektonische Komposition, um die Suche nach Volumen im Raum, ähnlich den Kompositionen, die wir aus der Architektur des 18. Jahrhunderts kennen. Die Gebäude gleichen sich, aber wie auf der Place Stanislas in Nancy oder der Place des Vosges in Paris erzeugen sie keine Monotonie, die Komposition spricht für sich selbst.»[13] «Kühnheit und Vernunft, Wirtschaftlichkeit und Üppigkeit [...] Gerade die Strenge, die Kargheit in der Umsetzung der Module schafft eine unbestreitbare Grösse»[14], urteilte der Kritiker Pierre-A. Emery.

Eine erste Version des Projekts, die wie in der Cité Meyrin zwischen voll verglaster Vorderseite und einer Rückfassade mit Fensterbändern und opaken Brüstungsmodulen unterschied, wurde rasch verworfen. Die architektonische Einheit wird nun durch die umlaufende, auch die Loggien integrierende Gebäudehülle betont, die in jedem vierten Geschoss durch eine zurückversetzte Galerie rhythmisiert wird. Diese Fassadengestaltung verstärkt die plastische Wirkung des Ensembles: Die glatte Oberfläche erhält durch die Alufensterrahmen eine feine Struktur und wird moduliert durch die streng geometrische Abfolge von abwechselnd transparenten und opaken Elementen. Das Markenzeichen des Architekturbüros Addor und Julliard, die im Wohnbau selten eingesetzte, formal gelungene Curtain-Wall-Konstruktion, weckt noch heute das Interesse vieler Architekturfotografen. Noch immer lassen sie sich verführen von der Fassade, die «vom Spiel des Lichts, der Wolken am Himmel und der Natur belebt wird»[15] und die nun denkmalgerecht renoviert wird, nachdem der Kanton Genf Le Lignon 2009 unter Schutz gestellt hat.


Anmerkungen:
[01] Dieser Artikel basiert auf der ausführlicheren Fassung «Un classique de l’architecture et du l’urbanisme de notre temps» in: Franz Graf, Giulia Marino (Hg.): La cité du Lignon 1963–1971. Etude architecturale et stratégies d’intervention. Infolio, Gollion 2012, S. 18–33.
[02] Loi du développement des agglomérations urbaines (LDAU, Gesetz über die Entwicklung der städtischen Agglomerationen) von 1957.
[03] Cité Meyrin: Büro Addor et Julliard, Gaillard Frères, Eduard Conti, R. Jaton; darin: Meyrin Parc und Le Ciel Bleu: Georges Addor und Louis Payot, Honegger Frères, 1959–64.
[04] Cité Nouvelle Onex-Lancy: Überbauungsplan Honegger Frères, 1959–64.
[05] Wie Anm. 1, S. 20, Anm. 12.
[06] Wie Anm. 1, S. 22, Anm. 19.
[07] Z. B. Stanislaus von Moos: «Orientamenti nuovi nell’architettura svizzera» in: Electa, Mailand 1970, S. 53–63.
[08] Team X oder Team 10 (1953–81): Architektengruppe, kritisierte Vertreter der klassischen Moderne; Mitglieder: Peter und Alison Smithson, Georges Candilis, Shadrach Woods, Jacob Bakema, Aldo van Eyck u. a.
[09] «Le Lignon» in: Habitation 9/1965, S. 35.
[10] Eugène Beaudouin: «De la composition des plans-masse des groupes d’habitations» in: Forum 3/1955, S. 61–68, hier: S. 68.
[11] Aus einer Studie der Eigentümergemeinschaft von 1964 zur Auswirkung der Gebäudegrösse.
[12] Georges Addor in «Tel sera le plan de la future cité du Lignon» in: Journal de Genève, 3.11.1963.
[13] Georges Addor: «Le Lignon», Typoskript vom April 1963, Privatarchiv der Familie Addor, Genf.
[14] Pierre-A. Emery: «La Cité du Lignon, Genève» in: Architecture, Formes, Fonctions 15/1969, S. 248–253, hier S. 248.
[15] G. Addor zit. in: wie Anm. 14.

TEC21, Fr., 2013.06.07

07. Juni 2013 Giulia Marino

Spielraum dank Denkmalschutz

Die Fassade von Le Lignon muss erneuert werden. Der Curtain Wall gibt der Siedlung ihr zeittypisches, formal nach wie vor überzeugendes Gesicht. Ein Forschungsprojekt der ETH Lausanne hat ermittelt, welche Massnahmen Klima und Denkmalschutz, Bewohnerschaft und Rentabilität insgesamt am besten berücksichtigen. Die Eigentümer strebten die Unterschutzstellung an, denn sie eröffnet Spielraum für Renovationsvarianten.

Schon ihre Grösse macht die Genfer Siedlung Le Lignon zu einem interessanten Studienobjekt für Fragen zur Erneuerung von moderner Architektur: 86 Treppenhäuser erschliessen 2780 Wohnungen mit 10 687 Zimmern in einer 1.6 km langen, geknickten Zeile und in zwei Scheibenhochhäusern. Die drei Gebäude sind Betonbauten in Schottenbauweise, ummantelt von einer 125 000 m² grossen CurtainWallFassade aus Aluminiumprofilen und Glas. Angesichts dieser Grössenordnungen leuchtet es ein, dass sich die Eigentümer vor der Instandsetzung der Fassade, die nach über 40 Jahren nötig geworden ist, bis ins Detail überlegen, wie viel sie pro Wohnung investieren wollen. Denn jeder Franken, den sie nicht ausgeben müssen, wird sich 2780fach lohnen.

Die Eigentumsverhältnisse in Le Lignon sind komplex. Rund fünfzig Eigentümer besitzen Teile der Siedlung, einigen institutionellen Anlegern gehören mehrere Treppenhäuser. Ein Hochhaus ist zudem in Stockwerkeigentum aufgeteilt. Unter der Federführung des Comité central, das als eigentliche Geschäftsleitung amtiert und die Kommunikation bündelt, wurden Gespräche mit dem Kanton Genf und seinen Amtsstellen aufgenommen.

Bekenntnis zum Kulturerbe

Als erstes Resultat der Diskussion gab das Comité central eine kulturpolitische Erklärung ab: Le Lignon sei eine Perle, nicht etwa ein Sorgenkind. Bei der Instandsetzung werde die Architektur respektiert, sie solle gänzlich erhalten bleiben und verdiene einen sorgfältigen Umgang mit der bestehenden Bausubstanz. Für eine gewinnorientierte private Eigentümerschaft ist das doch eine eher überraschende Haltung. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Der wichtigste ist, dass eine sorgfältige Erhaltung der Fassade letztlich günstiger ist als ihr Totalersatz. Wegen der Grösse und Serialität der Fassade lohnt sich auch ein allfälliger Mehraufwand bei der Planung. Hinzu kommt, dass im Kanton Genf wertvermehrende Investitionen nicht sofort vollständig auf die Mieten überwälzt werden dürfen. Aber auch soziale Aspekte haben beim Entscheid eine Rolle gespielt: Eine sanfte Erneuerung kann in bewohntem Zustand erfolgen, und die Preissteigerung ist nicht so massiv, dass sie einen Teil der Bewohner vertreiben und damit die heute intakte soziale Struktur zerstören würde.

Das Ensemble befand sich schon länger im Inventar schützenswerter Bauten des Kantons Genf. Während der Projektierung zeigte sich, dass eine Unterschutzstellung Vorteile bieten würde: Da man sich bei Schutzobjekten nicht sklavisch an die Vorgaben des Energiegesetzes oder gar des Minergie oder MinergiePLabels halten muss, sondern eine Güterabwägung zwischen Umweltschutz und Kulturgütererhaltung stattfinden kann, vergrösserte der Schutzstatus den Spielraum bei der Suche nach einer geeigneten Erneuerungsstrategie. Wegen dieser handfesten Vorteile entschied das Comité central 2010, die Unterschutz­stellung von Le Lignon aktiv voranzutreiben. Daneben ist sich die Eigentümerschaft aber durchaus auch des Werts bewusst, den die Grossüberbauung als politischer, wirtschaft­licher, sozialer und architektonischer Zeitzeuge hat. Die Siedlung ermöglicht kommenden Generationen einen Einblick in die Zeit der 1960er und 1970erJahre und macht einen Ausschnitt aus der Geschichte der Nachkriegszeit nachvollziehbar. Bei der Komplexität und der Regeldichte im heutigen Bauwesen ist es in der Schweiz nicht mehr möglich, ein Bauwerk wie Le Lignon zu erstellen, sowohl was das städtebauliche Konzept als auch was die Kon­struktion und die technische Umsetzung betrifft.

Zusammenarbeit mit der EPFL

Der dritte Grundpfeiler der Erneuerungsstrategie neben dem offenen Gespräch und dem Denkmalschutz ist die Zusammenarbeit mit den besten verfügbaren Spezialisten, in diesem Fall mit dem Laboratoire des Techniques et de la Sauvegarde de l’Architecture Moderne (TSAM). Das Institut an der Architekturfakultät der ETH Lausanne hat es sich zur Aufgabe gemacht, Wissen über die Bautechniken der Moderne und der Gegenwart unter dem Aspekt der Erhaltung zu sammeln, aufzubereiten und in die Praxis umzusetzen. Hintergrund ist die immer straffere gesetzliche Regelung des Energieverbrauchs von bestehenden Bauten, der einerseits komplexe Anforderungen an deren Renovation stellt, andererseits eine Bedrohung für das Kulturerbe darstellt, weil immer mehr sorgfältig entworfene Fassaden hinter immer dickeren Dämmschichten verschwinden.

Das Energiegesetz, umgesetzt in den kantonalen Wärmedämmvorschriften und der Norm SIA 380/1, legt den maximal zulässigen Heizwärmebedarf (in Abhängigkeit der Gebäudehülle und der beheizten Fläche), den Anteil erneuerbarer Energie und die technische Ausrüstung fest. Bei Sanierungen sind zumutbare Verbesserungen vorzunehmen. Grundsätzlich empfiehlt das Gesetz aber, auch bei Umbauten die Werte von Neubauten einzuhalten. Was sich so einfach anhört, ist in Wahrheit ein Quantensprung in Sachen Energiesparen. Im Gegensatz zu den beiden anderen grossen Verbrauchern Industrie/Haushalte und Verkehr, die ungebremst von Jahr zu Jahr mehr Energie konsumieren, ist der Energieverbrauch von Gebäuden in den vergangenen 20 Jahren um mehr als zwei Drittel gesunken. Doch würde man diese Anforderungen bei Bauten wie in Le Lignon à la lettre anwenden, würde das ihrem architektonischen Ausdruck den Todesstoss versetzen.

Vier Varianten der Eingriffstiefe

In einem ersten Schritt analysierte das Team am Lehrstuhl von Franz Graf den Zustand der Fassade. In einer minutiösen Recherche wurden alle relevanten Bauteile zeichnerisch erfasst, vor Ort sorgfältig geprüft, fotografiert und benotet. Was von aussen als reine Alumi­niumfassade erscheint, ist tatsächlich eine HolzMetallKonstruktion. Die farblos eloxierten Aluminiumprofile sind verdeckt mit Kiefernholzrahmen verbunden. Die Verglasung besteht aus einem äusseren und einem inneren 3 mm dicken Einfachglas. Dazwischen liegt ein von Hand bedienter Raffstoren. Alle Fenster lassen sich entweder mit Dreh oder DrehKippBeschlägen öffnen. Die geschlossenen Paneele sind mit 30 bis 50 mm Mineralwolle gedämmt. Hinterlüftete emaillierte Gläser dienen als Wetterhaut. Der UWert der Fassade beträgt erstaunlich gute 0.86 W/m2K. Unerwartet gut ist auch der Allgemeinzustand der einzelnen Bauteile. Sie zeigen eine mässige Alterung mit leichten Gebrauchsspuren. Einzig die innere Dampfsperre der geschlossenen Module ist in schlechtem Zustand. Zur grauen Energie und zum sommerlichen Wärmeschutz macht die Studie keine Aussage. Ausgehend von diesem Befund entwickelte das TSAM vier Erneuerungsszenarien mit verschiedenen Interventionstiefen: Wartung (A), Instandsetzung (B), Renovation (C) und Ersatz (D) der Fassade. Letztere wäre nur unter Beibehaltung des Erscheinungsbilds möglich, weil die Bauten inzwischen unter Denkmalschutz stehen. In allen Varianten wurden folgende Themen detailliert untersucht:

– konstruktivbauphysikalische Konsequenzen
– UWert der Bauteile
– daraus errechneter Energiebedarf pro Quadratmeter Wohnfläche
– erwartete Lebensdauer
– Kosten

Die umfangreichen Daten wurden grafisch dargestellt (Abb. 01). War die Unterschutzstellung eine qualitative (kulturpolitische) Entscheidung, handelt es sich bei dieser Variantenstudie um eine quantitative Betrachtung der beiden ausschlaggebenden Kriterien Energiesparen und Kosten. Variante D schied aus, weil man die exorbitant höheren Kosten im Vergleich zur Variante C, gemessen an der zusätzlich eingesparten Energie, als nicht gerechtfertigt erachtete. Bei den Varianten A, B und C erfolgen alle Arbeiten von innen, sodass die Eigentümer je nach gewünschter Lebensdauer und Kosten grundsätzlich frei wählen können. Weil die Variante C das beste Verhältnis zwischen Energiereduktion und Kosten aufwies, wurde sie ausdifferenziert. In den Varianten C.1 und C.2 untersuchte man die Verbesserung von konventioneller zu Hochleistungswärmedämmung in den geschlossenen Paneelen, bei C.3 und C.4 den Ersatz der tragenden Holz durch Aluminiumrahmen. Bei allen Varianten wurden Unter und Aufsicht von Dächern, Laubengängen und Loggien vollflächig den gültigen Normen angepasst.

Altneue Fenster und neue Innendämmung

Dieser rechnerischen Untersuchung folgte eine Prüfung vor Ort. In einer Serie von Modellen im Massstab 1:1 wurden die Varianten A, B und C ausgeführt und auf ihre Tauglichkeit geprüft. Die Testphase bestätigte die Resultate der rechnerischen Lösung. Man entschied sich für die Variante C.1. Diese senkt den Heizenergiebedarf um rund 40 %. Damit beträgt er zwar noch immer rund das Zweieinhalbfache des heutigen gesetzlichen Grenzwerts. Wenn man aber auch die (fossile) graue Energie berücksichtigt, die bei einem Ersatz der Fassade weggeworfen würde, wird die Energiebilanz positiv. Insgesamt erfüllt diese Variante die gegensätzlichen Anforderungen von Denkmalschutz, Energiesparen und Kosten am besten.

Beim Modell C.1 werden die Fassade von aussen gereinigt, die Dichtungen ersetzt und einzelne beschädigte Oberflächengläser ersetzt. Von innen werden die bestehende Wärmedämmung durch eine konventionelle EPSDämmung ersetzt, die Dampfbremse erneuert und das Paneel neu verkleidet. Bei den durchsichtigen Bauteilen werden hinter den äusseren Einfachscheiben neue Raffstoren und ein ZweifachWärmedämmglas eingesetzt. 2011 wurde eine Musterwohnung erneuert. Dabei erstellte das TSAM ein Handbuch, in dem die Massnahmen und der Ablauf der Erneuerung minutiös festgehalten sind. Daraufhin renovierte der Swissinvest Real Estate Investment Fund 2012 ein erstes Treppenhaus mit 32 Wohnungen nach der Variante C.1.

Diese erste Etappe wird nun allen Eigentümern als Grundlage für die Erneuerung ihrer Teile dienen, das Handbuch fungiert dabei als Anleitung und zur Qualitätssicherung. Dieses ­Konzept ermöglicht jedem Eigentümer, den Zeitpunkt, das Architekturbüro und die aus­führenden Unternehmer selbst zu wählen, ohne dass dabei ein unansehnliches Patchwork entsteht. Der Architekt Jean Paul Jaccod hat für die PensimoGruppe ein Konzept für eine sanfte Erneuerung der Wohnungen entwickelt. Es ist in einem zweiten Handbuch beschrieben, das den Eigentümern zur Verfügung steht. Die Erneuerungsplanung stiess auf grosses öffentliches Interesse. Das Buch «La cité du ­Lignon 1963–1971»[1], in dem das Vorgehen dokumentiert wird, war bald ausverkauft. Es eröffnet detaillierte Einblicke in das Verfahren und gibt Eigentümern von vergleichbaren Objekten wertvolle organisatorische und technische Tipps für die Planung einer Renovation. 2013 wurde das Projekt mit dem Preis der Europäischen Union für das Kulturerbe von EuropaNostra ausgezeichnet.[2]

Energieschleudern oder Monumente der Coolness?

Wie ist die Renovation aus architekturhistorischer Sicht zu beurteilen? Le Lignon ist aus einer Konstellation entstanden, die normalerweise nicht zu aussergewöhnlicher Architektur führt: Ein Unternehmer, der gleichzeitig Investor und Architekt war, hat die Überbauung realisiert (vgl. Kasten S. 16). Doch Georges Addors Ensemble ist gestalterisch gelungen und funktioniert auch sozial. Die äussere Form kann als tektonisch im besten Sinn interpretiert werden: Serialität und der Rhythmus der horizontalen und vertikalen Fugen und Flächen bestimmen den architektonischen Ausdruck. Durch Abstraktion und Reduktion erzeugt die Fassade einen gleichzeitig homogenen und vielfältigen Eindruck. Auf den Betrachter hat das eine hypnotische Wirkung, weil sein Blick zwischen dem Ganzen und dem Detail hin und her springt. Wie das funktioniert, zeigt die Fotografie der Gare Montparnasse in Paris, mit der Andreas Gursky 1993 Kunstgeschichte geschrieben hat. Die Aufnahme der Längsfassade wurde zur Bildikone. Doch die formalen Qualitäten dieser Architektur werden heute kaum mehr wahrgenommen; sie wird geradezu stigmatisiert. Der grafisch strukturierte Curtain Wall scheint vom Inbegriff von Modernität zum Inbegriff der Energieverschleuderung geworden zu sein.

Architektur pflegen als Aufgabe

Bei der Renovation von Le Lignon stehen die Architekturschaffenden im Hintergrund, weil sie am äusseren Ausdruck des Gebäudes nichts verändern dürfen und die Fachleute am TSAM die architektonischen Entscheidungen getroffen haben. Beschränkt sich ihre Rolle damit auf die Bauleitung? «der neubau eines objekts ist ein sonderfall des umbaus»[3], ­postulierte Fritz Haller schon in den 1960erJahren. So gesehen, haben Architektinnen und Architekten auch bei Erneuerungen nach dem Muster von Le Lignon durchaus eine entscheidende Aufgabe: indem sie die verschiedenen Akteure an einen Tisch bringen, ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit als zeitgemässe architektonische Themen etablieren und inmitten der Detailarbeit das Ganze im Auge behalten müssen.


Anmerkungen:
[01] Franz Graf, Giulia Marino (Hg.): La cité du Lignon 1963–1971. Etude architecturale et stratégies d’intervention. Infolio, Gollion 2012.
[02] www.europanostra.org/awards/113
[03] Therese Beyeler u. a.: Fritz Haller: Bauen und forschen. Solothurn 1988 (ohne Paginierung).

TEC21, Fr., 2013.06.07

07. Juni 2013 Jürg Graser

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