Editorial

In den letzten Jahren erlebt der Holzbau eine technische Revolution. Industriell her­gestellte Baustoffe und Komponenten mit leistungsfähigen Verbindungen haben eine industrielle Holzbauweise entstehen lassen – vergleichbar mit der Ablösung des Mauerwerks durch den Stahlbeton vor rund einem Jahrhundert. Mit den neuen Techno­logien stösst der moderne Holzbau in die angestammten Domänen des Stahlbeton- und Stahlbaus vor. Augenfällig ist dies bei den mehrgeschossigen Wohnbauten in Holzbauweise, die in den vergangenen Jahren errichtet wurden. Eines der aktuellen Leuchtturmprojekte, das zurzeit in Mailand entsteht, stellen wir am Anfang dieses Hefts vor. Weitere Beiträge zeigen, was die hoch hinaufstrebenden Holzhochhäuser zusammenhält: Geschraubte und geklebte Verbindungen sind das A und O des modernen Holzbaus, ohne sie wäre an mehrgeschossige Bauten nicht zu denken. Interessant sind dabei die Analogien zum Stahlbetonbau.

In Mailand hat der Bau von Hochhäusern eine illustre Tradition. Hier errichtete Pier Luigi Nervi zusammen mit Giò Ponti und Arturo Danusso zwischen 1958 und 1960 das Pirelli-Hochhaus, eines seiner bedeutendsten Werke[1] – bei Fertigstellung das zweithöchste Gebäude Europas und mit rund 127 m noch immer das höchste der Stadt[2]. Heute lebt diese Tradition weiter: Gut fünf Jahrzehnte nach dem «Pirellone» entstehen in Mailand wieder Hochhäuser mit Pioniercharakter – aus Holz. Vielleicht haben die vier ­neuen Wohntürme eine ähnliche Signalwirkung, wird der mehrgeschossige Holzbau, wie seinerzeit der Stahlbetonbau, damit auch Skeptiker und Behörden überzeugen können.

Die neuen Mailänder Holz-Wohntürme erreichen zwar erst knapp ein Drittel der Höhe des Pirelli-Hochhauses. Das Potenzial der Holzbauweise ist damit aber noch nicht ausgeschöpft – vielleicht werden die Mailänder in Zukunft nebst dem Pirelli-Hochhaus auch einen echten «Grattacielo» aus Holz bewundern können.

So ist der Gedanke nicht abwegig, dass Pier Luigi Nervi, ein Pionier der Vorfabri­kation im Betonhochbau, der zeitlebens nach neuen Möglichkeiten für sparsames und schnelles Bauen suchte, auch an den Möglichkeiten des modernen Holz-Hochhausbaus Interesse und Gefallen gefunden hätte.

Aldo Rota


Anmerkungen:
[01] Am 18.9.2013 wird an der ETH Hönggerberg eine Ausstellung über Pier Luigi Nervis Leben und Werk mit einem Kolloquium eröffnet. Aus diesem Anlass wird TEC21 37/2013 vom 6.9.2013 dem bedeutenden italienischen Ingenieur gewidmet sein.
[02] Im gleichen Zeitraum entstanden zwei weitere Wahrzeichen des modernen Mailand, die 109 m hohe Torre Galfa und die 106 m hohe Torre Velasca.

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Swiss Photo Award – ewz.selection

10 MAGAZIN
Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz

16 HOLZWOHNTÜRME IN MAILALND
Andrea Bernasconi
Ein vor der Vollendung stehendes Wohnbauprojekt von Fabrizio Rossi Prodi illustriert den Stand der Technik im mehrgeschossigen Holzbau.

20 HOLZ GUT VERSCHRAUBT
Andrea Bernasconi
Beim Bauen mit Holz ­haben sich Vollgewindeschrauben für wirtschaftliche Verbindungen von Bauteilen aus Brettsperrholz durchgesetzt.

23 GEKLEBT, NICHT GEDREHT
René Steiger, Thomas Strahm
Für hoch beanspruchte Verbindungen im Holzbau sind eingeklebte Gewindestangen seit Jahrzehnten die erste Wahl.

27 SIA
Die Workgroup als Motor | Neue Mitarbeiterinnen | Wer hat die Lizenz zum Städtebau? | Blickwinkel 03/2013: Projektstart | SIA-Form Fort- und Weiterbildung

31 PRODUKTE | FIRMEN
Neue Holzbau AG | Pavatex | Egger

37 IMPRESSUM

38 VERANSTALTUNGEN

Holzwohntürme in Mailand

An der Via Cenni in Mailand entsteht eine vom Florentiner Architekten Fabrizio Rossi Prodi konzipierte Überbauung mit vier neungeschossigen Wohnhäusern. Die Bauherrschaft entschied sich im erdbebengefährdeten Gebiet für vorgefertigte Wände und Decken aus Brettsperrholz, die zu einer dreidimensionalen geschlossenen Tragstruktur zusammengeschraubt sind. Die kurz vor der Vollendung stehenden Türme zeigen ­exemplarisch den Stand der Bautechnik im mehrgeschossigen Holzbau.

Das Interesse für den mehrgeschossigen Holzbau hat in neuerer Zeit weltweit zugenommen. In vielen Ländern sind in den vergangenen Jahren neue Brandschutzvorschriften in Kraft gesetzt worden, die die Holzbauweise für mehrgeschossige Wohnbauten erlauben. In der Schweiz ist dieser Schritt 2003 mit der Neufassung der Brandschutznormen vollzogen worden. Auch die Technik des Holzbaus hat enorme Fortschritte gemacht. Hervorzuheben sind dabei das Brettsperrholz für die Herstellung grosser flächiger Elemente und neue ­Entwicklungen in der Verbindungstechnik. In diesem Bereich sind diverse leistungsfähige Techniken, etwa Vollgewindeschrauben und eingeklebte Gewindestangen, eingeführt worden, mit denen Tragwerksplaner heute fast jedes Anschlussproblem lösen können.

Erste hohe Holzhäuser

Der mehrgeschossige Holzbau ist in der Schweiz auf sechs Stockwerke beschränkt; aus­serdem muss die Tragstruktur der Fluchtwege aus nicht brennbaren Materialien bestehen. Das erste sechsgeschossige Holzhaus in der Schweiz, ein in Rahmenbauweise mit Betonkern erstelltes Mehrfamilienhaus in Steinhausen ZG von 2006, gilt heute noch als Meilenstein.[1] Weitere Wohnhäuser folgten. Viele darunter werden heute noch in Holzrahmenbauweise erstellt. Aus der Perspektive des Tragwerksplaners ist die 2007 vom Architekten Lorenzo Felder erbaute «Casa Montarina» in Lugano zu erwähnen. Sie war vermutlich das erste sechsgeschossige Wohnhaus mit einer ausschliesslich aus Holz bestehenden Tragstruktur. Der geneigte Baugrund ermöglichte es, die Eingänge auf verschiedenen Höhen ebenerdig anzuordnen und damit den Anforderungen des Brandschutzes zu genügen.

Brettsperrholz wird in der Schweiz noch nicht in grossem Umfang verwendet. Von Anfang an aber hat es als sehr leistungsfähiges Material die Aufmerksamkeit der Tragwerksplaner geweckt. Mittlerweile ist es bei einigen anspruchsvollen Projekten eingesetzt worden. Die massiven und grossformatigen Brettsperrholzplatten können zu dreidimensionalen Raumtragwerken zusammengefügt werden und ermöglichen die Herstellung komplexer Trag­strukturen für den Wohnungsbau. Ein Beispiel ist die 2011 vom Architekten Maurizio Marzi erbaute «Residenza Sirio» in Lugano (Abb. 01). In der sechsgeschossigen Tragstruktur sind zwar für die Einhaltung des Brandschutzes einzelne Wände im Kernbereich und im Treppenhaus betoniert, das Treppenhaus ist aber gegen aussen mit einer Fensterwand abgeschlossen, sodass es nicht die Aussteifung der gesamten Konstruktion übernehmen kann. Die Holzkonstruktion wurde deshalb als eigenständige, durch ihre Wände ausgesteifte Tragstruktur ausgeführt.

Das Projekt an der Via Cenni

Die Leistungsfähigkeit des modernen mehrgeschossigen Holzbaus ist im Ausland erkennbar, wo in den vergangenen Jahren einige Objekte aus Brettsperrholz mit bis zu neun Geschossen als reine Holztragwerke erstellt worden sind. Zurzeit wird an der Via Cenni in Mailand ein Wohnviertel mit vier neungeschossigen Wohntürmen fertiggestellt. Da Mailand wie ganz Italien als Erdbebenzone gilt und diesem Thema zu Recht grosse Aufmerksamkeit geschenkt wird, musste die Tragkonstruktion von der obersten Zentralbehörde für das Bauwesen in Rom geprüft und bewilligt werden. Dazu wurde eigens eine Prüfkommission gebildet. Das Bauvorhaben in der Via Cenni besteht aus vier neungeschossigen Gebäuden, die untereinander durch einen zweigeschossigen Sockelbau verbunden sind (Abb. 02). Das ­Projekt umfasst 124 Wohnungen, Gemeinschaftsräume und eine Grünfläche von 1000 m². Die Mietwohnungen sind teilweise gefördert, zum Teil mit einer Vereinbarung zum künftigen Ankauf vermietet. Das vom Architekten Fabrizio Rossi Prodi aus Florenz als Holzbau mit ­einer Tragstruktur aus Brettsperrholzplatten (BSP-Platten) konzipierte und entworfene Projekt wird im Rahmen des Immobilienfonds «Fondo Federale di Lombardia» realisiert. Es ist aus einem Architekturwettbewerb hervorgegangen.

Mitentscheidend für die Wahl der Holzbauweise war die Suche nach innovativen Lösungen, die die Nachhaltigkeit und den Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen berücksichtigen. Auch die kurze Bauzeit und das gute Dämmungsverhalten waren für die Bauherrschaft wichtige Kriterien.

Stand der Holzbautechnik

Zurzeit gilt die Realisierung von Wohngebäuden aus Holz mit zehn Geschossen als Stand der Technik. Beim Projekt an der Via Cenni, in dem ca. 6100 m³ Brettsperrholz verbaut ­wurden, kamen das aktuelle Fachwissen und die verfügbaren Technologien zum Einsatz. Es liegt im Rahmen der heutigen Vorschriften und Normangaben. Das Ziel war nicht, Proto­typen oder Prozesse zu entwickeln; keine Speziallösung wird ausgetestet oder zum ersten Mal umgesetzt. Aus der Perspektive der Tragwerksplanung zeigt dieses Projekt lediglich eine Möglichkeit zum optimalen Einsatz des heutigen Stands der Technik im Bereich der Tragstrukturen aus BSP. Derartige hohe Bauwerke müssen als Ingenieurtragwerke ­konzipiert und dürfen nicht als einfache geometrische Vergrösserung der üblicherweise ­eingesetzten Technologien und Techniken des Holzhausbaus behandelt werden.

Mit neun Geschossen über Terrain und relativ geringen Grundrissabmessungen von ca. 13.5 × 19 m sind die vier Hochhäuser dieses Projekts aufgrund ihrer Schlankheit Türme. Ihre Tragkonstruktion aus BSP-Platten ist ein Ingenieurtragwerk und muss unter Ein- haltung der Regeln des konstruktiven Ingenieurholzbaus und unter Berücksichtigung der Erdbebensicherheit entworfen, konstruiert, berechnet und nachgewiesen werden. Aus ­dieser Sicht sind die neun Geschosse im Erdbebengebiet durchaus als Innovation zu betrachten.

Tragstruktur aus Brettsperrholz

Die dreidimensionale, geschlossene Tragstruktur besteht aus vertikalen und horizontalen, untereinander kontinuierlich verbundenen plattenförmigen BSP-Tragelementen. Biegebalken und Stützen wurden nur als lokale Verstärkung bei einzelnen Öffnungen oder Übergängen eingesetzt (Abb. 07). Die Tragkonstruktion besteht aus sieben vertikalen Wandebenen, wovon drei in einer Richtung und vier senkrecht dazu orientiert sind. Diese Wände bilden die vertikale Tragstruktur von der Verankerung im Fundament bis zum Dach. Sie bilden keine geschlossenen Flächen, sondern sind durch mehrere Öffnungen unterbrochen; jede dieser Wandebenen besteht aus mehreren Wandstreifen unterschiedlicher Länge, die in derselben Flucht stehen. Die Decken sichern die Verbindung zwischen den einzelnen Wandstreifen. Unterzüge, die in der Regel aus der durchlaufenden BSP-Wand gebildet sind, überbrücken die Öffnungen. Daraus entstehen lokale Kraftkonzentrationen, die sich in den vollflächigen Wandteilen nach unten ausbreiten können. Mit Ausnahme der Balkone gibt es keine auskragenden Tragelemente und keine nicht direkt abgestützten Wandelemente. Die Balkone sind als Kragelemente – mit der Decke oder den Wänden als tragenden Teilen – ausgebildet. Wände, deren Kontinuität nach unten durch Öffnungen unterbrochen ist, wurden nicht als Bestandteil der räumlichen Tragstruktur betrachtet. Daraus ergeben sich bei der ersten Beurteilung der Tragkonstruktion Wandstreifen, die nach oben schmaler werden, obwohl sie effektiv in den obersten Geschossen wieder geschlossen sind. Diese Betrachtungsweise ermöglicht eine erste, einfache, effiziente und vor allem übersichtliche und kontrollierbare Analyse der Lastabtragung.

Das Tragwerk wurde geschossweise erstellt. Die Wände sind deshalb durch die Decken unterbrochen. Die Decken sind direkt auf den Wandoberkanten aufgelegt, und die oberen Wände stehen direkt auf den Decken. Sie bilden die horizontalen, aussteifenden Scheiben. Das gesamte Holztragwerk ist auf dem in Stahlbeton erstellten Untergeschoss verankert. Decken und Wände

Die Decken bestehen aus BSP-Elementen, die entsprechend ihrer Haupttragrichtung orientiert werden. Durch die nicht identische Anordnung der Wohnungen und der Balkone in den Geschossen sind die Decken und deren Lastabtragung ebenfalls unterschiedlich angeordnet. Daraus entsteht über die gesamte Gebäudehöhe eine gute Verteilung der Vertikallasten auf sämtliche Wandelemente, was einen nicht unwesentlichen Beitrag zur regelmässigen Kraftableitung leistet. Die Decken weisen zudem unterschiedliche Spannweiten auf. Zur Vereinfachung, aber auch um die Scheibensteifigkeit der Decken möglichst gleichmässig und konstant zu halten, wurden für Spannweiten bis zu 5,80 m eine Dicke von 200 mm (5-schichtiges BSP) und für Spannweiten bis zum Maximalwert von 6,70 m eine Dicke von 230 mm (7-schichtiges BSP) eingesetzt. Dabei wurden sämtliche Anforderungen und Nachweise der Tragsicherheit und der Gebrauchstauglichkeit eingehalten.

Die Wandstärke wurde geschossweise konstant gehalten, was eine gleichmässige und regelmässige Tragstruktur gewährleistet und die gesamte Konstruktion einfach hält. Daraus ergibt sich eine durchwegs uniforme Verteilung der Vertikalkräfte auf die Wandstreifen und auf die Wandebenen. Die Wandstärken nehmen in den höheren Geschossen ab (ausgehend von 200 mm für das Erdgeschoss stufenweise auf 120 mm für das Dachgeschoss); dadurch wird die Tragkonstruktion bei abnehmenden Lasten und Beanspruchungen in ihrer Steifigkeit und Festigkeit reduziert. Sämtliche Wandelemente bestehen aus 5-schichtigen BSP-Platten.

Verbindungen sind entscheidend

Die Abmessungen der einzelnen grossformatigen BSP-Plattenelemente sind im Vergleich zu jenen der gesamten Tragkonstruktion gering. Eine dreidimensionale Tragstruktur entsteht daraus nur, wenn die einzelnen Tragelemente kraftschlüssig untereinander verbunden werden. Neben einer ausreichenden Kraftübertragung ist auch eine ausreichende Steifigkeit der Verbindung Voraussetzung für die räumliche Tragwirkung. Die mechanischen Verbindungen des Holzbaus können jedoch keinesfalls als «unendlich steif» angenommen werden. Dies hängt von der Auslegung der Verbindung ab und wird bei einfachen Tragstrukturen in der Regel zu Recht vernachlässigt. Bei komplexeren Tragkonstruktionen kann jedoch die Steifigkeit der Verbindungen einen wesentlichen Einfluss auf die Beanspruchungen haben und muss sorgfältig berücksichtigt werden. Räumliche BSP-Tragstrukturen sind darauf besonders empfindlich, da sie innerlich hochgradig statisch unbestimmt sind. Diese Eigenschaft ist bei dynamischen und horizontalen Beanspruchungen, wie sie bei Erdbeben auftreten, besonders bedeutend.

Robustheit von Holzbauten

Die Anforderungen an die Robustheit von Tragstrukturen gelten im Allgemeinen als anerkannt und selbstverständlich. Im Wohnungsbau aus Holz sind sie in Anbetracht der meist geringen Grösse der Gebäude selten Gegenstand von Diskussionen. Bei grösseren Gebäuden muss aber sichergestellt werden, dass ein nicht planmässiges und durch die üblichen Lastannahmen nicht abgedecktes Ereignis nicht zu Folgeschäden führen kann, die schwerwigender sind als das Ereignis selber. Für dieses Projekt wurde als Kriterium der Robustheit der Wegfall einer beliebigen Wand angenommen: Dabei musste nachgewiesen werden, dass ein derartiges Ereignis keine Kettenreaktion mit einem Kollaps der gesamten Konstruktion oder von grösseren Teilen des Gebäudes zur Folge hat. Dieses Kriterium ist wesentlich und wichtig beim Entwurf und bei der Bemessung. Seine Anwendung kann zwar zur lokalen Verstärkung einzelner Tragelemente und Anschlüsse führen; vielmehr ist es jedoch ein allgemeines und interessantes Prüfkriterium für die Gesamtqualität der Tragkonstruktion.


Anmerkung:
[01] Architektur: Scheitlin-Syfrig + Partner Architekten AG, Luzern. Holzbau: Renggli AG. Ingenieur und Konstruktion Holzbau/Brandschutz: Makiol + Wiederkehr, Beinwil am See

TEC21, Fr., 2013.05.31

31. Mai 2013 Andrea Bernasconi

Holz gut verschraubt

Verbindungen sind das A und O des Holzbaus. Diese seit der Antike gültige Erkenntnis erhält mit dem Aufkommen immer höherer Bauwerke aus Brettschichtholz eine zusätzliche Bedeutung. Um die flächigen und schweren Platten zuverlässig zusammenzuhalten, genügen die altbekannten Nägel und Senkschrauben nicht mehr. Neu entwickelte Verbindungsmittel, insbesondere selbstbohrende Vollgewindeschrauben, ermöglichen erst die rationelle Realisierung anspruchsvoller mehrgeschossiger Holzstrukturen.

Effiziente und leistungsfähige Verbindungstechnik ist eine Voraussetzung für die Herstellung jedes mechanischen Tragsystems. Bei den Holztragstrukturen sind die Verbindungen ­besonders wichtig, da Holztragelemente naturgemäss verhältnismässig geringe Abmes­sungen aufweisen und lokal nur bedingt hohe Beanspruchungen aufnehmen können. Im ­Ingenieurholzbau haben neue Verbindungsmittel die klassischen, auf Kontaktpressung basie renden Zimmermannsverbindungen bereits vor Jahrzenten abgelöst: Stiftförmige Verbindungen leiten die Kräfte in das Holz ein, und Stahllaschen übertragen diese zwischen den in einer Verbindung anzuschliessenden Teilen. Diese bei Nägeln, Schrauben und Klammern übliche Art der Krafteinleitung setzt voraus, dass die Stahlstifte auf Biegung und das Holz auf Lochleibungsdruck beansprucht werden. Das hat einen stark unregelmässigen Kraftfluss, ungünstige Beanspruchungen im Holz und grosse Verformungen im Allgemeinen zur Folge. Obwohl ein derartiges Verbindungsprinzip auf den ersten Blick nicht optimal ist, wurde daraus eines der leistungsfähigsten Verbindungsysteme des Ingenieurholzbaus entwickelt: Stabdübelverbindungen sind ein Meilenstein in der Verbindungstechnik und die Grundlage des heutigen Ingenieurholzbaus mit grossen Tragstrukturen aus Brettschichtholz. Von der Gewindestange zur Vollgewindeschraube

In den 1980erJahren wurde mit den ersten eingeleimten Gewindestangen ein neues Verbindungsprinzip im Holzbau eingeführt: Die Stahlteile werden axial beansprucht, und die Kraftübertragung in das Holz erfolgt über einen Schubfluss entlang der Stahlstange. Dabei werden die Kräfte direkt und ohne Umlenkung von einem Bauteil in das andere übertragen. Daraus ergeben sich eine optimale Krafteinleitung in das Holz und sehr steife und leistungsfähige Verbindungen. Diese geklebten Verbindungen (vgl. «Geklebt, nicht gedreht», S. 23)sind mit den lokalen Bewehrungen im Stahlbeton vergleichbar, deren Stäbe so angeordnet sind, dass sie die Kraft axial aufnehmen und über den Schubfluss entlang der Kontaktfläche optimal in den Beton einleiten. Mit den später entwickelten Vollgewindeschrauben wird das gleiche Prinzip der eingeleimten Gewindestangen umgesetzt, nur erfolgt die Kraftübertragung vom Schaft der Schraube in das Holz über die vom Gewinde erzeugte Verzahnung. Die Schrauben können dort eingedreht werden, wo die Kraft in das Holz eingeleitet werden soll. Dank dem Vollgewinde ist es auch möglich, die Schraube als Kraftübertragungselement zwischen zwei Holzteilen einzusetzen; dabei wird der Schraubenkopf lediglich zum Eindrehen der Schraube gebraucht (Abb. 02). Vom Holz zu einem anderen Material, wie beispielsweise einer Stahlplatte, wird die Kraft hingegen über den Schraubenkopf übertragen (Abb. 01). Auch die Holzschraube ist in den vergangenen Jahren weiterentwickelt worden: Sie wird nicht mehr spanabhebend durch Einschneiden des Gewindes hergestellt. Durch das Aufrollen des Gewindes auf Stahlstiften werden selbstbohrende Schrauben bis zu einem Durchmesser von 14 mm und Schraubenlängen von über einem Meter produziert; dabei ist das Gewinde auf die volle Schraubenlänge vorhanden. Sie erfordern keine Bohrung im Holz vor dem Eindrehen der Schraube. Durch das Rollen des Gewindes wird das Metall verfestigt, sodass diese Schrauben meist sehr gute mechanische Eigenschaften aufweisen.

Einfaches Prinzip mit grossem Potenzial

Das Prinzip der Herstellung von Verbindungen mittels Vollgewindeschrauben wurde bereits vor Jahrzenten bei einfachen Anschlüssen von Balkenlagen angewendet. Dabei wird die Auflagerkraft in die Achsenrichtungen zweier Schrauben zerlegt, die daraus resultierenden zwei Kräfte werden axial über den dünnen Schraubenschaft übertragen. Es entsteht eine steife und leistungsfähige Verbindung, bei der eine Schraube auf Zug und die andere auf Druck beansprucht wird; im Holz erfolgt die Krafteinleitung auf Schub über die Schraubenlänge.

Dieses an sich sehr einfache Verbindungsprinzip erlaubt die Herstellung von beliebig vielen Anschlussvarianten, da die Schrauben prinzipiell mit fast beliebiger Orientierung in das Holz eingedreht werden können. Bei Winkeln der Schraubenachse zur Faserrichtung kleiner als 30° ist die Tragwirkung allerdings abgemindert.

Für leistungsfähige Verbindungen zwischen grossformatigen Brettschichtholzelementen sind diese Schraubenverbindungen weiterentwickelt worden. Bei stark beanspruchten Tragwerken muss die Verbindung zwischen zwei Platten ihre Flächentragwerkwirkung erlauben und den kraftschlüssigen Anschluss über die gesamte Plattenkante ermöglichen. Angestrebt wird eine kontinuierliche Linienverbindung und keine punktuelle Einleitung grösserer Kräfte, da nur dadurch eine ausreichend steife und feste Verbindung entstehen kann, die wiederum die Entstehung der globalen, dreidimensionalen Tragwirkung der BSPKonstruk­tion erlaubt. Um dies zu erreichen, können die zu übertragenden Kräfte zerlegt über zweckmässig geneigte Schrauben eingeleitet werden.

Verbindungen in der Ebene und an Eckpunkten

Die Verbindungen in der Wand oder Deckenebene zwischen zwei benachbarten BSPElementen kann mit um 45° geneigten, in der Vertikalebene angeordneten, selbstbohrenden Vollgewindeschrauben ausgeführt werden. Diese Verbindung bildet ein Gelenk entlang der Verbindungsachse; sie erlaubt die Übertragung der übrigen Schubkräfte und weist eine ausreichende Schubsteifigkeit auf. Dabei werden Kräfte senkrecht zur Plattenebene über Zug und Druckbeanspruchung der Schraube übertragen, jene in der Plattenebene über Abscheren der Schrauben.

Die WandDeckeWandVerbindung kann als optimale, kontinuierliche, geschraubte Verbindung ohne zusätzliche Stahlteile realisiert werden. Dabei werden die vertikalen Druckkräfte über Kontaktpressung übertragen, die vertikalen Zugkräfte und die horizontalen Schubkräfte durch die Schrauben. Die Krafteinleitung erfolgt in diesem Fall in zwei Schritten. Die Vollgewindeschrauben sind stets um mindestens 30° gegenüber der Faserrichtung der einzelnen Schichten des BSP geneigt. Die Schrauben sind nur in einzelnen Fällen auf Abscheren beansprucht; in der Regel werden sie axial beansprucht. Es entstehen somit einfache Verbindungen, die die Übertragung von grossen Zug und Schubkräften erlauben und grosse Steifigkeiten aufweisen. Die Kraftübertragung erfolgt direkt und ohne weitere Zwischenelemente, weshalb diese Verbindung auch in der Herstellung sehr einfach ist (Abb. 03). Bei ­hohen Anschlusskräften in den Verbindungen kann der Anschluss über eine Tförmige Stahllasche erfolgen, die mit Vollgewindeschrauben durch die Decke in der unteren Wand verankert wird (Abb. 04). Die obere Wand wird anschliessend durch Stabdübel angeschlossen. Weitere Entwicklung

Durch die geschickte Anordnung von selbstbohrenden Vollgewindeschrauben kann die Krafteinleitung in das Holz dem effektiven Kraftfluss angepasst und eine optimale Beanspruchung des Holzes erreicht werden. Die Vielfalt derartiger Schrauben auf dem Markt und die sinkenden Kosten zeigen, dass das Potenzial dieser Verbindungen noch nicht ausgeschöpft ist. Die weitere Entwicklung wird sowohl in der Optimierung der Schrauben liegen als auch in der Möglichkeit einer beliebigen, den mechanischen Anforderungen angepassten Anordnung und räumlichen Orientierung der Schrauben.

Das Verbindungsprinzip der Kraftübertragung durch Stahlstäbe, die axial eine Kraft im Materialinnern übertragen, ist im Holzbau praktisch uneingeschränkt anwendbar – bei geringen Kräften oder bei der Herstellung von kontinuierlichen Linienverbindungen durch den Einsatz von Vollgewindeschrauben; bei grösseren und konzentrierten Anschlusskräften durch den Einsatz von eingeleimten Stahlstangen. Dass praktisch sämtliche Verbindungsprobleme mit derartigen Anschlüssen gelöst werden können, hat die Betonbauweise bereits bewiesen. Viele ausgeführte Beispiele zeigen, dass der moderne Holzbau sich ebenfalls in diese Richtung entwickelt.

TEC21, Fr., 2013.05.31

31. Mai 2013 Andrea Bernasconi

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