Editorial

Am 11. März 2012 haben die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Zweitwohnungsinitiative angenommen und am 3. März 2013 auch der Revision des Raumplanungsgesetzes zugestimmt. Damit haben sie sich für einen haushälte­rischen Umgang mit dem Boden ausgesprochen: Das wertvolle Kulturland, das seit Jahren in einem Rhythmus von einem Quadratmeter pro Sekunde zugebaut wird, soll besser geschützt werden. Gleichzeitig nimmt die Wohnbevölkerung der Schweiz jedoch rapide zu. Im vergangenen Sommer hat sie die 8-Millionen-Grenze überschritten – wenn sie in diesem Tempo weiterwächst, werden in 20 Jahren über 10 Millionen Menschen in der Schweiz leben. Und diese Menschen beanspruchen immer mehr Platz: Innerhalb einer Generation hat sich die durchschnittliche Wohnfläche pro Person verdoppelt, und ein freiwilliger Verzicht auf diese Annehmlichkeit ist bei den meisten Zielgruppen nicht abzusehen. Daher gilt es, unsere Siedlungsstrukturen zu überdenken. Nachdem der Ausbau des Strassen- und S-Bahn-Netzes über Jahrzehnte zu einer Besiedlung in der Fläche und einem erschreckenden Landverschleiss in ehemals entlegenen, verkehrstechnisch mit einem Mal gut erschlossenen Gemeinden geführt hat, soll nun die Verdichtung bestehender Siedlungen einsetzen.[1]

Zur Verdichtung gehört auch, dass Bestehendes neu genutzt wird. Diese Entwicklung allerdings ist nicht neu: In der Schweiz wächst der Anteil der Umbauten an den ­gesamten Bauinvestitionen – innerhalb der letzten sechs Jahre ist er von ca. 28 % auf ca. 30 % oder rund 20 Mrd. Fr. gestiegen.[2] In diesem Heft zeigen wir drei realisierte Bauprojekte, die sich in ganz unterschiedlicher Weise mit dem Bestand auseinandersetzen: ein behutsam transformiertes «Castel» aus dem 14. Jahrhundert am Comersee, das flexibel nutzbare Ferienwohnungen enthält; eine Telefonzentrale, in der über technischen Anlagen nun auch Lofts und eine Wohnung Platz finden; und neue Mehr­fami­lienhäuser auf einem ehemaligen Industrieareal.

Gemeinsam ist den drei Projekten die architektonische Qualität und die Tatsache, dass es sich um Objekte in einem ­vergleichsweise hohen Preissegment handelt. Sie zeigen: Innere Verdichtung und Umnutzung münden nicht automatisch in Verzicht, sondern können im Gegenteil zu besonders begehrten Ergebnissen führen – zu Ferien in historischen Mauern, zu städ­tischen Wohnungen mit rekordträchtigen Raumhöhen oder zu räumlicher Vielfalt in einer Region, in der selbst bescheidene Unterkünfte sonst kaum erschwinglich sind.

Judit Solt


Anmerkungen:
[01] Vgl. TEC21 9/2013 und TEC21 19/2013 (Reihe «Dichte») und das Online-Dossier «Nach­haltigkeit planen» auf.
[02] Bundesamt für Statistik: Statistischer Atlas der Schweiz, www.bfs.admin.ch

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Erlenwäldlibrücke Nidau-Ipsach

10 MAGAZIN
Die Hülle bestimmt den Innenraum | Bücher

18 EIN WOHNTURM AM LARIO
Mercedes Daguerre
Am oberen Comersee sanierten Met Architekten aus Zürich mit viel ­Respekt einen jahrhundertealten Wohnturm und bauten edle Wohnungen ein.

22 NEUER ANSCHLUSS UNTER DIESER NUMMER
Jenny Keller
Der Telefonzentrale Zürich ­Wollishofen haben Rossetti   Wyss Architekten Lofts eingebaut und ein Dachgeschoss mit exquisitem Holzausbau aufgesetzt.

27 FLIESSENDE RÄUME IM ZUGER HINTERLAND
Marko Sauer
In Rotkreuz ZG realisierten ­Holzer Kobler Architekturen zwei energetisch teilautarke Mehrfamilienhäuser mit Mietwohnungen in gehobenem Standard.

33 SIA
Neues Berufsfeld: BIM-Koordinator | Stromverbrauch von Geräten | Einschreibungsstart SIA-Tage 2014

36 FIRMEN
Haworth | Bulthaup

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Ein Wohnturm am Lario

Im kleinen Ort Olgiasca am oberen Comersee hat das Zürcher Büro Met Architektur den historischen Wohnturm Castel Mirabel neu ausgebaut. Das stattliche Gebäude mit bewegter Vergangenheit war 1975 vom Architekten Otto Kober vor dem Zerfall gerettet und als Wohnstätte eingerichtet ­worden. Nach dem aktuellen Umbau beherbergen die sorgfältig instand ­gesetzten, teilweise über 500 Jahre alten Mauern zwei moderne, flexibel nutzbare und mit ortstypischen Materialien ausgestattete Wohnungen.

Als stummer Zeuge von Belagerungen und Seeschlachten, die die Geschichte der Ortschaften rund um den Comersee – in Italien Lario genannt – geprägt haben, wacht das im 14. Jahrhundert als massiver Turm im Zentrum von Olgiasca errichtete Castel Mirabel über die kleine Siedlung (Abb. 01). Auf dem höchsten Punkt des Felsvorsprungs der Halbinsel Piona gelegen, unweit der zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert erbauten Abtei, ist es eines der bedeutendsten Architekturbeispiele der lombardischen Romanik.[1]

Der Turm gehörte wegen seiner strategischen Lage zum Verteidigungssystem des Comersees. Dieses umfasste während der spanischen Vorherrschaft im 17. Jahrhundert auch die nahegelegene Festung Fuentes, eine Bastion an der Nordgrenze des Herzogtums Mailand gegen Franzosen, Bündner[2] und Österreicher, die Ende des 18. Jahrhunderts abgebrochen wurde.

Sicherer Turm in unsicheren Zeiten

Die heute rechteckige Feste war als Mittelpunkt der gesamten Siedlung wahrscheinlich auf den Ruinen eines älteren Castellum errichtet worden. Einige Quellen datieren das Castel Mirabel noch vor die Mitte des 16. Jahrhunderts. Seitdem beschützte es die Strassen ins Veltlin und ins Valchiavenna – wichtige Kommunikations- und Handelsrouten. Die Typologie der «Casaforte» – eines alten befestigten Herrensitzes, der sich überwiegend in der Zeit der unabhängigen Kommunen in Oberitalien zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert herausgebildet hat – umfasste neben der Wohnfunktion auch die eines Speichers, in dem der Grundherr die landwirtschaftlichen Erzeugnisse sicher aufbewahren konnte. Die intensive landwirtschaftliche Nutzung des Hügels von Olgiasca ist bereits für das 13. Jahrhundert nachgewiesen. In Verbindung mit den Stadtmauern umschloss das massive Gebäude ausserdem ein sicheres Rückzugsgebiet, zumindest für die adligen Familien des Dorfs.

Neues Leben für das Castel Mirabel

In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die einst blühende Region am oberen Comersee zunehmend ins Abseits der grossen Verkehrsströme. Die historische Bausubstanz wurde dem Zerfall überlassen – eine Entwicklung, von der auch das stolze Castel Mirabel nicht verschont blieb. Die Rettung kam aus den Bergen jenseits der nahen Grenze: Der St. Moritzer Architekt Otto Kober erwarb das vernachlässigte, nicht mehr bewohnte Gebäude und sanierte es 1975 zur erneuten Nutzung als Wohnstätte. Die massiven Aussenmauern und tragenden Mauern im Inneren blieben dabei, ebenso wie die Gewölbedecken im Erd- und Untergeschoss, mehrheitlich unverändert; das Dach musste hingegen ersetzt werden. Die bisher als Stall oder Lager genutzten überwölbten Räume im Untergeschoss wurden zu einem Wohnraum mit Küche aufgewertet, diejenigen im Erdgeschoss zu Schlafräumen. Der Zukauf des nordseitig angrenzenden unbebauten Grundstücks ermöglichte die Erweiterung der nutzbaren Aussenwohnfläche auf allen Ebenen. Eine weitere Intervention war der Durchbruch von Türöffnungen zu den aus der Südfassade vorspringenden SO-Zimmern der Wohngeschosse. Diese zwei Räume wiesen als Folge der früheren Eigentumsverhältnisse keine innere Verbindung mit den übrigen Räumen auf und waren miteinander durch eine eigene Treppe oder Leiter verbunden.[4] Wahrscheinlich bestand der ursprüngliche Schutzbau nur aus diesem zweigeschossigen Turm. Die beiden Räume werden deshalb auch nach dem aktuellen Umbau als Turmzimmer bezeichnet.

Individualität in der Verdichtung

Die diversen inneren und äusseren Verbindungen zwischen den Ebenen zeigen, dass Otto Kober das Castel Mirabel für die Nutzung als Einheit mit grosszügigem Platzangebot konzipiert hatte. Der aktuelle Umbau durch Met Architektur hingegen spiegelt den Trend zur Verdichtung und zur flexiblen Gestaltung der Wohnungsgrundrisse wider, unter Wahrung des ursprünglichen Charakters. Das Haus wird in zwei voneinander unabhängige Wohneinheiten verschiedener Grösse mit getrennten Eingängen und Gartensitzplätzen (Abb. 07) unterteilt, mit einem separaten Schaltzimmer (Abb. 03) mit Bad in der nordwestlichen Ecke. Der Gedanke der gemeinsamen Nutzung lebt im für alle Bewohner zugänglichen Untergeschoss mit Taverne (Abb. 06) und Wellnessbereich fort. Diese Einteilung ermöglicht die flexible Nutzung der Räume in verschiedenen Kombinationen zu allen Jahreszeiten.

Respektvolle Pflege lokaltypischer Bauformen

Die Ansiedlungen am westlichen, steil zum See hin abfallenden Hang des Monte Legnone haben bis heute einen bäuerlichen Charakter bewahrt. Ein Merkmal dieser ländlichen Architektur ist die nüchterne Volumetrie in grauem Stein, mit traditionellen Piode (Dachschindeln aus Schiefer) aus dem Valmalenco und gemauerten Treppen, die entlang der Aussenwände den Zutritt von den umliegenden Gassen ermöglichen.

Wegen der zahlreichen Feuchtigkeitsschäden musste die Gebäudehülle tiefgreifend saniert werden. Die Massnahmen umfassten hauptsächlich den Ersatz der erdberührten Bodenplatten durch belüftete Hohlböden, eine neue Heizung, den Ersatz der Fenster inklusive der Einfassungen und Läden, die Applikation eines inneren Isolierputzes und die Abdichtung, Isolation und Entwässerung des Dachs. Das Bruchsteinmauerwerk wurde äusserlich gereinigt und beschädigte Fugen wurden erneuert; aufgrund von denkmalpflegerischen und gestalterischen Überlegungen wurde jedoch auf die aus bauphysikalischer Sicht effizienteste Massnahme eines Aussenverputzes als Schutz gegen Wassereintritt verzichtet. Der kleine Dachvorsprung, unter dem sich die Dachrinne verbirgt, die Erhaltung des Mauerwerks aus braunen, oxidhaltigen Bruchsteinen oder die Schieferdeckung des neuen Dachs verstärken den turmartigen architektonischen Ausdruck des Gebäudes, das an Hospize in den Alpen erinnert. Die ursprüngliche Verteidigungsfunktion des Wohnturms erklärt die vergleichsweise geringe Grösse der vorhandenen Öffnungen, die nahezu unverändert belassen oder nur punktuell ergänzt wurden, sowie die spärliche Beleuchtung der Räumlichkeiten. Auf der Südseite wurden hingegen grössere Fenstertüren eingebaut, die den ehemals düsteren Räumen Licht und einen grosszügigen Ausblick auf den See gewähren. Die ortstypischen weissen Einfassungen akzentuieren die schlichten Öffnungen in der Granitfläche der Wand, die gegensätzliche Werte dieses beeindruckenden Gebäudes – Stärke und Zartheit – kennzeichnen.[3] Auch die verputzten Einfassungen und die einseitig angebrachten Fensterläden veredeln den Bau als Identitätskriterium urbaner Struktur.

Innen archaisch und raffiniert

Der Wohnturm lebt vom Spiel der Kontraste: Der archaische Charakter seiner Bruchsteinmauern trifft auf die Glätte des ortstypischen feinkörnigen Gipsputzes. Neue Küchen und Bäder passen den Standard an den aktuellen Bedarf an: Die Funktionsbereiche (mit Eichenholz verkleidete Ausstattung/Schränke) bilden in ihrer Leichtigkeit einen schönen Kontrast zum gewichtigen Aussenmauerwerk. Das Fehlen grossartiger Verzierungen oder kostbarer Schnörkel an den Aussenfassaden wird durch die sorgfältige Auswahl der Materialien ausgeglichen, durch die die edle Beschaffenheit der Innenräume betont werden soll (Zementfliesen mit Intarsiendekoration auf den Fussböden der Esszimmer, geöltes Eichenparkett in den Wohn- und Schlafzimmern). Auch die in verschiedenen Blautönen gehaltenen Badezimmerkacheln, das grosse Kamelien-Fresko von Heloisa Ackermann-Rodrigues und das von Madlaina Lys entworfen Mobile-Leuchtenobjekt aus Porzellanplättchen (Abb. 04) erzeugen eine warme und helle Atmosphäre im Haus. Dank der sorgfältigen Interventionen ist die Casaforte in Olgiasca ein auserwählter Ort geworden, an dem sich eine aussergewöhnliche Landschaft mit Freude (er)leben lässt.


Anmerkungen:
[01] Vgl. F. Farina, L’Abbazia di Piona gioiello del romanico lombardo, Edizioni dell’Abbazia di Piona 2001. Auch: C. Marcora. Il Priorato di Piona, Lecco 1972; C. Tosco, Architetti e committenti nel romanico lombardo, Rom, Viella 1997.
[02] Von 1450 bis 1797 bestand auf dem Gebiet des heutigen Kantons Graubünden der souveräne Freistaat der Drei Bünde (seit 1497 gleichberechtigter Zugewandter Ort der Schweizerischen Eidgenossenschaft). Dieser besetzte 1512 die südlich angrenzenden Untertanengebiete Veltlin, Worms (Bormio), Cleven (Chiavenna) und Drei Pleven. Die letztere Herrschaft am oberen Comersee, zu der auch Olgiasca gehörte, fiel jedoch bereits 1524 wieder an das Herzogtum Mailand zurück. In Conrad Ferdinand Meyers 1876 erschienenem historischem Roman «Jürg Jenatsch» ist die Gegend um den oberen Comersee mehrmals Schauplatz der während des Dreissigjährigen Kriegs (1618–1648) spielenden Handlung.
[03] A. Fumagalli, Architettura contadina in Valsassina, Val Varrone e Valassina, Silvana ed., Mailand 1982.
[04] Infolge Erbteilungen, Abwanderung etc. sind viele grosse, mehrgeschossige Wohnbauten im südlichen Alpenraum im Lauf der Zeit in isolierte, vertikal strukturierte «Wohntürme» mit eigenem Treppenhaus, meist noch unter einem gemeinsamen Dach, aufgeteilt worden.

TEC21, Fr., 2013.05.10

10. Mai 2013 Mercedes Daguerre

Neuer Anschluss unter dieser Nummer

Wo seit 1938 Tag und Nacht Relais ratterten, wird bald gepflegt gewohnt und kreativ gearbeitet. In Zürich Wollishofen haben Rossetti   Wyss Architekten die von der damaligen PTT erstellte Telefonzentrale in ein zeitgemässes Wohnhaus transformiert. Aus den hohen Techniksälen werden flexibel nutzbare Lofts, und ein neues, in vorgefertigter Holzelementbauweise ­erstelltes, von grosszügigen Terrassen umkränztes Dachgeschoss krönt den aussen zurückhaltend auftretenden Baukörper. Die alte Nutzung bleibt dabei erhalten; die neuen, digitalen Installationen finden trotz grösserer Leistung im Unter- und Erdgeschoss Platz.

Quartiere verändern sich. Davon bleibt auch Wollishofen, eine ruhige, gemächliche und sehr grüne Zürcher Wohngegend auf der linken Seeseite, nicht verschont. In der Kirche auf der Egg zum Beispiel, die auf einem grünen Hügel mit einmaligem Blick auf Stadt und See steht, bleiben schon länger die Kirchgänger aus; deshalb wurde im Sommer 2012 ein ­Ideenwettbewerb zur Umnutzung ausgeschrieben. Unweit der leeren Kirche, unten am Hügel an der Kalchbühlstrasse, steht die Telefonzentrale Wollishofen (Abb. 02). Auch dieses Gebäude war unternutzt, ehe es Rossetti   Wyss Architekten auf Ende 2012 umgebaut ­haben. Die damalige PTT erstellte die Telefonzentrale 1938, erweiterte sie 1952 und stockte sie 1965 auf. 2010 hat die Swisscom das Gebäude zwar veräussert, ist heute aber – mit ­einem Vertrag über 25 Jahre – immer noch Mieterin des Erd- und des Untergeschosses, wo die dank der technischen Entwicklungen redimensionierte Zentrale weiterhin ihren Platz hat.

Nathalie Rossetti und Mark Aurel Wyss haben den jetzigen Eigentümer der Liegenschaft begleitet, der schon länger auf der Suche nach einem geeigneten Umbauobjekt war. Mit der Telefonzentrale, die als Gewerbebaute ausgeschrieben war, wurden sie fündig. Nach dem Umbau bewohnt der Eigentümer heute das oberste Geschoss.

Innere Verdichtung

Das erste und das zweite Obergeschoss konnten nach dem Erwerb neu genutzt werden. Die Lücke in der Reihe der Wohnbauten wurde ausgefüllt und die Häuserzeile wieder adäquat vervollständigt. «Es war klar, dass wir die Flächen so gross wie möglich lassen und sie ­dabei nutzungsneutral ausformulieren wollten», erklärt Mark Aurel Wyss den ersten und entscheidenden Schritt des Entwurfs. Weiter sollte die Nutzung näher bei der Wohnzone W3 liegen. Deshalb sah man auch auf dem Dachgeschoss eine Wohnung vor. Die dafür nötige Aufstockung erforderte eine amtliche Bewilligung, die aufgrund der Besitzstandsgarantie gewährt wurde. Ist nämlich eine Bauparzelle nach der geltenden Ordnung rechtswidrig ­bebaut (als Folge der geänderten Bau- und Zonenordnung), dürfen bestehende Bauten, die den Vorschriften widersprechen, umgebaut oder erweitert werden, sofern dem keine ­öffentlichen oder nachbarlichen Interessen entgegenstehen. Der Bestand überschreitet die in der Zonenordnung vorgeschriebene Gebäudehöhe und steht dreiseitig im Grenzabstand. Mit der «inneren Verdichtung» haben die Architekten ohne zusätzlich überbautes Land in ­einem verkehrstechnisch gut erschlossenen Wohnquartier 650 Quadratmeter neuen Wohnraum geschaffen. Der Innenausbau der ersten beiden Geschosse – die heute als Loft kon­zipiert sind, in dem ­Arbeiten und Leben nebeneinander reichlich Platz finden – ist mit Blick auf einen weiteren Lebenszyklus geplant worden: Die technischen Installationen sind in der bestehenden Substanz untergebracht, sodass einer weiteren Umnutzung nichts im Weg steht. Wenn man lebt, wo man arbeitet, so die Überzeugung der Architekten, verringert sich nicht nur das Verkehrsaufkommen – auch das Leben bleibt in der Stadt.

Reduktion aufs Maximum

«Wir haben mit Zurückhaltung weitergebaut und uns dabei immer gefragt, wie tief wir eingreifen können», sagt Wyss weiter. Es handle sich um eine Erweiterung mit Substanz, nicht nur mit lauten Tönen. Die leisen Töne sind in den beiden Lofts besonders gut zu spüren, wo es keine einzige weisse Wand gibt. Stattdessen verleiht ein Farbkonzept pro Geschoss den hohen Räumen menschliche Dimensionen, die Koten der zurückhaltend bunt gestrichenen Wandabschnitte wurden nach den Masseinheiten von Le Corbusiers Modulor gesetzt. Ein farbiger Horizont in der Tiefe des Raums macht das Raumkontinuum greifbar und ­verleiht den grosszügigen Räumlichkeiten Wärme.

Auch im Innern haben die Architekten den Entwurf konsequent durchgezogen. Die Umbaumassnahmen wurden von innen nach aussen lesbar gemacht; erstes und zweites Geschoss, nun als Wohn- und Arbeitsräume definiert, werden durch gegenüber dem Erdgeschoss ­höhere Fensteröffnungen charakterisiert (Abb. 01). Zwei Balkone übereinander verleihen dem Haus auch fassadenseitig Wohncharakter.

Anspruchsvoller und flexibler Innenausbau

Die stützenfreien Lofts sind durch Einbauten in Leichtbauweise zoniert (und dadurch für ­Puristen keine «richtigen» Lofts mehr …). Drei Boxen, im Grundriss als Klammern mit ­übergrossen Drehtüren in der Dimension von 1.60 × 3 m ausgebildet (die, wenn sie ­offen stehen, die Fensterabfolge und den fliessenden Raum nicht unterbrechen), gliedern die beiden Lofts (Abb. 03–05). Als verbindendes Element wirken die jeweils duchgehend gegossenen Anhydritböden. Eine Zimmeranzahl zu nennen ist schwierig: Es könnten deren sieben sein, auch wenn nur zwei K(l)ammern abschliessbar sind. Aber genau um solche Definitionen kümmern sich Bewohner eines Lofts zum Glück nicht. Der unverbaute, grosse Raum, der durch diese Massnahme von Rossetti   Wyss Architekten unangetastet blieb und eine eindrückliche Wirkung ausstrahlt, steht im Vordergrund. Grundsätzlich werden die ­Räume privater und intimer, je weiter weg man sich vom Eingangsbereich befindet. Man ­betritt den Loft per Lift, der neu eingebaut worden ist, oder via Treppenhaus und gelangt zuerst in einen offenen Koch-, Ess, und Arbeitsbereich, der danach in immer kleinteiligere ­Strukturen übergeht. Von kleinteilig zu sprechen ist allerdings unverhältnismässig, handelt es sich hier doch um beinahe majestätische Räume mit einer Höhe von 3.80 respektive 3.60 m.

Neues Dachgeschoss mit Kranz

Die Grundfläche des aufgestockten Dachgeschosses ist zur Stadt gerichtet, doch wurden auch diese Etage und der aufgesetzte Körper bewusst dimensioniert und nicht einfach ein paar Meter von der Fassade zurückversetzt. Drei unterschiedliche Balkone krönen nun die Dachwohnung, und das Dachgeschoss wurde zu einem eigenen Bauteil, was durch die Konstruktion in Elementbauweise unterstrichen wird. Das Geländer zieht sich als Kranz um das ganze Haus, damit das aufgesetzte Dachgeschoss vom Bestand getrennt wird.

Hier wurde eine Sondergenehmigung gewährt, denn ein Geländer auf dem Attikageschoss darf eigentlich nicht fassadenbündig sein. Der vorfabrizierte Holzständerbau ist beplankt, innen mit Birkensperrholz, aussen mit elfenbeinfarben eingefärbten Eternitplatten. Es ging den Architekten bei der Wahl des Ständerbaus um die konstruktive Ehrlichkeit, denn der Ständerbau ist gefügt, lässt Bewegung zu und gibt nicht vor, etwas anderes zu sein. Städtebaulich ist das Dachgeschoss zur Stadt hin orientiert und blickt mit seinen «Augen» aus Glas in alle Himmelsrichtungen. Diagonale Sichtbezüge spielen eine grosse Rolle, der Blick in alle Richtungen ist fast von überall her möglich. Die Küche bildet das Herz und ist zugleich technische Zentrale der Wohnung, von wo aus Storen, Licht etc. über ein einziges Gerät bedient werden können. Eine Grundbeleuchtung wurde bereits im Korridor integriert, die gleichen Leuchten kommen auch auf den ­Balkonen zum Einsatz.

Eingebaute Türen und Schalter unterstreichen weiter das ­reduzierte Gesamtbild der obersten Wohnung, deren Anhydritboden – wie auch in den Stockwerken darunter – durchgehend gegossen wurde.

Die Schreinerarbeit wurde bis in kleinste Details geplant (Abb. 10 und 11). Die einzelnen Bauteile sind in die Innenlandschaften eingebettet. Gleichberechtigt neben der Erfüllung ­ihrer praktischen Funktion wurden auch hohe gestalterische Anforderungen umgesetzt.

Es entsteht eine ruhige Raumfolge aus einem Guss. Natürlich sind solche Arbeiten ­anspruchsvoll, und Mark Aurel Wyss unterstreicht seinen Anspruch auf hohe Qualität ganz trocken: «Schreinerarbeiten müssen dein Hobby sein, sonst lässt du es lieber bleiben.»

TEC21, Fr., 2013.05.10

10. Mai 2013 Jenny Keller

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