Editorial

In diesem Heft aus unserer Akustik-Reihe (die bisher erschienenen Artikel finden sich im Akustik-Dos­sier auf ) betrachten wir aus einem technischen Blickwinkel, was mit der Musik – und natürlich auch mit der gesprochenen Sprache – zwischen ihrer Entstehung im Instrument oder Kehlkopf der Interpreten und ihrer spä­teren Rezeption im Ohr der Hörer geschieht. Oder, wissenschaftlich und technisch betrachtet: Wie wird der Schall, dieses flüchtige physikalische Phänomen, aufgenommen («eingefangen»), aufbewahrt und später als ebenso flüchtiges physika­lisches Phänomen reproduziert («freigelassen»)?

Der heutige Alltag ist aus akustischer Sicht leider geprägt durch die Extreme der allgegenwärtigen flächendeckenden Berieselung, die wir kaum noch bewusst wahrnehmen, und des individuellen Mikrokosmos der iPods und Kopfhörer. In beiden Fällen wird durch die Musik kein realer räumlicher Eindruck vermittelt, die Wiedergabe ist auf die Tonfolgen beschränkt und blendet die räumlichen Komponenten aus.

Umso wichtiger ist für die seltenen Momente des bewussten Musikhörens der räum­liche Eindruck – der Klangraum, den die Musik aufspannt. Im Konzertsaal oder auch im Gespräch zwischen Menschen entsteht dieser Klangraum quasi von selbst, er lässt sich nicht wegdenken und nicht verhindern (ausser in bewusst schalltot gestalteten Kammern, in denen sich Menschen aber nicht wohlfühlen). Es ist jedoch möglich, ihn mit den Mitteln der Raumakustik und der Architektur zu gestalten und zu optimieren, wie dies schon in der Antike versucht wurde. Das akustische Erlebnis ist dabei allerdings an Zeit und Ort der Aufführung gebunden und nicht wiederholbar.

Dass Musik aufgenommen, gespeichert und jederzeit wieder abgerufen werden kann, darf als fundamentaler zivilisatorischer Fortschritt des Industriezeitalters gelten. Schon dass reproduzierte Musik wiedererkennbar ist, ist nicht selbstverständlich. Dass bei den technischen Prozessen der Aufnahme und Wiedergabe die räumliche Komponente nicht nur transportiert und bewahrt, sondern auch gestaltet, gar neu interpretiert wird, ist das Verdienst der modernen Tonmeisterei und Elektroakustik. Der Tonmeister Daniel Dettwiler führt in die Welt der Tonaufnahmen, in ihre Geschichte, ihre audiophilen Höhepunkte und ihre sowohl durch traditionelle als auch digitale Technologien bestimmte Zukunft ein.

Was mit Akribie aufgenommen wurde, wird mit Präzision wiedergegeben: Der Akustiker Martin Lachmann zeigt, wie durch das Zusammenwirken von konventioneller Elektrotechnik und digitaler Steuerung nicht «nur» reale Klangereignisse wiedererstehen, sondern neuartige virtuelle Klangräume real werden. Die hier eingeleitete Entwicklung dürfte weit über die bekannten Formen der akustischen Wiedergabe hinausführen.

Aldo Rota

Inhalt

05 WETTBEWERBE | PREISE
Jona Center Rapperswil-Jona

12 MAGAZIN
Neue Projektphase beim Westast Biel | «Nicht immer hintanstellen» | Vom Bannwald zum Schutzwald

20 KLANGRÄUME ERSCHAFFEN
Daniel Dettwiler
Die Kunst der Tonmeisterei ermöglicht heute Aufnahmen von Musik und Sprache, die auch den räumlichen Eindruck und den emotionalen Gehalt erfassen. Erstaunlicherweise lassen sich die besten Resultate aber immer noch mit über 50 Jahre alten Mikrofonen erzielen.

26 SCHALL UND ELEKTRONEN
Martin Lachmann
Bis in unsere Zeit beruht die Wiedergabe von Musik und Sprache auf dem bereits seit einem Jahrhundert be­kannten elektrodynamischen Prinzip. Digital ­angesteuert können klassische Lautspre-cher jedoch wahre Klangwunder erzeugen.

31 SIA
Revidierte Norm SIA 263 Stahlbau | Energiebedarf von Heizungsanlagen | Suffizienzpfad Energie

35 PRODUKTE
Knauf AMF | Ruckstuhl

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Klangräume erschaffen

Der Klang, der subjektive Eindruck von live gespielter Musik – und auch des live gesprochenen Worts – wird durch den Raum geprägt, in dem sie erzeugt und gehört wird. Das Raumerlebnis ist untrennbar mit dem Musikerlebnis verbunden. Heute wird mehrheitlich gespeicherte Musik genossen, in ganz anderer Umgebung als bei ihrer Erzeugung. Dass die räumliche Komponente der Musik dabei erhalten bleibt, ist die Leistung der Tonmeisterei. Sie geht dabei noch weiter: Wie die Architektur geometrische, visuell erfassbare Räume schafft, schafft die Kunst – oder Wissenschaft? – der Tonmeisterei auditiv erfassbare Klangräume. Tonmeister Daniel Dettwiler gibt eine Einführung in die Kunst der Tonaufnahme, von den mechanischen Anfängen über die goldene Epoche der Röhrenmikrofone bis zur heutigen Digitaltechnik.

«Die unaussprechliche Tiefe der Musik, so leicht zu verstehen und doch so unerklärlich, ist dem Umstand zu verdanken, dass sie alle Gefühle unseres innersten Wesens nachbildet …»[1] Diese Erkenntnis Arthur Schopenhauers (1788–1860) wurde mittlerweile von der Neuropsychologie bestätigt. Musik wird im Gehirn, anders als Sprache, zunächst dem limbischen System zugeführt, das unter anderem für die Verarbeitung von Emotionen zuständig ist. Bei der Übertragung und Speicherung von Musik mit technischen Mitteln muss deshalb ihre Fähigkeit, Emotionen zu evozieren, gewahrt bleiben. Musik ab Lautsprecher wirkt anders als im Konzert, in dem man die Interpreten unmittelbar live erlebt und vom Klang des Saals, von seinem Raumeindruck umhüllt ist. Die übertragene und gespeicherte Musik darf sich nicht auf die Reduktion des Konzerterlebnisses zu einem Tondokument beschränken. Sie muss diesem gegenüber einen künstlerischen Mehrwert aufweisen, für den der Tonmeister verantwortlich ist. Während langer Zeit galt der Genuss konservierter Musik auf Knopfdruck als unmöglich. In der Antike entstand der Mythos, dass der Schall so lange in Bleiröhren gespeichert werden konnte, bis der Deckel wieder geöffnet wurde[2], und noch im Mittelalter glaubte man, dass Töne sich gefrieren und später wieder auftauen lassen.[3]

Am Anfang war die Walze

Physikalisch ist Schall eine als Welle fortschreitende mechanische Deformation in einem Medium.[4] Um Musik aufzunehmen, müssen die dem statischen Luftdruck überlagerten Schalldruckänderungen im Medium Luft aufgezeichnet werden. Darüber wurde bereits im 18. und 19. Jahrhundert geforscht. Schwingungen konnten zu dieser Zeit zwar beschränkt aufgezeichnet, aber nicht wiedergegeben werden. Der Durchbruch gelang Thomas Alva Edison (1847–1931) im Jahr 1877 mit seinem Phonographen. Dieser Apparat gravierte die Schallsignale in eine auf einer langsam rotierenden Walze befestigte Zinnfolie. Dabei bewegte der Schall, nur durch einen Trichter verstärkt, eine Membran, die direkt auf eine Graviernadel aus Stahl einwirkte (mechanische Aufzeichnung, Abb. 01). Kurze Zeit darauf lösten Wachswalzen die Zinnfolien als Tonträger ab. Das Abspielen der gravierten Walzen erfolgte mit demselben System, aber mit einer feineren Stahlnadel (später mit einer Saphirnadel) und mit einem grösseren Trichter. Edisons Erfindung löste grosse Begeisterung aus, und mit den bespielten Walzen wurde ein reger Musikhandel betrieben.

Von «Kunst» in der Tonaufzeichnung konnte dabei allerdings noch nicht die Rede sein, ebenso wenig ging es um akustische Raumabbildung – letztlich waren die Zuhörer zufrieden, wenn sie alle Instrumente irgendwie hören konnten (Abb. 02). Das Vervielfältigen der Walzen war aufwendig, und mit jeder hergestellten Kopie ging eine klangliche Degradation einher. Die Schallplatte war die Lösung dieser Probleme. Schon Edison hatte daran gedacht[5], der Durchbruch gelang 1887 Emil Berliner (1851–1929) mit dem Grammophon. Das Kopieren der Schallplatten war einfacher, und die Degeneration von Kopie zu Kopie war gering. Die Schallenergie drückte nicht mehr wie bei der Walze eine Nadel senkrecht in das Trägermaterial (Tiefenschrift), sondern bewegte einen Stichel seitlich in einer vorgefertigten Rille (Seitenschrift). Dadurch konnte in der Folge die Klangqualität vor allem in Bezug auf die Dynamik und Verzerrungsarmut verbessert werden.

Mikrofone für den Wohlklang

Heutigen Vorstellungen entsprechender Wohlklang war mit der mechanischen Schallaufzeichnung prinzipbedingt nicht zu erreichen; zu klein war die Übersetzung der Schalldruckänderung auf die Membran, zu schwerfällig das ganze Membran-Stichel-System.

Erst eine weitere Innovation, das Mikrofon, ermöglichte eine befriedigende Musikaufnahme. Damit konnte der Schall zunächst in elektrische Schwingungen umgewandelt werden. Der Hauptvorteil ist dabei, dass die Membran eines Mikrofons viel dünner ist, da nun nicht mehr der Stichel direkt angetrieben werden musste. Bei guten Mikrofonen konnte (und kann) die Membran die Schallschwingungen exakt übernehmen und in elektrische Spannung umwandeln. Diese konnte durch Röhrentechnik einfach verstärkt werden, um den Stichel für das Gravieren der Platten elektromechanisch anzutreiben.[6]

Das wichtigste Mikrofonprinzip ist das Kondensatormikrofon. Auch hier wird zunächst eine Membran[7] durch die schallbedingten Luftdruckänderungen in Schwingung versetzt. Eine parallel dazu und in möglichst geringem Abstand angeordnete gleich grosse Metallplatte bildet zusammen mit der Membran einen Kondensator. Durch die Membranbewegung wird der Abstand zur Platte verändert und damit die Kondensatorkapazität, aus der das elektrische Signal abgeleitet wird.

Die Entwicklung dieser Instrumente gipfelte 1928 im legendären Neumann CMV3 (Abb. 03), das auch heute noch als herausragendes Mikrofon gilt. Sein Beiname «Hitlerflasche» geht darauf zurück, dass sich Hitler die neue Technik zunutze machte, um den emotional aufgeheizten Gehalt seiner Reden zu übermitteln.

Schliesslich wurde ab 1927 auch die Wiedergabe elektromechanisch. Die Bewegung der Nadel wurde im Tonabnehmer direkt in ein elektrisches Signal gewandelt, der Lautsprecher ersetzte den Trichter, und ein Verstärker (mit Röhrentechnologie) sorgte für eine ausreichende Schallleistung.

Die stereofonische Revolution

Von fundamentaler Bedeutung für die Klangkultur war der Schritt zu zwei Tonkanälen, von Mono zu Stereo. Bei der monofonen Aufzeichnung gibt es nur einen Tonkanal, und die Musik wird nur von einem Lautsprecher wiedergegeben. Bei zwei Lautsprechern erklingt die Mono-Wiedergabe punktförmig aus der sogenannten Phantom-Mitte. Phantom-Mitte deshalb, weil in der Mitte kein physischer Lautsprecher vorhanden ist, es bildet sich eine Phantomschallquelle. Da der Mensch aber zwei Ohren hat und es gewohnt ist, aus verschiedenen Richtungen zu hören, um Schallquellen lokalisieren zu können, lässt sich ein wirklicher Klangraum nur erzeugen, wenn die Musik stereo, also mit mindestens zwei Mikrofonen aufgezeichnet und über zwei Lautsprecher wiedergegeben wird (vgl. Kasten Seite 20). Der Durchbruch des Stereotons in der Musikindustrie ist wahrscheinlich dem Film(-Ton) zu verdanken. Der kreativ eingesetzte Stereoton bei Disneys «Fantasia» 1940 war der Auslöser dafür, dass Musikaufnahmen nun öfter in Stereo realisiert wurden.

Aus heutiger Sicht wirken die Panorama-Toneffekte[8] fast etwas belustigend, aber damals war der Klang dieser Produktion bahnbrechend.

Die Möglichkeit, Musik auf Magnetbändern zu speichern, war ebenfalls wichtig für die Entwicklung einer Klangkultur. Im Gegensatz zu Schallplatten konnte man Tonbänder schneiden und zusammensetzen, sodass ein Werk nicht mehr an einem Stück aufgenommen werden musste. Zudem wurde die Nachbearbeitung von Aufnahmen möglich, und erst perfekte Aufnahmen wurden auf Platten geschnitten. Die Bänder wurden im Lauf der Entwicklung mehrspurig – so konnten Instrumente separat aufgenommen und später zusammengemischt und mit Effekten versehen werden, was in der nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommenden Rock- und Popmusik rege praktiziert wurde. Die Digitalisierung ermöglichte schliesslich eine praktisch unbegrenzte Kanalzahl und Kopien ohne Qualitätsverlust.

Zwei Künstler: Richard Wagner und John Culshaw

In den 1960er-Jahren war die von 1958 bis 1965 eingespielte Komplettaufnahme von Richard Wagners «Ring des Nibelungen» der Plattenfirma Decca wegweisend für die Klangkultur und den Stereoton. Die Gedanken des Produzenten und künstlerischen Leiters John Culshaw (1924–1980) über das Wesen der Tonaufzeichnung sind heute noch aktuell. Culshaw erkannte, dass der Genuss von Musik zu Hause und am Konzert zwei unterschiedliche Kunstformen sind und beide gleichberechtigt nebeneinander existieren und sich ergänzen können. Ihm war klar, dass mit übertragener Musik nicht die Realität abgebildet werden kann und deshalb Musik für eine Tonaufnahme anders inszeniert werden muss als ein Konzert. Culshaw begriff die Tonaufzeichnung als Kunstform und nicht nur als Handwerk.

In der Folge wetteiferten die Plattenfirmen um grosse Produktionen, insbesondere Opern galten als Königsdisziplin. Die dafür zur Verfügung gestellten Mittel waren im Vergleich zu heute ebenso königlich. So konnte Culshaw mit dem Orchester so lange experimentieren, bis er die richtige Klangbalance auf den Lautsprechern hörte, erst dann wurde aufgenommen. Anders als heute üblich standen nur zwei, maximal vier Mikrofone zur Verfügung.

Das Klangbild vor diesen Mikrofonen musste daher in jeder Beziehung perfekt sein, eine nachträgliche Änderung bezüglich Räumlichkeitsabbildung, Klangfarbe oder Pegelverhältnissen der Instrumente war unmöglich. Gefiel das Klangbild des Saals nicht, wurde ein anderer gesucht; waren beispielsweise die Pauken zu leise, wurde für sie eine bessere Position im Raum gesucht. Auch die Solisten wurden so lange umplatziert, bis der Tonmeister mit der Klangbalance zufrieden war. Instrumente, die den Ansprüchen an die Klangqualität nicht genügten, wurden ausgewechselt.[9]

Die nahezu unbegrenzt zur Verfügung gestellten Ressourcen liessen grossartige Produktionen entstehen, die heute noch Massstäbe setzen und Bewunderung verdienen. Die in der Folge entwickelten grösseren Mischpulte ermöglichten es, mehrere Mikrofonsignale für eine Aufnahme zusammenzumischen. Das war eine grosse Erleichterung, denn nun liessen sich Raum, Instrumente und Solisten zusätzlich zum Gesamtorchester mikrofonieren. Einerseits beschleunigte das die Arbeit, und anderseits konnten mit mehreren Mikrofonen verschiedene klangliche Facetten wie Grösse, Tiefe, Breite, Raum, Intimität und Nähe aufgezeichnet werden. So hat die Plattenfirma Decca schon sehr früh drei statt zwei Hauptmikrofone über und nicht mehr hinter dem Dirigenten eingesetzt (der sogenannte «Decca Tree»), um etwas mehr Transparenz zu erreichen. Das mittlere Mikrofon ragte rund einen Meter in das Orchester hinein, wodurch die Blasinstrumente konkreter, aber immer noch räumlich korrekt abgebildet wurden. Um die Breite einzufangen, wurden zusätzlich sogenannte «Outriggers», je ein Mikrofon links und rechts ausserhalb der Hauptmikrofone, aufgestellt. Da die Hauptmikrofone näher am Orchester platziert waren, wurde der Raum separat mit zusätzlichen «Ambimikrofonen» aufgenommen, später kamen noch Stützmikrofone an spezifischen Positionen dazu. Diese Entwicklung hat gezeigt, dass mehrere kunstvoll eingesetzte Mikrofone einen Gewinn an Hörgenuss ergeben. Da heute die Anzahl sowohl der Mikrofone als auch der Aufnahmekanäle praktisch unbegrenzt ist (Abb. 04 und 05), müsste der Klang aktueller Aufnahmen noch schöner sein.

Kunst und Raum in der Tonaufzeichnung

Heutige Produktionen werden aber vom fachkundigen Publikum oft kritisiert. Ein Grund für die mittelmässige Qualität ist der allgemeine Kostendruck, der häufig mit Einsparungen beim technischen Aufwand abgefedert wird, aber auch, dass die Forschung am Klang stagniert. Zusätzlich hat die Anhäufung von verfügbaren Mikrofonen und Kanälen vergessen lassen, dass Musik in einem Raum spielt, ja von ihm geprägt wird und dass daher die Anordnung der Hauptmikrofone und deren Übertragungskette weiterhin von zentraler Bedeutung ist. Signale von Stützmikrofonen, auch wenn sie nachträglich verhallt werden, können schlecht platzierte Hauptmikrofone nicht kaschieren. Zwar können sie kleine Nuancen einfangen, die, kunstvoll dazugemischt, einen Gewinn an Klangfarbe bringen und helfen, dass die übertragene Musik intim und ergreifend bleibt. Aber nur perfekt aufgestellte Hauptmikrofone ergeben eine perfekte räumliche Abbildung. Allzu häufig schliesslich werden die Signale in Homestudios statt in professionell eingerichteten Regien mit hochwertiger Technik gemischt.

Das Ziel kann nicht eine möglichst realitätsnahe Aufnahme sein, denn das Liveerlebnis kann prinzipiell nicht ins Wohnzimmer transferiert werden – das Konzert wird nicht nochmals real werden. Auch die Fotografie bildet nicht einfach die Realität ab, sondern macht sie in einer Art und Weise sichtbar, wie man sie sonst nicht sehen würde. So spielt auch der Tonmeister durch die Wahl der Mikrofone, deren Platzierung und die Mischung ihrer Signale mit Unschärfe, Fokussierung und Tiefe und übt dadurch einen grösseren Einfluss auf das subjektive Empfinden der Musik aus, als allgemein angenommen wird (Abb. 05 und 06).

Es ist zudem unmöglich, Mikrofonpositionen oder Klangeinstellungen zu berechnen. Der Tonmeister ist auf sein speziell geschultes Gehör und die innere Vorstellung von einem Klangbild angewiesen. Der kreative Umgang mit den vielen technischen Möglichkeiten, die Orchestrierung von Klang und Räumlichkeit und das Zusammenfügen aller Facetten zu einem neuen Ganzen sind anspruchsvolle und vielschichtige Prozesse. Deshalb ist der Tonmeister ein Künstler, denn er bringt Aspekte in die Musik, die es im Konzert nicht gibt.

Eines der wichtigsten Gestaltungsmittel ist der Raum beziehungsweise wie und ob die Räumlichkeit einer Aufnahme übertragen wird oder gezielt anders gestaltet wird.

Der Tonmeister füllt den Klangraum, der sich hinter den Lautsprechern «verbirgt». Er ist quasi «virtuell» und daher nicht so einfach zu erschliessen. Wird er durch Mikrofonierung erschlossen, d. h. aufgenommen (mehrheitlich bei klassischer Musik), so hängt der Tiefeneindruck bei der Wiedergabe auch von der Qualität der Lautsprecher, ihrer Platzierung und der Akustik am Hörplatz ab. In der Rock- und Popmusik, bei der die Instrumente nah und oft nacheinander aufgenommen werden, wird man meist keine räumliche Abbildung durch Mikrofonierung erhalten – die Signale «kleben» zunächst förmlich an den Lautsprechern. Hier erzeugt der Tonmeister eine Tiefenstaffelung und Umhüllung, um einen virtuellen Raum zu schaffen. Ein Sonderfall und eine besondere Schwierigkeit ist der Jazz, bei dem die Räumlichkeit oft sowohl aufgenommen als auch künstlich erzeugt wird.

Beim Hören zu Hause kommt ein realer Raum, etwa in Form des Wohnzimmers, dazu, der sich mit dem virtuellen Raum vermischt. Der Tonmeister muss deshalb bei der Mischung abstrahieren, wie das Endergebnis beim Hörer zu Hause klingen könnte (vgl. Kasten Seite 24). Einsicht zum Klangraum

Leider begreifen sich heute viele Tonmeister nicht mehr als Künstler. Auch an den Hochschulen wird oft eher die technisch-handwerkliche Seite beleuchtet. So werden künstlerische Kriterien oft nur im Bereich der musikalischen Aufnahmeleitung, nicht jedoch im Bereich der Klangästhetik und der Klang-Raum-Gestaltung berücksichtigt. Die Kunst der Klangaufzeichnung ist aber mehr als ein technisches Handwerk; deshalb reichen Talent und Erfahrung für meisterhafte Aufnahmen nicht aus. Es braucht Intuition und Einsicht – ein Hineinsehen in ein Gebiet, in einen inneren «Raum». Aufgrund dieser tieferen Einsicht in die Materie werden Entscheidungen getroffen, deren Grund nicht aufs Erste ersichtlich ist. Es ist oft ein gefühltes Wissen, eine Gewissheit.

Der berühmte Dirigent und Violinist Yehudi Menuhin (1916–1999) beschrieb den inneren Raum, aus dem ein Künstler schöpft, sehr schön: «Wer Klang wirklich in seinen ganzen Dimensionen aufnehmen will, muss Stille erfahren haben. Stille als wirkliche Substanz, nicht als Abwesenheit eines Geräuschs. Diese echte Stille ist Klarheit, aber nie Farblosigkeit, ist Rhythmus, ist Fundament allen Denkens, darauf wächst alles Schöpferische von Wert. Alles, was lebt und dauert, entsteht aus dem Schweigen […]»[12] Ein begabter Tonmeister mit tief greifendem Verständnis der Materie wird die Musik so übertragen, dass beim Hören ab Lautsprecher die Emotionen angesprochen werden und ein Klangraum entsteht. Durch seine Kunst wird die der Musik innewohnende Magie weiter kultiviert und erhalten, wird ein Moment Zauber (auch im Alltag) eingefangen.


Anmerkungen:
[01] Oliver Sacks: Der einarmige Pianist – Über Musik und das Gehirn (Vorwort). Reinbek 2008.
[02] Giambattista della Porta (1535–1615): Magia Naturalis, 1589. Zitiert in: Hans Schubert: Historie der Schallaufzeichnung. Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main 1983/2002, S. 3.
[03] François Rabelais (1494–1553), ebd.
[04] Wikipedia, vgl. Michael Dickreiter et al.: Handbuch der Tonstudiotechnik, Band 1. München, New York, London, Oxford, Paris, 1997, S. 1.
[05] Ebd. (wie Anm. 2), S. 9.
[06] Die physikalischen Voraussetzungen dafür – die Maxwell’schen Gleichungen und das Induktionsgesetz – waren bereits bekannt.
[07] Durchschnittlich ca. 3 bis 5 μm starke metallbedampfte Kunststofffolie
[08] Bei der stereofonen Wiedergabe lässt sich ein Instrument zwischen den Lautsprechern auf der sogenannten Phantomlinie beliebig verteilen. Beim Soundtrack zu «Fantasia» wurde die Verteilung aber nicht wie heute üblich statisch gestaltet, sondern die Tonmeister liessen viele Instrumente von links nach rechts und wieder zurück wandern.
[09] Die grosse Bedeutung der damaligen Aufnahmen wird unterstrichen durch die Tatsache, dass die Wiener Polizei sämtliche Strassen vom Flughafen zum Aufnahmesaal gesperrt hatte, als die Maschine mit dem Dirigenten Sir Georg Solti (1912–1997) Verspätung hatte. Dieser wurde mit Blaulicht an der Landebahn abgeholt und auf schnellstem Weg, den Zoll übergehend, ins Aufnahmestudio eskortiert, um die teure und unverschiebbare Aufnahmesession zu retten. Vgl. John Culshaw: Ring Resounding – the Recording of «Der Ring des Nibelungen». London 1967, S. 77 ff. [10] ffton fachschule für tontechnik.
[11] TTS Tontechnikschule.
[12] Friedrich Nietzsche: Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment. In: Nietzsche-Forschung Band 13. Berlin 1999, S. 95.

TEC21, Fr., 2013.04.19

19. April 2013 Daniel Dettwiler

Schall und Elektronen

Seit einem Jahrhundert erfolgt die elektroakustische Schallwiedergabe nach demselben bewährten Prinzip. Die Gesetze der Akustik setzten der Beschallung realer Räume bisher aber enge Grenzen. Durch die Verknüpfung konventioneller Lautsprecher mit digitaler Ansteuerung ist die Elektroakustik heute in der Lage, Schall nach Wunsch auszurichten und zu konzentrieren oder Reflexionen zu erzeugen. Die Wellenfeldsynthese macht virtuelle Schallquellen ausserhalb eines Raums hörbar und lokalisierbar, was vollkommen neue Möglichkeiten für die akustische Raumgestaltung eröffnet.

Die Elektroakustik befasst sich mit der Aufnahme und Wiedergabe von Schall mithilfe von elektrischen Systemen. Sichtbare Komponenten dieser Technik sind Mikrofone und Lautsprecher. Sie sind die Schnittstellen zwischen der Welt der Akustik (vgl. TEC21 11/2012 «Hall und Aura»), in der sich der Schall meist in der Luft fortpflanzt, und der Welt der Elektrotechnik und der Elektronik, in der sich Elektronen in Leitern und Halbleitern bewegen.

Im Kontext der Architektur interessiert vor allem die Wiedergabeseite der Elektroakustik, die Lautsprecher- beziehungsweise Beschallungstechnik. Lautsprecherinstallationen begegnen uns in allen Lebensbereichen – vom Kleinlautsprecher im Mobiltelefon über die Durchsageanlage im Bahnhof bis zur Beschallungsanlage an einem Konzert oder in einer Klangkunstinstallation im Museum (Abb. 01).

Gleiches Prinzip wie vor hundert Jahren

Der grösste Teil der heute in der Beschallungstechnik verwendeten, mannigfaltig ausgebildeten Lautsprecher basiert immer noch auf dem «Urprinzip» des elektrodynamischen Lautsprechers, wie es vor über 100 Jahren zum Patent angemeldet wurde[1] (vgl. Kasten Seite 28). Zwar wurde die konstruktive Ausführung kontinuierlich verfeinert und kommen in grossem Umfang Hightech-Materialien zum Einsatz, was zu einer enormen Steigerung der Wiedergabequalität geführt hat – die grundsätzlichen Bauelemente, ihre Funktion und Wirkungsweise sind aber praktisch unverändert geblieben. Die Signalkette von Geräten zwischen Mikrofon und Lautsprecher ist heute weitgehend digitalisiert und unterscheidet sich grundsätzlich von der noch vor kurzer Zeit gebräuchlichen Analogtechnik. Mikrofone und Lautsprecher selbst basieren hingegen immer noch auf denselben Prinzipien wie zur Zeit ihrer ersten praktischen Anwendungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Kasten S. 22 und Abb. 03, S. 21). Die Herstellung von qualitativ hochwertigen Lautsprechern und Mikrofonen ist nach wie vor sehr aufwendig, gute Produkte sind entsprechend teuer.

Die technischen Grundlagen der modernen Beschallungstechnik wurden, getrieben auch von den Anforderungen des weltweiten Wettrüstens, während des Ersten Weltkriegs gelegt. Bereits 1919 sprach der amerikanische Präsident Woodrow Wilson in einem Stadion in San Diego mithilfe einer elektroakustischen Beschallungsanlage zu über 50 000 Personen. In den 1920er- und 1930er-Jahren war dann Deutschland in der physikalischen Forschung und Entwicklung weltweit führend, und wieder löste die militärische Aufrüstung einen ungeahnten Aufschwung der noch jungen Elektroakustik aus. Von enormen Grossbeschallungsanlagen für Parteiaufmärsche (Abb. 02) bis hin zum «Volksempfänger»-Radio in allen deutschen Haushalten setzte das NS-Regime (und in Italien die Faschisten) die Elektroakustik zur Verbreitung von Propaganda ein.

Die weitere Entwicklung der Qualität von Lautsprechersystemen ist bis heute asymptotisch verlaufen; nach einer rasanten Steigerung in der ersten Zeit stieg die Wiedergabequalität nur noch langsam an. Bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren existierten Lautsprechersysteme mit einer Klangqualität, die mit derjenigen von heutigen Systemen vergleichbar ist.

Digital angesteuerte Zeilenlautsprecher

Die bestehenden Technologien in der Beschallungstechnik werden beständig weiterentwickelt, grundsätzlich neue Entwicklungen gibt es aber kaum. Manchmal erleben seit langer Zeit bekannte Prinzipien wie etwa die gegenwärtig verbreiteten Zeilenlautsprecher ein Revival. Ihr Prinzip ist schon aus den Anfangsjahren der Elektroakustik bekannt: Mehrere identische Lautsprecher werden in linearer Anordnung übereinander montiert, um so die Schallverteilung durch Interferenz gezielt zu beeinflussen. In der Regel wird dabei eine breite horizontale und eine schmale vertikale Schallabstrahlung angestrebt. Während vieler Jahre wurden nach diesem Prinzip aufgebaute Lautsprechersysteme fast nur für Sprachbeschallungen, etwa in Kirchen oder Hörsälen, eingesetzt.

Die Kombination der traditionellen Lautsprechertechnik mit digitaler Ansteuerung hat in den letzten Jahren ein grosses Comeback der Zeilenlautsprechersysteme ausgelöst. Die digitale Ansteuerung ermöglicht beispielsweise die Kontrolle des Abstrahlverhaltens des Lautsprechers durch definierte Interferenzen (Beamforming). Statt mechanisch kann ein derartiger Lautsprecher dadurch auch elektronisch im Raum ausgerichtet werden (Abb. 04). Die perfekte Sprachverständlichkeit der Durchsagen in den akustisch problematischen Hallen im Gare du Nord in Paris oder im kürzlich umgebauten Bahnhof King’s Cross in London demonstrieren, wie effektiv moderne Zeilenstrahler den Schall genau in die gewünschte Richtung schicken können. Eine andere Form von Zeilenlautsprechern sind die heute bei Livekonzerten oft anzutreffenden Line Arrays («Lautsprecherbananen»). Die Grundidee ist auch hier eine gezielte Optimierung der Schallabstrahlung in horizontaler und vertikaler Richtung und damit einhergehend eine Erhöhung der Reichweite des Lautsprechersystems.

Nicht nur Akustiker (vgl. TEC21, Nr. 11/2012, Kasten S. 22), auch qualifizierte Elektroakustikplaner sind selten. Deshalb werden Anlagen aus Unerfahrenheit oft zu komplex ausgelegt, was für Kunden und Anwender problematisch ist. Zu komplexe Anlagen sind oft schwer zu bedienen und zu warten, sie neigen wegen der vielen Komponenten zu erhöhter Fehleranfälligkeit, und die unvermeidlichen individuellen Schwächen der einzelnen Komponenten summieren sich überproportional und verringern so die Gesamtqualität des Systems.

Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass oft einfache (nicht unbedingt preisgünstige) elektroakustische Systeme die beste Klangqualität produzieren.

Wellenfeldsynthese und Raumklang

Aktuelle Entwicklungen und Trends in der Elektroakustik zeichnen sich im Bereich der Systemintegration und bei der digitalen Steuerung von einzelnen Komponenten und ganzen Systemen ab. Die Kombination konventioneller Lautsprechersysteme mit einer digitalen Ansteuerung eröffnet viele neue Möglichkeiten.

Neben dem erwähnten Beamforming, der Steuerung der Abstrahlcharakteristik von Lautsprechersystemen, ist der Raumklang ein wichtiger Trend in der elektroakustischen Forschung. Dabei wird ein virtuelles und im Idealfall dreidimensionales Schallfeld für die Zuhörer erzeugt. Eine technisch relativ einfache Umsetzung dieser Idee ist seit vielen Jahren aus dem (Heim-)Kinobereich bekannt, wo verschiedene «Surround Sound»-Systeme gebräuchlich sind. Diese versuchen mit verteilt aufgestellten Lautsprechern, die von einzelnen Tonspuren versorgt werden, den Zuhörern eine künstliche Raumatmosphäre – zumindest in der horizontalen Ebene – zu vermitteln. Die Resultate können unter günstigen Umständen durchaus ansprechend sein. Eine Schwäche dieser Technologie liegt darin, dass der virtuelle Raumeindruck und die räumliche Ortung der virtuellen Schallquellen immer von der Position der Zuhörer abhängig sind. In einem Kino erleben die Zuhörer den korrekten, vom Tonmeister gewünschten Raumklang nur, wenn sie auf der Mittelachse des Raums und in 2∕3 der Saaltiefe sitzen.

Die Wellenfeldsynthese als eine Art «akustische Holografie» konstruiert das Schallfeld so, wie es sich um eine reale Schallquelle herum ausbilden würde. Basierend auf der Erkenntnis des niederländischen Mathematikers und Physikers Christiaan Huygens (1629–1695), dass sich jede Wellenfront aus Elementarwellen konstruieren lässt, hat Prof. J. A. Berkout an der TU Delft Ende der 1980er-Jahre die Wellenfeldsynthese und ein dazugehöriges elektroakustisches Wiedergabesystem entwickelt (Abb. 05). Bei dieser Technologie ist die räumliche Ortung virtueller Schallquellen nicht mehr positionsabhängig. Man kann somit um eine virtuelle Schallquelle im Raum herumgehen, ohne dass sich deren gehörte Position verändert. Der Nachteil der Wellenfeldsynthese ist die grosse Anzahl der benötigten Lautsprecher. Die «akustische Holografie» erfordert ein kontinuierliches Array von nah beieinander liegenden Lautsprechern. Forscher und Ingenieure entwickeln gegenwärtig Alternativen zur Wellenfeldsynthese. Dabei soll mithilfe komplexer digitaler Signalbearbeitungsalgorithmen und mit relativ wenigen Lautsprechern ein möglichst von der Hörposition unabhängiges räumliches Schallfeld erzeugt werden.[2] Neben den kommerziellen Anwendungen ist die Erzeugung von Raumklang mit elektroakustischen Mitteln ein zentrales Thema in der elektroakustischen Musik und in der Klangkunst. Schon vor Xenakis (vgl. TEC21 20/2012 «Reflexion und Stimmung») haben sich einzelne Komponisten dieses Themas angenommen – das Interesse daran ist auch heute ungebrochen.[3] Oft ergeben sich daraus interessante Synergien zwischen Kunst und Industrie.

An der Schnittstelle zwischen kommerziellen und künstlerischen Anwendungen der Elektroakustik liegt das Feld der multimedialen Präsentationen, beispielsweise im Museumsbereich. Hier kommt der Elektroakustik oft die Aufgabe zu, die räumlich-visuellen Eindrücke mit räumlich-akustischen Eindrücken zu ergänzen und/oder zu verstärken – auch in diesem Bereich ist der «Raumklang» ein zentrales Thema.

Mit Antischall gegen Lärm

In Zukunft wird sich die Elektroakustik, etwas ironischerweise, eher mit der Vernichtung von Schall als mit dessen Erzeugung befassen. Unter «Antischall» wird meist die Auslöschung von störendem Schall durch gezielt eingesetzten «negativ gepolten» Schall zusammengefasst. Störender Schall kann unhörbar gemacht werden, indem am Standort des Zuhörers mit einem Lautsprecher ein Schallsignal erzeugt wird, das die gleichen physikalischen Eigenschaften (Lautstärke, Frequenzspektrum) hat wie dasjenige, das ausgelöscht werden soll, aber die umgekehrte Polarität aufweist – d. h. um 180° phasenverschoben ist (destruktive Interferenz). Das Erzeugen eines derartigen «spiegelbildlichen» Schallsignals ist anspruchsvoll. In der Praxis gelingt es relativ gut, wenn sich die zuhörende Person mit dem den Antischall erzeugenden elektroakustischen System in einer definierten und unveränderlichen akustischen/räumlichen Umgebung befindet. Diese Situation besteht etwa bei einem Kopfhörer. Bei den seit einigen Jahren auf dem Markt erhältlichen «Noise Cancelling Headphones» befinden sich aussen am Hörer Mikrofone, die den störenden Schall aufnehmen. Dieser wird durch eine Elektronik im Hörer «umgepolt» und über die Kopfhörermembranen abgestrahlt. So löschen sich am Ohr des Zuhörers der direkt einfallende Störschall und der durch den Kopfhörer erzeugte «Antischall» praktisch vollständig aus.

Das theoretische Prinzip des Antischalls funktioniert im Fall von «Noise Cancelling»-Kopfhörern, weil sich die räumlichen Bezüge zwischen dem Ohr des Zuhörers und der den Antischall erzeugenden Schallquelle nicht ändern und weil die Abtastung des Störschalls praktisch am gleichen Ort erfolgt wie dessen Auslöschung. Mit fest installierten Mikrofonen und Lautsprechern störenden Lärm in einem Raum zu eliminieren, in dem sich mehrere Personen an verschiedenen, wechselnden Positionen befinden, ist hingegen ein fast unlösbares Problem. Das Antischallfeld kann prinzipiell nur für einen bestimmten Punkt im Raum erzeugt werden – im besten Fall würde eine einzige Person an einem fixierten Platz von der Lärmreduktion profitieren. Für Räume, in denen sich Personen relativ unbeweglich aufhalten, wie beispielsweise Fahrerkabinen von Baumaschinen, sind Antischall-Systeme denkbar und teilweise auch kommerziell erhältlich.

Grenzen der Elektroakustik

Eine grundlegende Grenze der Elektroakustik wird von den existierenden Beschallungsanlagen in realen Umgebungen mit real existierender Akustik gesetzt. Das vom Lautsprecher abgestrahlte Schallsignal gelangt nicht direkt ans Ohr des Zuhörers, sondern wird zuerst durch die Akustik der Umgebung (Reflexionen, Nachhall etc.) verändert. Grundsätzlich bedeutet dies immer eine Verschlechterung der ursprünglichen Signalqualität. Bei ungünstigen akustischen Verhältnissen kommt die vom Lautsprecher abgestrahlte Information nicht mehr verständlich beim Zuhörer an. Auch eine schlechte (Raum-)Akustik kann mit den heutigen elektroakustischen Systemen nicht korrigiert werden. Einen Raum von zu langem Nachhall zu befreien ist, ähnlich wie beim oben erwähnten Antischall, in der Praxis eine fast unlösbare Aufgabe.

Als Alternativen zum klassischen elektrodynamischen Lautsprecher existieren gegenwärtig verschiedene technische Konzepte für digitale Lautsprecher, die digitale Audiosignale direkt in hörbare (analoge) Schallsignale umsetzen. Die praktische Realisierung und der serienmässige Einsatz solcher Systeme stehen aber noch vor grossen Herausforderungen.


Anmerkungen:
[01] Am 27. 4. 1898 meldet der britische Physiker Sir Oliver Lodge ein Patent über einen elektrodynamischen Lautsprecher an, der als Urtyp aller nachfolgenden dynamischen Lautsprecher angesehen werden kann.
[02] Sowohl im Bereich der Wellenfeldsynthese wie auch der erwähnten alternativen Technologien zur räumlichen Wiedergabe nimmt die Schweiz in der Forschung und Entwicklung international eine Spitzenposition ein. Technologiefirmen wie Sonic Emotion oder Illusonic sind führende Unternehmen in diesem Bereich. Ausserdem forscht unter anderen auch die ZHdK in Zürich intensiv im Bereich Raumklang.
[03] Die raumakustischen Projekte des Basler Komponisten Beat Gysin werden in TEC21 33-34/2013 vorgestellt.

TEC21, Fr., 2013.04.19

19. April 2013 Martin Lachmann

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