Editorial

Die Abbildung des Modells für das Klanghaus Toggenburg im ersten Heft unserer Akustik-Reihe (TEC21 11 / 2012, S. 21) hat einen Leser an das «Musikzimmer»[1] im Palast Ali Qãpu (Hohe Pforte) auf dem Meidãn-e Emãm (Platz des Imams) in Isfahan erinnert. Der Raum in der Ende des 16. Jahrhunderts errichteten Anlage zeichnet sich durch eine kunstvolle Stuckornamentik aus: Wand und Decke wurde eine Verschalung aus Gips «vorgehängt», in welche die Konturen von Gefässen verschiedenster Form und Grösse wie Schattenrisse eingeschnitten wurden. Die Tiefenstaffelung bewirkt eine Echowirkung, von der Reisende immer wieder fasziniert sind. Das Echo war auch das erste akustische Phänomen, dem man in der Geschichte der Musik experimentell auf die Spur zu kommen versuchte – nachdem man sich während Jahrhunderten vor allem mit harmonikalen Proportionen beschäftigt hatte. In der abendländischen Hemisphäre waren Athanasius Kircher und Joseph Haydn Pioniere der Echo-Komposition. Der Elektroakustiker Jürgen Strauss, der Räume für Musik akustisch plant, hat die Werke des Universalgelehrten und des Komponisten ausgelotet, die umgekehrt Musik für Räume schufen.

Experimentell geht auch der Dirigent Peter Appenzeller vor, um die optimale Platzierung seines Chors und allenfalls eines Orchesters in unterschiedlichen Räumen zu eruieren. Appenzeller erobert sich den jeweiligen Raum auditiv, indem er ihn durchwandert – so als bewegte er sich in einer Violine, «unter dem Steg, um den Stimmstock herum». Er hat auf diese Weise ein Sensorium dafür entwickelt, welche Musik-literatur für welche Räume geeignet ist.

Ähnlich wurde über Marcel Meilis und Markus Peters Klanghaus-Projekt geschrieben, sie hätten das Thema eines begehbaren Instruments aufgegriffen. «Man kann bei der Idee von Meili Peter den Raum stimmen wie ein Instrument», beschrieb Peter Roth, der Initiant der Klangwelt Toggenburg, das Projekt.[2] Doch anders als bei den Werken, die Appenzeller aufführt, haben es die Architekten dort offenbar mit Klängen – verschiedenen Formen der Volksmusik – zu tun, deren Instrumente «auf jenen Raum, jenes Publikum und jene Stimmung reagieren, wo die Musik entsteht».[3]

Rahel Hartmann Schweizer


Anmerkungen:
[01] Abb. z.B. auf http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Iran_Isfahan_Ali.Qapu_Music_Room_02.jpg&filetimestamp=20060413212935
[02] Roland Merz, Vermittler zwischen Klang und Natur, baublatt, www.baublatt.ch/news/hintergrund/vermittler-zwischen-klang-und-natur
[03] ebd.

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Neuer Chorraum, St. Ursen in Solothurn | Umnutzung alte Reithalle, Aarau | Schweizer Botschaft in Kamerun

12 PERSÖNLICH
Leserbrief | Kurzmeldungen

14 MAGAZIN
Bogotá: Stadt in der Stadt | Gutachten dritte Rhonekorrektion | Kubus oder Kuppel | Schatten konstruieren

20 ECHO ALS AKUSTISCHES SPIEGELBILD
Rahel Hartmann Schweizer
In der Raumakustik werden Räume so geplant, dass sie ein Sinfonieorchester, eine Jazzband oder einen Sprechvortrag optimal hörbar machen. Die Geschichte der Bauwerke für Musik zeigt das Umgekehrte: ­Musik wurde zunächst für vorgefundene Räume komponiert.

27 SINGE UND HÖREN IM ZWISCHENRAUM
Peter Appenzeller
Musikalisch-akustische und architektonische Elemente beeinflussen den Chorklang. Die Raumakustik wird durch das ­Zusammenwirken verschiedener Raumgeometrien wie Apsis und Vierung bestimmt.
Es geht darum, die klanglich optimalen Zwischenräume zu finden.

31 SIA
Der SIA zur Energiestrategie | «Die Zeit ist reif für einen Wandel» | Geosummit 2012

34 WEITERBILDUNG

35 FIRMEN

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Echo als akustisches Spiegelbild

In der Raumakustik geht es darum, Räume physikalisch-technisch so zu planen, dass sie dem darin erzeugten Schall eine akustische Raumantwort verschaffen, die ein Sinfonieorchester, eine Jazzband, einen Sprechvortrag oder einen Filmsoundtrack optimal hörbar macht. Die Geschichte der Bauwerke für Musik und Sprache zeigt zunächst den umgekehrten Fall: Musik wurde für vorgefundene Räume komponiert. Jürgen Strauss hat sich mit dem Thema intensiv beschäftigt und dabei zwei Pioniere ausgemacht: Athanasius Kircher und Joseph Haydn. Der Universalgelehrte und der Komponist haben mit Echo-Partituren die Akustik in ihre Stücke hineinkomponiert. Ein Gespräch über Musik für Räume und Räume für Musik und über die Opposition von harmonikalem Denken und akustischer Gestaltung.

TEC21: Das rote Tuch für die Akustiker, so haben wir bei unseren Recherchen für die Akustik-Reihe festgestellt, ist Adolf Loos’ Text ‹Das Mysterium der Akustik›, wo es unter anderem heisst, dass sich schöne Musik in die Wände einprägt und sie akustisch verbessert. Loos schrieb sinngemäss dem Material die Fähigkeit zu, Klang zu ‹speichern›.[1] Das ist physikalisch wohl Nonsens, aber poetisch, schön und irgendwie auch stimmig.

Jürgen Strauss: Das sind zwei wichtige Stichworte harmonikaler Vorstellungen: schön und stimmig. Damit haben Sie Ausdrücke gebraucht, die ins Zentrum akustischer und visueller Mysterien verweisen. Grundlegend für das harmonikale Denken in der europäischen Kulturgeschichte sind die vorsokratischen Kosmologien und Ontologien, etwa von den griechischen Philosophen Heraklit und Parmenides, für unseren Zusammenhang ist es aber vor allem Pythagoras und seine Gefolgschaft, die eine esoterische (Geheim-)Lehre von der Verfasstheit des Kosmos und des Seins vertreten und die durch Platons ‹Timaios›[2] auf uns gekommen ist (Abb. 1). Darin legt er die Grundlage für das, was wir heute mit dem Begriff des harmonikalen Denkens beschreiben, eine spezifisch ausgeprägte Metaphysik, die sich wesentlich an dem Phänomen der Wahrnehmung der Konsonanz orientiert. Ausgangspunkt ist das Hörphänomen, dass eine Saite, die im Verhältnis 1:1 geteilt wird, exakt die Oktave zur ungeteilten Seite und damit zum Grundton erklingen lässt und dass wir dieses Zusammenspiel als wohlgeformten Klang wahrnehmen – wobei Wohlklang nur ein anderes Wort für schön, stimmig oder eben harmonisch ist. Basierend auf dieser auditiven Wahrnehmung, verknüpft mit dem visuellen Eindruck der geometrischen Teilung in zwei Hälften, verbunden mit der arithmetischen Darstellung in Brüchen ganzer Zahlen, resultierte eine Vorstellungswelt, in der der gesamte Kosmos durch Proportionen wohlgeordnet erscheint. Jetzt kann man das Idealbild zusammenfassen – daher habe ich vorhin auf das Stichwort ‹schön› reagiert: Im schönen Kosmos schwimmt die schöne Erde, auf der schöne Menschen in schönen Häusern leben, die schöne Musik hören und schöne Literatur lesen. Bis in die Neuzeit, ja bis in unsere Gegenwart ist diese metaphysische Ästhetik als Theorie des Schönen virulent.

TEC21: Inwiefern wirken sich diese Vorstellungen auf das Verhältnis zwischen Raum und Klang aus? Denn diese proportionalen Phänomene bringen einen Raum ja noch nicht zum Klingen – das ist eher die sprichwörtliche ‹erstarrte Musik›.

J.S.: Genau, das harmonikale Denken ist für die akustische Gestaltung des Raum-Musik- bzw. des Architektur-Akustik-Verhältnisses praktisch bedeutungslos. Das ist aber auch nicht intendiert, denn die Schönheitsvorstellung zielt auf ein innerweltlich unhörbares Ideal. Musik, d.h. die tatsächlich gespielte, aufgeführte Musik, ist für die katholische Theologie und Liturgie ein untergeordnetes Ereignis seit Anicius Manlius Severinus Boethius, der spätantike Gelehrte und Politiker im 5. Jh. sinngemäss festgestellt hat, dass die affektiven Wirkungen von Musik zwiespältig ausfallen: man kann nicht sicher sein, ob die Musik nur klangsinnlich genossen wird, oder ob sie zur theologisch wertvollen Erbauung und Erhöhung der Seele beiträgt. Die erste Rückversicherung gegen die klangsinnlichen Versuchungen der Musik (Hörlust/Schaulust) bildet die Rückbindung an verstehbare Sprache und damit an den Logos – das Musikprogramm der Kirchenmusik des Mittelalters wurde daher wesentlich in den alttestamentarischen Psalmen und deren Vertonung verankert.

TEC21: Und deshalb gelang es Palestrina – so man sich an die Legende hält –, die polyphone Kirchenmusik auf dem Konzil von Trient (1545–1563) zu retten, indem er den Papst mit seiner sechsstimmigen, ‹in höchstem Grade textverständlichen› Missa Papae Marcelli[3] von ihrem Potenzial überzeugte, einen angenehmen Höreindruck zu hinterlassen und gleichzeitig der Erhebung zuträglich zu sein?

J.S.: Ja, denn solange das göttlich inspirierte Wort der heiligen Schrift in der Musik deutlich vernehmbar bleibt, können die Gefährdungen/Versuchungen des Klangsinnlichen nicht dominant werden. Und mehr noch: Die zweite Abwehrlinie der Theologie gegen die zweifelhaften, skeptisch zu betrachtenden Angebote des Klangsinnlichen ist die harmonikale Musiktheorie, die einen einheitlichen, wohlgeformten Schöpfungsplan durch Notation einsehbar werden lässt: Seit Pythagoras ist Musik nicht mehr nur oder gar ausschliesslich aufgeführte, hörbare Musik, sondern auch unhörbare, arithmetisch darstellbare Sphärenharmonie und damit Theorie der Weltordnung (Abb. 8). Diese griechisch-heidnischen Vorstellungen fanden durch die alttestamentarischen Weisheiten König Salomos – Gott hat die Welt nach Mass, Zahl und Gewicht geordnet; Salomons Tempel als Ideal harmonikaler Bauproportion – Einlass in die christliche Lebenswelt und wurden als lateinisch-christliche Konzepte der Harmonia mundi, etwa bei Johannes Kepler, tradiert (inneres Titelbild). Diese ist geboren aus der einen Schöpfervernunft, die in sich perfekt ist. Denn der Schöpfergott hat nicht chaotisch gewürfelt, sondern aus einem Guss, mit einer Vernunft, mit einem Plan diese Welt hervorgebracht – das wird theologisch verteidigt. Robert Fludds’ Bild von Gottes Hand, die aus einer himmlischen Wolke an die Schnecke des ‹Welt-Kontrabasses›[4] greift, an ihr schraubt und so die Welt stimmt, zeigt diesen Zusammenhang in einer neuzeitlichen Form (Abb. 2).

TEC21: Auf der Sphärenharmonie basiert dann ja auch die Venezianische Mehrchörigkeit, die sich ab 1430 etabliert, um den Raum mit Klang zu füllen – eine Art Vorläufer von Athanasius Kirchers[5] Echo-Experimenten oder nehmen sie diese gar vorweg?

J.S.: Nun, im Gegensatz zu den getrennt aufgestellten Chören, den Cori Spezzati, die – über sphärenharmonische Motive vermittelt – lediglich die Richtungen einfallenden Schalls gestalten, rückt Kircher bis zu einem gewissen Grad vom harmonikalen Imperativ ab. Die Echo-Experimente basieren auf hörbaren Phänomenen, nicht auf arithmetisch geprägten theoretischen Modellen. Seine hörbaren Klangpotenziale des Echoeffektes kontrastieren zu den theologisch-harmonikal inspirierten Kompositionen, deren wohlgeordnete Harmonien man hörend längst nicht immer nachvollziehen kann. Kircher ist den harmonikalen Traditionen weitgehend verpflichtet, aber eben nicht ausschliesslich. Er beginnt, den tatsächlichen Raum der Aufführungsstätte bzw. deren akustische Raumantwort in die Konzeption seiner musikalischen Klangvorstellungen zu integrieren.

TEC21: Was veranlasste ihn zu diesen Experimenten, was war ihr Auslöser?

J.S.: Es gibt für Kirchers Interesse an Echo verschiedene Ansatzpunkte: Er hat vor den Stadtmauern Avignons den Effekt eines Mehrfachechos bemerkt und dann Hörexperimente veranstaltet, und er hat Vitruv gelesen, sich mit der antiken Akustiktheorie zur Echobildung vertraut gemacht. Zudem ist er der literarisch-mythologischen Spur von Narziss und Echo gefolgt. Ovid kennt man im 17. Jh. aus dem Lateinunterricht, und sobald Opern eine Rolle spielen, sind Ovids ‹Metamorphosen› eine der wichtigsten Quellen für Libretti. Die antike Stoffwelt interessiert, weil sie Liebesmotive in einer bukolischen Welt um den Gott Pan, die Satyren und Nymphen ansiedelt. Es sind Naturszenarien, die entweder lustvoll oder gefährlich sind, das heisst sich zwischen locus amoenus und locus horribilis abspielen, den beiden topischen Schäferszenarien. Und diese finden in der Opernliteratur ihren Widerhall. Zum literarischen gesellt sich der akustische Aspekt: Heute lesen wir ‹stumm›, aber bis zu Goethes Zeiten las man zumeist laut vor – erst recht lyrische Werke, wie es die Metamorphosen sind. Gedichte sind, jedenfalls solange sie in Reimen verfasst sind, ans Klangliche gebunden, man muss sie laut vortragen, um Melodie und Rhythmus hörbar zumachen und im Binnen- und Endreim die akustische Figur des Echos zu hören. Das Echo ist empirisch erfahrbar – hauptsächlich auf dem Land, im Gebirge, was wiederum mit dem Bukolischen verknüpft ist – es lässt sich literarisch und musikalisch nachbilden. Das bedeutet: Man hat eine wahrnehmbare Dimension im Erleben der künstlerisch verwendeten Echoeffekte (Abb. 6, 7).

TEC21: Beides, Echo und Schäferszene, spielt sich nun aber ausgesprochen nicht im theologischen Kontext ab – weder dem Inhalt noch dem Ort nach.

J.S.: Stimmt, aber die Kirchenräume, in denen sich Kircher in Rom bewegt – Il Gesù, San Pietro – sind von grosser Halligkeit, was Kircher nicht entgeht. San Pietro etwa mit seiner gewaltigen Kuppel und den vielen Nischen, die eine akustische Bündelung des Schalls bewirken. Kircher bemerkt, dass, wenn man Schall in die Kuppeln spricht, er mit veränderten Klangfarben und zeitlich verzögert reflektiert wird und dass, je nach geometrischer Positionierung des Sprechers, ein Echoeffekt hörbar wird. Wenn man ruft, wird gleichsam aus dem Raum geantwortet. Das ist theologisch interessant, besonders dann, wenn das Echo von oben kommt. Das nutzt Kircher und schlägt vor, die Gläubigen aufzufordern, sich in den Kapellen auf den Boden zu knien und ihr Gebet gegen die Nischen zu sprechen: Der Schall würde dann von der Kuppel reflektiert und die Antwort ‹von oben› unmittelbar erfolgen. Kircher kombiniert eigene Erfahrung, Kunst und Technik der Musikproduktion so, dass sie den gegenreformatorischen Bestrebungen einer zum Protestantismus konkurrenzfähigen Musikästhetik und Aufführungspraxis dienen. Um affektiv initiierte Andacht und Rührung auf grosse und stark hallige Kirchenräume zu übertragen, kommt Kircher auf die Idee, Musik so zu komponieren, dass Echo selber zum musikalischen Ereignis einer komponierten Musik wird: ‹Musik durch das Echo›. Er schlägt Chöre für San Pietro vor mit bestimmten geometrischen Aufstellungen und Relationen zum Publikumsbereich, um die Bündelungseffekte der Nischen und Kuppeln zu nutzen. Der Chor singt, dann Pause, und nun kann der Raum, die Nische oder Kuppel antworten, jetzt erscheint das Echo als Teil der Komposition. Zunächst in der ‹Musurgia universalis› von 1650, dann 1673 in der ‹Phonurgia nova› und 1684 – notabene von Protestanten – übersetzt, in ‹Neue Hall- und Tonkunst› hinterlegt Kircher das Konzept der ‹Musik durch das Echo› und damit die Verbindung von Musik und architektonischem Raum.[6]

TEC21: Wo liegt die Schnittstelle zwischen Kircher und Joseph Haydn[7]?

J.S.: In der Bibliothek von Joseph Haydn befand sich eine Ausgabe der ‹Phonurgia nova›, d. h., physisch ist sie leider verschwunden, aber wir wissen, dass er sie besass. Und wir kennen die Musik, die er komponiert hat, für welche Räume und Besetzungen des Orchesters. Wir wissen auch, dass er Stücke wie die ‹Echosymphonie› oder das mit ‹Echo› betitelte Divertimento in Es-Dur geschrieben hat.[8] Er schlägt darin eine kammermusikalische Aufführungssituation mit zwei kleinen Ensembles zu je drei Musikern vor, die in zwei verschiedenen Räumen spielen. Die einen fangen an, die anderen hören zu. Durch eine Holzwand – eventuell steht die Türe auch leicht offen – hört man sich gegenseitig und ist damit Spielender und Zuhörer. Dann spielen die Anderen und so ist man im dialogischen Spiel je das Echo füreinander. Es ist gut belegbar, dass es die Abstimmung zwischen Musik und Raum bei Haydns Kompositionen gibt, dass er inhaltlich das macht, was Kircher beschrieben hat. Das heisst, er nutzt die akustische Raumantwort (Echo ist im Konzertsaal störend; diffuser Nachhall jedoch nicht), den Nachhall des Raumes als Teil der symphonischen Komposition und gestaltet Klangbilder durch dynamische Steigerungen und den Einsatz von Kontrabässen und Pauke, was den Raum zu langem Nachhall anregt und bestimmte Raumeindrücke möglich macht.

TEC21: Da die ‹Phonurgia nova› erst nach der Komposition des Divertimento erschien, muss Haydn noch eine andere Inspirationsquelle gehabt haben.

J.S.: Die Entstehungszeit – 1761 – des Divertimento ist tatsächlich interessant – ein Jahr nach dem Beginn seines Engagements bei den Fürsten von Esterházy, wo er in der Residenz in Eisenstadt (Abb. 9) und dann ab 1766 im neuen Schloss in Fertöd (Ungarn) wirkte, von dem heute nur noch das Hauptgebäude übrig ist. Der Fürst leistete sich ein Orchester mit ca. 40 Personen, mit dem Haydn 30 Jahre lang fast täglich für Sinfonie, Oper, Marionettentheater und auch für Kammermusik geprobt hat. Es war die Abgeschiedenheit und der Umstand, dass er jeden Tag ein Orchester zur Verfügung hatte, Aufstellungen ausprobieren, mit der Instrumentierung experimentieren konnte, was es ihm ermöglichte, für ganz bestimmte Räume ganz bestimmte klangliche Vorstellungen umzusetzen. Und dann kommt etwas hinzu: Eines Tages kommt eine Militärkapelle vorbei. Normalerweise verfügt Haydn nicht über Pauken, die gibt es nur im Militärspiel. Er lädt Paukisten in den Konzertsaal ein und komponiert eine Sinfonie, in der erstmals die Pauke erscheint. Und da merkt er, welches Potenzial da drinsteckt. Das besondere Hörerlebnis, das man in einer Schuhschachtel hat – wie es Haydns Saal in Eisenstadt war und ist – zeigt sich, wenn man Kontrabässe und Pauken spielen lässt. Man stelle sich folgende Situation vor: Man sitzt in einem solchen quaderförmigen, lang, schmal und hoch proportionierten Saal, vorne spielen leise Töne – eine Flöte, eine Geige. Schliesst man die Augen, kann man den Standort sowohl der Geige als auch der Flöte fast exakt bestimmen. Diese Lokalisation gelingt selbst in einem halligen Raum wie in Eisenstadt ziemlich gut. Nun steigert das Orchester Dynamik und Lautstärke, es kommen weitere Instrumente hinzu, bis auch die Kontrabässe und schliesslich die Pauken einsetzen. Diese Dynamisierung und Steigerung wird ein Kernelement von Haydns Musik bis zur 105. Symphonie bleiben. Und das ist das hörbare Phänomen: Die Musik beginnt einen zu umhüllen, man ist im klanglichen Geschehen drin, die Musik wird physisch, wird plastisch-räumlich, bevor sich dann der Klangraum wieder zum lokalisierbaren Klangbild durch Abnahme des Schalldruckes verflacht. Die überaus reizvollen Raumklangeffekte seiner Musik sind mit der architektonisch-raumakustischen Aufführungssituationen des ‹Haydn-Saals› verbunden. Im Freien etwa funktioniert das nicht, egal wie viele Pauken man aufstellt, weil es ein durch Schallreflexionen erzeugter akustischer Raumeindruck ist, der die klangästhetisch reizvollen Kompositionen erst zur Geltung bringt.

TEC21: Haydns Musik scheint kaum unter diesem Aspekt beleuchtet worden zu sein?

J.S.: Der Fall Haydn ist tatsächlich in der historisch orientierten Musikwissenschaft unter diesem Aspekt kaum beachtet worden, noch erscheint er in der Theorie und Geschichte der Konzertsaalakustik besonders prominent. Eine Ausnahme bildet die wegweisende Studie von Jürgen Meyer[9] über Haydns Konzertsäle; ein Text, der leider auch unter aufführenden Musikern kaum bekannt ist – die sich überhaupt erstaunlich wenig um die Optimierung eines Klangbildes für ihr Publikum in bestimmten Räumen kümmern.

TEC21: Woher rührt das?

J.S.: Wesentlichen Anteil daran hat die Kunsttheorie in der Nachfolge von Gotthold Ephraim Lessings ‹Laokoon› und dessen Gliederung der Künste in Raumkünste (Malerei, Plastik, Architektur) und Zeitkünste (Literatur, also Rede, Drama und die Musik). Eine Unterscheidung, die wir heute noch oft und unbedacht benutzen. Damit gehören Architektur und Musik grundsätzlich getrennten Kunstsphären an.

TEC21: Wie würden Sie denn Karlheinz Stockhausens Experimente – z.B. der ‹Gesang der Jünglinge› 1955/56 oder 1968 die Performance ‹Musik für ein Haus› – mit der Klangbewegung im Raum qualifizieren, oder Bernhard Leitners Klanginstallation ‹Ton-Raum› 1986 an der TU München, die darauf abzielten, die Architektur zu einer Zeitkunst zu machen, indem der Raum nur solange existierte, als die Musik erklang?

J.S.: Diese Reihe können wir um die Cori Spezzati (Gabrieli in Venedig) und den Philips Pavilion von Le Corbusier/Xenakis erweitern: Das sind Initiativen einer räumlich vorgestellten Musik, die durch frei konstruktiv zusammengestellte Lautsprecherorchester – Stichwort: Akusmatik[10] – bzw. getrennt aufgestellte Chöre oder Instrumentengruppen Raumeindruck zu vermitteln suchen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass primär Lokalisations- und Bewegungserlebnisse von Schallquellen dargeboten werden. Die dezidiert gestaltete Interaktion von Schallquelle, Raumakustik und Komposition, wie sie etwa Haydn vorgenommen hat, findet sich nicht. Im Gegenteil: Gerade der Philips Pavillon zeugt in seiner Konzeption von harmonikalen Vorstellungen, die Architektur und Musik noch einmal über Geometrie und Arithmetik in Verbindung bringt (Abb. 3, 4, 5). An diesem ästhetisch retardierenden Moment ändern die Integration von aperiodischen Geräuschen und die neuartige zeichnerische Notation von Musik nichts. Die Architektur vor diesem Hintergrund als Zeitkunst vorzustellen oder umgekehrt die Musik als Raumkunst zu apostrophieren, scheint mir lediglich die ästhetisch nicht haltbare lessingsche Unterscheidung von Raum- und Zeitkünsten zu perpetuieren. Demgegenüber versuche ich einen Beitrag zu leisten, dass Akustik über den für die Architektur zentralen Begriff des Raums in den Entwurfsprozess integriert wird, und so als akustische Gestaltung erscheint. Architektur ist eben nicht nur eine Raumherstellungstechnik, sondern eine Raumgestaltungskunst. Und wenn man beides für die Architektur in Anspruch nimmt, so finden wir auf der einen Seite technische Raumakustik, die es erlaubt, akustische Aspekte zu parametrieren und in Simulationen zu testen. Da sind wir hervorragend ausgerüstet mit Theoriebildung, Materialkunde, Designtools etc.; von der Beschallung einer Kirche bis zur raumakustischen Gestaltung einer Toilette. Aber das ist nicht der kritische Punkt. Der liegt darin, dass manche Architekten den sinnesmodalen Implikationsreichtum des Raumbegriffes – hier die Wahrnehmung von Raum durch räumliches, auf zwei Ohren basierendenes Hören – nicht zur Kenntnis nehmen und diesen primär als visuelles Phänomen verstehen. Hier versuche ich in meinen Forschungen weiter zu gehen, denn mich interessiert einerseits die Physik, die Akustik und ihre Anwendung in der Raum- und Elektroakustik, anderseits die Wahrnehmung. Und mit der Wahrnehmung verbunden alles, was mit Muster, mit Sprache, mit Kultur zu tun hat – die Natur-Kultur-Verbindung, die bei jeder Wahrnehmung stattfindet. Diese ist komplex, dicht, evolutionär unabgeschlossen, und solange wir eine humane Kultur haben, unabschliessbar – und, in vielen Künsten und ihrer Technik, wenig untersucht.


Anmerkungen:
[01] «Im Mörtel des Bösendorfer Saales wohnen die Töne der grossen Komponisten. Das Material […] wurde mit den Klängen unserer Philharmoniker […] imprägniert.» Vgl. Adolf Loos, Das Mysterium der Akustik, Wien, 1912; in: ders., Trotzdem 1900 – 1930. Die Schriften von Adolf Loos, Bd. 2, Innsbruck, 1931, S. 125ff.
[02] Platon, Timaios, um 360 v. Chr. Die titelgebende Figur tritt als Referent über die Erschaffung des Kosmos auf, dessen Entstehung auf dem vernünftigen Wirken eines Schöpfergottes basiert. Dieser hat den chaotischen Charakter der Ur-Materie in eine geordnete Komposition verwandelt.
[03] «[…] im 16ten Jahrhundert […], war der Papst nahe daran, die Musik durch ein förmliches Breve ganz aus der Kirche zu verbannen, wenn Palestrina sie nicht noch gerettet hätte.» Vgl. Allgemeine musikalische Zeitung, Bd. 4, Nov. 1801, Leipzig, S. 115. Giovanni Pierluigi da Palestrina (1510eroder 1520er-Jahre bis 1594) wurde Anfang des 17. Jhs. als Retter der Kirchenmusik betitelt, weil er mit der seinem Gönner Papst Marcellus II. gewidmeten Missa Papae Marcelli die Verbannung der Musik aus der Kirche verhindert hat, die auf dem Tridentiner Konzil 1562 / 1563 drohte. In der Kritik war die nach Meinung der Kurie der Textverständlichkeit abträgliche Polyphonie. Palestrina gelang es, die Vielstimmigkeit so zu gestalten, dass sie textverständlich blieb. Relativiert wird der singuläre Charakter von Palestrinas Komposition und mithin der Einfluss auf das Konzil, in: Horst Robert Balz, Theologische Realenzyklopädie, Band 25, Walter de Gruyter, Berlin, 1995, S. 600 f.
[04] Das göttliche Monochord, 1617.
[05] Der deutsche Jesuit Athanasius Kircher (1602 – 1680) verbrachte den grössten Teil seines Lebens als Universalgelehrter am Collegium Romanum in Rom. Er befasste sich – nicht zuletzt im Dienste der Gegenreformation – mit zahlreichen Wissenschaftsgebieten, u. a. Ägyptologie, Geologie, Medizin, Mathematik und Musiktheorie.
[06] Musurgia universalis, sive ars magna consoni et dissoni, 1650. Phonurgia nova, sive conjugium mechanico-physicum artis & natvrae paranympha phonosophia concinnatum, 1673.
[07] Der österreichische Komponist Joseph Haydn (1732 – 1809) war von 1760 – 1790 Hofmusiker der ungarischen Fürsten Esterházy am Familien- sitz in Eisenstadt, im Winterpalast in Wien und auf Schloss Eszterháza.
[08] Die Sinfonie No. 38 hat den Zunamen Echosinfonie; das kammermusikalische Divertimento in Es-Dur («Echo»; Hob II : 39) von 1761 «für zweimal 2 Violinen und Bass, in verschiedenen Zimmern aufgestellt».
[09] Jürgen Meyer, Raumakustik und Orchesterklang in den Konzertsälen Joseph Haydns, in: Acustica 14, 1978, S. 145 – 162.
[10] Akusmatik (griech. Akousma «auditive Wahrnehmung ») bezeichnet Klangerereignisse, deren Quelle nicht sichtbar ist. Der Begriff geht auf die Überlieferung zurück, wonach Pythagoras neue Schüler hinter einen Vorhang verbannte. Im Gegensatz zu den «Abitués» fehlte ihnen das Visuelle von erklärenden Gesten. Sie mussten sich den Stoff allein durch intensives Hören erschliessen.

TEC21, Fr., 2012.05.11

11. Mai 2012 Rahel Hartmann Schweizer

Singen und hören im Zwischenraum

Chorklang in einem Kirchenraum zur Entfaltung zu bringen, ist eine Herausforderung für jeden Chorleiter. Dabei spielen musikalisch-akustische und architektonische Elemente eine Rolle. Die Raumakustik wird durch das Zusammenwirken verschiedener Raumgeometrien (z.B. Apsis und Vierung) bestimmt: Es geht darum, die klanglich optimalen Zwischenräume zu finden. Worauf dabei in der Aufführungspraxis zu achten ist, beschreibt ein erfahrener Chorleiter für vier bedeutende Kirchen im Raum Zürich.

Könnte man sich als Zwerg in einer Geige, einem Cello oder einem Kontrabass, die gerade gespielt werden, spazierend da- und dorthin bewegen, unter dem Steg, um den Stimmstock herum oder aus den F-Löchern heraushören und -schauen, würde man etliche Orte des edelsten Klanges in so einem Instrument entdecken. Genauso soll sich ein Chordirigent in der Vorprobe wandernd den jeweiligen Kirchenraum «erobern» und hören, welche Möglichkeiten der Raum für die Klangentfaltung birgt (vgl. Kasten). In Bauten jüngeren Datums ist die ideale Chorposition wegen der teilweise irregulären und verwinkelten Grundrisse und der «kühl» und «trocken» klingenden Materialien oft schwer zu bestimmen. Aufschlussreich für einen Chor zur Prüfung des Klangraumes sind die auf Guido von Arezzo[1] (um 1000) zurückgehenden Tonsilben «ut (do)-re-mi-fa-sol-la-si». Der in der Ausatmung entstehende Vokal wird vom Konsonanten geführt in den Raum gesungen. Interessant ist das Klang-Erlebnis der Raumdimensionen in den ersten drei Tonsilben: «ut» wirkt in die Länge, «re» in die Breite und «mi» in die Höhe. Die Tonsilbe «fa» klingt dann umfassend und «sol-la-si» beleben den neu erfahrenen Raum. Dabei ist zu beachten, dass erst das Nachhören der jeweiligen Klangsilbe in der Resonanz die vollständige Wirkung ermöglicht.[2]

Die Suche nach dem idealen Klangraum

Bei einem Klangraum für ein A-cappella-Chorkonzert entspricht die Höhe idealerweise der Breite. Ist der Raum höher, darf mit einem längeren Nachhall gerechnet werden, was den Chorklang meistens veredelt. Was in den einzelnen Chorstimmen klanglich noch ungehobelt wirkt, kann in Räumen mit mehr Nachhall ausgeglichener, harmonischer werden. Dabei geht es darum, Chöre für solche Akustik gehörsmässig und klanglich besonders zu schulen. Im klassischen Kirchenraum befindet sich der richtige Standort für einen Chor meist zwischen Chorraum und Hauptschiff, unter dem Chorbogen (wo sich meist noch Treppenstufen befinden) am Rande der Vierung und in diese hineinragend. Ein Begleitorchester wird in der Vierung platziert. Der Chorbogen bildet eine klare akustische Grenze. Wird der Chor dahinter aufgestellt, im Chorraum (Apsis), klingt der Gesang mehr von ferne. Zu beachten sind, vornehmlich in barocken Kirchen, die bildhauerischen Gipsverzierungen (Putten, Blumenornamente usw.). Diese sind für die lebendige, versprühende Klangentfaltung im Kirchenraum wesentlich. Bei Orgeln ist es der Prospekt, der nicht nur eine optische Wirkung, sondern auch klangverteilende und -veredelnde Funktionen hat – und insbesondere die Schleierbretter, die die Leerräume zwischen Pfeifen und Gehäuse ausfüllen.

Klosterkirche Kappel am Albis

Der hohe Kirchenraum ermöglicht eine schöne Klangentfaltung und lange andauernden Nachhall (Abb. 1). Der Chor steht mit Vorteil vorne in der Mitte der Apsis und singt mit sparsamer Stimmgebung möglichst in die Weite. Der starke Nachhall wird sich verlangsamend auf die Tempi auswirken und zwischendurch längere Pausen des Nachhörens erfordern. Steht der Chor zwischen dem Chorgestühl, wird der Klang etwas abgedämpft. Eine sehr schöne Wirkung hat auch der von hinten nach vorne gesungene Chorklang. Von hinten könnte beispielsweise eine «Engel»-Stimme singen, die dem vorne singenden Chor gegenübersteht. Für die Aufführung in der Klosterkirche Kappel am Albis sind besonders Chorwerke a cappella aus Gregorianik, Renaissance und Barock, Buxtehude- und Bach-Kantaten geeignet. Die ideale Chorgrösse beträgt 4 bis 20 Personen.

Fraumünster Zürich

Das Bedeutsame an diesem 874 eingeweihten Kirchenbau sind die idealen Grundmasse. Später hinzugefügte Teile wie der breit angelegte, bis auf die halbe Höhe der Seitenschiffe reichende Lettner, der Schiff und Chorraum trennt (Abb. 2), veränderten die akustischen Verhältnisse. Dadurch wurde die ohnehin schon vorhandene Klangdifferenz von hinten (Apsis) und vorne noch verstärkt.[4] Einen Chor in diesem abgetrennten Chorraum singen zu lassen, wirkt ganz besonders. Hier ist sparsame, aufs Hören ausgerichtete Klanggebung zu empfehlen. Für die Hörenden im Kirchenschiff entsteht dadurch eine Klangwirkung, als ob Mönche unsichtbar hinter einem Hochaltar herübersingen würden, was als wunderbarer Klangeffekt empfunden wird. Der Hauptchor steht idealerweise auf der Chortreppe unter und vor dem Lettner. Ein Fernchor kann hinter dem Lettner, weit hinten stehend, eingesetzt werden. Solo-Stimmen können auch auf dem Lettner stehend vorteilhaft singen. Besonders geeignete Chorwerke für die Aufführung im Chorraum (hinter dem Lettner) sind Chorwerke a cappella aus Gregorianik, Renaissance und Barock (Palestrina, Praetorius, Schütz). Als ideale Chorgrösse gelten 4 bis 20 Personen. Für die Aufführung vor dem Lettner eignen sich barocke und klassische Oratorien und Messen mit Orchester (z.B. Händels Messiah, Haydns Schöpfung, Mozarts Requiem) mit Chören von bis 100 Personen.

Kirche zu Predigern in Zürich

In dieser Kirche, mit deren Bau 1231 begonnen wurde, stehen ausgeprägter Nachhall und einige akustische Feinheiten als Gestaltungsmittel zur Verfügung. Der Chor wird vorzugsweise vorne aufgestellt, ca. zwei bis drei Meter vor der Mauer, mit welcher der grosszügige Chorraum im Jahre 1524 vollständig abgekoppelt wurde (Abb. 3). Wäre dieser Chorraum noch vorhanden, wäre der Klang wohl etwas abgeschwächt in seiner Wirkung, innerlich jedoch gehaltvoller erlebbar, weil der hintere Chorraum in der Klanggestaltung immer eine akustische Wirkung hat. Trotzdem ist diese Kirche auch im aktuellen Zustand für ihre Klangfülle und deren unvergleichlicher Wirkung für Chor a cappella bekannt. Besonders geeignete Chorwerke für die Aufführung in der Predigerkirche sind Motetten und Madrigale der Barockzeit (z.B. Monteverdi, Schütz, Bach), Bach-Kantaten und Bach-Passionen.

Wasserkirche in Zürich

Diese auf das 13. Jahrhundert zurückzuführende Kirche ist ursprünglich im romanischen Stil ohne Abtrennung des Chorraumes (Apsis) erbaut worden, was für die Akustik des Raumes vorteilhaft ist. Das Halbrund des Chorbogens gibt die ideale Choraufstellung vor: Der Chor wird am besten mit mindestens zwei Metern Abstand zur Rückwand aufgestellt. Dadurch erhält der Klang, der von hinten ansetzt, mehr Raum. Die Kirche weist ideale Proportionen auf, was auch dem vollbesetzten Schiff immer noch eine füllige Klangwelt sichert (Abb. 4). In der Wasserkirche kommen Werke für Chor a cappella, auch modernere Chormusik (z.B. Willy Burkhard, Hugo Distler) am besten zur Geltung. Der ideale Chor umfasst 4 bis 20 Personen.

Wohltuende Akustik auch in Zukunft

In den hier beschriebenen Kirchen und in vielen anderen von Musik durchklungenen Sakralbauten erleben die Menschen Raum und Zeit anders als im alltäglichen Umfeld. Für die zeitgenössische Architektur ist es eine grosse Herausforderung, die Geheimnisse dieser bewährten Bauwerke und Formen zu studieren und für die akustische Gestaltung von neuen Räumen für lebendiges Musizieren und erfüllendes Hören im Zwischenraum zu nutzen.


Anmerkungen:
[01] Guido von Arezzo, 992 – 1050, Benediktinermönch, Musiktheoretiker und Lehrer. Führte u. a. die heute gebräuchliche Notation auf vier Linien und das diatonische Notensystem ein.
[02] Dieses Erlebnis entspricht dem vielseitigen, bildhaft klar verständlichen Zeichen der Fermate ( ), die in der Musikgeschichte mannigfaltig eingesetzt wurde (etwa in Bach-Chorälen jeweils am Ende einer Verszeile, in Mozarts Zauberflöte zwischen den immer wieder auftauchenden drei Akkorden, oder bei Beethovens Egmont-Ouvertüre als Generalpause durchs ganze Orchester). In Italien heisst dieses Zeichen «corona», was dem Stehen in einem klingenden Kuppelraum mehr entspricht. Dieses Hören im Fermaten-Zwischenraum ermöglicht eine neue, kreative Erfahrung und zugleich eine Standortbestimmung im «Jetzt» zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der gregorianische Gesang, wie er heute noch in Klöstern praktiziert wird (beispielsweise Einsiedeln), ermöglicht schöne Nachhall-Erlebnisse. Der hörende Mensch atmet gleichsam mit dem Gesangsstrom aus und im Nachhall atmet er hörend ein. Dies wirkt wohltuend und kann ein meditatives, religiöses Gefühl vermitteln, wie die aktuelle Nachfrage nach CD-Aufnahmen von Mönchsgesängen zeigt.
[03] Kaspar Appenzeller: Die Quadratur des Zirkels. Zbinden Verlag, Basel, 1979.
[04] Im Fraumünster durfte der Schreibende während zwanzig Jahren im Rahmen von Konzerten die Weihnachtsgeschichte vorlesen. Das war bei voll besetzter Kirche ohne Verstärkung gut möglich; in der leeren Kirche war wegen des Nachhalls trotz stärkerer Stimme die Verständlichkeit erschwert. So ist es erklärbar, dass heute Verstärkeranlagen in Sakralbauten eingerichtet werden, da bekanntlich die Kirchgänger fehlen.

TEC21, Fr., 2012.05.11

11. Mai 2012 Peter Appenzeller

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