Editorial

«In der Erinnerung der Freunde wird er ein einsames Genie bleiben, voller Entdeckungen […]: fast wie der Basento-Viadukt von Potenza, unversehrt zwischen den Ruinen […].»[1] Bruno Zevi (1918–2000) zu zitieren, der mit seinen zuweilen provokativen Essays die Architekturkritik der italienischen Nachkriegsarchitektur in Atem hielt, drängt sich nicht nur deshalb auf, weil er dem Ingenieur Sergio Musmeci (1926–1981) zeitlebens freundschaftlich verbunden war («Modernes Universalgenie»). Ebenso, wie der Professor junge Talente entdeckte, lange bevor der Begriff der «emerging
architects» kursierte, brach er auch immer wieder eine Lanze für in Vergessenheit geratene oder missverstandene Ingenieure und Architekten.

Musmeci war seinerzeit in Italien zwar kein Unbekannter. Er hat Grössen wie Pier Luigi Nervi oder Giorgio Morandi herausgefordert. Doch realisieren konnte er nur einen Bruchteil seiner Projekte. Bezeichnenderweise gewann er etliche Wettbewerbe ex aequo. «[…] stellte er eine Gefahr dar, sei es für die an anachronistischen Bemessungsformeln festhaltenden Ingenieure, sei es für die […] nekrophilen, in der Postmoderne Zuflucht nehmenden Architekten»,[2] schrieb Bruno Zevi. Welche Ex­perimentierfreude Musmeci trieb, um «den Eigenheiten der gewohnten Techniken [auszuweichen], um mit einzigartigen, aussergewöhnlichen Ausfallschritten in die ‹Geometrie des Kontinuums› auszuscheren»[3], illustriert «Stahlbeton, Seifenblasen und Modelle».

«Seine Sprache besteht zweifelsohne aus Dissonanzen, scheint ketzerisch, gemessen am zeitgenössischen, architektonischen Kodex, […].»[4] Dem «Klang»[5] dieser Sprache in ihren verschiedenen Lesarten spürt «Formen aus Kräften und Spannungen» nach. «Unversehrt zwischen den Ruinen» dürfte bald wieder Musmecis Hauptwerk sein, die Brücke über den Basento (vgl. «Ein Meisterwerk ist in die Jahre gekommen»).

Rahel Hartmann Schweizer, Aldo Rota


Anmerkungen:
[01] «Nel ricordo degli amici resterà un genio prolifico di scoperte, […].», Bruno Zevi, «Scompare Sergio Musmeci, in: ders., Cronache di architettura – dal fallimento del post-modern all’impegno sociale del design», Universale Laterza, Vol. 24, Roma-Bari, 1981, S. 166–167.
[02] «[…] rappresentava un pericolo […].» Op. cit., S. 166.
[03] «Musmeci eludeva la specificità della tecnica consueta […]» Op. cit., S. 166.
[04] «[…] il linguaggio che egli parla è fatto certamente di dissonanze, […].», Einleitung zu: Sergio Musmeci, «Le tensioni non sono incognite», in: Parametro, Nr. 80, Oktober 1979, Faenza Editrice, Faenza, S. 40.
[05] Jürg Conzett, Das Zusammenspiel technischer und architektonischer Aspekte am Beispiel des Palazzo della Regione in Trento (I), S. 95, in: www.af-z.ch/files/dialog_leseprobe.pdf.

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Wohnüberbauung Landolt-Areal, Zürich

12 MAGAZIN
Eingespannte Fahrbahn

18 MODERNES UNIVERSALGENIE
Fausto Giovannardi
Der Ingenieur Sergio Musmeci (1926–1981) war fasziniert vom Weltraum und beobachtete die Gestirne. Er studierte Aviatik-Ingenieurwesen und befasste sich für seine Konstruktionen mit Naturphänomenen.

20 FORMEN AUS KRÄFTEN UND SPANNUNGEN
Fausto Giovannardi
Sein Capolavoro war die Brücke über den Fluss Basento in Potenza (1967–1976). Doch war das Œuvre Sergio Musmecis breit gefächert. Er beschäftigte sich mit Falttragwerken, Membranen, Gitterstrukturen und Seilkonstruktionen.

28 STAHLBETON, SEIFENBLASEN UND MODELLE
Gabriele Neri
Visonäre Ingenieure wie Sergio Musmeci konnten ihre Entwürfe seinerzeit rechnerisch nicht zuverlässig überprüfen. Daher arbeitete Musmeci intensiv mit Modellexperimenten, um seine «unmöglichen» Konstruktionen zu untersuchen.

33 SIA
Sektionsfeste zum SIA-Jubiläum | Fort- und Weiterbildung | Wettbewerbsprogramme in Prüfung

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Modernes Universalgenie

Zeitgenossen bezeichneten den Ingenieur Sergio Musmeci (1926–1981) als modernes Renaissance-Universalgenie. Er war fasziniert vom Weltraum und beobachtete die Gestirne. Er interessierte sich für die Erdatmosphäre und studierte Aviatik-Ingenieurwesen. Er war umweltbewusst und inspirierte sich für seine Konstruktionen an Naturphänomenen.

Sergio Musmeci, am 2. Juni 1926 geboren, verbringt die frühe Kindheit im elterlichen Wohnhaus im Trastevere in Rom. 1930 zieht die Familie ins Quartier Ludovisi-Parioli, wo Musmeci die Jugendjahre unter deutscher Besatzung erlebt. Vom September 1943 bis im Juni 1944 bereitet er sich aus Furcht vor den Razzien unter «Hausarrest» auf die Prüfungen für den Zweijahreskurs in Ingenieurwesen an der Universität «La Sapienza» vor. In der «Klausur» entdeckt er seine Leidenschaft für die Astronomie, die er mit seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Alberto teilt und die ihn zeitlebens nicht loslässt (Abb. 1). Die beiden bauen ein Fernglas zum «Teleskop» um und halten ihre Beobachtungen in Zeichnungen fest, da ihnen eine Fotokamera dafür fehlt. Sergios Wunsch, sich für das Studium am astronomischen Observatorium «Monte Mario» in Rom einzuschreiben, zerschlägt sich an den finanziell bescheidenen Verhältnissen der Familie. Stattdessen absolviert er den zweijährigen Kurs an der Sapienza, auf den er sich während des Krieges vorbereitet hatte. Das Ingenieurwesen bietet sich an, weil es einerseits eine wirtschaftlich positive Perspektive in Aussicht stellt, andererseits seinen wissenschaftlichen Interessen entgegenkommt.

Den folgenden Dreijahreskurs an der «Scuola di Applicazione per Ingegneri» schliesst Musmeci 1948 im Alter von 22 Jahren mit dem Diplom zum Thema dünnwandiger Gewölbe ab. Diese Auseinandersetzung mit Tragwerken, die durch ihre Form den externen Beanspruchungen standhalten, kündigt bereits sein lebenslanges Interesse an Strukturen an, deren Tragfähigkeit in der Form angelegt ist.

Seine erste Station nach dem Studium ist das Studio von Riccardo Morandi, wo er die Architekturstudentin Zenaide Zanini (*1926) kennenlernt – seine künftige Frau –, die im Büro Morandi als Zeichnerin arbeitet. Anfang 1950 kündigt er den Vertrag und steigt im Unternehmen von Pier Luigi Nervi, der Gesellschaft Nervi & Bartoli, ein. Er erarbeitet unter anderem ein Vorprojekt für den Palazzetto dello Sport in Rom: eine Kuppel aus vorfabrizierten Stahlbetonelementen im Geiste Nervis, doch mit Rippen, deren Verlauf sich an drei verschiedenen Spiralformen orientiert.

1953, im Jahr der Einberufung in den Wehrdienst, besucht Musmeci einen Kurs in Luftfahrt- Ingenieurwesen, den er ebenfalls mit dem Diplom abschliesst. Im selben Jahr heiratet er Zenaide Zanini – eine Partnerschaft, welche die beiden auch beruflich führen – und macht sich 1954 selbständig. Bereits im ersten Jahr der Selbständigkeit macht er sich in Italien einen Namen, als er im Wettbewerb für den Bahnhof von Neapel 1954 den zweiten Preis gewinnt.[1]

Die «Weihe» erfolgt schon zwei Jahre später, als er als 30-Jähriger – in einer von Koryphäen wie Pier Luigi Nervi und Giorgio Morandi dominierten Zeit – für das Tragwerk des Palazzo della Regione von Trient verantwortlich ist («Formen aus Kräften und Spannungen», S. 20). Dessen architektonischer Entwurf stammt von keinem Geringeren als Adalberto Libera (1903–1963), einem der prominenten Vertreter des Razionalismo.

Musmeci arbeitet im Laufe seines Lebens auch mit den anderen bedeutenden Figuren des «Who is Who» der italienischen Nachkriegsarchitektur: Annibale Vitellozzi (1906–1954), Eugenio Montuori (1907–1982) und Leo Calini (1903), Ludovico Quaroni (1911–1987), Ugo Luccichenti (1899–1992), Carlo Mollino (1905–1973) und Bruno Zevi (1918–2000), der ihm auch freundschaftlich verbunden ist. Musmeci ersinnt und rechnet die Tragwerke ihrer Bauten und Projekte (vgl. «Formen aus Kräften und Spannungen»).

Unter der Vielzahl von Wettbewerben, an denen er sich allein, zusammen mit Zenaide Zanini oder anderen Architekten und Ingenieuren im Laufe seines Berufslebens beteiligt, stechen zwei Brückenprojekte hervor: das für den Ponte Basento, das er 1967–1976 realisieren kann («Stahlbeton, Seifenblasen und Modelle», S. 28), und das der Brücke über die Meerenge von Messina, dessen Wettbewerb er ex aequo mit einem bis heute faszinierenden Projekt gewinnt («Eingespannte Fahrbahn», S. 12).

Die Lösungen, die er für seine Auftraggeber in seinem Atelier zu Hause meist allein oder mit wenigen Mitarbeitern erarbeitet, umfassen Falttragwerke, Membran- und Gitterstrukturen sowie Seilkonstruktionen. Gleichzeitig gelten seine Recherchen – die Kenntnisse als Luftfahrt- Ingenieur nutzend – Tragwerken, die mit minimalem Materialeinsatz operieren und die Kraftflüsse veranschaulichen. Viele seiner Tragwerke überprüft er anhand von Modellen. Die Natur, die diese Fähigkeit längst entwickelt habe, ist seine Inspirationsquelle. Man müsse sich nur das Spinnennetz vor Augen führen: «Ein Seiltragwerk, auf raffinierteste Weise fähig, Beanspruchungen enormen Ausmasses aufzunehmen, mit minimalstem Materialeinsatz.»

Sein Credo legt er in dem berühmt gewordenen Aufsatz «Le tensioni non sono incognite » nieder, den die Zeitschrift «Parametro» 1979 publiziert: «Die Architektur, […], ist ein Feld, auf dem man heute etwas riskieren muss. Wer nicht riskiert, imitiert oder wiederholt. Wenn man ein neues Terrain erobern will, muss man das Unbekannte in Angriff nehmen.»[2]

Übersetzung aus dem Italienischen und Überarbeitung: rhs / Red.


Anmerkungen:
[01] Gewonnen wurde die Ausmarchung von der Gruppe Pier Luigi Nervi, Bruno Zevi, Carlo Cocchia und Giuseppe Vaccaro.
[02] «L’architettura, […], è un campo dove oggi occorre rischiare. Chi non rischia vuol dire che sta imitando oppure ripetendo. Se si vuole invadere un campo nuovo occorre affrontare l’ignoto.» Vgl. Sergio Musmeci, «Le tensioni non sono incognite», in: Parametro, Nr. 80, Oktober, 1979, S. 40.

TEC21, Fr., 2012.04.27

27. April 2012 Fausto Giovannardi

Formen aus Kräften und Spannungen

Der Name des Ingenieurs Sergio Musmeci (1926–1981) wird in erster Linie mit der Brücke über den Fluss Basento in Potenza (1967–1976) assoziiert – zweifellos sein Capolavoro. Doch stellt sie ein vielfältiges, über ganz Italien verstreutes Werk in den Schatten, das vom Regierungssitz über Sporthallen, Kinos, Markthallen, Kirchen, Firmensitze, Forschungszentren und Villen reicht. Breit gefächert waren auch die Tragwerkssysteme: Falttragwerke, Membranen, Gitterstrukturen und Seilkonstruktionen.

Als wolle er sein Meisterstück abliefern, zog Sergio Musmeci gleich zu Beginn seiner Selbständigkeit 1954 alle Register des Stahlbetonbaus und zwar für das von Adalberto Libera entworfene Projekt des Palazzo della Regione, dem Sitz der Regionalregierung in Trient. Libera gliederte den 1954 –1962 realisierten Bau entsprechend der unterschiedlichen Funktionen in drei Volumina: Giunta (Präsidium), Assessorati (Ämter) und Consiglio (Rat / Parlament). Die je eigene Gestalt der Baukörper fand ihren Widerhall in Musmecis Tragwerkskonzepten.

Palazzo della regione: Rotationshyperboloid und Kegelstumpf

Das auffälligste Gebäude des Komplexes ist das des Consiglio, das aus dem von den anderen beiden Baukörpern gebildeten Innenhof aufragt (Abb. 5). Das Untergeschoss ist als Tambour konzipiert, das Erdgeschoss gleicht einem umgekehrten Kegelstumpf. Hier sind der Sitzungssaal des Regionalrates und ein grosser Tagungssaal untergebracht. Das Gebäude ruht auf vier innen hohlen Pfeilern (Aussendurchmesser 1.20 m, Innendurchmesser 0.70 m). Das leicht angehobene Dach besteht aus einem filigranen Radial-Metallgitterrost. Blickfang des Gebäudes der Assessorati, in dem die Verwaltung untergebracht ist, sind die zwölf gedrungenen vierarmigen Pfeiler (1.40 m), auf denen das Bauvolumen im Erdgeschoss aufliegt und die entlang der Strasse eine Arkade bilden. Sie verzweigen sich unter der Decke des Erdgeschosses zu 48 Stützenachsen in den Obergeschossen, die in einem quadratischen Raster von 12.80 m angeordnet sind (Abb. 1).

Charakteristisch für den sich über dem rechteckigen Grundriss (72 ×16 m) erhebenden Bau der Giunta, in dem sich die Präsidiumsämter von Regionalregierung und -rat befinden, sind die beiden markanten, mit einer Rustika ornamentierten Piloti (inneres Titelbild und Abb. 2). Trotz ihrer starken Dimensionierung (Querschnitt min. 150 / 260 cm, max. 200 / 400 cm) verleiht ihnen ihre Ausbildung als Rotationshyperboloide Eleganz. Sie tragen – im Abstand von 40 m positioniert und unterstützt von zwei Rundstützen (50 cm) zur Querstabilisierung – den in einem Stützenraster von 8 m aufgelösten Baukörper. Bei diesem handelt es sich konstruktiv um einen zwei Geschosse hohen Doppel-T-Träger in Stahlbeton mit einem 50 cm starken Steg und einer seitlichen Auskragung von je 16 m. Der obere Flansch ist im Querschnitt flügelförmig.

Der untere Flansch ist das als Kasten ausgebildete 1. Obergeschoss (Abb. 4, 6). Dadurch werden die von den Schrägstützen in den Boden des 1. Obergeschosses eingeleiteten Stabilisierungskräfte in den Steg des Doppel-T-Trägers umgelenkt. «Während das Gebäude der Sala Consiliare von einer unmittelbar einleuchtenden und unzweideutigen, konstruktiven Logik […] [ist]»[1], eröffnen sich bei den Bauten Assessorati und Giunta verschiedene Lesarten. Ihre konstruktiven Elemente können als Vierendeel- und Doppel-T-Träger, als A-Stütze und Rahmen, als Pendelstütze und Hänger (Giunta) / bzw. als Oberund Unterzüge (Assessorati) interpretiert werden. Es sind ingeniöse Vexierbilder.

Nationales Leichtatletik-Zentrum: Faltungen

Das erste Faltdach, das Musmeci projektierte, war das des Centro di Atletica Leggera in Formia (LT) – einer weitläufigen Sportanlage, die 1955 nach einem Entwurf von Annibale Vitellozzi (1906 –1954) gebaut wurde (Abb. 8, 11). Das komplett aus Stahlbeton bestehende Tragwerk des jungen Sergio Musmeci dominiert die 19.80 m breite und 35 m lange Sporthalle, die durch ein 10 cm starkes Faltdach charakterisiert wird. Dieses ist in Querrichtung auf zwei rechteckigen Rahmen abgestützt. Sie verteilen die gesamte Last, auch die der Mauerausfachungen, auf vier Auflagepunkte an den Ecken der Turnhalle. In konstruktiver Hinsicht sind die Versteifungs-Zuganker an den Enden der Träger, die ähnlich wie eine externe Vorspannung wirken, von besonderem Interesse.

1955 entwarf er für das von Carlo Ammannati gestaltete Kino Araldo in Rom ein Dach, das als Übergangsform zwischen Gewölbe und Faltung bezeichnet werden kann (Abb. 9). Mit dem Dach des 1956 von Leo Calini und Eugenio Montuori projektierten Raffo-Gebäudes für die Marmorbearbeitung in Pietrasanta geht Musmeci einen Schritt weiter: Das 1000 m² grosse Dach ruht auf 24 Auflagepunkten. In den Faltungen des Daches, das an Muster von Maurits Cornelius Escher oder an ein Origami erinnert, wiederholen sich 13 Elemente. Weitere Beispiele sind das Dach des Kinos von Montecchio von 1957 und der mit Sergio Ortolani und Antonio Cattaneo geplante Entwurf für die Eisenbahnerkapelle in Vicenza (VI). 1966 –73 griff Musmeci noch einmal auf diese Konstruktionsart zurück, als er mit Carlo Mollino und Carlo Graffi Bühnenrampen und Dach des Foyers des Teatro Regio in Turin plante (Abb. 7).

Brücke über den Fluss Astico : Membranen

Seine erste Erfahrung im Bereich der Membrandächer machte Musmeci 1953 mit Giuseppe Vaccaro, als er das Dach für den Markt von Tressanti (FG) aus parabolischen Gewölben entwarf. 1956 übertrug er das Prinzip erstmals auf eine Brücke, und zwar im Entwurf für die Überquerung des Flusses Astico auf der Provinzstrasse zwischen Vicenza und Asiago (Abb. 12 – 13). Diesen erarbeitete Musmeci 1956 gemeinsam mit seinen Partnern aus Vicenza, dem Architekten Sergio Ortolani und dem Ingenieur Antonio Cattaneo.

Die Gesamtlänge von 200 m wird von einem zentralen Bogen mit 77 m lichter Weite und sechs unterschiedlich langen Randfeldern überspannt. Die Hauptöffnung des 9 m breiten Stahlbeton-Tragwerks ist als Viergelenkbogen ausgebildet, der durch die Verbindung mit den Rahmen der Randfelder stabilisiert wird. Um eine Membrantragwirkung zu erzielen, sind die Querschnitte der Bogen bombiert. Der durch Querträger unterteilte Kastenträger des Überbaus ist auf den Scheiteln der 35–45 cm starken Bogenträger der einzelnen Felder aufgelegt. Die Bogen sind nicht kreisförmig, um die maximale Biegefestigkeit zu erzielen. Die maximale Stützweite zwischen diesen Elementen beträgt 20 m. Die an Brücken von Robert Maillart erinnernde Silhouette wird ohne Kreisbogen durch eine hyperstatische Struktur (statisch unbestimmtes System ersten Grades) erzielt.

1959 schloss er in der Planung für die Tiber-Brücke in Tor di Quinto in Rom mit Ugo Luccichenti daran an. Über die Mercati Generali in Rom, 1960 mit Annibale Vitellozzi, Massimo Castellazzi und Giulio Dall’Anese projektiert, legt sich das Dach wie eine im Wind ausgeschüttelte Decke. Es ist ein uniform druckbeanspruchtes dreidimensionales Gewölbe, dessen Tiefpunkte als Stützen ausgebildet sind (Abb. 10).

Brücke über den Lao : Von der Membran zum Maschengeflecht

Musmecis Entwurf für die Brücke über den Fluss Lao bei Cosenza (CS) auf der Autobahn Salerno-Reggio Calabria, für den er 1964 mit dem 2. Preis ex aequo IN / ARCH-Domosic ausgezeichnet wurde2, ist ein strukturelles Kontinuum ohne erkennbare Übergänge zwischen Brückenüberbau, Pfeilern und Baugrund (Abb. 14 – 20). Die Tragkonstruktion geht auf seine frühen Experimente mit Membranen (Minimalflächen) zurück, die er mit Hilfe einer Seifenlösung aufspannte («Stahlbeton, Seifenblasen und Modelle »). Aus diesen Versuchen leitete sich zum Beispiel die dreidimensional gekrümmte Form der Tragkonstruktion der Basento-Brücke ab. Für den Entwurf der Brücke über den Lao ging Musmeci einen Schritt weiter und löste die gekrümmten Flächen seiner früheren Betonbrücken-Entwürfe in dreidimensional angeordnete kurze lineare Elemente (Stäbe) auf, die ein fast beliebig formbares Maschendrahtgewebe bilden. In dieser Konstruktion werden die Stäbe nur durch uniform verteilte Druckspannungen beansprucht. Damit nahm Musmeci die Computermodellierung komplexer Geometrien mit Finiten Elementen (FE) vorweg. Für die Stäbe (Streben) des Tragwerks wollte Musmeci mit Beton ausgegossene, aus zwei Halb- schalen zusammengesetzte Metallrohre verwenden, die sich für die Vorfabrikation eignen; auch die Knoten sollten in dieser gemischten Bauweise ausgebildet werden.

Tempel für die Wissenschaft und die Religion: Netze

Ganz vom Gitternetz her gedacht ist das Tragwerk des Nuklearzentrums von Bombay (Mumbai), das er 1960 mit Leo Calini und Eugenio Montuori plante (Abb. 23). Er projektierte für den im Grundriss sechseckigen Bau ein pyramidales, von Rippen in Dreiecksform gegliedertes Dach. Dieses lagert auf enormen vom Boden abgehobenen Wandträgern, die auf sechs Eckpfeilern abgestützt sind.

Von anderer Funktion, aber vergleichbarem Zuschnitt ist die Kirche von Monte Grisa in Triest, die auf ein Gelübde zurückgeht, das der Bischof von Triest, Antonio Santini, am 30. April 1945 ablegte. Zum Dank dafür, dass Triest vor den Schrecken des Krieges bewahrt worden war, gelobte er, eine Kirche zu Ehren der Gottesmutter errichten zu lassen. Doch erst als 1959 das heilige Bild der Fatima nach Italien gebracht wurde, fanden sich die Mittel, und die Planung wurde dem Architekten Umberto Nordio anvertraut, damals ein bekannter Dozent der Architekturfakultät Triest. Am endgültigen Entwurf war auch Sergio Musmeci beteiligt. Es handelte sich um ein Gebäude an einem Hang des Monte Grisa auf 335 m ü. M. in einem Karstgebiet mit Höhlen und starkem Wind (200 km / h), in dem erhebliche Temperaturschwankungen auftreten. Der Bau erfolgte erst 1963–1966 nach Modellversuchen im Istituto Sperimentale Modelli e Strutture (ISMES) in Bergamo und in der Windgalerie des Luftfahrtinstituts der Technischen Universität Turin.

Der 45 m hohe, sich über kreuzförmigem Grundriss (60 m × 60 m) erhebende monumentale Stahlbetonbau besteht aus drei riesigen Prismen, die auf einer gemeinsamen Basis stehen und in denen zwei in der Form eines griechischen Kreuzes übereinander liegende Kirchen untergebracht sind. Die Schau-Fassaden sind in ein Masswerk aus gleichschenkligen Dreiecken aufgelöst (Abb. 24).

Umgekehrt ist die 1961–1962 errichtete Kirche des Villaggio del Sole in Vicenza nach demselben Konstruktionsprinzip aufgebaut, aus dem Musmeci aber eine leichte, zeltartige Form generierte (Abb. 25–28). Sie ist in der Mitte des Villaggio del Sole in Vicenza platziert – einem im Rahmen des staatlichen Wohnbauförderungsprogramms INA CASA errichteten Stadtviertel, das von dem Architekten Sergio Ortolani errichtet wurde und 1962 mit dem IN-ARCH-Preis ausgezeichnet wurde. Das Dach des von der Spira mirabilis[3] inspirierten Baus schwingt sich über die sich schneckenfömig «aufrollenden» Mauern wie ein (Spiel-) Kreisel.

Fundamente und Mauern sind aus Stahlbeton und folgen dem im Grundriss spiralförmigen Verlauf der Rippen des Dachs. Dieses liegt auf kurzen Stahlbetonpfeilern, die auf den Mauern stehen. Der Meridianschnitt des Daches hat annäherungsweise die Form einer logarithmischen Spirale, deren Asymptote die Vertikale im Zentrum der Kirche ist. In statischer Hinsicht verhält sich die Dachkonstruktion im zentralen Bereich anders als in den Randbereichen. Zum fast kegelförmigen Zentrum hin herrschen Membranspannungen (dreidimensional), die zum Rand hin in Biegespannungen (zweidimensional) übergehen, bis an der Peripherie nur noch Schnittkräfte übrig bleiben. Die graduelle Erhöhung der tragenden Querschnitte reicht aus, um den Spannungen in der Dachkonstruktion standzuhalten.

Meerenge von Messina

Ein ganz anderes Feld – eine Kombination aus Hänge- und Schrägseilbrücke – spannt er 1969 mit dem Projekt für die Querung der Meerenge von Messina auf («Eingespannte Fahrbahn», S. 12). Musmeci greift die Idee des Jawerthschen Trägers auf, um die grösstmögliche Stabilität zu erreichen. Es ist eines der zahlreichen Projekte, für die er ex aequo mit dem 1. Preis ausgezeichnet wird.

Überarbeitung: rhs, ar /Red. Übersetzung aus dem Italienischen: Alexandra Geese


Anmerkungen:

[01] Jürg Conzett, Das Zusammenspiel technischer und architektonischer Aspekte am Beispiel des Palazzo della Regione in Trento (I), S. 95, in: www.af-z.ch / files / dialog_leseprobe.pdf. Vgl. auch: Jürg Conzett, Le strutture portanti del palazzo della Regione ed il contributo dell’ing. Sergio Musumeci, in: Marco Pogacnik et. al (Hg.) Il Palazzo della Regione a Trento di Adalberto Libera e Sergio Musmeci, Nicolodi, Rovereto (Tn) 2007, S. 105–136, hier: S. 95
[02] IN / ARCH: Das 1960 als Stiftung gegründete Istituto Nazionale di Architettura hat u.a. zum Ziel, die architektonische Qualität zu erhöhen und den Austausch zwischen Baufachleuten zu fördern, indem sie Ausstellungen organisiert, Debatten anstösst und Preise ausschreibt wie IN / ARCH-Domosic, IN / ARCH-Finsider, IN / ARCH-Sir, IN / ARCH-Aniacap. Siegreich in der Konkurrenz um die Brücke war der Entwurf der Gruppe um Carlo Cestelli Guidi und Fabrizio De Miranda, der 1964–70 realisiert wurde
[03] Wegen der «wundersamen» Eigenschaften der logarithmischen Spirale – z. B. umkreist sie den Ursprung unendlich oft, ohne ihn zu erreichen – bezeichnete der Mathematiker Jakob Bernoulli sie als «spira mirabilis». Es handelt sich um eine Spirale, die mit jeder Umdrehung den Abstand von ihrem Mittelpunkt, dem Pol, um den gleichen Faktor vergrössert. In umgekehrter Drehrichtung schlingt sich die Kurve mit abnehmendem Radius immer enger um den Pol

TEC21, Fr., 2012.04.27

27. April 2012 Fausto Giovannardi

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