Editorial

Die Poesie der Landschaft
Von Zeit zu Zeit eine Strasse beobachten. Sich dieser Beschäftigung mit voller Aufmerksamkeit widmen. Sieht man, was erwähnenswert ist? Sich einer Landschaft hingeben. Sich dazu zwingen, oberflächlicher zu sehen. Ein Stück Landschaft entziffern.

Hineinlauschen in den Ort. Weitermachen. Bis er unwahrscheinlich wird. Die Augen schliessen und die Landschaft mit allen Sinnen aus der Erinnerung beschreiben. Jede vorgefasste Meinung verjagen. Dem Raum den Ort entreissen.

So könnte, frei nach Perec, eine Handreichung zur Annäherung an die Poesie der Landschaft aussehen. Die Poesie gilt, auch ihrem Wortursprung her, der Erschaffung einer besonderen Qualität, einer sich der Sprache entziehenden Wirkung. Bildgewordene Emotion. Stimmungsgehalt und Zauber. Der Poesie der Landschaft erlagen nicht nur die grossen literarischen Poeten – von Goethe über Rousseau, von Hesse bis Hölderlin –, sie bildet auch einen bedeutenden Teil unserer Identität (und lässt sich deswegen auch so gut vermarkten: «Mehr Zeit für echte Glücksmomente», Ferienregion Heidiland). Die Arbeit von Landschaftsarchitekten und -planern als Gestalter und «Erschaffer» der Landschaft ist dabei zentral. Vielleicht sollten wir uns dieser besonderen Relevanz unserer Profession in allen Phasen des Entwurfs- und Realisierungsprozesses von Projekten gelegentlich bewusster werden.

Aber ist Poesie überhaupt plan- und umsetzbar? Entsteht sie nicht viel eher durch die Besonderheit des Moments, durch die dem Ort gegebene Geschichte und Bedeutung? Kann es eine universelle Poesie geben?

In der Wahrnehmung von Landschaft ist der Betrachter Konstrukteur. Und so geht es auch im Kontext von Poesie und Landschaft um Fragen des Blickwinkels und damit um den Mensch. Sein Vorwissen, seine Erfahrung und kulturelle Prägung bestimmen, was er zu sehen und wahrzunehmen in der Lage ist – und mithin auch, was er als poetisch empfindet. Voraussetzung ist die Bereitschaft, sich der Landschaft und ihren Orten auszusetzen und zuzulassen, dass sie Emotionen wecken. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich auch der – scheinbare – Dualismus von Poesie und Alltag überwinden: durch einen bewussten Blick und eine wahrnehmende Offenheit.

Die weise Susan Sontag schrieb einst, Schönheit wohne nicht in den Dingen, sondern offenbare sich durch eine besondere Sehweise. So ist es auch mit der Poesie. Bei schlechten Projekten aber kann man sich noch so sehr um eine besondere Sehweise bemühen und wird ihre Poesie nicht spüren.
Sabine Wolf

Inhalt

Albert Kirchengast
- Die Ferne des Gartens

Paolo Bürgi
- Eine nacherzählte mediterrane Landschaft

Lukas Schweingruber, Dominik Bueckers
- Die Poesie des Unsichtbaren – ein Park in Uster

Lorenz Dexler, Martin Rein-Cano
- THE BIG DIG

Bernard Lassus
- Der Brunnen

Laurent Essig
- Die versteckte Seite der Schweiz

Michel Péna
- WEIHER-WOGE-WOLKEN

Bruno Vanoni
- «Die Landschaft stört mich beim Denken.»

Christiane Sörensen
- Grenzüberschreitung

Sabine Wolf
- Landschaft aufladen

Gabi Lerch
- Kamelbuckel in der Megacity

Anouk Vogel
- Vondel Verses

Thilo Folkerts
- Jardin de la Connaissance

Clà Riatsch
- Ode an die Arve

Die Ferne des Gartens

(SUBTITLE) «Es ist eingefaltet der Ordnung die Wildnis. Der Vernunft das Undenkbare, dem Wort das Unaussprechliche.» Botho Strauss

Mag sein, die Wirksamkeit von Poesie liegt im Kontrast von Formstrenge und eröffnetem Horizont. Der Konstruktcharakter gebundener Rede, des in die Zeile gebogenen Wortes, das auf andere Zeilen verweist, das in einem gereimten oder ungereimten Netzwerk eingespannt ist – erscheint notwendig, damit das einzelne Wort aus der Zeile brechen kann, leuchtet, zum Symbol wird und schliesslich zu einem Ganzen beiträgt: «immerdar möge mein herz den kleinen vögeln / offenstehen denn sie sind das geheimnis des lebens / was sie auch singen ist besser als wissen / wenn menschen sie nicht mehr hören dann sind sie alt»[1], meint E. E. Cummings in Versen, die nicht für «meisteleute» seien. Doch die Erfahrung teilen wohl alle: vom Verweischarakter des Vogelsangs, wenn wir uns nur auf ihn einlassen. Auch Vögel sind Transformatoren der Wirklichkeit: Poiesis, das Hervorbringen.

Strenge und Ausschweifung

Diese Doppelnatur aus Strenge und Ausschweifung liegt auch dem Garten zugrunde, in dem Cummings Vogel singt; dem eingezäunt, umfriedet-umflechteten Ort. Selbstverständlich waren es pragmatische Erwägungen, die die karge Krume mit Steinmauern haben zusammenhalten lassen gegen Abtragung durch Wind und Wasser. Zur Sommerneige statten so manchen noch Reiseeindrücke von Mittelmeerinseln mit ihrer historischen Gegenwart erster Gärten aus. Dort hat elementare Praxis kleine steinerne Bezirke hervorgebracht. Archetypen[2] der Nutzniessung und doch auch Symbole. Innerhalb ihres Gevierts herrscht Fruchtbarkeit und Ordnung. Der Zyklus der Natur dient, ob durch Zier oder Fruchtgenuss. Sie transzendieren indes den Funktionszusammenhang des Alltäglichen, können sich zur fremden Natur steigern. Natur, das sind wir ja selbst; unser Körper, der sich meldet, gleich morgens mit Hunger und irgendwann mit Schmerzen.

Das ist vertraut. Natur ist fremd, wo sie über puren Physikalismus,[3] die strenge Nutzbarkeit der Beete, hinaus weist – als ästhetische Erscheinung, der wir «Modernen» immer wieder mit Staunen begegnen.[4]

Garten als Vermittler

Es ist nicht die biologistisch-szientistische Wirklichkeit, in der Düfte, Blütenspektakel und Wuchsüppigkeit nur durch schieres Überleben sich erklären – die Evolutionsnatur. Es ist diese ästhetisch erlebte Natur, die auf ein Reich der Freiheit hinweist. «Herausgehen aus der Natur findet nur statt, wo Natur als sie selbst erinnert wird. Die Grundbedeutung des Wortes Kultur ist Ackerbau, Pflege eben jener Natur, aus welcher Kultur befreit. (…) Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzichtes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akte des Seinlassens»,[5] so Robert Spaemann.

Gärten handeln ja immer von der Natur, vermitteln sie.[6] Der Garten, Ort gesteigerter Nutzbarkeit und zugleich poetischen Seinlassens, ist daher ein Januskopf und die poetische Freisetzung aus Naturwüchsigkeit der basso continuo aufgeklärter Naturästhetik.

Darauf verweist auch Immanuel Kants geflügeltes Wort von der Schönheit als «Zweckmässigkeit ohne Zweck». Wiederum mit den Vögeln gesprochen: «Selbst der Gesang der Vögel, den wir unter keine musikalische Regel bringen können, scheint mehr Freiheit (…) zu enthalten, als selbst ein menschlicher Gesang, der nach allen Regeln der Tonkunst geführt wird (…)».[7]

Der Garten konnte nun aber nicht geschätzt werden, solange sein Jenseits unbekannt blieb, seine Grenze nicht bewusst war; bevor nicht das Böse, malum – der Apfel – zu Erkenntnis geführt hatte. «Um Hüter zu werden, hätten sie zunächst einmal Gärtner werden müssen. Erst dadurch, dass sie den Garten Eden hinter sich liessen, konnten sie ihr Potenzial verwirklichen, Pflanzer und Schenker zu werden und nicht mehr nur Konsumenten und Empfänger zu sein»,[8] meint Robert Harrison. Er erzählt uns freilich nur eine Paradiesgeschichte; das reale ästhetische Erlebnis eines im Zwielicht liegenden, duftenden Gartens kommt und geht in Eile. Die poetische, aus ihrem Nutzungszusammenhang entführte Natur scheint zu haben nur im Zeichen ihres Verlusts. Doch die Grenze, die ja im Wort Garten selbst steckt, kann als ihr symbolischer Ausdruck gelten. Der hortus conclusus hat seine Verweisstruktur in der Ummauerung präsent. Dieter Kienast inszeniert diese Grenze in einem Garten am Uetliberg.

Sehnsuchtsort Arkadien

Über die Beschaffenheit Arkadiens, eines gebirgigen Landstrichs im Zentrum des Peloponnes, herrschen meist grobe Missverständnisse. Das Land nährte in der Antike kaum ein paar Schafherden. Kein griechischer Dichter lässt seine literarischen Schäfchen dort weiden. Daher – «et ego in Arcadia» – ist Arkadien der Ort, an dem auch der Tod, das Fremde, präsent war.[9] Mit dem sichelförmigen Schattenwurf der Hirtenhand auf dem berühmten Poussinschen Gemälde entsteht durch den Sonnenstrahl aus der Ferne das Bedrohliche, während indessen der Blick bei Zürich von der Gartengrenze zu den fernen Alpen gleitet.[10] Eine Mahnung, die den Stein am Gemälde zum Grabstein wandelt; ein aus Beton gegossener Schriftzug im Garten, an der Grenze von Kultur zur Wildnis: «Auch ich war in Arkadien geboren, / Auch mir hat die Natur / An meiner Wiege Freude zugeschworen; / Auch ich war in Arkadien geboren, / Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur.»[11]

Fremd ist der schönen Natur ihr alltägliches Vernutztsein; fremd dem Garten die unbedachte Fülle der Worte, die nicht eingebettet ist in seine Form. Mit ihnen hat Dieter Kienast auf seinem zweiten Projektplan den Wald dargestellt – mit dem in die Zeichnung haufenweise kopierten Wort «wald»; dem Jenseits. Wenn der Garten aber ein Gedicht ist, dann wandelt seine Form Natur durch Natur in einen Jungbrunnen der Präsenz.12 Seine Grenze markiert den Rand zum Anderen, das sich ästhetisch im Garten immer wieder für uns ereignet.


Anmerkungen:
[01] E. E. Cummings: Gedichte, Ebenhausen 1958, o. S. Übertragen aus dem Englischen von Eva Hesse.
[02] Vgl. die Skizzen und Überlegungen in Charles W. Moore; William J. Mitchell; William Turnbull Jr.: The Poetics of Gardens, Cambridge/MA 1995, S. 26ff.
[03] In seiner Einteilung der Naturphilosophie fasst Mutschler die vollends naturwissenschaftlich erfasste Natur als «Nat / tot / szien». Sein lesenswerter Überblick über den leicht aus den Händen gleitenden Begriff: Hans-Dieter Mutschler: Naturphilosophie, Stuttgart 2002.
[04] Vgl. einen der letzten publizierten Versuche zu einer systematischen Ästhetik der Natur: Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt / Main 1991.
[05] Robert Spaemann: «Natur» (1973), in: Ders.: Philosophische Essays, Stuttgart 1994, S. 36ff.
[06] Mit Lucius Burckhardt: «Natur ist unsichtbar, aber: Gärten handeln immer von der Natur. Sie vermitteln das, was direkt nicht wahrgenommen werden kann, als Bild.» Lucius Burckhardt: «Natur ist unsichtbar» (1989), in: Ders.: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Kassel 1980, S. 49.
[07] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), Frankfurt / Main 1968, S. 163.
[08] Robert Harrison: Gärten. Ein Versuch über das Wesen der Menschen, München 2010, S. 25. So wäre die Geschichte einer Inversion zu erzählen. Der Garten, als den man sich auch das Paradies vorstellt, ist von einem gegenteiligen Streben geprägt: Die Erkenntnis, die Herrschaft über die Natur sichern sollte, hat den Menschen aus dem Paradies vertrieben und zu Bewusstsein gebracht. Doch es sind nur Dinge, die Namen tragen, über die er nun herrscht. Er kultiviert den Garten nun mitunter, um im ästhetischen Erleben wieder zu den Phänomen selbst zu gelangen.
[09] Vgl. Erwin Panofsky: «Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen» (1936), in: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 2002, S. 351ff.
[10] «Der Horizont als Grenzphänomen ist (…) für die Regulation der Absenz zuständig, kraft derer die Zeichen des von ihm umschlossenen Wahrnehmungsfeldes eine semantische Spannung erhalten (…).» Albrecht Koschorke: Die Geschichte des Horizonts. Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt/Main 1990, S. 8.
[11] So beginnt das Gedicht Resignation, von Friedrich Schiller im Jahr 1786 in der Zeitschrift Thalia veröffentlicht; auch ein Aufruf, nicht auf die Ewigkeit zu warten, sondern die Sinnlichkeit der Gegenwart zu würdigen – die uns die Ewigkeit geliehen hat.
[12] Eine Eloge auf die reale Gegenwart der Dinge schreibt George Steiner – eine Gegenwart, die das Poetische erst hervorrufe – wir treffen sie vielleicht auch im Garten, den wir hegen und pflegen, der uns dann aber auch «anschaut». George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München, Wien 1990.
[13] Pedro Meyer: «The Unmasking in the Square», 1981, aus: Naomi Rosenblum: A World History of Photography, New York 1984, S. 539.
[14] Harry Callahan: «Eleanor, Port Huron», 1954, aus: Naomi Rosenblum: A World History of Photography, New York 1984, S. 517.
[15] Christian Vogt, Fotografie des Gartens am Uetliberg, Zürich, von Dieter Kienast, 1989 (1. Projektplan), aus: Dieter Kienast: Gärten. Gardens, Basel 1997, S. 87.

anthos, Di., 2011.11.29

29. November 2011 Albert Kirchengast

Weiher-Woge-Wolken

In Erwartung der warmen Wasser des Sommers,
versucht man, die Keilschrift der Lotusblüten zu entziffern,
wie sie von der zufälligen Geometrie der Pflanzen gezeichnet wurde
ähnlich einem Landschaftsgemälde, in dem Himmel und Wolken
die sinnlichen Kurven der Hügel spiegeln.

Am Süd- und Nordhang schwebt der Pass 620 Meter über den Höhen der Cevennen und des Mittelmeeres, das zu fern ist, um noch wirklich sichtbar zu sein, aber doch dank seines starken Charakters so gegenwärtig ist.
Es ist das Mittelmeer, das uns seine wildesten, und auch seine prächtigsten Wolken sendet.
Und so wohnen wir direkt am Meer…
am Wolkenmeer.

Hier sterben die Kastanienbäume an der Tintenkrankheit, so wie Dichter.
Wie der Erzähler Jean-Pierre Chabrol, dessen sanfte Stimme leise von den unendlichen Weiten und den grossen Aufständen der Cevennen berichtet, von Kamisarden und Partisanen der Résistance. Obwohl er uns erzählte, wie sehr der Duft des blühenden Ginsters ihn weniger an den Frühling, sondern vielmehr an den Tod erinnert, den Tod seiner Heimat, so lehnten wir uns dadurch nur noch mehr gegen diesen Tod auf.
Und so wollten wir den rebellischen Cevennen nachrufen, und erschöpft von den wieder erschönten Cevennen träumen.

Also wappneten wir uns, um auf die Landschaft zu wirken.

Nein, nicht zum Gärtnern
Nicht, um «Landschaft zu gestalten»
Sondern zum «Landschaftswirken»

Inspiriert und getrieben von den stürmischen Winden der Erinnerungen der Cevennen und anderer fantastischer Märchen, lehrte uns die Härte, uns diesen Orten zu stellen, an denen es stets und immer wieder um Leben und Tod geht. Wo die Menschen aus eigener Kraft ihr Land aufbauten, mit unendlich vielen aufeinander geschichteten Steinen, mit unendlich vielen Kämpfen.

Ach, es ist fürwahr nicht das «einfache» Südfrankreich der Strände und wolkenlosen, sorgenlosen Himmel.
Aber es ist das harte Land der Freiheit. Zwischen aufsteigendem Saft und abgründigem Hass.
Legt Eure Illusionen ab.

Der Stein muss aufgehoben werden, der stets wieder tief in das verlorene Flüsschen stürzt, fortgespült von sintflutartigen Regen im Herbst, fortgewühlt vom wütenden Rüssel des Wildschweines.
Wahrhafte Dichter müssen sich hier ganz und gar hingeben: Sie errichten Mauern aus schweren Steinen, rammen Pfähle mit dem Vorschlaghammer ein und pflanzen Bäume mit Strahlstöcken.
Also kämpfen wir mit dieser zwiegesichtigen, zugleich freundlichen und schrecklichen, furchteinflössenden Natur.
Und dann, nach so unendlich viel Schweiss, erblickten wir am Horizont, wie die Alpen erschienen, und wie sich die wogenden, provozierenden Kämme der schönen Cevennen abzeichneten.

Wieder entdeckte Quellen
Wieder aufgerichtete Mauern
Wieder eingepflanzte Bäume

Eines Tages nun, angesichts dieser zeitweiligen Gaudi, schlugen wir dem Berg einige Übereinkünfte mit dem Himmel vor.
Wir liessen den Himmel ein, in der Senke zwischen zwei Bergkämmen hindurch.
Bergsenke und Himmel – wir wussten von ihnen, dass sie mythologische, von Adonis und Venus bewohnte Landschaften waren.
Wir stellten uns den Himmel vor, eingeschmiegt in diese Bergsenke; würden wir eine erotische Landschaft erzeugen?

Zweifelsohne offenbarte sich uns hier nur urplötzlich etwas in der tiefgründigen Natur, eine Art Übernatur vielleicht, oder eher eine Subnatur?

Da erinnerten wir uns an diese «béals», die an den Felsenwänden entlang verlaufenden Bewässerungsrinnen, die das Wasser des Flusses Chassezac zu den fruchtbareren Kastanienhainen leiten. Granitblöcke, im Gleichgewicht auf der glatten Platte ruhend und auf unbegreifliche Weise wasserdicht bearbeitet, in denen dieses glasklare Wasser fliesst.
Vielleicht erinnerten wir uns an diese «lavognes», die sanften Bodensenken der trockenen Hochebenen, in denen man eine Handvoll Lehm ansammelte, um eine armselige Pfütze mitten im glühenden Sommer ein wenig vor dem Versickern zu bewahren.

– Einen Himmelsflecken auf den Berg malen –

Und als wäre es von einer anderen Natur angeleitet worden, liess sich das Wasser im Gleichgewicht auf dem Bergkamm nieder.

Seine Gestalt selber sollte zwischen den Felsen hindurch gleiten, den Abgrund meiden, als zwar natürliche Erscheinung, doch von einer anderen Naturhaftigkeit, jener, die dem Wasser oberhalb der Wolken Halt gewährt.

Himmel und Berghöhe halten sich gegenseitig hin.
Hier kommt er und umwirbt sie, streichelt sie. Dort leistet sie ihm Widerstand, gestattet ihm jedoch, ihr näher zu kommen, ja mit ihr zu verkehren.

Ein Bogen geschmeidiger Pflanzen, Huflattich, Gilbweiderich, Schwertlilie, Blutweiderich und Pfefferminze empfangen sanft ihr Liebesspiel.
Ein Strand gegenüber einem Wolkenmeer. Eine Barke, um darauf zu schweben.

Eine flache Vegetation überzieht den südlichen, mit Zistrosen bepflanzten Damm, damit den Horizonten Raum gewährt wird.
Der Damm erhebt sich nur wenige Zentimeter über der Wasseroberfläche. Die Böschung neigt sich dem Abgrund zu, um die Ferne und die geschwungenen Kämme des Horizonts näher treten zu lassen.

Die Wolken kehrten im Herbst zurück und luden den Wolkenweiher zu einer Reise in die Ferne ein.
Und so kamen die Dunstschleier des sublimierten Mittelmeeres und umschmeichelten sanft die Südflanken der Cevennen. Luden sie nicht zugleich zu den Reisen Homers ein, und könnte die Insel nicht jene der Zauberin Kirke und der natürlichen Lebensgenüsse sein?

Nun nehme man sein Bad im schwebenden, wohlwollenden Meer, seinen so langsamen Wellen, seinen so sanften Wassern.

Als der Winter kam, verstreuten wir Blütenblätter am Rande des Eises.

Und die Insel schwebt als Block aus Gneis und Quarz, über dem der grossartige Traum der Kirke gleitet.

Denn meine Asche wird sich hier mit meinen griechischen Helden wiedervereinen.

anthos, Di., 2011.11.29

29. November 2011 Michel Péna

4 | 3 | 2 | 1