Editorial

Es gilt als Binsenweisheit, dass die Mailänder Architektur eine Sogwirkung auf die Deutschschweizer Baukunst ausübte. Welche Folgen aber zeitigte sie? archi und TEC21 widmen sich je einem Protagonisten aus der Gilde jener Architekten, die der «Italianità» in der Schweiz Tür und Tor geöffnet haben: Luigi Moretti und Aldo Rossi. Während die Studierenden an der ETH nach Mailand und ins Umland pilgerten, um die Werke des «Razionalismo» in Augenschein zu nehmen, «emigrierte» Aldo Rossi in den 1970er-Jahren nach Zürich zu zwei Gastspielen an der ETH, die als legendär überliefert sind: «Aldo Rossis Auftritt an der ETH schlug ein wie eine Bombe», erinnert sich etwa Peter Märkli, der dem Urheber von «L'architettura della città» und «La città analoga» attestiert, ein Vakuum gefüllt zu haben. Märkli schliesst seinerseits in unseren beiden Zeitschriften gleichsam eine Lücke («Al piano nobile passando dalla scala di servizio» – «Über die Hintertreppe in das piano nobile», archi, S. 62–67): Obwohl oder gerade weil nicht eigentlich in Rossis Bann geschlagen und nicht auf dem kürzesten Weg nach Mailand gelangt, weiss er um beider Wirkung. Auf einen konzisen Nenner bringt sie auch der gleichaltrige Miroslav Šik: «Das Hin und Her zwischen Aldo Rossi und einer als Rationalismus des Mittelmeerraums verstandenen Moderne charakterisiert unsere zweite Rossi-Generation. Einerseits lesen wir Rossis Theorie und befolgen seine Entwurfsmethode, mischen jedoch andererseits und in zunehmendem Mass Rossis Formen mit der Architektur von Giuseppe Terragni und anderen Rationalisten.»[1] Er tut dies in dem Buch «Aldo Rossi und die Schweiz», das in Kürze im gta Verlag erscheint und von dem wir hier Auszüge publizieren dürfen. Sie befassen sich mit der Lehre («Die das Glück hatten, ihn zu kennen»), mit einem vergessenen Projekt des Meisters in Bern («Klösterli, Kathedrale, Rost und Rüstung») und mit seiner Nachwirkung («Genealogie – Aldo Rossi und Herzog & de Meuron»).

Sie legen Zeugnis ab vom Faszinosum Aldo Rossi, der das paradox anmutende Kunststück fertigbrachte, mittels Architektur jene politischen Wogen im Nachgang der 1968er-Jahre zu glätten, zu deren Strom er in Italien auch gehört hatte. Sie ziehen uns in «seine labyrinthische Welt unzähliger Lektüren und Kuriositäten»[2]. Und sie erweisen ihm vielleicht die grösste Ehre durch den «symbolischen architektonischen Vatermord»: «Heute ist Aldo Rossi gestorben.»[3] Es lebe Aldo Rossi!
Rahel Hartmann Schweizer

Anmerkungen:
[01] Miroslav Šik, «Lernen von Rossi», in: Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner (Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen. gta Verlag, Zürich 2011, S. 69–76
[02] Bruno Reichlin, «Amarcord» – Erinnerung an Aldo Rossi». Ebd. S. 29–44
[03] Diogo Seixas Lopes, «South of No North» – Rossi und Portugal». Ebd., S. 131–142

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Totenkapelle in Buochs | Wohnbebauungen für Trogen

10 MAGAZIN
Die Welten des Gio Ponti | Paradoxien und Komplementaritäten | 25 Jahre Binding Waldpreis

18 DIE DAS GLÜCK HATTEN, IHN ZU KENNEN
Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner Heute würde man das Engagement von Aldo Rossi (1931–1997) an der ETH Zürich in den 1970er-Jahren als «Win-win-Situation» bezeichnen: Rossi erschloss sich architektonisches Neuland und füllte das geistige Vakuum, das die Studierenden empfanden.

23 KLÖSTERLI, KATHEDRALE, ROST UND RÜSTUNG
Heinrich Helfenstein Aldo Rossis gebaute Hinterlassenschaft in der Schweiz ist spärlich. Kaum bekannt ist sein Entwurf für das Berner Klösterliareal, den er im Rahmen eines Wettbewerbs 1981 vorlegte. Heinrich Helfenstein holt das fast verschollene Projekt ans Licht.

28 GENEALOGIE: ALDO ROSSI UND HERZOG & DE MEURON
Philip Ursprung Der Einfluss Aldo Rossis auf das Schaffen von Herzog & de Meuron bewegt sich zwischen den Polen Fortführen seines Vermächtnisses und Überwindung seiner Position.

33 SIA
Beitritte zum SIA im 1. Quartal 2011 | Neuerscheinungen SIA | Schweizer Schulprojekt prämiert | Lehrstellenmangel im Berufsfeld | 1. Delegiertenversammlung 2011 | Können Normen Innovationen fördern?

39 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Die das Glück hatten, ihn zu kennen

Heute würde man das Engagement von Aldo Rossi (1931–1997) an der ETH
Zürich Anfang und Mitte der 1970er-Jahre als «Win-win-Situation» bezeichnen:
Rossi erschloss für sich architektonisches Neuland und füllte das
geistige Vakuum, das die Studierenden empfanden. Die Einschätzung seiner
Bedeutung für die Entwicklung der Deutschschweizer Architektur wandelte
sich im Laufe der Jahre. Ákos Moravánszky und Judith Hopfengärtner zeigen,
dass sie kaum zu hoch angesetzt werden kann.1
«Wie man wird, was man ist»,2 diese Formulierung Friedrich Nietzsches umreisst die Aufgabe,
die sich Aldo Rossi in seiner «Wissenschaftlichen Selbstbiographie» stellte. Das Buch
ist dem Nachdenken über das eigene Leben, der Verdichtung des Werdegangs und der
Arbeiten
in eine schlüssige Erzählung gewidmet. Seinem Aufenthalt in Zürich, wo er zwischen
1972 und 1974 Gastdozent und seit 1976 für zwei Jahre Lehrbeauftragter an der Eidgenössischen
Technischen Hochschule (ETH) war, kommt dabei eine wichtige Rolle zu. So wie
Zürich
für Rossi eine Loslösung von seiner norditalienischen Heimat darstellte und eine
Verschiebung
seiner architektonischen Schwerpunkte ermöglichte, half umgekehrt auch
Rossi der Schweizer Architektur, eine Situation zu überwinden, die von vielen damaligen
Architekturstudierenden
als Lähmung, als geistiges «Vakuum»3 wahrgenommen wurde. Es
fällt heute schwer, zu verstehen, worin genau die Natur dieser Krise um 1970 bestand. International
anerkannte Architekten sind als Professoren tätig. Bernhard Hoeslis (1923–1984)
viel gelobter Grundkurs vermittelt beispielhaft die elementaren Gestaltungsprinzipien und
das Raumverständnis der architektonischen Moderne.4 Auch die theoretische Beschäftigung
mit der Disziplin kommt nicht zu kurz: Bereits 1967 hatte Hoesli zusammen mit Paul Hofer
und Adolf Max Vogt das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta) gegründet.5 Die
Architekturschule hatte keinen für eine zeitgemässe Entwicklung nötigen Schritt verpasst,
im Gegenteil, alle Facetten sind vertreten, auch soziologische Forschung wird betrieben.
Warum also die Unzufriedenheit?
«Houses of Cards», HippieSt ädte – «Oppositions», Gegenkultur
Die Ursachen lagen sowohl auf der architektonischen als auch auf der politischen Ebene –
wobei beide sich gegenseitig beeinflussten. Auf dem Gebiet der Architektur waren es ihre
vielen neuen Interpretationen, die intellektuell anregend waren, aber die bisher geltenden
Werte von unterschiedlichen Positionen her ablehnten. Weltweit erscheinen kleine Architekturzeitschriften,
und bald wird mit dem Start von «Oppositions» (1973) die Architekturtheorie
eine neue Bedeutung gewinnen. Peter Eisenmans «Houses of Cards», Robert Venturis und
Denise Scott Browns enthusiastische Forschungen über Las Vegas, die alternativen Versuche
zum Selbstbau, Hippiestädte und Gegenkultur, die Anfänge eines ökologischen Bewusstseins
sind Teile einer schwindelerregenden Gleichzeitigkeit von emotionell vorgetragenen
Vorschlägen. Im Zuge dieser grundsätzlichen Anzweiflung der Glaubenssätze der modernen
Architektur wird auch die «einmalige dogmatische Geschlossenheit» von Hoeslis legendärem
Grundkurs zunehmend als fragwürdig empfunden. Die beunruhigenden Auswirkungen des
Bauwirtschaftsfunktionalismus der Nachkriegszeit auf die gebaute Umwelt stellen zudem
immer
drängender die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung von Architektur und
nach Möglichkeiten ihrer erneuten Legitimierung. Ein «verbindliches Berufsbild des
Architekten, das als Leitbild für die Ausbildung dienen kann», lasse sich angesichts der ge
sellschaftlichen Wandlung und der Industrialisierung des Bauprozesses nicht mehr definieren
– heisst es im kurzem Bericht der Architekturabteilung, der im Januar 1972 im Band
«ETH Zürich heute» veröffentlicht wird.6
In einer heiklen Situation befand sich der damalige Präsident der ETH Zürich, Hans H. Hauri,
auch in politischer Hinsicht. Seit die marxistische oder marxistisch inspirierte Kritik am Wohlfahrtsstaat
im Juni 1968 mit dem Globus-Krawall eskaliert war, befand sich die ETH in der
sogenannten Experimentierphase, in der eine eigens eingesetzte Kommission grundlegende
didaktische und hochschulpolitische Reformen durchzusetzen versuchte. Am Architekturdepartement
probte das von Lucius Burckhardt mit Rolf Gutmann gemeinsam besetzte
«Lehrcanapé» auf vergleichsweise sanfte Weise eine Enthierarchisierung der Lehrstrukturen
zugunsten kollektiver Lernprozesse. «Harte Zeiten» hiess dagegen die Zeitung, die vom
Seminar
des deutschen Soziologen Jörn Janssen herausgebracht wurde.7 Dessen Ziele
fassten die Assistenten des Gastdozenten, Heiner Bachmann, Rut Föhn und Hartmut Frank,
in der Zeitschrift «Kursbuch» nachträglich zusammen: «Unter dem Titel ‹Ökonomische Kriterien
für Planungsentscheidungen› untersuchte ein Seminar […] in Form einer Fallstudie die
sprunghafte Entwicklung der Zürcher Vorortsgemeinde Volketswil im Zusammenhang mit der
expansiven Bautätigkeit der Generalunternehmung Ernst Göhner AG. Das Thema versprach
Erkenntnisse, die die offiziellen Lehrziele und Berufserwartungen der Architekturstudierenden
sowie den Glauben an Demokratie in Gemeinde und Staat fundamental erschüttern würden.
»8 Als Ergebnis erschien 1972 das Buch «‹Göhnerswil› – Wohnungsbau im Kapitalismus
».9 Die ETH-Führung hatte freilich schon fast ein Jahr vorher auf die als bedrohlich
eingestufte Entwicklung reagiert und am 24. Juni 1971 die Nichtverlängerung der Verträge
der drei studentisch gewählten deutschen Gastdozenten Jörn Janssen, Hans-Otto Schulte
und Hermann Zinn bekannt gegeben.
Schnelle Anerkennung, scharfe Kritik
Ein Jahr nach der Göhnerswil-Affäre einen Gastdozenten aus Italien anzustellen, der Mitglied
der Kommunistischen Partei war und der wenig vorher aus politischen Gründen von seiner
Professur in Mailand suspendiert worden war, musste als ein riskanter Schritt erscheinen – in
Wirklichkeit war es ein genialer Schachzug.10 Man reagierte damit auf die Politisierung eines
Teils der Studentenschaft und zugleich auf das nicht zu übersehende Unbehagen an der
Architekturabteilung
hinsichtlich der zu vermittelnden Inhalte und Wertvorstellungen. Rückblickend
scheint es, dass sich in Rossis vielschichtiger und widersprüchlicher Persönlichkeit
ein geradezu ideales Mittel fand, um der Krise an der Architekturabteilung der ETH zu
begegnen.
Die aufgewühlten Verhältnisse an der Architekturabteilung bildeten denn auch eine fruchtbare
Voraussetzung für die unmittelbare und durchschlagende Wirkung, die Rossi in Zürich
entfalten sollte. Die charismatische Persönlichkeit des leise und höflich auftretenden Intellektuellen
und ein (mit Unterstützung seiner Assistenten Bruno Reichlin und Fabio Reinhart)
streng durchorganisierter Unterricht taten ein Übriges, um schnell Anerkennung zu erhalten,
aber auch scharfe Kritik zu erregen. Er brachte es fertig, die ambitioniertesten und zugleich
politisch radikalsten Studierenden in seinen Bann zu ziehen und gewissermassen an die
Zeichentische zu fesseln. So trug gerade ein Kommunist mit seinem Postulat, Architektur als
eine autonome Praxis zu betrachten, wesentlich zur Befriedung der revoltierenden Studentenschaft
bei. Rossis Kurs forderte – wie sich ein ehemaliger Student erinnert – zum «totalen
Engagement» heraus und riss «an der höchsten Schule des Landes […] eine Generation
von Studierenden mit, Stadtentwicklungen Haus für Haus aufzuzeichnen und schliesslich
über ganze Stadtteile jede Grundrissmauer aufzuzeichnen. […] So sassen die […] revolutionären
Studierenden denn hunderte von Stunden mit Tuschstift und Klebefolie über ihren
Plänen. Sie erlebten eine neuartige, stille Gemeinschaft […].»11
Die Auswirkungen der im Herbst 1973 einsetzenden Ölkrise beendeten die offizielle Experimentierphase
an der ETH und verhinderten durch den schulweit verhängten Einstellungsstopp
auch eine weitere Verlängerung von Rossis Anstellung über den Sommer 1974 hinaus.
Erst recht mussten seine Hoffnungen auf eine feste Professur begraben werden.
Von der Experimentier- zur Zementierphase
Rossis zweite, von 1976 bis 1978 dauernde Zürcher Lehrperiode fand unter veränderten
Vorzeichen statt. Aus der «Experimentierphase» war, im Gleichklang mit den politischen
Tendenzen, längst eine «Zementierphase» geworden, und die revolutionären Bestrebungen
hatten sich in heterogene autonome Subkulturen verzweigt. Auch die Architekturabteilung
befand sich gemäss Hoesli in einer «eklektischen Situation». «Die gegenwärtige Lage der
Schule [ist] dadurch gekennzeichnet, dass die Fixpunkte, welche für Lehrer und Schüler
eine Orientierung ermöglichten, entrückt sind. An deren Stelle können wir nur eine Vielzahl
von Tendenzen sehen. Das Wetter ist veränderlich geworden», schrieb Bernhard Hoesli
1975 in einem Thesenpapier zur Standortbestimmung an der Abteilung.12 Italienischsprachige
Gastdozenten, insbesondere Vertreter der Tessiner Tendenza, waren mittlerweile zu einer
festen Grösse im Lehrbetrieb geworden. Aldo Rossi erhielt 1976 eine Einladung als Lehrbeauftragter
an Paul Hofers Lehrstuhl für Geschichte des Städtebaus und allgemeine
Denkmalpflege.
Daraus entwickelte sich im darauffolgenden Jahr ein gemeinsames Unterrichtsexperiment
von Rossi, Hofer und Hoesli, das «Unternehmen Solothurn». Die Zusammenarbeit
gestaltete sich schwierig, eine Verlängerung seines Engagements als Lehrbeauftragter
schlug Rossi wegen der vergleichsweise unattraktiven Bedingungen aus.
Mehrere Anläufe, Rossi als Professor wieder an die Schule zu holen, scheiterten, wie auch
im Jahr 1986 der Versuch, ihm die Ehrendoktorwürde der ETH Zürich zu verleihen. In einem
dafür verfassten Empfehlungsschreiben bezeichnet Fabio Reinhart die Begegnung zwischen
Aldo Rossi und der ETH noch optimistisch als glückliches Zusammentreffen («un incontro
felice») und hebt dabei besonders die Dauerhaftigkeit des gegenseitigen Interesses
hervor.13
St adt, Typenlehre, Rationalismus und Monumentalität
Auch wenn seine späteren Projekte bei vielen auf Unverständnis stiessen, wird unvermindert
auf Aldo Rossis Zürcher Lehrtätigkeit hingewiesen, wenn es darum geht, relevante Impulse
für die Entwicklung der Deutschschweizer Architektur zu benennen. Die Schwerpunkte der
Rezeption haben sich jedoch mit der Zeit verlagert. In dem charakteristischen Pluralismus
der möglichen Alternativen zu Beginn der 1970er-Jahre bedeutete die Einladung des Mailänder
Architekten zunächst eine Rückbesinnung auf bestimmte Konstanten. Bereits in
Rossis
ersten Tagebuchaufzeichnungen zu seinem Unterrichtsprogramm sind alle Elemente
festgehalten, mit denen seine Theorie bis heute vornehmlich verbunden wird: die Stadt, die
Typenlehre, Rationalismus und Monumentalität.
1986 wagte Pierre-Alain Croset in einem «archithese»-Heft zum «Stand der Dinge» eine
erste
Einschätzung der «Rossi-Jahre» und konstatierte mit Blick auf die in ganz Europa stattfindenden
«Exzesse» der Nachahmung, dass es den Zürcher Schülern möglicherweise als
einzigen gelungen sei, ein «antiformalistisches», das heisst ein gedankliches und methodisches
Erbe anzutreten.14 Fünf Jahre später heben die Essays von Martin Steinmann, Dolf
Schnebli, Luigi Snozzi und Marcel Meili in Peter Dischs «Architektur in der Deutschen
Schweiz 1980–1990» Rossis immensen Beitrag zur Emanzipierung der Deutschschweizer
Architektur hervor. Eine breiter gefächerte Rückschau findet 1997 – anlässlich von Rossis
Tod – in der Zeitschrift «Werk, Bauen und Wohnen» statt. In diesen «Kommentaren zur Zürcher
Lehrtätigkeit von Aldo Rossi» schildern ehemalige Kollegen, Mitarbeiter und Schüler
ihre Erinnerungen an den «Maestro» – unter der Prämisse, dass nur «die, welche das Glück
hatten, ihn zu kennen» die Bedeutung von Aldo Rossis (Zürcher) Erbe ermessen können.15
Prof. Dr. Ákos Moravánszky, Titularprofessur für Architekturtheorie, Institut für Geschichte und
Theorie
der Architektur gta, moravanszky@gta.arch.ethz.ch. Judith Hopfengärtner, dipl. Arch. UCL,
Institut
für Geschichte und Theorie der Architektur, judith.hopfengaertner@gta.arch.ethz.ch
Anmerkungen
1 Auszüge aus: Ákos Moravánszky und Judith Hopfengärtner, «Wie man wird, was man ist – Eine Einführung
», in: Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner (Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische
Wechselwirkungen. gta Verlag, Zürich 2011, S. 9–22
2 Untertitel von Nietzsches letztem Buch, Ecce Homo (1889 geschrieben, veröffentlicht in Leipzig 1908)
3 Siehe den Beitrag von Philip Ursprung, S. 28
4 Bernhard Hoesli entwickelte und unterrichtete den Grundkurs von 1959 bis 1968. «Der ganze Aufbau
von Hoeslis Entwurfslehre zielt darauf ab, rein subjektive und […] irrationale Entwurfsentscheide […] zu
eliminieren und die Entscheidungsfindung auf objektive, nachvollziehbare Kriterien zu gründen. Das war
sein grosser Beitrag für die Entwurfslehre […] in den 1960er-Jahren, der bis heute folgenreich ist.»
Pia Simmendinger: Heinrich Bernhard Hoeslis Entwurfslehre an der ETH Zürich – Eine Untersuchung
über Inhalte, Umsetzung und Erfolg seines Grundkurses von 1959 bis 1968. Diss. 2010, S. II
5 1968 erscheint als 4. Band der Publikationen des Instituts gta die deutsche Übersetzung eines wichtigen
Dokuments der Nachkriegsmoderne, «Transparency» von Colin Rowe und Robert Slutzky (1964),
mit einem ausführlichen Kommentar von Bernhard Hoesli
6 Peter L. Käfer u. a., ETH Zürich heute. Eidgenössische Technische Hochschule, Zürich 1972, S. 29
7 Harte Zeiten (Zeitung des Projektseminars: Oekonomische Kriterien für Planungsentscheidungen,
Abteilung Architektur, ETH Zürich), H. 0–7, November 1970–Juli 1971
8 Heiner Bachmann, Rut Föhn, Hartmut Frank, «Kapitalistischer Wohnungsbau: Zum Beispiel Volketswil
», in: Kursbuch 27 (Mai 1972), S. 184
9 Heiner Bachmann u. a. (Autorenkollektiv an der Architekturabteilung der ETH Zürich), «Göhnerswil» –
Wohnungsbau im Kapitalismus. Eine Untersuchung über die Bedingungen und Auswirkungen der privatwirtschaftlichen
Wohnungsproduktion am Beispiel der Vorstadtsiedlung «Sunnebüel» in Volketswil bei
Zürich und der Generalunternehmung Ernst Göhner AG, Zürich 1972
10 Rossi trat 1956 in die KP ein, zu einer Zeit, in der viele die Partei wegen der Niederschlagung des
ungarischen Volksaufstands verliessen. Rossi war im November 1971 vom Dienst als Professor des Mailänder
Polytechnikums suspendiert worden – offiziell, weil er Vertretern der Studentenbewegung Unterschlupf
in der Universität gewährt habe. Tatsächlich war es wohl die Reaktion auf die Kritik, «die Rossi
seit seiner Ernennung zum Professor sechs Jahre zuvor unter dem Eindruck der Studentenproteste immer
wieder aufs Neue vorbrachte. […] ‹La disciplina nel sistema universitario› lautet etwa der Titel
einer
lezione am 20. April 1966, in der sich Rossi die Universität als einen Ort der Demokratie und des
gleichberechtigten Miteinanders von Professoren und Studenten vorstellt.» Carsten Ruhl, «Hinter dem
Schleier der Geschichte – Aldo Rossi und die Didaktik des Unsichtbaren», in: Ákos Moravánszky, Judith
Hopfengärtner (Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen. gta Verlag, Zürich
2011, S. 143–156
11 Hans-Peter Bärtschi, Auszug aus: «Der Osten war rot», unveröff. Typoskript, März 2008
12 Bernhard Hoesli, Architexte, zusammengestellt und aufbereitet von Guido Kueng, Lehrstuhl Prof.
Heinz Ronner, ETH Zürich, Zürich o. J. [1989/91], S. 21
13 Fabio Reinhart, «Proposta di laurea ad honorem ad Aldo Rossi», unveröff. Typoskript (1 S.), Archiv
Fabio Reinhart. Reinhart war 1985–1991 Assistenzprofessor für Architektur und Entwerfen an der ETH
Zürich. Zusammen mit Miroslav Šik präsentierte er 1986 die Ausstellung «Analoge Architektur»
14 Pierre-Alain Croset, «Das Privileg zu bauen», in: archithese 17 (1986), H. 1, S. 3–8, hier S. 8
15 Eraldo Consolascio und Marie-Claude Bétrix, Bilder gegen Rhethorik, in: «Viele Mythen, ein Maestro.
Kommentare zur Zürcher Lehrtätigkeit von Aldo Rossi», in: Werk, Bauen Wohnen 84 (1997), H. 12,
S. 42–44, hier S. 43

TEC21, Do., 2011.06.16

16. Juni 2011

Klösterli, Kathedrale, Rost und Rüstung

Aldo Rossis gebaute Hinterlassenschaft in der Schweiz ist spärlich und
manifestiert
sich lediglich in der zusammen mit Bruno Reichlin und Fabio
Reinhart 1974 realisierten Fussgängerbrücke in Bellinzona. Kaum bekannt
ist sein Entwurf für das Berner Klösterliareal, den er im Rahmen eines
Wettbewerbs 1981 vorlegte. Heinrich Helfenstein holt das fast verschollene
Projekt ans Licht.1
Das Klösterliareal besetzt ein städtebaulich und stadtgeschichtlich bedeutsames Terrain in
Bern. Unmittelbar gegenüber der Spitze der mittelalterlichen Stadt und zwischen Untertorund
Nydeggbrücke, den beiden ältesten Aarebrücken, gelegen, verschränken sich hier halb
städtische und halb ländliche Bauten zu einem charakteristischen Gemisch. Die schräg
abfallende
Ebene hinter den Gebäuden dient als wichtiger Touristenumschlagplatz. Infolge
jahrzehntelanger Vernachlässigung der Bausubstanz waren zu Beginn der 1980er-Jahre
mehrere Häuser aus hygienischen Gründen seit längerem ungenutzt und dem Verfall ausgesetzt.
Mit dem architektonisch-städtebaulichen Ideenwettbewerb von 1981 suchte die Stadt
nach einem Konzept für die Erneuerung des Areals und gleichzeitig nach einer qualitativen
Mehrung der urbanen Substanz, die eine Erweiterung des Stadtkerns ermöglichen sollte.
Im Preisgericht figurierten unter anderem die Professoren Friedrich Achleitner aus Wien,
Paul Hofer aus Bern und Dolf Schnebli aus Zürich. Der 1. Preis ging an den Wiener Architekten
Heinz Tesar. Rossis Entwurf (Mitarbeit Gianni Braghieri und Christopher Stead) erhielt
den 1. Ankauf (Abb. 3–6). Die Realisierung des Siegerprojekts scheiterte in der Volksabstimmung.
In der Folge wurden die bestehenden Bauten mehrheitlich nach denkmalpflegerischen
Gesichtspunkten restauriert.
Lob für Zeichenhaftigkeit und «positive Rh etorik»
Die Einschätzung von Rossis Entwurf durch die Jury liest sich reichlich gewunden.2 Seine
Zeichenhaftigkeit und die «positive Rhetorik» werden gelobt, aber bereits der Einsatz von
Stahl für den grossen Kubus stösst auf Vorbehalte. Der dominante Eingriff wird als Objekt
der «kollektiven Selbstinterpretation» verstanden. Allein auf der städtebaulichen Ebene sei
der Entwurf nicht diskutierbar. Die als «Herausforderung» für Bürger und Touristen verstandene
Intervention sei auch als «literarischer Beitrag» und als ein «Objekt der bildenden
Kunst» zu lesen. Rossi selbst erläuterte seinen Entwurf auf Blatt 1 seiner Wettbewerbseingabe
in einer ausführlichen Beschreibung (Abb. 3).
Abgesehen von einer realisierten Fussgängerbrücke im Burgenbereich von Bellinzona
(
zusammen mit Bruno Reichlin und Fabio Reinhart, 1974) stellt das Projekt für das Berner
Klösterliareal Rossis einzigen Entwurf im Schweizer Kontext dar. Von der Wettbewerbseingabe
findet sich allerdings in den Berner Archiven keine Spur. Pläne und Modell sind
offensichtlich
einer Räumungsaktion zum Opfer gefallen. Das hier präsentierte fotografische
Material verdanken wir einer persönlichen Aktion des Berner Architekten Jürg Zulauf, der als
Student 1972/73 an Rossis erstem Jahreskurs in Zürich teilgenommen hatte.
Die analoge Methode
Zeitlich situiert sich der Berner Entwurf wenige Jahre nach Rossis zweitem Zürcher Lehrauftrag
(1976–1978), als nach ergebnislosen Versuchen die Hoffnung auf einen Entwurfslehrstuhl
an der ETH aufgegeben war und sich die Beziehungen zu Zürich gelockert hatten.
Es mag auf den ersten Blick erstaunen, mit welchem Ernst Rossi auf die damalige Nutzung
des Areals eingeht: Mit aller Vehemenz wendet er sich gegen ein unterirdisches Parkhaus,
und als Einziger geht er sehr sorgsam mit dem Aarehügel um. Damit verschafft er sich unter
anderem eine realistische Grundlage für sein eigentliches Projekt. Dieses selbst darf als
komplexe Einlösung seiner analogischen Methode betrachtet werden. Wie wichtig Aldo
Rossi
der Berner Entwurf war, geht aus dem Raum hervor, den dieser in seinem «Libro
azzurro
» einnimmt (Abb. 1, 2).3 Ferner wurde er 1981 an prominentester Stelle an der
XVI. Triennale di Milano ausgestellt.
Villa und Holzb aracke
Der Entwurf inspiriert sich an den besonderen Merkmalen des Ortes und artikuliert die
Spannung
zwischen der Zähringerstadt und dem auf mythische Vorzeiten verweisenden
Bärengraben.
Dabei nährt er sich von der Erinnerung eines Zustands vor der Errichtung
trennender Mauern zwischen Stadt und Land. In gewagter Analogie rückt Rossi den

«gotischen» Stadtstaat in die Nähe der Stadt der griechischen Antike (Athen),4 die in archaischer
Zeit ebenfalls keine Trennung von Stadt und Landschaft kannte. Hier zeigt sich
das «Ruminieren von Vergangenheitsmaterial» (C. G. Jung) in einem sehr frühen Stadium
des Entwerfens, wenn es noch nicht einmal als Bild fassbar ist. Diese ruminierende Erinnerung
früher Stadt-Land-Beziehungen findet im Entwurf ihren konkreten Schauplatz, wo sie
sich jedoch mit persönlichen Elementen überlagert und damit zu unauflösbaren Bildern verschmilzt:
Ein mächtiger, gegen den Himmel offener Stahlkubus öffnet sich mit einer Sichtluke
auf die Landschaft. Zugleich erinnert dieser Kubus an Rossis frühen Entwurf eines Denk-
mals für die im Widerstand Gefallenen in Cuneo (1962), wobei sich der Bedeutungsgehalt
vollkommen verändert hat (Abb. 6). Die architektonische «Selbstbeschreibung» setzt sich
fort mit der Referenz auf die Stützen der Villa in Borgo Ticino (1973), die das Gebäude mit
dem Gelände vermitteln und Letzterem seine Integrität bewahren, hier verschmolzen mit
dem Bild provisorischer Holzbaracken auf Baustellen in den Schweizer Alpen. – Daneben
breitet Rossi ein Netz von teils weit auseinanderliegenden literarischen Versatzstücken aus,
die aus ihrem Kontext gelöst, gewissermassen als Rohmaterial verwendet, im neuen Zusammenhang
ganz neue Sinnmöglichkeiten öffnen.
Versatzstücke aus bildender Kunst und Literatur
So werden die letzten Worte aus Friedrich Hölderlins Gedicht «Hälfte des Lebens» – «im
Winde / Klirren die Fahnen» – direkt in ein Bild umgesetzt. Als ähnlich verzweigt und vielschichtig
erweisen sich die Konnotationen, die das Wettbewerbsmotto auslöst: «Un revolver,
c’est solide, c’est en acier» ist der letzte Satz im Roman «Le feu follet» (1931) von Pierre
Drieu
La Rochelle,5 und auch der letzte der Hauptperson Alain, bevor dieser sich das Leben
nimmt. Somit wird um das Thema des Metalls eine ganze Assoziationskette aufgebaut: Der
«revolver» erscheint wie die Miniatur des Stahlkubus für Bern, der seinerseits an die ebenfalls
auf die Landschaft hin geöffnete, begehbare «macchina» der Monumentalskulptur des
San Carlone in Arona erinnert;6 in seiner «Wissenschaftlichen Selbstbiographie» vergleicht
Aldo Rossi den «Santone» mit einer «Lokomotive oder ein[em] Panzer im Stillstand».7 Die
Evokation des kalten Stahls und des grünlichen Körpers auf Matthias Grünewalds Gemälden
wirkt wie ein entstelltes Echo auf Hölderlins abschliessende Verse: «sprachlos und kalt».
Im «Libro azzurro», einem Buch der architektonischen Selbstbeschreibung, bezieht sich
Rossi explizit auf den Berner Entwurf: «Es ist schwierig, diesen Entwurf darzustellen, der
sich mit der Stadt und zugleich mit einer Architektur identifiziert / ich versuchte, das Schweigen
der immer wiederholten und für immer ausgesprochenen Dinge zu erreichen. […] Die
eigenen Werke mit der Landschaft und der Geschichte verschmolzen zu sehen, erscheint
mir sehr wichtig; vielleicht ist es das Ziel selbst unseres Suchens.»8
Wenn Aldo Rossi in der «Architettura della città» die Passage über Athen mit einem Zitat von
Karl Marx aus der Einleitung (1857) zur «Kritik der politischen Oekonomie» beginnt, in der
dieser die griechische Kunst als Kindheit der Menschheit bezeichnet,9 so stellt sich die Frage,
ob seine spätere fast obsessive Beschwörung der «sprachlosen Kälte» nicht auch zu
verstehen sein muss als Abgesang auf die Stadt, so wie wir sie gekannt haben: «Ora tutto
questo è perduto.»10
Heinrich Helfenstein, Architekturfotograf, atelier@heinrich-helfenstein.ch
Anmerkungen
1 Auszüge aus: Heinrich Helfenstein, «‹Un revolver, c’est solide, c’est en acier›. – Zu einem wenig bekannten
Entwurf Aldo Rossis für das Berner Klösterliareal», in: Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner
(Hg.): Aldo Rossi und die Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen. gta Verlag, Zürich 2011,
S. 107–117
2 Bericht der Jury, Juni 1981, Stadtarchiv Bern
3 Aldo Rossi, Il libro azzurro. I miei progetti. 1981, Zürich 1983 (Faksimile des Skizzenbuchs von
1981/82), Blatt 42, 42v, 43, 42/43
4 Vgl. dazu Rossis Äusserungen zum antiken Athen in: L’architettura della città 1966, S. 153–157 und
passim
5 Der Roman wurde von Louis Malle, einem von Rossi hochgeachteten Regisseur, 1963 verfilmt
6 Diesen Hinweis verdanke ich Judith Hopfengärtner
7 Aldo Rossi, Wissenschaftliche Selbstbiographie, übers. von Heinrich Helfenstein, Bern/Berlin 1988, S. 14
8 Rossi 1983 (wie Anm. 3), Text zu Bl. 43 und 44 (Übersetzung des Verf.)
9 Vgl. Karl Marx, Einleitung (1857), in: ders., Zur Kritik der politischen Oekonomie (1859). Berlin 1961
(= MEW 13), S. 613–642, hier S. 641f.; vgl. Anm. 15
10 Zu Rossi als «der Mann, der von einem tragischen Lebensgefühl durchdrungen war» und seiner
Darstellung
der Stadt in seiner nach einem Vers Georg Trakls benannten Radierung «Ora questo è perduto
» «als Welt, die sich zersetzt und auflöst», siehe Daniele Vitale, «Aldo Rossi und die Architektur:
‹ora questo è perduto›», in: Ákos Moravánszky, Judith Hopfengärtner (Hg.): Aldo Rossi und die
Schweiz – Architektonische Wechselwirkungen, gta Verlag. Zürich 2011, S. 157–15

TEC21, Do., 2011.06.16

16. Juni 2011

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