Editorial

Fugen – im Speziellen Dilatationsfugen – sind vor allem im Aussenbereich unterhaltsintensiv, schadensanfällig, ausführungstechnisch heikel und planerisch herausfordernd. Man sollte diese Schwachstellen allein deshalb schon gänzlich vermeiden oder zumindest versuchen, sie in ihrer Anzahl zu reduzieren. Architektonische Konzepte, die das Gebäude als einheitliches Volumen erscheinen lassen, unterstützen diese Ausfüh-rungsweise im Hochbau. Man möchte die Fassade in einem Guss erstellen, um den monolithischen Eindruck zu verstärken und gleichzeitig robuste Flächen zu schaffen.

Dieser Fugenlosigkeit betonierter Flächen stehen die Betonverformungen infolge des Schwindens und der Temperaturänderungen entgegen. Durch Zwängungen und bei Überbeanspruchung des Materials können Spannungsrisse entstehen, welche die Gebrauchstauglichkeit und die Dauerhaftigkeit beeinträchtigen können. Um die Bauteilbewegungen dennoch aufzufangen, ohne dass Risse entstehen, entwickeln Bauingenieure alternative Konstruktions- und Ausführungslösungen, die neben den architektonischen auch die technischen Anforderungen dauerhaft erfüllen.

In dieser TEC21-Ausgabe werden drei Gebäude vorgestellt, deren Sichtbetonfassaden ohne Dilatationsfugen ausgeführt wurden. Der Grund für diese Umsetzung war im Prinzip derselbe: Man wollte unterhaltsarme und einheitliche Flächen realisieren. Bei kleineren Gebäuden kann eine monolithische Bauweise mit konstruktiver Bewehrung («Modellierter Monolith») oder durch eine speziell auf das Projekt angepasste Betonre-zeptur umgesetzt werden («Gegossenes Volumen»). Bei Gebäuden mit längeren Fassadenabwicklungen stellen erst mechanische Ansätze die konstruktive Lösung bereit. Man zwingt die Bauteile nicht in ihre feste Form, sondern gibt ihnen den notwendigen Bewegungsspielraum («Be-wegliche Lochfassade»). Von «fugenlos» zu sprechen ist allerdings trügerisch, denn die funktionalen Fugen verschwinden nicht, sie werden nur «umplatziert» – also mit architektonisch oder ästhetisch ohnehin notwendigen oder gewünschten Fugen zusammengelegt und so unsichtbar gemacht. Auch mit Arbeitsfugen wird in ähnlicher Weise umgegangen – sie werden beispielsweise aufwendig auf das Schalungsbild abge-stimmt und so kaschiert.

Ein fugenlos erscheinendes Flächen- bzw. Fassadenbild benötigt einen planerisch aufwendigen und zeitintensiven Prozess, denn das Unver-meidliche auf eine kreative und ideenreiche Weise unsichtbar zu machen, ist meist mit einem grösseren planerischen Aufwand verbunden, als das Notwendige anspruchslos und offensichtlich auszuführen. Aber der Aufwand lohnt sich.
Clementine van Rooden

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Auszeichnung FEB 2010 | Alterszentrum Obere Mühle, Lenzburg

12 PERSÖNLICH
Michael Kaufmann: «Ich überschreite keine Grenzen» | Ämter und Ehren

14 MAGAZIN
Einsatz von höherfestem Betonstahl | Baufachleute sind Konfliktbewältiger

18 BEWEGLICHE LOCHFASSADE
Nico Ros, Andreas Zachmann Die fugenlose Sichtbetonfassade des Interkantonalen Gymnasiums in Payerne steht auf beweglichen Lagern, welche die Längenveränderungen aufnehmen.

23 GEGOSSENES VOLUMEN
Jordan Kusigerski Die Sichtbetonfassade des Neubaus am Hottingerplatz in Zürich ist ohne Dilatationsfugen ausgeführt. Die Bauingenieure bedienten sich der Betontechnologie und einer speziellen Nachbehandlung.

28 MODELLIERTER MONOLITH
Jutta Glanzmann Gut Das architektonische Konzept eines fugenlosen Körpers setzten die Bauingenieure in enger Zusammenarbeit mit den Ausführenden um. Nur so konnte jede Arbeitsetappe kaschiert werden.

34 SIA
«Umsicht»: «Nicht überraschend, aber nötig» | Feuerwehrübung Ankauf

38 FIRMEN

39 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Bewegliche Lochfassade

Seit über fünf Jahren steht das interkantonale Gymnasium der Region Broye
auf dem Hügel bei Payerne mit Blick hinunter auf die Kleinstadt. Die Fassadenkonstruktion,
die sich fugenlos über eindrückliche 420 m Abwicklung
erstreckt, bewährt sich seither. Das von den Bauingenieuren des Büros ZPF
entwickelte System funktioniert: Die Lochfassade aus Sichtbeton bewegt
sich mit den veränderlichen Temperaturen frei um die an der tragenden
Innenschale fixierten Fensterrahmen.
Am Rande der Kleinstadt Payerne wurde im August 2005 das interkantonalen Gymnasium
der Region Broye eröffnet. Die fugenlose zweischalige Betonfassade prägt die einheitliche
Erscheinung des Gebäudes und unterstützt die Wahrnehmung des Gymnasiums als zusammenhängendes
Volumen. Die erdig ocker eingefärbte und mit dunklem Kies angereicherte
äussere Betonschale ist gestockt, wodurch das Material weich und einheitlich wirkt – selbst
die Bindlöcher wurden ausgebohrt und «unsichtbar» zugestopft. Die Ingenieure von ZPF
aus Basel ermöglichten die Umsetzung dieses architektonischen Konzeptes mit speziellen
Detailkonstruktionen in den Fassadenecken und Gleitlagern unter der Sichtbetonwand.
Fassad e in Bewegung
Bei innenliegenden Betontragwerken mit relativ kleinen Temperaturschwankungen können
Längenänderungen mit einer gut gewählten konstruktiven Bewehrung aufgenommen werden.
Damit entsteht ein kleinformatiges Rissbild – die Rissgrössen um 0.2 mm sind normalerweise
tolerierbar und beeinträchtigen das Tragwerk nicht. Bauwerksteile im Aussenbereich
sind jedoch bedeutend grösseren Temperaturschwankungen ausgesetzt. Bei kleinen Gebäuden
sind die absoluten Verformungen infolge Schwinden und Temperaturänderungen
dennoch marginal, und eine monolithische Bauweise kann ohne Probleme realisiert werden
(vgl. «Gegossenes Volumen», S. 23, und «Modellierter Monolith», S. 28). Bei grösseren
Gebäuden aber – insbesondere solchen mit einer langen Fassadenabwicklung – spielen die
Verformungen infolge Temperatur eine so grosse Rolle, dass die entstehenden Risse die
Gebrauchstauglichkeit beeinträchtigen können.
Infolge Schwindens verkürzt sich der Beton an den Fassaden im Mittel um etwa 0.2 – 0.3 ‰ –
unter Berücksichtigung der Erstellungsetappen. Temperaturschwankungen zwischen Sommer
und Winter führen zu Längenänderungen von etwa ± 0.2 ‰. Somit muss mit einer maximalen
Verkürzung von 0.5 ‰ (0.3 ‰ 0.2 ‰) und einer maximalen Verlängerung von 0.2 ‰
gerechnet werden – wenn der positive Einfluss des Schwindens vernachlässigt wird. Bei
einer
Wandlänge von beispielsweise 32 m ist somit in den Gebäudeecken mit maximalen
Verformungen von 7 bis –16 mm zu rechnen. Traditionell werden im Hochbau die Verformungen
mit vielen, in regelmässigen Abständen angeordneten Dilatationsfugen aufgenommen.
Der Vorteil dieser Technik liegt vor allem darin, dass die Bewegungen klein gehalten
werden. Der Nachteil ist die grosse Anzahl direkt bewitterter Fugen, die einen hohen
Unterhaltsaufwand verursachen. Soll auf Dilatationsfugen verzichtet werden, muss die Konstruktion
imstande sein, die grösseren Verformungen aufzunehmen.
La gerung der Fassad e – Analogie zum Brückenba u
Kräfte fugenlos in einem monolithischen Betonbau aufzunehmen, ist im Brückenbau längst
bekannt und hat sich gut bewährt. Die Ingenieure von ZPF übertrugen diese Technologie in
den Hochbau und stellten die Fassade, in Analogie zu Brückenkonstruktionen, auf feste und
bewegliche Lagerungspunkte. Da sich die Wände beidseitig der Gebäudeecken infolge Temperaturschwankungen
ausdehnen und zusammenziehen würden, mussten die Fassaden
ecken möglichst weich geplant respektive an diesen Stellen das bewegliche Lager und in der
Mitte von zwei Eckpunkten das unverschiebliche Lager vorgesehen werden. Dieses Konzept
setzten ZPF Ingenieure erstmals beim Schaulager in Münchenstein um (vgl. Kasten S. 22).
Weiterentwicklung von Fugenlosen Betonfa ssad en
Das System der mehrheitlich geschlossenen, fugenlosen Sichtbetonfassade wurde beim
Interkantonalen Gymnasium in Payerne weiterentwickelt. Hier sah das architektonische
Konzept eine Sichtbetonfassade mit gestockter Oberfläche vor.2 Die maximale Seitenlänge
dieses Bauwerks beträgt 115 m und die gesamte Fassadenabwicklung ganze 420 m. Da die
mehreckige Fassade mit der vorgesehenen Fenstereinteilung keine sinnvolle Anordnung
von Dehnungsfugen zuliess, sollten die Bauingenieure auch dieses Bauwerk ohne Fugen
konstruieren. Detaillierte Untersuchungen zeigten, dass eine zweischalige Lösung – unter
Betrachtung aller Aspekte wie Dämmung, Abdichtung, tragende Verbindungen etc. – für
dieses Projekt wirtschaftlich ist.
Wie beim Schaulager wurde auch beim Gymnasium ein System mit festen und gleitenden
Lagern gewählt. Generell wurden diese unter der Fassadenhaut angeordnet (Abb. 2).
Wegen des Fassadenbildes waren teilweise auch Lagerungen im Dachbereich erforderlich.
Auch die Ausbildung der Ecken erfolgte nach der gleichen konstruktiven Lösung wie beim
Schaulager: Die Aussen- wie auch die Innenecken weisen eine 4 cm breite Verjüngung zwischen
tragender Innenschale und vorgehängter Aussenhaut auf (Abb. 4). Die Steifigkeit der
Wände wird dadurch kleiner, und im Freiraum können die entstehenden Bewegungen stattfinden.
Die maximalen Eckverformungen lagen hier deutlich höher als beim Schaulager und
betragen 12 bis –28 mm. Während die Fassade des Schaulagers kaum Öffnungen aufweist,
handelt es sich beim interkantonalen Gymnasium um eine bewegliche Lochfassade
mit einzelnen, klar abgegrenzten Fenster- und Türöffnungen. Alle Fensterrahmen und Türen
sind dabei an der inneren Schale befestigt (Abb. 5 und Abb. 8).
Erfahr ungen und Bewähr ungspr obe
Der Erstellungsaufwand für eine fugenlose Fassade unterscheidet sich kaum von der fugenreichen
Konstruktion. Der Aufwand für die Planung hingegen ist grösser. Planende müssen
konsequent berücksichtigen, dass sich die Fassade unabhängig bewegt, und die Anschlüsse
entsprechend konstruieren.
Die Schaulagerfassade ist inzwischen neun Jahre alt, jene des Gymnasiums fünf Jahre.
Die durch die Berechnung vorhergesagten Bewegungen konnten bei beiden Gebäuden
überprüft und bestätigt werden – die Fassadenkonstruktion konnte sie schadlos aufnehmen.
Unterdessen wurden weitere Gebäude mit fugenlosen Sichtbetonfassaden realisiert oder
sind in Planung. Für das Kunstmuseum in Basel beispielsweise wird das System auf Mauerwerkswände
übertragen – die 173 m lange und 27 m hohe Mauerwerksfassade soll fugenlos
ausgeführt werden. Die aus einem ästhetischen Anspruch heraus entstandene Konstruktion
am Interkantonalen Gymansium der Region Broye bewährt sich neben der konstruktiven
also durchaus in wirtschaftlicher Hinsicht – denn der Unterhaltsaufwand der ungerissenen
Konstruktion ohne Fugen ist unumstritten kleiner.
Nico Ros, dipl. Ing FH, ZPF Ingenieure AG, n.ros@zpfingag.ch
Andreas Zachmann, dipl. Ing ETH, ZPF Ingenieure AG, a.zachmann@zpfingag.ch

TEC21, Do., 2011.02.17

17. Februar 2011

Angegossenes Volumen

Der Neubau eines Wohn- und Atelierhauses am Hottingerplatz in Zürich
ist ohne Dilatationsfugen erstellt – Arbeitsetappen waren aber explizit erwünscht,
denn das Fugenbild sollte die Fassade gliedern. Um diese Fugenlosigkeit
auszuführen, bedienten sich die Ingenieure von Walt G almarini vor
allem der Betontechnologie und einer ausgeklügelten Nachbehandlung: Es
wurde ein selbstverdichtender und Schwindmass reduzierender Beton eingesetzt
und mit nasser Jute nachbehandelt.
Das neue Wohn- und Atelierhaus am Hottingerplatz in Zürich liegt zwischen einer Bäckerei
und einem Restaurant und nimmt mit Fassade und Volumen Bezug auf die vorgegebene
Situation (Abb. 3 und 6). Es formt die Baulinie nach, nimmt mit dem Attika die bestehende
Gebäuderichtung des Nachbargebäudes auf und verbindet Bestehendes mit Neuem, indem
die Fassade als Hybridkonstruktion aus traditioneller Oberfläche und moderner Betontechnologie
ausgeführt wurde.
Die Sichtbetonfassade wurde nach dem Vorbild des 2007 eröffneten Sika-Technologiezentrums
des Architekten Andrea Roost in Zürich konstruiert – allerdings aus Kalkbeton und mit
gestockter Oberfläche. Eine Zuschlagmischung aus Bruchstein und Farbpigmenten gibt
dem Ersatzneubau einen warmen und erdigen Farbton. Das architektonische Konzept sah
eine zweischalige Gebäudehülle vor (Abb. 4), deren äussere Oberfläche monolithisch erscheinen
sollte. Ausserdem musste die Innenschale sowohl die auskragenden Räume als
auch die Sichtbetonfassade tragen und durfte aus räumlichen Gründen dennoch nur so wenig
Platz wie möglich beanspruchen. Diese funktionalen Vorgaben führten zu anspruchsvollen
technischen Anforderungen.
KRAGDECKEN und EInzelstützen
Die Bauingenieure von Walt Galmarini setzten die vielseitigen Vorgaben von Bob Gysin
Partner BGP Architekten in einem Tragwerk um, das grundsätzlich aus einem tragenden und
aussteifenden Sichtbetonkern sowie parallel zur Gebäudehülle angeordneten Betonwänden
besteht – dazwischen sind Flachdecken gespannt, die stützenfreie Wohnräume ermöglichen.
Die Kräfte fliessen trotz diesem prinzipiell einfachen statischen System indirekt in den
Baugrund, da Galerieöffnungen und grosse Fensterflächen vor allem im Erdgeschoss eine
direkte Lastabtragung verhindern (Abb. 7 und 8). So ist zum Beispiel die Betondecke über
der Terrasse im 1. Obergeschoss an den darüber angeordneten Wänden aufgehängt, und
nur ein einzelner Eckpfeiler stützt grosse Teilbereiche der vier Obergeschosse mit auskragenden
Decken.
Betonfa ssad e – Ei ne Neuentwick lung bra uch t zeit
Die nur 12 cm dicke nichttragende Ortbetonfassade umhüllt das Tragwerk wie ein Vorhang.
Bei dieser dünnen Ortbetonschicht war Vibrieren nicht möglich, und trotz gebrochenem Jurakalk-
Zuschlag mussten die Bauingenieure das Schwindmass beschränken, um die Risse
infolge Zwängungen zu beherrschen – die maximal zulässige Rissbreite war 0.4 mm. Ausserdem
mussten die Arbeitsetappengrenzen nicht nur technischen, sondern vor allem auch
architektonischen Ansprüchen genügen.
Um diese Anforderungen konkret an der Fassade umsetzen zu können, liessen die Planenden
Musterschalungen und -flächen anfertigen. Sie entstanden im Werkhof der Bauunternehmung
und bildeten ein typisches Fassadenfeld mit Fensteröffnungen ab. Mit umfangreichen
Vorversuchen, die ein halbes Jahr vor dem Betonieren der Sichtbetonfassade
begonnen hatten, erarbeiteten die Ingenieure zudem eine Betonrezeptur, die sämtliche Angegossenes
forderungen erfüllte. Sie wurde so optimiert, dass die 12 cm schmale, einlagig bewehrte
Sichtbetonfassade ohne Vibrieren betoniert werden konnte und die Schwindverkürzungen
angemessen gering blieben. Um ein hohes Füllvermögen zu gewährleisten, setzte man
einen
selbstverdichtenden Transportbeton aus Portlandkalksteinzement CEM II/A-LL 42.5 N
gemäss SN EN 196 und SN EN 197-1 mit Grösstkorn 16 mm ein. Ein Schwindreduktionsmittel
regulierte das Schwindmass. Dennoch legten die Ingenieure eine Schwindbewehrung
nach SIA 262 ein, um die erwarteten Zwangsspannen aufzunehmen und das Rissbild im
Jungbeton zu regulieren. In der unmittelbaren Umgebung der einspringenden Ecken von
Fassadenaussparungen erhöhten sie den Anteil noch zusätzlich. Aufgrund der engen Platzverhältnisse
musste die Bewehrungsüberdeckung präzis geplant und ausgeführt werden.
Die Abweichungen zur normgerechten Überdeckung kompensierten die Bauingenieure, indem
sie verzinkte Bewehrungen einsetzten. Auf diese Weise erreichten sie die geforderte
Dauerhaftigkeit, und gleichzeitig lösten sie das Problem der Arbeitsunterbrüche sowie die
damit verbundenen Rostverfärbungen an den Betonoberflächen.
Die Verbundqualität zwischen verzinkter Bewehrung und Beton wird unter anderem auch
vom wirksamen Alkaligehalt des Frischbetons bestimmt. Die Erfahrung zeigt, dass der Verbund
mit alkaliarmen Zementen innerhalb der ersten zwei Tagen des Erhärtens verbessert
werden kann. Zemente mit niedrigem wirksamem Alkaligehalt enthalten nach Norm ein maximales
gesamtes NaO2-Äquivalent von 0.6 M-%. Der berechnete gesamthaft wirksame Alkaligehalt
des angewendeten Betons liegt zwischen 0.9 und 1.0 M-%. Dieser setzt sich aus dem
wirksamen Alkaligehalt des Zementes (CEM II/A-LL, 350 kg/m3) und dem des Zusatzstoffes
(Hydrolyth F200, 150 kg/m3) zusammen. Werden verzinkte Bewehrungen verwendet, empfiehlt
sich also der Einsatz einer alkaliärmeren Betonmischung. Damit wird eine maximale
Verbundkraft im jungen Beton gewährleistet, und Schwindrisse werden verhindert.
Ausgeklügelte Nachb eha ndlung und Rückv era nkerung
Überschüssiges Wasser aus jungen Betonoberflächen verursacht eine Verfärbung. Calciumhydroxid
tritt während des Abbindungsprozesses an die Betonoberfläche, und im Kontakt
mit Kohlendioxid aus Wasser oder Luft entsteht das schwer lösliche Calciumkarbonat, das
weisse Ausblühungen an den Betonoberflächen verursacht. Um diese Verfärbungen auf den
Sichtbetonflächen zu vermeiden, ordneten die Bauingenieure eine spezielle Nachbehandlung
an – Wasser durfte nicht direkt auf die aushärtende Betonfassade aufgebracht werden:
Eine vor die frisch ausgeschalte Betonoberfläche gehängte, nasse Jute schaffte einen
Feuchtraum zwischen Fassade und Jute, in dem sich weder Luft bewegen noch Wasser
sammeln konnte. Die Jute wurde 14 Tage lang ständig feucht gehalten, sodass im Feuchtraum
eine relative Luftfeuchtigkeit von über 80% herrschte. Auf diese Weise kam während
der Nachbehandlung nie Wasser direkt in Kontakt mit der Betonoberfläche – was die unerwünschten
Ausblühungen verursacht hätte –, und trotzdem erreichte man eine wirkungsvolle
Nachbehandlung.
Die fugenlos betonierten Fassaden wurden nachträglich gestockt, das Wassereindringvermögen
stieg dadurch an. Eine Tiefhydrophobierung aus unverdünnter Graffitschutz-Silanemulsion
sorgt deshalb dafür, dass die Betonoberfläche trotzdem wasserabweisend ist;
sichtbare Schwindrisse wurden zusätzlich abgepinselt. Die Wasseraufnahme vor und nach
der Hydrophobierung wurde mit der Karsten’schen Methode1 geprüft. Die eingedrungene
Wassermenge auf einem behandelten Fassadenbereich mit 0.3 mm breiten Rissen entsprach
lediglich 2 % derjenigen Menge, die auf einem gestockten, ungerissenen und unbehandelten
Fassadenbereich gemessen wurde.
Ein umlaufender Bewehrungsgürtel verankert die vorgehängte Sichtbetonfassade in die
Geschossdecken.
Die eingesetzten Verankerungen sind gleichzeitig Distanzhalter für die
Bewehrung und Rückverankerungen für Zug- und Druckkräfte. Über 600 Anker aus rostfreiem
Stahl sind nach Erstellung der tragenden Innenschale präzise eingemessen, eingezeichnet
und durch die 23 cm starke Wärmedämmung eingebohrt worden. Als Achillesverse
des bauphysikalischen Systems wurde die Anzahl und Lage der Anker genau geplant, sodass
der Bau den Minergie-Anforderungen genügte.
DIe JAHRES ZEIT LEGT e DEN BAUABLAUF FEST
Der Rohbau war im Sommer 2009 und die Erstellung der Sichtbetonfassade im Herbst 2009
geplant. Doch diese Termine waren aus Sicht der Bauingenieure ungünstig, sodass die Ausführung
der Sichtbetonfassade auf den Frühling 2010 verschoben wurde. Dadurch vermied
man, dass sich die aus der winterlichen Witterung resultierenden Betonverkürzungen mit
den Schwindverkürzungen addierten. Im Gegenteil, die im Sommer entstandenen Ausdehnungen
der Sichtbetonfassade wurden im ersten Jahr nach Erstellung teilweise mit den
Schwindverkürzungen kompensiert. Nach einer effektiven Bauzeit von etwa achtzehn Monaten
wurde das Wohn- und Atelierhaus am 11. Dezember 2010 mit einem Tag der offenen Tür
an die Bauherrschaft übergeben.
Jordan Kusigerski, MScE., Walt Galmarini AG Zürich, jordan.kusigerski@waltgalmarini.ch
Anmerkung
1 Die Karsten’sche Methode ist eine zerstörungsfreie Prüfung, bei der auf die Betonoberfläche ein normiertes
Glasprüfrohr mit einer plastischen, wasserabweisenden Masse geklebt wird. Das Rohr wird mit
Aluminiumfolie gedeckt, um Wasserdampfverlust zu minimieren. Jede Prüfung dauert 20 min.

TEC21, Do., 2011.02.17

17. Februar 2011

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