Editorial

«Der ‹Fall Moser› ist eine kunstgeschichtliche Knacknuss und wird es vermutlich bleiben. Der Umfang des Œuvres ist enorm und schwer nach Spreu und Weizen zu sondern. Man weiss auch nicht recht, wo letztlich der Schwerpunkt von Mosers Beitrag liegt: in seiner gebauten Architektur oder in seiner Rolle als Networker und Lehrer; in seiner Fähigkeit, als Projektleiter grosser Bauvorhaben ganze Seilschaften von Künstlern zugleich anzuspornen und in Schach zu halten; oder in seinem eigenen genuinen Künstlertum [...]», schreibt Stanislaus von Moos im Katalog zur Ausstellung über Karl Moser (1860–1936) im Kunsthaus in Zürich, die bei Erscheinen dieser TEC21-Aus-gabe ihre Tore öffnet.[1] Die Urheberin-nen und die Autoren von Ausstellung und Buch haben sich der Herkulesaufgabe gestellt, Moser, dessen Geburtstag sich zum 150. Mal jährt, umfassend zu würdigen («Architektur für eine neue Zeit»). Moser zu entschlüsseln ist zum einen des schieren Umfangs seines Werks wegen eine Herausforderung: Die Zeugnisse von gegen 600 Bauten und Projekten lagern im Archiv des Instituts für Geschichte und Theorie der Archi-tektur (gta) an der ETH Zürich. Zum andern ist die «stilistische» Spannweite enorm. In der Antoniuskirche in Basel etwa verbinden sich das traditionelle Basilikalschema im Innern mit barocken und expressionistischen Zügen in der Vorhalle («St. Anton: Synkretismus und originäre Gestaltung»).

Die Vision für das Zürcher Niederdorf – die Verpflanzung der Idealvorstellungen der Ville contemporaine Le Corbusiers in das Zürcher Nieder-dorf (Abb. S. 12) – und die Faszination für die Barockkirche von Einsiedeln, wovon auch seine Farbskizzen zeugen, deren eine das Cover dieses Hefts ziert, markieren die Extreme. Und doch basieren sie auf ein und demselben Prinzip – nicht auf einem «Stil»: Linus Birchler beschrieb es 1936 im Nachruf und pries Moser als einen Architekten, «bei dem die barocken und modernen Vorstellungen – im ‹raummässigen Denken› – eins werden».[2] Und: Die Moser’sche Architektur folgt der inneren Logik des Bauens und der Konstruktion («Holländisches und Technisch-Ökonomisches»). Von einem Bruch unter dem Eindruck einer plötzlich einbrechenden Moderne könne in Mosers Werk denn auch keine Rede sein, so Werner Oechslin. «Kontinuität ist entscheidend. Jeder Wechsel erfolgt nach der Massgabe veränderter Zeit.»[3] Dies zu vermitteln war ihm Anliegen in seiner Lehrtätigkeit an der ETH («Es gibt kein Alter! Es gibt nur ein Leben.»).
Rahel Hartmann Schweizer

[1] Stanislaus von Moos, «Kraft und Integration. […]», in: Werner Oechslin, Sonja Hildebrand (Hg.): Karl Moser. Architektur für eine neue Zeit, 1880 bis 1936. gta Zürich, 2010, S. 257
[2] Werner Oechslin, «Bauen aus der Notwendigkeit. […]», in: wie Anm. 1, S. 42
[3] Ebd., S. 45

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Siedlung Mattenhof in Zürich

11 MAGAZIN
Jahr der Biodiversität | Architektur für eine neue Zeit | verwegen – verworfen – verpasst

18 ST. ANTON: SYNKRETISMUS UND ORIGINÄRE GESTALTUNG
Stanislaus von Moos Karl Mosers genuines Künstlertum gipfelte in den 1920er-Jahren in der an Hodler gemahnenden Pathosformel der Basler Antoniuskirche. Sie fand als einziges Werk Mosers einen Platz in der Historiografie der internationalen Moderne.

24 «ES GIBT KEIN ALTER! ES GIBT NUR EIN LEBEN.»
Sonja Hildebrand Wie die «Uebungen der Pfadfinder» sah Karl Moser seine Lehre: «kein monarchisches sondern communistisches Princip im besten Sinne des Wortes.» Seine Botschaft als Professor an der ETH Zürich kam an.

28 HOLLÄNDISCHES UND TECHNISCH-ÖKONOMISCHES
Werner Oechslin Die Gründung der CIAM 1928 in La Sarraz gilt als Meilenstein für die architektonische «Moderne». Karl Mosers Geist waltete in dem Konsens auf die technisch-ökonomische Ausrichtung der Architektur, die an dem Kongress obsiegte.

33 SIA
Sitzung der ZNO | Olgiati: «Der Architekt ist kein Dienstleister»

39 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

St. Anton: Synkretismus und originäre Gestaltung

Karl Mosers genuines Künstlertum gipfelte in den 1920er-Jahren in der an
Hodler gemahnenden Pathosformel der Basler Antoniuskirche.1 Sie hat als
einziges Werk Mosers einen Platz in der Historiografie der internationalen
Moderne gefunden.
Auf einer mit «I maestri del razionalismo europeo» überschriebenen Bildmontage erscheint
in Bruno Zevis gross gesehener «Storia dell’architettura moderna» (1950)2 der Innenraum
der Antoniuskirche (Abb. 1) einer Reihe radikaler Verkörperungen des architektonischen
Funktionalismus hinzugefügt – Bauten von Otto Haesler, Johannes Duiker, J. A. Brinkman &
L. C. van der Vlught und Otto Rudolf Salvisberg (Abb. 3).
Die Bildseite illustriert Zevis Widerstand gegen die «Kurzsichtigkeit der rationalistischen Geschichtsschreibung
», die sich angewöhnt habe, von Mackintosh, Loos, Horta oder Berlage
als blossen «Vorläufern» zu sprechen. Als ob diese Architekten alle 1914 gestorben wären,
schiebe man sie in die Rolle von «Pionieren» ab und weigere sich, ihre durch die Erfahrung
eines Lebenswerks gereifte architektonische Kultur ins Spektrum der Gegenwart einzubeziehen.
3 Demgegenüber will Zevi daran erinnern, «dass es in der Geschichte und also auch in
jener der vergangenen hundert Jahre nicht einfach Kindheit, Reife und Alter gibt, auch nicht
einen simplen künstlerischen ‹Fortschritt›, sondern allein kulturelle Entfaltung».4
Die Antoniuskirche ist ein aufschlussreiches Beispiel in diesem Zusammenhang. Wie viele
Werke jener Generation von Architekten, deren Nachruhm vom «naiven Exhibitionismus» der
jüngeren Moderne auf Jahrzehnte hinaus überschattet wurde, musste «die erste Betonkirche
der Schweiz» lange darauf warten, «von der Liebe und dem Einsatz der Historiker» angemessen
zur Kenntnis genommen zu werden.5
«Ganz aus Beton»
Folgt man Mosers Kommentaren, so erscheint die Kirche als eine Apotheose des konstruktiven
Rationalismus. Immer wieder wird auf Notre-Dame du Raincy bei Paris als das Vorbild
verwiesen (Abb. 4, 6).6 Auguste Perrets Kirche sei «ein erhabenes Beispiel neuzeitlicher
konsequenter Konstruktion», stellt Moser einige Jahre nach seinem im Winter 1924/25 unternommenen
Besuch in Le Raincy fest, allerdings nicht ohne zu ergänzen, die Kirche sei
«technisch weniger überzeugend» und vor allem «architektonisch zum Teil noch in historischen
Reminiszenzen durchgeführt».7 Im Hinblick auf seinen eigenen Bau hingegen schreibt
er: «Ganz aus Beton, ohne jeglichen innern oder aeussern Verputz ist versucht worden,
einige technische Mängel v. Raincy zu überwinden und die Formen ohne jede Rücksichtsnahme
auf historische Conventionen aus dem Baumaterial heraus zu entwickeln.»
Das, was Moser vor Ort realisiert hat, lässt sich nur mit grosser Mühe mit diesem Credo in
Einklang bringen. Dass die Raumform «ohne jede Rücksichtnahme auf historische Conventionen
» entwickelt sei, trifft offensichtlich nicht zu, hatte sich Moser doch mit seiner dreischiffigen
Halle am traditionellen Basilikalschema orientiert. War wenigstens die Konstruktion der
Decke als Exempel konstruktiver Rationalität gemeint? – Moser überzieht die Mittelschifftonne
mit Gewölberippen (Abb. 5), von denen es im offiziellen Baubeschrieb in der «Schweizerischen
Bauzeitung» heisst, sie seien aus akustischen Gründen angebracht worden und
hätten überdies noch eine konstruktive Funktion.8 Das mag alles auch zutreffen, doch ist es
unmöglich, hier nicht von einer Kassettierung zu sprechen, auch wenn Moser den Begriff
selbst nicht gebrauchte.
Von verschiedenen Gewölbeformen lässt sich sagen, sie seien aus dem Baumaterial Beton
heraus entwickelt – die eierschalendünnen Flachtonnen von Notre-Dame du Raincy würden
sicher dazugehören, und erst recht die parabelförmigen Schalen Robert Maillarts und,
später, Félix Candelas. Auf eine kassettierte Tonne in Beton, wie sie in Basel verwendet
wurde, trifft diese Charakterisierung hingegen genauso wenig zu wie die Behauptung, das
korinthische Kapitell einer Gusseisensäule sei aus dem Material Eisen entwickelt. Wenn
Moser eine kassettierte Tonne einsetzt, so tut er es, weil er die Form als dem monumentalen
Anspruch des Raums angemessen erachtet. Wie Ernst Strebel gezeigt hat, sind Mosers
Gewölbe im Gegensatz zu den selbsttragenden Perrets denn auch mittels Eisenstangen am
Gebälk befestigt.9
Zwar mag es problematisch sein, überhaupt von Kassetten zu sprechen, denn erstens sind
die «Kassetten» ungleich gross (beim Gewölbeansatz grösser und im Scheitel klein), und
zweitens sind die Rahmungen nicht konzentrisch auf den Mittelpunkt des Kuppelradius
orientiert, sondern vertikal. Doch selbst diese Abweichungen lassen sich nicht von der Logik
der Betonkonstruktion her erklären, ja sie haben im Grunde, wie Ludwig Hilberseimer lakonisch
feststellte, «mit dem neuen Konstruktionsgedanken nicht das Geringste zu tun»10.
Moser scheint in der Tat die Absicht gehabt zu haben, die Rahmen dieser Kassetten mit den
in gleichen Abständen angeordneten konstruktiven Rippen an der Rückwand der Empore zu
koordinieren. So hat selbst die in ihrer Herkunft klassizistische Kassettendecke teil am Vertikalismus
des architektonischen Systems.11 Das aber sind Überlegungen nicht konstruktiver,
sondern tektonischer Art. Wer solches anordnet, ist, mit anderen Worten, nicht der Konstrukteur,
«der das Notwendige tut», sondern (nach Karl Scheffler), der Künstler, der den in der
Konstruktion «verborgen liegenden Sinn gleichnishaft durch freie Formbildungen» illustriert.12
«Seelensilo» und Gralspf orte
Doch ist auch Mosers Kritik an Perret nicht völlig aus der Luft gegriffen. So sehr das Kirchenschiff
von Notre-Dame du Raincy mit seinen flachen, auf dünnen Stützen aufruhenden und
von einer Glashaut umspannten Tonnen und Flachtonnen als Exempel konstruktiver Rationalität
einleuchtet, so wenig lässt sich das Stützenbündel des Turms, das allein dazu dient, die
Kirche als Ganze dem Umriss einer gotischen Kirche anzunähern, «konstruktiv» erklären.
Wenn irgendwo, dann war dort «Rücksichtnahme auf historische Convention» im Spiel, wie
Moser moniert. So verstanden ist seine Entscheidung, den Turm, einem Vorschlag des
Sohnes Werner folgend, seitlich an die Kirche heranzustellen und als geschlossenen, flach
betonierten Kasten aufzuführen, nicht nur «einfacher» und «origineller» als Perrets Turmlösung
(und wohl deshalb, wie schon Henry-Russell Hitchcock bemerkte, auch weit einflussreicher),
sondern auch konsequenter in konstruktiver Hinsicht.13
Demonstrativ knüpft der Turm an die grossen Silobauten im nahen Rheinhafen an. Die Kirche
sollte auf diese Weise im Industriealltag der Grossstadt verankert werden: als ein «Seelensilo
» (wie der Basler Volksmund im Hinblick auf St. Anton bis heute kalauert). Jedoch, was
immer die Ähnlichkeit des Turms mit Basler Silobauten sein mag, seine unmittelbare Quelle
liegt zum einen in der Geschichte des Typus (die Idee, den Glockenstuhl als eine Miniatur
des Turmschafts zu definieren, auf dem er sitzt, ist im Kirchenbau kein Novum), zum anderen
in Bauten von Willem Marinus Dudok wie der Dr.-Bavinckschool in Hilversum. Im Nachlass
erhaltene Aufnahmen dokumentieren, dass Moser Dudok-Bauten in Hilversum 1922
vor Ort studierte.14 (Zu Mosers Affinität zur holländischen Avantgarde vgl. «Holländisches
und Technisch-Ökonomisches», S. 28.) Das Portal ist wohl das merkwürdigste Element
der ganzen Kirche, und eines, das mit seinem den Besucher in die Knie zwingenden Pathos
religiös
erbauliche Interpretationen geradezu herausfordert. Gemessen am traditionellen
Basilikalschema
des Innern ist die «Beton-Athletik»15 der Vorhalle und deren dramatische
Einstülpung, in der sich das Crescendo des Turms gewissermassen im Negativ vorbereitet,
zugleich barock und expressionistisch gedacht.
Um ins Kircheninnere zu gelangen, muss man – im Gegensatz zur Situation bei einem
romanischen Portal mit seinen Archivolten – auf dem Höhepunkt (räumlich: dem Tiefpunkt)
der architektonischen Inszenierung eine scharfe Kehrtwendung nach rechts machen. Die
Gralspforte führt also, streng genommen, nicht in die Kirche hinein, sondern an ihr vorbei:
in den Hinterhof.
Typologisch gesehen handelt es sich beim «Portal» von St. Anton um eine quergelagerte
Vorhalle. Da es für diese Art der Kombination von längsgerichtetem Hauptbau und quergestellter
Eingangshalle im Sakralbau kaum Voraussetzungen gibt, liegt es nahe, nach den
Prämissen für die formale Ausprägung dieses «Balgs» zu fragen. Die äussere Ähnlichkeit
der Basler «Gralspforte» mit einem Entwurf J. J. P. Ouds für standardisierte Wohnbauten von
1919 (Abb. 8) dürfte kaum ein Zufall sein. An das symbolische Stufenportal am Hypostyl von
Karnak wird Moser hingegen nicht gedacht haben.16 Eliel Saarinens Hauptbahnhof in Helsinki
(1910–1914) mit seinem nicht weniger gralsartigen, abgestuften Portal und seinem nicht
minder knospenartig aufwachsenden Turm wäre demgegenüber schon ein naheliegenderes
Vergleichsbeispiel (Abb. 7).17
Die Logik der Baugrupp e
Trotzdem liesse sich abermals über eine innere Affinität Mosers zu Konzeptionen des von
ihm bewunderten, dreissig Jahre jüngeren holländischen Kollegen Oud spekulieren. Der
Archetypus in diesem Fall ist Ouds Entwurf einer kleinen Fabrik mit Lagerhalle in Purmerend
von 1919 (Abb. 9). Der Bau lässt sich als eine Zusammenstellung von drei miteinander ins
Gleichgewicht gebrachten, aber in je eigener Formensprache entwickelten Bauteilen begreifen,
als eine Baugruppe.
Wie bei Oud hat die von Moser mit der Antoniuskirche (doch nicht nur hier) ins Werk gesetzte
Logik des Baukastens, der Baugruppe, einen doppelten Sinn (Abb. 10 und 11). Zum einen
ist es im Rahmen solcher Gestaltungen möglich, innerhalb des einzelnen Baus auf komplexe
und vielleicht sogar widersprüchliche Anforderungen zugleich einzugehen. Zum anderen
liefert das Verfahren fast von selbst das Rohmaterial für eindrucksvolle plastische Kontrastmontagen
und vereinheitlichende Massstabssprünge. Moser hat für die Antoniuskirche aus
dieser Logik ein Maximum an Effekt herausgeholt; spätere Bauten lassen sich mit alledem
nicht annähernd vergleichen.
Prof. Dr. Stanislaus von Moos, emeritierter Professor für Kunstgeschichte der Universität Zürich, heute
Vincent Scully Visiting Professor of Architectural History, Yale School of Architecture, svm@khist.uzh.ch
Anmerkungen
1 Der vorliegende Aufsatz geht z. T. von Überlegungen aus, die bereits meiner 1985 veröffentlichten
Zürcher Antrittsvorlesung zugrunde lagen; «Karl Moser und die moderne Architektur», in: Katharina
Medici-Mall (Hg.), Fünf Punkte in der Architekturgeschichte. Festschrift für Adolf Max Vogt, Basel/
Boston/Stuttgart, 1985, S. 248–275
2 Bruno Zevi: Storia dell’architettura moderna. Turin, 1950, 4. Aufl. 1961, Taf. 21 und passim
3 Alfred Roth: Begegnung mit Pionieren. Le Corbusier, Piet Mondrian, Adolf Loos, Josef Hoffmann,
Auguste Perret, Henry van de Velde. Basel/Stuttgart, 1973, insbes. S. 16–22
4 Zevi 1961 (wie Anm. 2), S. 116
5 Ebd.
6 Zu Notre-Dame du Raincy siehe insbesondere Peter Collins: Concrete. The Vision of a New Architecture.
London, 1959, Abb. 73–77A, und seither v. a. Roberto Gargiani, Auguste Perret: La théorie et
l’oeuvre. Mailand/Paris, 1993, S. 118–147 («L’abri souverain»), sowie Jean-Louis Cohen, Joseph Abram
und Guy Lambert (Hg.): Encyclopédie Perret. Paris, 2002, S. 108–111, 178 und passim
7 Karl Moser, Manuskript eines 1930 an der ETH gehaltenen Vortrags, gta Archiv 33-T-296
8 Römisch-katholische St. Antoniuskirche in Basel: Architekten Prof. Karl Moser (Zürich), G. Doppler &
Sohn (Basel), in: Schweizerische Bauzeitung, 89/90 (1927), Nr. 1, S. 5. Der Artikel ist als PDF auf
der Website des Schweizer Baugedächtnisses gespeichert und kann dort kostenlos heruntergeladen
werden: http://retro.seals.ch/cntmng?type=pdf&rid=sbz-002:1927:89:90::378&subp=hires
9 Ernst Strebel: «Karl Mosers neuklassizistische Architektur», in: Katharina Medici-Mall 1985 (wie
Anm. 1), S. 231–247
10 Ludwig Hilberseimer: «Kirchenbauten in Eisenbeton», in: Zentralblatt der Bauverwaltung 47 (1927),
S. 533–542, hier S. 537, 542
11 Später wird Moser die Türme mehrerer Kirchenprojekte bei der Formgebung einer ähnlichen Gitterstruktur
unterwerfen; siehe Sonja Hildebrand, Werner Oechslin (Hrsg.): Karl Moser. Architektur für
eine neue Zeit: 1880 bis 1936. Zürich, 2010, Band 2, WK 108 und 111
12 Karl Scheffler: «Stein und Eisen», in: Moderne Baukunst, Berlin 1907, S. 1–22, hier S. 10 und 17
13 «Raising free at one corner of the church [the tower] is much simpler and more original than
Perret’s spire and is still frequently and successfully emulated by other architects.» Henry-Russell
Hitchcock: Architecture, 19th and 20th Centuries. London, S. 426. Vgl. dagegen Peter Meyer (im Zusammenhang
eines Wettbewerbs, der mit Moser nichts zu tun hatte): «Und was für Türme gab es!» «Betonorgien
von jener Kunstgewerblichkeit, die auch den Turm der Basler Antoniuskirche schon jetzt zu
einer
unerträglichen Modeangelegenheit stempelt»; Kirchen, in: SBZ 98 (1931), S. 223–225, hier
S. 224
14 Den Zusammenhang mit Dudok hat wohl Jacques Gubler als Erster erkannt; «Concrete Interlude»,
in: Architectural Design 41 (1971), S. 429
15 Meyer 1931 (wie Anm. 13), S. 224
16 Abb. in: Robert Venturi: Complexity and Contradiction in Architecture. New York, 1966, S. 77
17 Othmar Birkner, Bauen Wohnen in der Schweiz 1850–1920, Zürich 1975, S. 202, hat früh auf die
prägende Rolle von Saarinens Hauptbahnhof in Helsinki für den Badischen Bahnhof in Basel
hingewiesen
18 gta Archiv 33-T-296

TEC21, Di., 2010.12.21

21. Dezember 2010

«Es gibt kein Alter! Es gibt nur ein Leben.»

Wie die «Uebungen der Pfadfinder» sah Karl Moser seine Lehre: «kein monarchisches
sondern communistisches Princip im besten Sinne des Wortes.»
Seine Botschaft als Professor an der ETH Zürich, an die er 1915 berufen
wurde, kam an.
Das «Leben», das Moser für sich in Anspruch nahm und gegen ein biologisches Alter nach
Jahren ins Feld führte, war jenes Leben, das seit dem 19. Jahrhundert für ein kontinuierliches
Fortschreiten alles Organischen in die Zukunft stand. Dabei bildet der eigene enge
Bezug zur Gegenwart die Basis für ein schöpferisches Mitgestalten eines allgemeinen und
unaufhaltsamen Fortschritts der Zeit. «Die Cultur […] befindet sich in steter Bewegung wie
das Leben selbst»,2 schreibt Moser 1927 in einem Grundsatzbeitrag über «Hochschule und
neues Bauen», es «gibt keine andere schöpferische Arbeit als diejenige der Gegenwart […]
kein Rückwärts-, sondern nur ein Vorwärtsschauen».3 Im Rahmen der Berufung an die ETH
(vgl. «Biografie», S. 30) dagegen war Mosers Alter von damals 54 Jahren durchaus ein
Thema.
Die Diskussionen darüber sind in den Schulratsprotokollen festgehalten. An der entscheidenden
Sitzung vom 24. Juni 1915 stand den Bedenken gegen die Kandidatur dann
die Tatsache gegenüber, dass «Prof. Moser nach Zahl und Art seiner Werke, unter denen
sich hervorragende Monumentalbauten befinden, nach seiner umfassenden gründlichen
Bildung und seiner Erfahrung ausnahmslos alle andern Kandidaten, die in Frage kommen
können, weit überragt». Das Alter schlug als «Erfahrung» nun positiv zu Buche.4
Verlebendigung des Unterricht s
Ein weiteres Argument für die Berufung war ein Grundsatzpapier zu Geschichte, Stand und
Aufgaben der Architektenausbildung, das Moser Anfang Juni für den Schulratspräsidenten
Robert Gnehm verfasst hatte.5 Die späteren Quellen und Zeugnisse über seinen Unterricht
an der ETH lassen deutlich werden, in welch hohem Mass Moser mit dem Papier tatsächlich
sein Lehrprogramm vorformuliert hatte.
Eine Schlüsselrolle spielte für Moser die Anschauung. Sie gehörte für ihn unmittelbar mit
Lebendigkeit und Gegenwartsbezug zusammen. Anschauung in die Lehre einbeziehen
heisst «mit der Wirklichkeit, der Gegenwart» rechnen. Sie biete die Möglichkeit, dass die
«Studenten […] lebendig gepackt werden».6 Ein damals an der ETH schon traditionelles
Mittel dazu waren Exkursionen, die auch Moser unternehmen wollte: häufig «in Zürich und
die Umgebung, in der Schweiz und jährlich eine grössere Exkursion ins Ausland».7
In «lebendigem Kontakt» sollen die Studierenden nicht nur mit der Gegenwart, sondern
auch mit «Werken von Meistern alter und neuer Zeit» stehen. In seinem Lehrpensum sieht
Moser folglich sowohl Vorträge «historischer Art» als auch solche «mit Bezug auf die heutige
Baukunst» vor.8 Als lebendige Diskussionsforen wünscht er sich die Vorlesungen, die
«weniger ermüdend als laufende Vorträge, sondern seminaristisch zu behandeln» seien,
«wobei die Studierenden fortwährend in Anspruch genommen werden, denken, kritisieren,
sich ausdrücken
und zeichnen lernen sollen». Leben und organisches Wachstum charakterisiert
für Moser die «Baukunst», die «kein Zusammensetzspiel» sei, «sondern ein organisches
Gewächs» und dementsprechend «niemals nur vom rein formalen sondern […] vom
geistig schöpferischen Standpunkt aus gelehrt werden» müsse.9 Wie so viele ging auch
Moser davon aus, dass «Architektur durchaus eine Raumkunst ist».10 Diese Qualität sei im
Unterricht deutlich zu machen, wozu die Studierenden zuerst im räumlich-plastischen Sehen
geschult werden müssten.
Lebendigkeit bedingt schliesslich auch, im Erfahrungshorizont der Studierenden zu bleiben.
«Von Zürich ausgehen», hatte Moser 1914, bei der Vorbereitung seines Lehrkonzepts, über
das Programm für ein Architektur-Kolleg geschrieben.11 Und schon 1910 hatte Moser in sein
Tagebuch notiert: «Wenn ich einmal an einer Hochschule Lehrer werden müsste oder wollte,
so würde ich beim Arbeiterhaus anfangen lassen.»12 Die in den Arbeitsberichten der Architekturabteilung
der ETH 1971 dokumentierten Entwurfsaufgaben des ersten Jahreskurses
stehen dafür, dass Moser seinen Vorsatz einlöste: Die Studierenden mussten ein Handwerkerhaus,
Landhäuser, ein Wohnhaus an der Susenbergstrasse in Zürich, Tramwartehäuser
und einen Gartenpavillon entwerfen und zumindest teilweise auch konstruieren.13
«kein monarchisches sondern commu nistisches Princip»
Moser setzte einige Hoffnung in die institutionelle Zusammenführung der Generationen:
«Der Contakt mit der Jugend wird mir guttun, wird mich ebenfalls jugendlich machen und
erhalten.»14 Der erhoffte persönliche Gewinn konnte sich aber nur einstellen, wenn sich das
Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler als ein wechselseitiges gestalten liess. Der Weg
dorthin führte bei Moser über die persönliche Ansprache und über einen Unterricht, der
den Erfahrungshorizont der Studierenden ernst nahm.
Teil der sozialen Gruppe der Studierenden zu werden, dieses Ziel verfolgte Moser vom ersten
Tag seiner Lehrtätigkeit an. Von dem Versuch berichten die vielen den Unterricht vorbereitenden
Notizen, vom Gelingen Berichte und Briefe von Schülern, die Wahrnehmung der Zeitgenossen
oder auch die Vertraulichkeit mancher Fotos, die seine Schüler vom Lehrer auf
Exkursionen machten (Abb. 3, 5). «Meine lieben jungen Freunde», begrüsste Moser die Architekturstudenten
gleich zu Beginn seines ersten Semesters an der ETH, um ihnen sodann
ein gemeinschaftliches Arbeiten in Aussicht zu stellen. Keine Doktrinen, keine «Aufstellung
eines festen unverrückbaren Programmes» sei von ihm zu erwarten, heisst es in einem undatierten
Vortragsmanuskript, «sondern Vorschläge, die auf langjährigen Beobachtungen
ruhen, und Grundlage für weitere Entwicklung und Fortschritte in sich schliessen».15
Die Erfahrung der Jahre steht wie die Jugend im Fluss der Zeit. Dieser Dynamik ist für Moser
jeder ausgesetzt, kein Programm oder Vorbild, keine Schule kann ihr entgegensteuern. Entsprechend
hoch siedelte er die Selbstverantwortung auch seiner Studierenden an: «[…] der
Weg liegt nicht bei Wright und nicht bei Lutyens, nicht bei Bonatz […] weder bei Palladio
noch bei irgendeinem grossen Meister der frühern oder der Jetztzeit […] der Weg liegt nicht
ausserhalb sondern er liegt in uns.»16 Wie die «Uebungen der Pfadfinder» sah Moser seine
Lehre: «Keine Ansammlung von Wissenschaft sondern praktische Vorbereitung fürs Leben,
kein Recipiren sondern Produciren. Keine Ehrfurcht erziehen, sondern Freundschaft erziehen,
kein monarchisches sondern communistisches Princip im besten Sinne des Wortes […]
kein Aufoktruiren eigener Meinungen sondern teilhaftig werden lassen, der eigenen Erfahrungen
| kein Podium für den Lehrer sondern den Saalboden für alle | keine Eitelkeit sondern
Bescheidenheit | kein Stagniren sondern Entwicklung!»17
Mosers Botschaft kam an. Davon darf man ausgehen, auch wenn die meisten schriftlichen
Zeugnisse dem Kontext ehrender Würdigungen entstammen. Der Tenor ist überall der gleiche:
«Kameradschaftliches Verständnis» habe man von Moser erfahren,18 nie habe er «trotz
seinen anerkannten leistungen und dem hohen ansehen das er genoss, auch nur eine spur
von einem nimbus um sich verbreitet».19 Als «ewig jungen Architekten» betitelte sein ehemaliger
Schüler Max Tüller ihn im Nachruf;20 Rudolf Steiger sprach bei Mosers Bestattung von
seiner «ungeheuren vitalität», von einer «person, die ein geistiges altern nicht anerkannte».21
Die Rede von «‹papa› moser» sei nie auf den generationsunterschied gemünzt gewesen,
sondern «klang wie ein vertraulicher kameradschaftlicher übername». Hermann Kienzle,
Mosers erster Biograf, beschreibt ihn als Menschen mit einer «unbefangenen und suchenden
Natur»; entsprechend habe er sich «nicht über seine Schüler, sondern unter sie [gestellt],
er lernte und entwickelte sich mit ihnen und sicher auch an ihnen».22
Dynamischer Fluss
Die Reichweite und das Potenzial von Mosers Lehre ist wohl kaum besser zum Ausdruck
gebracht als durch die Betonung eines im künstlerischen wie im kulturellen Sinn hochintegrativen
Verständnisses von Architektur durch einen Hauptvertreter der Avantgarde wie
Hans Schmidt. «die verbundenheit aller menschlichen kultur» galt für Moser in synchroner
wie in diachroner Hinsicht. Mosers «fähigkeit», «den beruf […] in seinem dynamischen fluss
darzustellen», war für Rudolf Steiger eines der Geheimnisse von dessen Erfolg als Lehrer.23
Alles ist im Fluss, aber verbunden durch die kulturelle Tradition und durch Prinzipien, durch
jene überhistorischen Qualitäten der Kunst, auf die es Moser in seiner Lehre und seiner
architektonischen Praxis auch ankam. Die Teilhabe an diesem Fluss war für Moser unabdingbar.
Die Alternative hat er für sich selbst benannt: «Es gibt nur ein Leben. Entweder hat
man das für immer oder man hat es nicht und man mumifizirt sich.»24
Dr. habil. Sonja Hildebrand, Vertretungsprofessur für Kunst- und Architekturgeschichte, Institut für
Geschichte und Theorie der Architektur (gta), ETH Zürich, sonja.hildebrand@gta.arch.ethz.ch

TEC21, Di., 2010.12.21

21. Dezember 2010

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