Editorial

Dieses Heft ist die letzte von vier Ausgaben, die TEC21 dieses Jahr der Raumplanung gewidmet hat. Nach einem Überblick über Ge-schichte und aktuelle Aufgaben der Raumplanung («Die Schweiz wird knapp», TEC21 10/2010), Gedanken zur Planungskultur («Pla-nungskulturwandel», TEC21 21/2010) und zu neuen Planungsinstrumenten («Ideen im Raum», TEC21 29-30/2010) wirft das vorliegende Heft einen Blick in die Zukunft. Wir haben drei Fachleute, die den räumlichen Wandel aus unterschiedlichen Blickwinkeln verfolgen, ge-fragt, wie sich die Schweiz künftig entwickeln wird, welche Gefahren drohen und welche neuen Wege gangbar scheinen.

Der Geograf Christian Schmid, die Ökonomin Irmi Seidl und der Architekt Gion A. Caminada sind sich einig: Unser heutiger Umgang mit Boden und Raum zerstört nicht nur ökologische Lebensgrundlagen, die Zersiedelung führt auch zur Ausnivellierung regionaler Unter-schiede. Damit trägt sie zum Verschwinden einer schweizerischen Eigenart, der kulturellen Vielfalt, bei und bedroht eine weltweit seltene räumliche Qualität: die Nähe urbaner Zentren zu intakten Landschaften.

Gefördert wird dies durch falsche Anreize wie die pauschale Subventionierung von Infrastruktur in dünn besiedelten Gebieten oder die steuerliche Abzugsfähigkeit von Pendelkosten. Und die weitgehende Autonomie von Gemeinden und Kantonen, einst erfolgreiches Ge-genrezept zu einem ineffizienten Zentralstaat, führt beim heutigen forcierten Wettbewerbsdenken dazu, dass gemeinsame Interessen ver-gessen gehen. Eine Stärkung der Planungskompetenzen auf Kantons- und Bundesebene ist politisch umstritten. Jedoch könnte ein gang-barer Weg über die Kostenwahrheit führen, also über das Umlegen aller Kosten der Zersiedelung auf die Verursacher.

Einig sind sich die Gesprächspartner auch darin, dass es dann darum ginge, die Profile der Regionen wieder zu stärken, deren Eigenhei-ten und Spezialitäten zu fördern und dazu die Bevölkerung einzubinden, deren Kreativität heute zu wenig genutzt wird. Mehr direkte Kommunikation zwischen den Regionen, etwa zwischen Stadt- und Bergbewohnern, könnte allen nützlich sein. So wären gegenseitige Erwartungen, neue Ideen, aber auch gemeinsame Interessen (wieder) zu entdecken.

Die Fotos in den vier Raumplanungsnummern stammen von Hannes Henz. Nach den Bergen, der Agglomeration und dem Land hat er nun den vierten «Landesteil», die Stadt, besucht. Im herbstlichen Zürich hat er nach Urbanität gesucht und sie vor allem dort gefunden, wo die Stadt gegenwärtig umgebaut wird.

Auch 2011 werden vier TEC21-Ausgaben spezielle Aspekte der Raumentwicklung behandeln. Nr. 7 vom 11. Februar fragt unter anderem: Verdichten ja, aber wie?
Claudia Carle, Ruedi Weidmann

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Pfingstweidpark in Zürich | Leichtbaukonkurrenz

10 PERSÖNLICH
Christine Haag: «Den Stier bei den Hörnern packen»

12 MAGAZIN
Birsbrücke von Robert Maillart | 55 Jahre
im Dienst der Baukultur | Bücher

18 «REGIONALE PROJEKTE LANCIEREN»
Ruedi Weidmann Die Zersiedelung zerstört
Lebensgrundlagen und spezifische Qualitäten der Schweiz. Bessere Wege einschlagen könnten laut Christian Schmid regionale Projekte mit aktiver Beteiligung der Bevölkerung.

24 «DIFFERENZEN VERSTÄRKEN»
Claudia Carle, Ruedi Weidmann Irmi Seidl und Gion A. Caminada plädieren im Gespräch mit TEC21 dafür, der kulturellen Ausnivellierung in der Schweiz mit einer Stärkung ortsspezifischer Potenziale entgegenzuwirken.

33 SIA
Weniger ist mehr | Ein Raumkonzept für die Schweiz | Baukultur neu definieren

39 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

«Regionale Projekte lancieren»

Die kurze Distanz zwischen urbanen Zentren und intakter Landschaft ist
eine spezifische Qualität der Schweiz. Doch sie ist in Gefahr, wenn wir weiter
Landschaft verbrauchen wie bisher. Wir müssen umlernen – am besten in
regionalen Projekten mit breiter Beteiligung, schlägt Christian Schmid vor.
TEC21: In welche Richtung läuft die Raumentwicklung in der Schweiz?
Christian Schmid: Ich sehe zwei Tendenzen: die Wiederentdeckung der Städte und die
Zersiedelung. Die Städte werden schon seit einiger Zeit wieder als attraktive Standorte
gesehen. Die Nachfrage nach Wohnungen und Arbeitsplätzen hat kontinuierlich zugenommen,
und heute herrscht eine eigentliche Wohnungsnot, nicht nur in Zürich und Genf, sondern
auch in kleineren Städten. Die Innenstädte werden mit verschiedenen Massnahmen
aufgewertet und zunehmend für vermögende Bevölkerungsgruppen reserviert: Die Bodenpreise
steigen, weniger zahlungskräftige Schichten werden verdrängt. Diese grossflächige
Aufwertung bedroht genau das, was die Qualität der Städte ausmacht, nämlich ihre soziale
Vielfalt, ihre vielseitigen Angebote und ihre Offenheit für Neues.
Gleichzeitig schreitet die Zersiedelung an den Rändern der Agglomerationen weiter voran.
Sie erreicht bereits die Alpen. Die Landschaft bildet den Kern dieser Problematik: Die Menschen
kommen nicht aus Platznot hierher, sondern weil sie in einer schönen Landschaft
wohnen möchten, und bauen deshalb ihre Einfamilienhäuser am liebsten mitten hinein. Die
Konsequenz ist klar: Wenn das viele tun, sind die Landschaften schnell verbraucht. Das
Resultat ist nicht die erträumte Idylle, sondern eine zersiedelte und zerstückelte Landschaft,
die massiv an ästhetischem Wert und auch an Gebrauchswert verliert. Das ist für alle sichtbar,
fühlbar, erfahrbar. Der sozialräumliche Wandel hat also zwei Brennpunkte: die Innenstädte
und die Ränder der Agglomerationen. Für beide brauchen wir praktikable Lösungen.
TEC21: Welche Strategien scheinen Ihnen erfolgversprechend?
Schmid: Wir haben einen Paradigmenwechsel hinter uns: Die Regionalplanung hatte sich
seit ihrer Entstehung nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel gesetzt, die Zersiedelung zu verhindern.
Sie versuchte, die wirtschaftliche und die demografische Entwicklung mittels Plänen
und Konzepten zu lenken, die am Schreibtisch entstanden sind. Dieses technokratische Vorgehen
war von Anfang an erfolglos. Trotzdem hielt man jahrzehntelang an dieser Vorstellung
von Regionalplanung fest. Jetzt hat man sie weitgehend aufgegeben. Doch was ist der Ersatz
dafür? Die eine Antwort, die heute stark verbreitet ist und eine aktive Lobby hat, lautet:
Wir brauchen gar keine Regionalplanung, die Gemeinden können das alleine, die Kantone
sollen möglichst wenig hineinreden, der Bund am liebsten gar nichts tun. Die andere Position
versucht, intelligentere Vorgehensweisen vorzuschlagen, entwickelt neue Steuerungsinstrumente
und probiert sie teilweise auch aus.
TEC21: Wie könnte man die Wohnungsnot in den Städten entschärfen?
Schmid: Man muss zunächst akzeptieren, dass urbanes Wohnen und Arbeiten heute wieder
gefragt ist. Unsere Innenstädte sind aber viel zu klein, um die enorme Nachfrage zu befriedigen.
Wir müssen deshalb an den Rändern der Städte und teilweise auch in den Agglomerationen
neue Quartiere mit urbanen Qualitäten schaffen. Dafür müssen wir auch die entsprechenden
Flächen und Infrastrukturen bereitstellen, was meistens auch Kooperationen
zwischen verschiedenen Gemeinden und Kantonen erfordert.
TEC21: Und wo sehen Sie Mittel gegen die weitere Zersiedelung?
Schmid: Hier geht es vor allem um Fairness und Kostenwahrheit: Wir müssen erkennen,
dass die Zersiedelung heute massiv subventioniert wird. Eine Strasse oder eine Buslinie
kosten pro Kopf in einem dünn besiedelten Gebiet wesentlich mehr als in einem dichten
Stadtquartier. Aber auch die Erhaltung der Kulturlandschaften wird über die Landwirtschaftspolitik
subventioniert. Wir müssen die Kosten unserer Wohn- und Lebensweisen erfassen,
auch die indirekten und versteckten, und sie auf die Verursacher und Nutzniesser umlegen.
Man hätte so endlich Klarheit über die wahren Kosten und die negativen Nebeneffekte der
Zersiedelung. Das gilt auch für steuertechnische Massnahmen. Die Begünstigung des
Eigenheimbesitzes im Steuerrecht, die Abzugsfähigkeit der Pendelkosten, die neuerdings
geforderte Förderung des Bausparens – das führt zur ungerechtfertigten Bevorzugung einer
bestimmten Wohnform, dem Einfamilienhaus, gegenüber Wohnformen, die weniger Landschaft
und Ressourcen verbrauchen. Das alles sind Beispiele von offenen und versteckten
Subventionierungen der Zersiedelung, die man abschaffen sollte.
TEC21: Der Ansatz der Kostenwahrheit stösst vor allem in Berggebieten auf Widerstand…
Schmid: Ja, weil die Berggebiete besonders stark von direkten und indirekten Transferleistungen
profitieren. Man wird sich immer dafür entscheiden können, gewisse Gebiete gezielt
zu fördern, aus Solidarität oder weil man bestimmte landschaftliche Qualitäten erhalten
möchte. Aber heute subventionieren wir generell alle peripheren und wenig dicht besiedelten
Gebiete – auch solche, die sehr wohlhabend sind.
TEC21: Sehen Sie weitere gangbare Wege für die Regionalplanung?
Schmid: Wir sollten weniger über Vorschriften und Verbote operieren, sondern bestehende
Potenziale ausschöpfen, neue Möglichkeiten ausprobieren und regionale Projekte lancieren.
Das sind Projekte, in denen eine gemeinsame Vorstellung über die Zukunft der Region entwickelt
wird, und zwar nicht am Schreibtisch, sondern politisch und sozial breit abgestützt,
getragen von der Bevölkerung. Es geht darum, die Stärken einer Region wahrzunehmen und
zu fragen: Was haben wir anzubieten? An welcher Zukunft wollen wir gemeinsam arbeiten?
Damit würden die Regionen an Profil und Qualität gewinnen, die Unterschiede würden gestärkt
statt ausnivelliert wie heute. Regionale Projekte könnten zudem die schwerfälligen Instrumente
der Raumplanung durch flexiblere und effizientere Steuerungen ersetzen, und sie
würden die Raumentwicklung dem unergiebigen parteipolitischen Spiel entreissen. Sobald
man in eine breite Debatte einsteigt, wird das Parteibuch weniger wichtig und die Diskussion
sachbezogener. Die Erfahrung und die Kreativität der Bewohnerinnen und Bewohner
kann zum Zug kommen. Zur Idee regionaler Projekte gehört auch, dass man wieder lernt, in
grösseren Zusammenhängen zu denken. In einem so stark entwickelten, urbanisierten und
erschlossenen Land wie der Schweiz sind die gegenseitigen Abhängigkeiten derart gross,
dass eine lokale Massnahme Auswirkungen an ganz vielen anderen Orten hat.
TEC21: Wäre dazu eine Einschränkung der Gemeindeautonomie nötig?
Schmid: Das ist eine zentrale Frage. Wir müssen uns tatsächlich fragen, ob wir die Gemeindeautonomie
im Hinblick auf die regionale Entwicklung nicht beschränken müssen. Das
rührt an ein Tabu, aber ich finde diese Debatte legitim und äusserst wichtig. Denn viel zu oft
führt die Gemeindeautonomie zur Stärkung von Partikularinteressen und steht intelligenten
Lösungen und gemeinsamen Strategien entgegen. Wenn wir die Vorteile lebendiger Städte
und die Vorteile intakter Landschaften stärken würden, hätten alle mehr davon. Konkret würde
das beispielsweise bedeuten, die Neubautätigkeit an einer geeigneten Stelle der Region
zu konzentrieren und im übrigen Gebiet die Landschaft zu schonen. Das könnte über eine
Bauzonenbörse organisiert werden oder mit direkten monetären Abgeltungen zwischen den
Gemeinden. Doch solche Ideen haben es gegenwärtig sehr schwer.
TEC21: Ist das eine Folge des Wettbewerbsdenkens?
Schmid: Ja. Der Wettbewerb wird heute als Allheilmittel in fast alle gesellschaftlichen Bereiche
übertragen. Das hat auch zur Konsequenz, dass das Verständnis für das Gemeinwohl
und die Solidarität schwinden. Ein besonders deutliches Beispiel ist der Steuerwettbewerb.
Wenn man ihm keine Grenzen setzt, geht er bis zum Dumping, und wenn er auf einem
so kleinteiligen Territorium wie in der Schweiz erfolgt, hat er ungewollte Nebeneffekte, die
man kaum mehr kompensieren kann. Heute schaut fast jede Gemeinde nur für sich, und alle
streben nach dem gleichen: mehr gute Steuerzahler anzuziehen. Als ob es nur noch darum
ginge, möglichst wenig Steuern zu zahlen. Wenn wir gut essen möchten, dann gehen wir
auch nicht ins billigste Restaurant. Ähnlich ist es mit der Lebensqualität in unseren Regionen
– die ist nicht gratis zu haben, und sie darf auch etwas kosten.
TEC21: Warum ist Ihnen der Einbezug der Bevölkerung so wichtig? Diese hat ja heute schon
weitgehende Mitspracherechte an der Urne, in Vernehmlassungen, über Einsprachen usw.
Aber so, wie ich Sie kenne, geht es Ihnen nicht nur um die Legitimation von Projekten, sondern
um die Suche nach Kreativität.
Schmid: Das stimmt. Ich rede nicht davon, dass Behördenvertreter mit Grundbesitzern und
Investoren am Tisch sitzen, das hat mit Partizipation wenig zu tun. Es geht darum, dass
möglichst grosse Teile der Bevölkerung mitreden und den Prozess aktiv mitgestalten. Wir
haben in diesem Land sehr viele Leute, die in ganz vielen Bereichen sehr kreativ sind. Ich
sehe, dass dieses Potenzial für die Entwicklung des Landes kaum genutzt wird. Die Politik
ist heute uninspiriert, und die Planung war viel zu lange eine Domäne der Verwaltung und
von Spezialisten. Es gibt deshalb heute kaum mehr lustvolle öffentliche Debatten über Planungsfragen.
Die Öffentlichkeit wird eher als störender Faktor wahrgenommen. Das ist aus
Sicht der Verwaltung nachvollziehbar, weil offene Prozesse die Terminkalender und Verfahrensabläufe
durcheinanderbringen. Offene Debatten bieten aber die Chance, auf ganz neue
Ideen zu kommen, sie dienen auch der Warnung vor Schwächen von Projekten und ausserdem
der Sensibilisierung der Bevölkerung. In der direkten Demokratie muss man oft über
Volksabstimmungen gehen und kommt dort nur mit breit abgestützten Projekten durch.
Analysiert man Projekte, die politisch oder in Rekursverfahren gescheitert sind, stellt man oft
fest, dass in der Planung wesentliche politische, soziale oder kulturelle Aspekte vernachlässigt
wurden, sei das bei Grossbauten in den Städten oder bei Parkprojekten im Berggebiet. Mit
öffentlichen Debatten in der Planungsphase könnte man solche Scherbenhaufen vermeiden.
TEC21: Was wären mögliche Beispiele für partizipative, regionale Projekte?
Schmid: Etwa der ehemalige Militärflugplatz Dübendorf. Er ist die grösste Entwicklungsreserve
der Region Zürich und liegt in der Flughafenregion mit ihrer unglaublichen Dynamik,
deren Gemeinden zu einem dichten und komplexen städtischen Gebiet zusammenwachsen.
In einem regionalen Projekt könnte man gemeinsam überlegen, was aus dem freien Feld in
der Mitte werden soll. In den Berggebieten wären die verschiedenen Projekte für regionale
Pärke zu nennen, die heute diskutiert werden. Ich finde sie allein schon deshalb wichtig, weil
man über die Idee eines Parks miteinander ins Gespräch kommt. Dabei lassen sich unterschiedliche
regionale Profile und Entwicklungsstrategien erarbeiten. Eine dritte Möglichkeit
sind Gemeindefusionen, wenn sie zu genügend grossen Gebieten führen und man dabei
auch über künftige gemeinsame Entwicklungsmöglichkeiten diskutiert. Der Kanton Glarus
könnte hier mit seiner konsequenten Gemeindefusion eine Vorreiterrolle spielen.
TEC21: Was wäre dabei die Rolle der Planungsämter und der Planungsfachleute?
Schmid: Bund und Kantone könnten vermehrt anregend wirken als Ideengeber für die
Regionen.
Ein nationales Leitbild wie das Raumkonzept Schweiz, das im Januar veröffentlicht
werden soll, müsste eigentlich eine Inspirationsquelle sein. Und es müsste ein Projekt für die
Schweiz enthalten. Die Schweiz hat vor allem eine Qualität, die weltweit immer seltener wird:
die kurzen Distanzen zwischen urbanen Zentren und intakten Kultur- und Naturlandschaften
mit guter Luft und sauberem Wasser. Die Schweiz ist sich dieser Qualität viel zu wenig
bewusst.
Ruedi Weidmann, weidmann@tec21.ch

TEC21, Do., 2010.11.25

25. November 2010

«Differenzen verstärken»

Die Raumentwicklung in der Schweiz steuert auf eine Ausnivellierung
kultureller Unterschiede hin. Irmi Seidl und Gion A. Caminada plädieren im
Gespräch mit TEC 21 dafür, dieser Tendenz mit einer Stärkung und Weiterentwicklung
ortsspezifischer Eigenheiten und Potenziale entgegenzuwirken.
Es brauche aber auch eine Stärkung der Raumplanung auf Bundes- und
Kantonsebene sowie strengere Rahmenbedingungen.
TEC21: Frau Seidl, wie sehen die Schweizer Städte und Agglomerationen in 40 Jahren aus?
Irmi Seidl: Das ist schwer zu sagen, weil wir nicht wissen, wie sich globale Strukturen verändern
werden. Ich glaube, dass diese sich deutlich wandeln werden und dass wir dies
bislang in der Raumplanung nicht genügend berücksichtigen. Am wichtigsten ist zweifellos
die Veränderung der Energieversorgung. Wir werden in 40 Jahren in einer postfossilen Gesellschaft
leben, was unsere Lebensweise beeinflussen wird. Zugleich werden viele mineralische
Ressourcen knapp werden oder gar nicht mehr verfügbar sein. Es finden ausserdem
demografische Veränderungen statt, die sich auf die Siedlungsstruktur auswirken werden.
TEC21: Wie werden sich Lebensweise und Siedlungsstruktur konkret verändern?
Seidl: Wir werden die Energieversorgung auf alternative Energieträger umstellen müssen.
Das hat zum einen starke Auswirkungen auf die Gebäude, von denen viele umgebaut
werden müssen, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Zum anderen wird der Verkehr
deutlich teurer werden und folglich zurückgehen. Möglicherweise wird dadurch die Konzentration
auf grössere Zentren zunehmen, während ich für viele Einfamilienhäuser Probleme
kommen sehe, einerseits wegen der Energiekosten und der grossen Fahrdistanzen, andererseits
auch aufgrund der demografischen Veränderungen. Eine älter werdende Bevölkerung
in Einfamilienhäusern, vor allem in zersiedelten Gebieten, ist sozialpolitisch anspruchsvoll
und damit teuer.
TEC21: Wie werden sich die veränderten Rahmenbedingungen Ihrer Meinung nach auf die
Berggebiete auswirken?
Seidl: Da unsere Nahrungsmittelversorgung heute stark auf fossilen Energieträgern basiert,
werden sich mit deren Verknappung auch die Nahrungsmittelpreise erhöhen. Ich denke,
dass damit die landwirtschaftliche Produktion in der Schweiz wieder an Bedeutung gewinnen
wird. Statt unsere Kühe mit Soja aus Brasilien zu füttern, wird dann wahrscheinlich das
Gras in der Schweiz wieder wichtiger werden. Das heisst auch, dass Agrarregionen und
die nationale Produktion von Lebensmitteln wieder eine grössere Bedeutung haben werden.
Somit dürften sich die Verstädterung und das starke Gewicht der Städte als wesentliche
Generatoren des Bruttoinlandproduktes in den nächsten Jahrzehnten etwas relativieren.
TEC21: Herr Caminada, wie wird sich die Schweiz bis in 40 Jahren verändern?
Gion A. Caminada: Eines der Hauptprobleme ist meiner Meinung nach das Verschwinden
respektive die Vernichtung von Vielfalt. Wenn es so weitergeht, werden die kulturellen Differenzen
innerhalb der Schweiz, die für die Identität und für die allgemeine Befindlichkeit sehr
wichtig sind, verschwinden. Es findet eine Ausnivellierung auf allen Ebenen statt. Das ist
meiner Meinung nach ein enormer Verlust. An unserem Lehrstuhl an der ETH versuchen wir
bei den Studierenden die Wahrnehmung für dieses Phänomen zu schärfen.
Wir haben als Beispiel im Rahmen eines Forschungsprojektes die Kulturlandschaft im Appenzell
genauer angeschaut. Es ging darum, den Raum in seiner Authentizität, seiner Kraft,
seiner Spezifität zu erfassen. Ausserordentlich sind im Appenzell die gebauten Figuren
(Bauernhöfe) und die unverbauten Räume dazwischen. Nähe und Distanz sind von charakteristischer
Bedeutung. Nun werden diese Zwischenräume überall verbaut. Das ist ein
gravierender Verlust. Das, was diese Landschaft auszeichnet, geht unwiederbringlich verloren.
Wir sind im Moment daran, eine Methodik für die Schärfung der Wahrnehmung des
Essenziellen von bestimmten Orten zu schaffen. Was verleiht dem Ort seine ausserordentliche
Kraft? Je nach Situation kann das einmal die Topografie sein, einmal eine bestimmte
Struktur, eine Konstruktionsart oder eben wie im Appenzell die Freiräume.
TEC21: Sie plädieren also dafür, zunächst einmal die lokal vorhandene Topografie, Traditionen
und Bedürfnisse zu erfassen und daraus anschliessend etwas Ortsspezifisches zu
entwickeln, was dazu führen würde, dass jeder Ort wieder seine eigene Identität, seinen
eigenen baulichen Ausdruck bekommt?
Caminada: Ja, die Idee ist, Differenzen zu schaffen oder den Stärken, die vorhanden sind,
ein deutlich erkennbares Profil zu geben. Dabei geht es nicht darum, dass ich per se anders
sein muss als der andere, sondern darum, dass ich meine Eigenheiten, meine besonderen
Fähigkeiten entwickle. Damit werde ich automatisch anders als der andere. Der Mensch
sucht seit ewigen Zeiten nach Orientierung, Erkennbarkeit und Identität. Differenz muss als
ein Beziehungsbegriff verstanden werden. Er bezieht sich auf etwas, das einen Vorteil oder
eine eigene Entfaltung von etwas Kraftvollem verspricht. Nicht nur in Bezug auf das, was ein
Ort ist, sondern auch, was er werden kann. Dafür ist eine Art Immunität gegenüber den
Identitäts- und Sachzwängen von ‹mainstreams› notwendig.
TEC21: Wenn man die Entwicklung in diese Richtung steuern kann, würde das bedeuten,
dass auf der einen Seite die Städte städtischer, dichter werden und auf der anderen Seite
die Leute in den Berggebieten wieder mehr fragen, was sie selber brauchen, und wieder
eine eigene, lokale Architektur entwickeln. Passt diese Vision zum Revival der Landwirtschaft,
das Sie voraussagen, Frau Seidl?
Seidl: Ich denke schon, weil die Rückbesinnung auf lokale Potenziale, lokale Baumaterialien,
lokale Möglichkeiten des Bauens und Gestaltens ja zu den Ressourcen der Land- und
Forstwirtschaft führt. Spannend ist das entstehende Innovationspotenzial. Wenn ich mit
einem lokalen Material klarkommen muss, dann entwickle ich Methoden, wie ich dieses Material
verarbeiten, veredeln, verbessern und noch anderweitig gebrauchen kann, das heisst,
es entstehen neue handwerkliche Fähigkeiten im lokalen Gewerbe, die allenfalls auch die
Industrie nutzen kann. Die kommende Verknappung globaler Ressourcen werden wir umso
besser bewältigen, je früher wir wieder verstärkt auf die regionalen Ressourcen setzen.
TEC21: Was heisst das nun für Bauverantwortliche, für Architekturschaffende und
Bauämter? Wie muss man ein Bauprojekt oder eine Quartiererneuerung angehen? Was
muss man tun, bevor man zu entwerfen anfängt?
Caminada: Ich kann nur aus meiner Erfahrung berichten. Als Beispiel das Dorf Vrin: In einem
Dorf gibt es bestimmte Hierarchien. Die Kirche unterscheidet sich von den Wohnhäusern,
den Handwerksbetrieben, den Ställen usw. Am Ende des Gliedes stehen der Hühnerstall
oder die öffentliche Toilette. Ohne Hierarchien stirbt das Dorf. Die Erkennbarkeit einer – auch
symbolischen – Ordnung ist an vielen Orten verschwunden.
Wir haben das Dorf entlang einer solchen Vorstellung entwickelt. In dieser Idee sind Präsenz
und Absenz gleichbedeutend. In Vrin haben wir zum Beispiel mit dem Bau der Totenstube
etwas Neues hineingesetzt, etwas, das es vorher nicht gab. Ein neues Glied in der Kette.
Die Frage war, was der Ausdruck dieser Totenstube innerhalb der bestehenden Konstellation
ist: Welchen Bezug haben die Menschen dazu? Wie öffentlich oder wie privat soll sie
sein? Was für eine Form gebe ich dem neuen Gebäude? Welches Material nehme ich?
Das sind zuerst einmal Fragen der Kultur und weniger architektonische.
Wir versuchen auch die lokale Wirtschaft in diese Prozesse einzubinden. Vrin ist aber kein
Modell für andere Gemeinden. Orte sind nicht transportierbar, vielleicht die Art und Weise
der Prozesse. Diese Einsicht ist für die Idee der Differenzentwickung wichtig.
TEC21: Wird ein Ort, dessen spezifische Potenziale man weiterentwickelt, auch am ehesten
wirtschaftlich erfolgreich sein, sodass man damit auch die Abwanderung der jüngeren Bevölkerung
stoppen kann?
Caminada: Die Abwanderung sehe ich nicht als Hauptproblem im Berggebiet. Ich finde den
Siedlungsdruck, der von aussen kommt, viel gravierender. Und der war noch nie so stark
wie heute. Natürlich ist eine gewisse Grösse für die Dorffunktion wichtig. Ist diese nicht gegeben,
dann kann man die Schule oder den Dorfladen nicht erhalten. Das Problem ist, dass
man sich krampfhaft an alte Muster hält.
Seidl: Man muss Flexibilität haben für andere, neue Spielarten von Versorgung, dass zum
Beispiel die Schulklassen grösser werden, die Kinder woanders zur Schule gehen oder
die Versorgung über einen selbstverwalteten Dorfladen erfolgt. Stattdessen wird heute die
Entwicklung von Orten oft darauf ausgerichtet, die Schule zu erhalten oder die bestehende
Mehrzweckhalle füllen zu können. Daher wird weiter Bauland ausgewiesen, um junge Familien
anzuziehen, die dann aber oft kaum Steuern zahlen, weil sie mit ihrem neuen Haus hoch
verschuldet sind. Die Gemeinden schaffen sich mit den damit verbundenen hohen Kosten
und strukturellen Veränderungen oft Probleme – auch mittelfristig.
TEC21: Differenzen zu verstärken könnte also für ein Tal bedeuten, dass dort die Menschen
weggehen, ein anderes setzt auf nachhaltige Landwirtschaft und sanften Tourismus, wie
zum Beispiel Vrin oder das Safiental, und zum Dritten gäbe es auch Resorts wie das von
Sawiris in Andermatt?
Caminada: Ja, möglicherweise braucht es auch Resorts. Wenn sie an bestimmten Orten
konzentriert sind, kann das gut sein. Die Tendenz ist jedoch genau anders. Es heisst, die
Zukunft des Berggebietes liege einzig im Tourismus, dazu ein wenig Landwirtschaft, die
aber unrentabel bleiben werde. Diese Vorstellung ist deprimierend und führt dazu, dass an
jedem Ort Resorts geplant werden. Man müsste das Problem von einer anderen Seite angehen
und zuerst die Frage nach der Lebensvorstellung stellen, die in eine Lebensqualität
münden würde. Geht es den Einheimischen gut, und zwar nicht nur finanziell, so fühlen sich
auch die Touristen wohl. Es gibt Beispiele, bei denen der Ausgangspunkt der Projektentwicklung
nicht bei den ökonomischen Maximen lag, sondern auf einer kulturellen Ebene.
Und sie sind nachhaltig erfolgreich geblieben. Die Haupttendenz ist leider eine andere: Man
versucht, durch eine Idee die Masse anzulocken. Man meint, diese müsse im Trend liegen,
vielleicht mit ein paar ausgefallenen Extras versehen, und dann würden auch die Touristen
kommen. Das ist der falsche Ansatz. Man muss zuerst eine für den Ort in mehrfacher
Hinsicht tragfähige Idee entwickeln und dann nach möglichen Finanzierungen suchen. Auf
jeden Fall darf es nicht sein, dass allein die Investoren darüber bestimmen, was entwickelt
werden soll.
Seidl: Oft verhindern aber die Rahmenbedingungen ein Umdenken der Gemeinden. Wir
haben uns in einem Projekt mit der Siedlungsentwicklung des Kantons Thurgau befasst. Der
Kanton zieht Leute aus Zürich an, die im Thurgau billiger und auf grösseren Flächen wohnen
wollen. Viele landwirtschaftliche Flächen werden mit Einfamilienhäusern überbaut – 2007
waren 50 % der neu erstellten Wohnungen im Thurgau Einfamilienhäuser, in Boomzeiten gar
70 %. In Grenzgemeinden zum Kanton Zürich stammen teilweise über 50 % der Zuzüger aus
Zürich und pendeln dorthin zur Arbeit. Dank der steuerlichen Abzugsfähigkeit sind die
Pendlerkosten für den Einzelnen gut tragbar. Zufrieden sind auch die Landwirte, weil sie ihr
Land teuer verkaufen können, sowie die Bauindustrie. Wir haben hier also eine staatliche
Rahmenbedingung, die eine versteckte Subventionierung der Zersiedlung ist und die Gemeinden
davon befreit, darüber nachzudenken, welche anderen Stärken oder Potenziale
vorhanden wären als die Vergrösserung durch neue Einfamilienhäuser. Politisch wichtig wäre
auch, zu überlegen, wie sich die Bauindustrie, die mit dem Bauboom der letzten Jahrzehnte
gross und einflussreich geworden ist, so weiterentwickeln kann, dass sie nicht auf weiteren
umfangreichen Neubau angewiesen ist.
Caminada: Ja, das Bauen ist zum Selbstzweck geworden. Anderseits ist die Nachfrage
nach Immobilien enorm gross. Im Berggebiet wurde noch nie so viel gebaut wie im Moment.
Es braucht eine Umstrukturierung im Baugewerbe. In Zukunft muss es gelingen, die Wertschöpfung
am Ort zu erhöhen, das heisst Konstruktionen zu entwickeln, die man am Ort
bauen kann, statt vorfabrizierte Systeme einzusetzen. Importiert werden darf nur das, was
besser ist als das Eigene. Damit würde man Wissen und zugleich Baukultur generieren.
Seidl: Es fliesst momentan unheimlich viel Geld in Immobilien als sichere Geldanlagen.
Caminada: Mit Bauland Geld zu verdienen, müsste eigentlich verboten werden.
Seidl: Deshalb brauchen wir die Mehrwertabschöpfung.
Caminada: Das andere ist die Raumplanung: Am wenigsten funktioniert die, meine ich, auf
der Ebene der Gemeinden.
Seidl: Ja, eindeutig. Auf Gemeindeebene gibt es starke Interessen vonseiten des Baugewerbes,
der Landbesitzer und zum Teil auch der Verantwortlichen für die Gemeindefinanzen,
die vor allem die Steuereinnahmen sehen. Deshalb muss die Raumplanung auf Kantonsebene
gestärkt werden. Die Kantone müssen Gesetze und Verordnungen gegenüber den
Gemeinden stärker durchsetzen. Der Bund mit dem sehr schwach dotierten Bundesamt für
Raumentwicklung (ARE) muss ebenfalls mehr Kompetenzen bekommen, auch wenn das die
Kantone nicht gern hören. Raumentwicklung ist deshalb so interessenbefrachtet und politisch
kontrovers, weil Eigentum und unglaublich viel Geld damit verbunden sind.
TEC21: Es bräuchte Ihrer Meinung nach also vor allem einen strengeren Vollzug der schon
vorhandenen Gesetze?
Seidl: Ja, aber auch weitergehende Instrumente. Zum Beispiel muss man die Neueinzonung
von Bauland stark begrenzen, besser gar stoppen. Deshalb befürworte ich die Landschafts
initiative. Man muss die vorhandenen Knappheiten abbilden, damit die Gemeinden anfangen,
sich zu überlegen, wie sie sich weiterentwickeln können, ohne die Landschaft zu verbauen.
TEC21: Müsste man auch aufhören, immer mehr Gebiete noch besser für den Verkehr zu
erschliessen?
Caminada: Es braucht ein Gesamtentwicklungsprogramm für die Schweiz: Welche Gebiete
will man wie entwickeln, und wie sollen diese erschlossen werden? Es ist sehr wohl denkbar,
dass für gewisse Konzepte eine knapp gehaltene Erschliessung besser ist. Man muss von
der Idee wegkommen, dass eine bessere Erschliessung zugleich mehr Wohlstand bedeutet.
Der Ort Vals verliert meiner Meinung nach an Kraft, je breiter die Strasse wird. In schlechter
Erreichbarkeit liegt ein interessantes Potenzial. Das wäre ein Mittel, mit dem sich die Differenzen
zwischen verschiedenen Regionen verstärken liessen.
Seidl: Ja, durch eine gute Verkehrsinfrastruktur findet eine Angleichung statt.
Caminada: Differenzen lassen uns den Raum grösser erscheinen, als er eigentlich ist. Bessere
Verkehrserschliessungen und die Ausnivellierung von Differenzen hingegen machen
ihn kleiner. Man müsste alles daran setzen, das Land psychisch grösser zu machen. Die
Idee der Porta Alpina ist ein Beispiel für eine falsche Richtung. Ist sie einmal gebaut, würden
die Sedruner wahrscheinlich nach Bellinzona oder Lugano einkaufen gehen, und die Vorstellung,
dass man in Zürich arbeiten und in Sedrun wohnen könnte, wäre für viele eine attraktive
Option. So werden keine Orte geschaffen. Eine Differenzierung der Erschliessung würde
zu einer Wertvermehrung für die Schweiz führen. Es braucht gute Netzverbindungen, aber
nicht überall. Ich finde es wunderbar, dass Basel nicht gleich aussieht wie Luzern und dass
Vrin anders aussieht als Horgen. In so einem Land zu wohnen, ist doch eine enorme Qualität.
Die Schweiz ist ein kleines Land von grosser Vielfalt – sprachlich und topografisch, klimatisch
und kulturell –, das ist grossartig. Wenn wir den Wert dieser Vielfalt stärker empfinden
und schätzen könnten, wäre das ein erster Schritt in eine andere Entwicklungsrichtung.
TEC21: Porta Alpina und Vrin – das sind zwei verschiedene Modelle. Hat Vrin mit der Vorstellung,
seine Eigenart zu erhalten, eine Ausstrahlung auf die übrige Surselva?
Caminada: Vrin steht für sich. Was dort entwickelt wurde, ist eine mögliche Option für einen
Ort. Nochmals: Vrin ist kein Modell, das man so übernehmen kann. Ich würde Vrin als
radikale Normalität bezeichnen. Es geht gar nicht primär darum, die Eigenart zu erhalten,
sondern vielmehr darum, an der Grundstruktur zu arbeiten und nicht an Äusserlichkeiten
hängen zu bleiben. Für Auswärtige ist der Ort kaum existenzfähig.
Die Porta Alpina verfolgt ganz andere Absichten. Ich würde sagen, 90 % der Leute in der
Surselva sind für die Porta Alpina. Sie verspricht mehr Leute in der Region, was gleichbedeutend
ist mit der Aussicht auf mehr Geld. Diese Vorstellung wird mit der Spekulationsbauerei
schon lange praktiziert, verbessert hat sich jedoch wenig.
Seidl: Weil die Leute, die angezogen werden, gar nicht unbedingt zur Wertschöpfung
beitragen. Das sind Ferienhausbesitzer oder Tagestouristen.
Caminada: Wichtig ist, glaube ich, aufzuzeigen, welchen Beitrag das Berggebiet in Zukunft
für die Agglomerationen leisten könnte. Einerseits glaube ich wie Sie, Frau Seidl, dass die
Produktion von hochwertigen Nahrungsmitteln in Zukunft an Bedeutung zunehmen wird.
Auch handwerkliche Kompetenz wäre etwas, das man exportieren könnte. Wir haben im
Berggebiet sehr gute Handwerker, aber die Qualität nimmt durch die Massenanfertigung
und die Produktindustrialisierung ab.
TEC21: Das Berggebiet kann also Nahrungsmittel und handwerkliches Know-how anbieten,
aber auch intakte Landschaft...
Caminada: Naturerholungsräume, klar, aber mit einer anderen Art Naturvorstellung als bei
den Naturpärken. Sie müsste zwischen den vorherrschenden Extrempositionen liegen: der
idyllischen Vorstellung der Städter von einer zweckfreien Natur und der mechanistisch geprägten
vieler Bergler. Erstrebenswert wäre eine Deckungsgleichheit zwischen Mensch und
Natur. Damit ist auch ein neues Segment zwischen den alpinen Resorts und der Brache gefordert.
Das Berggebiet als Vorratskammer für die Stadt: hochwertige Nahrungsmittel, gutes
Handwerk und Erholungsräume. Die Wertschätzung dieser Güter wird aber nur durch eine
andere Beziehung zwischen Berg und Stadt erreicht. Da sind wir kulturell stark gefordert.
TEC21: Städter haben recht genaue Vorstellungen davon, was sie in den Bergen suchen:
eine unverbaute, naturnahe Kulturlandschaft, frische Luft, sauberes Wasser, viele Tiere
und eine starke Identität, also beispielsweise nicht die gleichen Häuser wie im Mittelland.
Als Zürcherin oder Zuger zahlen sie auch Geld in den Lastenausgleich ein, das den Berggebieten
zugutekommt. Müsste es einen intensiveren Diskurs geben zwischen den Leuten
in den Städten und den Leuten im Berggebiet über das, was man sich wünscht, und das,
was realistisch ist?
Seidl: Es kann nicht darum gehen, die Berggebiete so zu gestalten, wie die Städter es
aktuell
wünschen. Die Nachfrage und die Notwendigkeiten können ja in zehn oder zwanzig
Jahren ganz anders ausschauen. Es kann nicht darum gehen zu sagen: Wir in Zürich zahlen
in den Lastenausgleich ein, also bestimmen wir, wie es in den Bergen aussieht. Hier ist
anzufügen: In früheren Jahrhunderten haben die Städte vom Hinterland gelebt und konnten
dank der Arbeit und den Ressourcen der Peripherie ihren Reichtum aufbauen. Bezüglich
Lastenausgleich müssen wir in langen Zeiträumen denken. Es kann auch mal wieder eine
Zeit kommen, in der Zürich oder Basel über Transfers von der Peripherie in die Stadt, seien
es Lebensmittel, Ressourcen oder Arbeitskräfte, heilfroh sind. Solidarität und eine gewisse
soziale Gerechtigkeit sind Grundwerte in unserem Land. Dies gilt auch für das Verhältnis
Zentrum zu Peripherie. Gleichzeitig kann es aber auch nicht angehen, dass in der Peripherie
mit den zahlreichen Subventionen die Landschaft und die Natur verschandelt und zerstört
werden und zum Beispiel bei der Verkehrserschliessung unsinnig aufgerüstet wird.
Caminada: Für eine andere Beziehung zwischen Berg und Mittelland oder Stadt müsste
man eine Diskursplattform installieren, wo man sich austauscht: Was erwarten die Städter
vom Berggebiet? Was erwarten die Bergler von der Stadt? Oft sind es ja Extrempositionen,
die da aufeinanderprallen. Die Bergler sind der Meinung, sie hätten ein Anrecht auf das
Geld der reichen Städter, was natürlich nicht stimmt. Und die Städter sind der Meinung, die
Bergler seien nur eine Belastung für die Wirtschaft.
TEC21: Wege zu einer nachhaltigeren Raumentwicklung wären also stärkere Instrumente
bzw. die stärkere Durchsetzung der vorhandenen Good-practice-Beispiele wie in Vrin, eine
dritte Möglichkeit wären solche Plattformen. Welche Rolle spielt die Ausbildung?
Seidl: In der Architekturausbildung steckt viel Potenzial, denn viele der hier besprochenen
Probleme hängen mit dem Verständnis von Architektur in den letzten 20, 30 Jahren zusammen.
Genannt sei zum Beispiel das Problem, dass viele Architekten etwas bauen wollen,
das hervorsticht, aber kaum oder keinen Bezug zum Ort hat. Auch bei den Raumplanern
habe ich manchmal das Gefühl, dass sie planen und gestalten, was ihren individuellen Gestaltungsvorstellungen
oder Planungsmoden entspricht, ohne wirklich die Bedürfnisse der
Menschen aufzugreifen. Doch wir brauchen eine Planung, die auf dem Austausch mit den
betroffenen Menschen basiert und über irgendwelchen Moden steht.
Caminada: Wir arbeiten zurzeit an verschiedenen Forschungsprojekten, sowohl mit Studierenden
als auch mit Fachleuten. Das Hauptziel heisst Nähe gewinnen – Nähe zu den Problemen
und zu den Prozessen. Wir versuchen anhand von Fallbeispielen aufzuzeigen, wie es
anders gehen könnte. Das ist ein Dialog zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Handwerk,
Architektur und anderen Disziplinen. Nebst der Theorie ist eine klare Intention und
Vorstellung, wie sich das Land entwickeln könnte, von grosser Bedeutung. Für die Zukunft
müssen wir sie deutlich und verständlich definieren.
Claudia Carle, carle@tec21.ch
Ruedi Weidmann, weidmann@tec21.ch

TEC21, Do., 2010.11.25

25. November 2010

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