Editorial
Diese zweite Ausgabe der Reihe «Digitale Tools» (Teil 1: TEC21 18/2010, «Simulanten») ist der Welt der Computerspiele gewidmet – und zwar nicht wie gewohnt nur in Text und Bild, sondern auch interaktiv. Und das sind die Spielregeln: Der Spieler/die Spielerin fotografiert mit einem Smartphone den QR-Code1 auf dem Titelbild dieser Ausgabe. Das Spielziel ist erreicht, wenn das Bild decodiert und man zur Website von TEC21 weitergeleitet wird. Ursprünglich zur Markierung von Industriekomponenten entwickelt, werden QR-Codes zunehmend für neue Formen des urbanen Spiels eingesetzt. In diesen «Pervasive Games» vermischen sich virtueller und realer Raum: Die Spielenden bewegen sich im realen Stadtraum, erhalten aber über GPS und die Internetfunktionen ihrer Smartphones – z.B. durch das Fotografieren von gezielt erstellten und an Schlüsselstellen angebrachten Codes – Hinweise zum weiteren Spielverlauf. Kooperation der Mitspielenden untereinander ist in der Regel essenziell für den Erfolg. Aber warum sollten Architekten, Ingenieurinnen und Planer spielen?
Die Verknüpfung von Architektur und Spiel ist nicht neu – allerdings schufen in der Vergangenheit die Architekten reale Räume für die Spielenden. Mit der zunehmenden Digitalisierung änderte sich das Bild: Spielende erschaffen am Computer virtuelle Architekturen. Die Wechselwirkung zwischen beiden Welten kann heute als Inspirationsquelle für das Game-Design, vor allem aber für den architektonischen Entwurf dienen («Virtuelle Architektur», S. 20).
Auch über die reine Ästhetik hinaus besteht Potenzial: Die Mechanismen beim Gamen ähneln denen beim Planen: Es werden komplexe Strategien verfolgt, «Trial-and-Error»-Methoden angewandt, und es wird Kreativität durch Kooperation freigesetzt. Als Tool bei partizipativen Planungen eingesetzt, können Spiele zu einer Demokratisierung der Verfahren beitragen – gleichberechtigter Zugang zu den nötigen Medien vorausgesetzt («Stadt spielen», S. 24).
Einen Einstieg in die nahezu grenzenlose Welt der virtuellen Games bietet die Zusammenstellung «Ausgewählte Games» auf Seite 27. Der Überblick zu Spielen, die sich mit Themen wie Bau, Stadt, Planung und Ingenieurswesen beschäftigen, ist rein subjektiv, eine Momentaufnahme, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt – jedoch dazu motivieren soll, sich unbekannten Welten zu öffnen, Spass zu haben und den eige-nen Horizont spielerisch zu erweitern. Let’s start the game.
Tina Cieslik
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Amorphe Aarebrücke in Aarau
10 PERSÖNLICH
Hans Briner: «Man muss sich immer wieder beweisen»
12 MAGAZIN
Binding-Waldpreis an Bülach | Zürcher Westumfahrung wirkt | 11 000 Rustici dürfen umgebaut werden | Die Präzision des Zufalls | Bücher | Kurzmeldungen
20 VIRTUELLE ARCHITEKTUR
Matthias Sala, Robbert van Rooden Die virtuelle Architektur in der Gamewelt beeinflusst vermehrt die reale Welt. Architekturschaffende können die technologischen Möglichkeiten für den Entwurf von Projekten einsetzen.
24 STADT SPIELEN
Maike Lück Computerspiele sind komplexe Systeme, die dennoch Raum für Zufälligkeiten lassen. Diese Eigenschaft kann für städtebauliche Planungen genutzt werden.
27 AUSGEWÄHLTE GAMES
Matthias Sala, Robbert van Rooden Die zusammengestellten Spiele sollen anspornen, in die virtuelle Welt einzutauchen. Das Bild der Ga-mewelt, das düster geprägt ist, wird mit den vorgestellten Games aufgeheitert.
32 SIA
Stellungnahme zum KBOB-TU-Vertrag | Urteil der Standeskommission | Codes in Structural Engineering | 44. Sitzung der ZNO
41 WEITERBILDUNG
45 IMPRESSUM
46 VERANSTALTUNGEN
Virtuelle Architektur
Seit dem Aufkommen von Computerspielen hat sich die Beziehung zwischen Architektur und Spiel verändert. Einst schuf die Architektur Räume für Spiel und Sport. Heute können sich Architekturschaffende bereits auf das Computerspiel als Kulturgut beziehen, und zwar nicht nur beim Entwurf, sondern – seit dem Einzug mobiler Technologien – auch bei der Nutzung von Architektur.
Das Spiel ist seit der Antike Thema und Aufgabe der Architektur. Die Griechen hatten ihr Olympia, und im alten Rom wurde das Kolosseum eigens für Spiele konzipiert. Seither hat beides – das Spiel und die Architektur dazu – ein hohes technisches Entwicklungsniveau erreicht: Die heutigen multifunktionalen Stadien haben verschiebbare Rasenflächen und verschliessbare Dächer. Und beim Glücksspiel nimmt die Architektur die wichtige Rolle der Attraktion und des Marketings ein: Die Prunkbauten in Las Vegas sollen anziehen und zum Spielen verleiten. Mit dem Siegeszug des Computers hat sich aber das Spiel und somit auch die Rolle der Architektur massgeblich verändert: Die Weiterentwicklung der Games und die Verknüpfung der virtuellen Welt mit der realen Umwelt bieten Architekturschaffenden eine neue Inspirationsquelle – können sie aber auch in der Projektierung von realen Vorhaben beeinflussen.
Architektur für Spiele: Nähe zum täglichen Umfeld
Spiele finden nicht nur in dafür bestimmten Gebäuden statt. Sie prägen auch den öffentlichen Raum. Auf Stadtplätzen wird in manchmal überdimensionaler Form Schach gespielt. Seit dem 20. Jahrhundert unterhalten Penny Arcades – öffentliche Spielhäuser in den USA – die Massen. Die in der Regel als Arkaden gebauten Spiel- und Einkaufspassagen sind der Ursprung heutiger Spielhallen. Heute versammeln sich Game-Enthusiasten in Turnhallen oder auf Messegeländen zu LAN-Partys (Local Area Network) und treten auf ihren mitgebrachten und per Netzwerk zusammengeschlossenen Computern gegeneinander an. Trainiert wird zu Hause im Schlaf- oder Wohnzimmer.
Die Entwicklung der Spiele geht mittlerweile so weit, dass das Virtuelle die Realität beeinflusst. Mit dem Erfolg der Spielkonsole Nintendo Wii lässt sich sehen, wie nahe der reale Wohnraum der breiten Bevölkerung dem virtuellen Spiel gekommen ist. Durch das innovative Eingabegerät der Spielkonsole, das die Bewegung des Körpers in die Spielumgebung überträgt, wird das eigene Wohnzimmer zum Konzertsaal, zur Bowlinghalle oder zum Golfplatz.
Microsoft hat mit «Kinect» ein Produkt entwickelt, das gar kein Eingabegerät mehr benötigt: Die Bewegung des gesamten Körpers wird registriert und ins Spiel übertragen. Diese zusätzliche Freiheit während des Spielens stellt neue architektonische Anforderungen an den Wohnraum – so wie das Fernsehgerät die Innenarchitektur beeinflusst hat. Die Verschmelzung von virtuellem Spiel und Realität zeigt sich schliesslich in seiner Extremform im «Ubiquitous Computing» (vgl. Glossar S. 22): Der Computer und die darauf gespielten Spiele sind nicht mehr ortsgebunden, sie werden «pervasiv», wenn die Nutzenden über Smartphones und ähnliche Geräte die reale Umgebung «virtualisieren» (vgl. «Pervasive Games» in «Ausgewählte Games», Seite 27).
Neue Zweckmässigkeit der Architektur in Video-Games
Bislang unterschieden sich architektonische Artefakte im virtuellen Raum von denjenigen in der realen Welt.[1] Der wesentliche Unterschied zwischen der physischen Architektur und der Architektur in Spielen liegt in der Funktion. Echte Häuser bieten Wohn- und Arbeitsraum, schützen vor Witterung und gewähren Privatsphäre. Gebäude in Spielen hingegen stellen Hindernisse dar, wie in «Super Mario» und «PacMan», haben eine einfache Funktion wie zum Beispiel den Spielstand anzuzeigen oder spielrelevante Gegenstände zu verstecken, wie in «Monkey Island» oder «Sam & Max», oder dienen zur Schaffung fantastischer Atmosphären wie in der Welt Azeroth in «World of Warcraft». Neben ihrer spieltechnischen und regulierenden Funktion schafft die Architektur Authentizität. Sie hilft Spielenden, mit der spezifischen Game-Welt vertraut zu werden und sich darin zurechtzufinden. Mit Games wie «The Sims» aber änderte sich die Nutzungszuordnung von Architektur in der virtuellen Welt. Architektonische Artefakte werden nicht mehr nur instrumentalisiert, sondern erhalten eine eigene Funktion im Spiel. Die Spielenden kreieren eine virtuelle Familie, weisen den Figuren Eigenschaften zu, richten für sie auch den Wohnraum ein und beeinflussen daraufhin im Spielverlauf ihr Leben. Mit diesem Spielkonzept wird die eigene reale Lebenswelt simuliert und die Realität nachgespielt.
Computerspiele als Wissenstransfer
Das Spielgenre der Simulationen war von Anfang an dafür prädestiniert, architektonische Aspekte zu übernehmen. Will Wright hat 1989 mit «SimCity» (Abb. 4) dieses Genre eröffnet und die wohl allen Architekturschaffenden und Städteplanenden bekannte Simulation entworfen. Waren in den frühen Versionen die Gebäude mit wenigen Pixeln dargestellt, bieten die neusten schier unendliche Varianten an Gebäuden, und es ist nebst Stadt- und Regional- auch Gebäudeplanung möglich. Bei «SimTower», einer Simulation eines gigantischen Turms, spielt der Innenausbau, etwa die Liftplanung, eine Rolle.
Ein aktuelles Game aus diesem Spielgenre ist «Demolition Company» (Abb. 3): Alte Gebäude werden mit Abrissbirne und Bagger dem Erdboden gleichgemacht. Die Spielenden erhalten für erledigte Aufträge Geld und können es in neue Fahrzeuge investieren. Dabei erarbeiten sie sich nebenbei Fachwissen eines Rückbau-Unternehmens. Während solch «klassische» Spiele reale Prozesse so integrieren, dass sie dem erhöhten Spielspass dienen, steht in den «Serious Games» der Wissenstransfer im Vordergrund. Hier versucht die Spielindustrie Fachwissen über Games zu vermitteln und lösungsorientiertes Denken anzuregen. Um das Spielziel zu erreichen, bringen Spielende Wissen zum Einsatz oder nehmen neues auf, was ihnen im realen Leben helfen soll. Im Herbst dieses Jahres wird IBM das Serious Game «CityOne» lancieren. Darin werden die Spielenden mit den realen Problemen einer modernen Stadt wie Umweltverschmutzung oder Versorgungsengpässen durch unkoordiniertes Wachstum konfrontiert.
Rückkopplungen von Games zur Architektur
Voraussetzung dafür, dass die Welt draussen realitätsnah ins Wohnzimmer geholt werden kann, sind die technischen Möglichkeiten. Waren die Anforderungen an die Fantasie bei den Spielen in den 1980er-Jahren noch hoch, weil sie, wie «Rogue», komplett mit ASCII-Zeichen visualisiert wurden (Abb. 2), ist die Darstellung heute viel verständlicher, konkreter und eindrücklicher geworden. Ganze Strassenzüge und Städte können realitätsgetreu dargestellt werden. Die Stadt «Liberty City» im letzten Teil der Spielserie «Grand Theft Auto» (GTA IV) zum Beispiel kommt dem realen New York im äusseren Detaillierungsgrad sehr nahe.
Die steigende Prozessorkraft hilft auch im digitalen Entwurf, sich der Realität mit immer ausgeklügelteren, hyperrealistischen 3-D-Modellen anzunähern. Am CAAD-Lehrstuhl von Ludger Hovestadt an der ETH Zürich erforschen Architekturschaffende die Stadtentwicklung. Mit zahlreichen Studien entwickeln die Forschenden Programme wie «Attractive City Generator » und «Digital Urban», die die Stadtplanung automatisieren. Das ETH-Start-up «Procedural » liefert mit «CityEngine» (Abb. 5) eine solche Software. Sie kann automatisch Städte generieren. Nach parametrisierten Vorgaben wie Strassenplan, Gebäudehöhe, Fassadenfarbe und Architekturstil erstellen Städteplanende in Sekundenschnelle ganze Städte. Die enorm aufwendige, manuell 3-D-modellierte Stadt wird durch eine parametrisierte, d.h. prozedural hergestellte Stadt abgelöst oder zumindest erweitert. Spielproduzenten nutzen solche Architekturprogramme, um Spielumgebungen zu bauen. Andererseits werden Game-Engines – Visualisierungssoftware für Spiele – wie «Digital Urban» zunehmend von Planungsteams im Architekturbereich für interaktive Visualisierungen eingesetzt.[2] Diese Rückkoppelung führt dazu, dass die spieltechnischen Möglichkeiten für architektonische Experimente genutzt werden und so den Entwurfsprozess massgeblich beeinflussen. Bereits früh in der Konzeptphase können Nutzungsszenarien am Modell spielerisch getestet und Anpassungen gemacht bzw. Rückschlüsse gezogen werden.
Auskopplungen aus Games in die Kunst
Versuche, Spiele in Architektur zurückzuverwandeln, wurden vor allem in der Kunst untergenommen: Harvey Lonsdale Elmes projizierte beispielsweise mit «ASCII architecture» Bildschirmbuchstaben auf die Fassade der St. George Hall in Liverpool;[3] Street Artists platzieren Videospielfiguren als Graffiti im öffentlichen Raum, was zu einer globalen Invasion führen kann, wie sie auch die Berner Innenstadt bereits erreicht hat: Auf Mauern oder Brückenpfeilern prangen sogenannte Invader, die den ausserirdischen Angreifern aus «Space Invaders» nachempfunden sind (vgl. Titelbild).[4] Es werden auch Performances im öffentlichen Raum veranstaltet, zum Beispiel mit lebensgrossen PacMan-Figuren (Abb. 8),[5] oder architektonische Hommages an Videospiele geschaffen, wie es der Künstler Patrick Jean in eindrücklicher Weise in seinem Kurzfilm «Pixels» tut (Abb. 7).[6] Designer wie Stefano Grasselli[7] oder Green Design[8] empfinden Möbel dem Game-Klassiker Tetris nach, und Konzepte von Gebäuden wie beispielsweise das «Tetris Haus» im italienischen San Candino von Plasma Studio bauen auf Tetris-Grundformen auf.
Bespielbarkeit der Bausubstanz
Diese spielerische Art der Verschmelzung von Games und Architektur sowie die Rückkoppelungen dieser beiden Kulturgüter deuten auf ihre alltagskulturelle Bedeutung hin. Die Annäherung begrenzt sich aber nicht auf den fachspezifischen Bereich. Architekturschaffende und Spielentwickelnde verwenden verstärkt die gleiche Software für ihre Zwecke, und durch die immer genauer werdenden Simulationen sowie das zunehmende Training in Serious Games entstehen im Arbeitsumfeld, in den Wohnzimmern und in den Städten täglich neue Orte des Spielgeschehens.
Seit der Homo Ludens Digitalis[9] 1962 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit dem ersten Computerspiel «Spacewar!» das Licht der Welt erblickte, können sich Architekturschaffende eine Spielkompetenz in der Öffentlichkeit für ihre Projekte zunutze machen. Gleichermassen sehen sie sich allerdings einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung der Bespielbarkeit ihrer Projekte gegenüber, die sie zufriedenstellen können oder gar sollten.[10] Das Spiel hält Einzug in die Architektur und in den öffentlichen Raum.
Alle Bereiche unseres Lebens sind durch neuartige Spielkonsolen, Sensoren aktueller Mobilgeräte und die Verfügbarkeit des mobilen Internets zur Spielfläche von Games geworden. Die Technik ist allgegenwärtig. Beispiele sind «BeforeTheSatelliteDetectsYou», bei dem man sich vor direktem Satelitensichtkontakt unter Hausdächer retten muss, «CatchBob!», ein mobiles Fangenspiel, bei dem der Campus der EPFL in Lausanne zum Terrain wurde, «ETHGame », das die unsichtbaren Funkwolken des WLANs im HIL-Gebäude der ETH Hönggerberg spielerisch sichtbar macht, oder «Gbanga», das den öffentlichen Raum als Spielbrett versteht.
Diese Entwicklungen in der Game-Technologie werden zwangsläufig zu einer neuen Wahrnehmung des bautechnischen Umfelds führen – Architekten und Städteplanerinnen werden sich im kommenden Jahrzehnt zunehmend damit auseinandersetzen und ihre Projekte auf ihre Spieltauglichkeit hin prüfen.
[Matthias Sala, eidg. dipl. Inf.-Ing. ETH, Nebenfach Architektur ETH, Mitbegründer und Geschäftsführer Gbanga, Gründungsmitglied des Schweizer Spielentwickler-Verbands (IGDA)
Robbert van Rooden, dipl. Publizistikwissenschaftler Universität Zürich, Nebenfächer Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Politikwissenschaft, Mitbegründer und Spielentwickler Nothing, Gründungsmitglied des Schweizer Spielentwickler-Verbands (IGDA)]
Anmerkungen:
[01] Ernest Adams: The Role of Architecture in Videogames, Gamasutra, www.gamasutra.com/view/feature/2943/designers_notebook_the_role_of_ .php), 2002
[02] http://nwn.blogs.com/nwn/2008/09/secondlife-use.html
[03] ASCII architecture: www.ljudmila.org/~vuk/ascii/architecture/
[04] Street artist Invader: www.space-invaders.com
[05] Pac Manhattan: www.pacmanhattan.com/about.php
[06] Patrick Jean: Pixels (Kurzfilm): www.dailymotion.com/video/xcv6dv_pixels-bypatrick-jean_creation
[07] www.walyou.com/blog/2010/05/11/tetriscouch-design/
[08] www.bravespacedesign.com/product_tetris_flat.php
[09] Michael Wagner: «Ich spiele also bin ich – Reflexion zur Bedeutung hypermedialer Jugendkultur im pädagogischen Alltag», in: Medienimpulse, Nr. 56, Juni 2006.
[10] Steffen P. Walz: Toward a Ludic Architecture: The Space of Play and Games, 2919, ETC Press, Pittsburgh, PA, USA, ISBN 978-0-557-28563-1, http://portal.acm.org/citation.cfm?id=1787356, (Buchbesprechung vgl. S. 17)TEC21, Fr., 2010.06.18
18. Juni 2010 Robbert van Rooden, Matthias Sala
Stadt spielen
Die Resultate von Planung lassen oft das immateriell Städtische vermissen: soziale Dichte, Identität, Atmosphäre. Der schwer fassbare städtische Raum verlangt nach Planungswerkzeugen, die Wechselwirkungen berücksichtigen und Entwicklungsoffenheit zulassen. Was liegt näher, als dort Antworten zu suchen, wo komplexe Steuerungstechniken und -strategien, Simulationen oder kooperatives Agieren thematisiert werden – bei Computerspielen?
Ursprünglich Nebenprodukte der Hardwareentwicklung und Militärforschung, erreichen Computerspiele als Massenmedium Millionen von Menschen und begegnen uns in vielen Formen. Games ermöglichen Spielsituationen von der Simulation komplexer zeitlicher und räumlicher Strukturen bis hin zur Konstruktion von Erzählformen, die analog nicht erzeugt werden können. Multiplayergames erweitern über das Internet ihre Spielräume und die Spieleranzahl über die Möglichkeiten des physikalischen Raums hinaus. Einige Games erlauben es, bestimmte Spielparameter selber festzulegen, und verhelfen damit zu einer individuellen Generierung des Skripts ausserhalb der vom Autor vorgesehenen Story. Die Möglichkeiten des Spielverlaufs sind bei komplex angelegten Handlungen und im Zusammenwirken mit der Einstellmöglichkeit der Parameter so hoch, dass eine «Unendlichkeit der Möglichkeiten» suggeriert wird. Das Computerspiel selbst wirkt nicht nur auf der imaginierten Ebene eines (analogen) Spiels, sondern in einem hybriden Bereich zwischen realer und virtueller Welt. Diese Qualitäten können zur Lösung von Problemen jenseits der Spielwelt genutzt werden.
Chancen für die Planung
Der Einsatz spielerisch operierender, computergestützter Methoden verbindet einen wesentlichen Katalysator von Kultur mit einer hoch entwickelten Technik. Spiele zeichnen sich sowohl durch Freiheit als auch durch spezifische Regeln aus, die diesem freien Handeln einen Rahmen geben. Varianten in Wiederholung, Experiment, Improvisation und selbst Regelbruch sind dabei durchaus erlaubt und setzen, teilweise spontan, Kreativität und Innovationspotenziale frei. Spielhandlungen besitzen ein definiertes Ziel – wobei ungewiss ist, ob der Spielende es erreicht. Gerade diese Ungewissheit, die Spannung und das emotionale Erleben der Handlung binden den Spielenden an das Spiel.
Raum, nicht Stadt
Bei einer linearen Übertragung dieser Prinzipien auf Planungsprozesse und der Suche nach Analogien zur Produktion von Stadt wird man bei Aufbauspielen fündig, die über Regeln und vom Spieler selbst definierte Parameter Strukturen generieren. Interne Rückkopplungen und Wechselwirkungen – teilweise durch den Spielenden, teilweise durch das Game – erzeugen ein komplexes Gefüge wachsender, stagnierender oder auch schrumpfender Strukturbausteine. Bei «SimCity» (vgl. «Ausgewählte Games», S. 27), dem wohl populärsten Spiel dieser Art, entstehen auf diese Weise stadtähnliche Morphologien. Das Ergebnis ist ein Gefüge, das nicht kalkulierbar scheint: Es weist für den Spieler Zufälligkeiten, Unregelmässigkeiten und eine gewisse Irrationalität auf, die Analogien zur komplexen Realität zeigt. Nur: Ist dies tatsächlich Stadt? In einem zeitlich, räumlich und thematisch definierten Rahmen mögen diese Anordnungsmuster diskutable Lösungen für städtische Räume liefern, sie stellen aber letztlich als Entwurfsalternative nicht mehr dar als eine Visualisierung numerischer Daten. Alle Operationen finden in einem geschlossenen System statt, mit mathematisch erfassbaren Parametern, die finit gesetzt sind und deren Wechselwirkungen untereinander verändert, jedoch nicht ergänzt, negiert oder verfeinert werden. Je nach Ausprägung des Instruments besitzt man mit diesen Spielen ein Tool zum Entwurf räumlicher Konfigurationen, nicht jedoch von Stadt.
Kooperation führt zum Ziel
Ergänzend dazu bieten als weitgehend offene Systeme konzipierte Online-Plattformen,[1] die über spezifische Interaktionsstrukturen zwischen den Spielern verfügen, differenzierte Möglichkeiten, den Planungsprozess in Bezug auf die Kommunikation der Akteure zu unterstützen. Die Interaktion findet zwischen Menschen bzw. ihren Avataren statt und nicht mehr zwischen Mensch und Computer: Das Spiel wird ein soziales Spiel. Viele Online-Games sind so angelegt, dass explizit der Zusammenschluss zu Gruppen das Gelingen von Aktionen garantiert. Das kollektive Agieren in gemeinsamer Anstrengung führt zum Ziel, erzeugt Kreativität und kommt einem virtuellen Experimentierfeld nahe. Dazu bieten der virtuelle Raum und das Rollenspiel Freiheiten jenseits der durch die Realität gesetzten Grenzen. Nicht immer muss dabei Stadtraum entstehen; entscheidend sind die Synergien aus der Motivationskraft des Spiels, der Zusammenarbeit der Akteure und den Freiheiten des virtuellen Raums – als virtueller Planungsraum, den die Akteure mit neu entwickelten Alternativen bereichern können (vgl. Abb. 1–4).
Die Realität bereichernd
Ein weiteres Genre könnte in Planungsprozesse des Postinformationszeitalters eingreifen: Serious Games mit den smarten Oberflächen der Alltagsumgebung stellen als «Pervasive Ubiquitous Computer Games» den Menschen und seine Gesellschaft in den Vordergrund – jenseits der Schnittstelle Mensch–Maschine. Der reale Raum wird zum Handlungsraum des Spiels, das Spiel selber zum gesellschaftlich wirksamen Beteiligungs- und Motivationsinstrument. Auch wenn diese Games zurzeit eher theoretisch konzipiert als praktisch erprobt sind,[2] ist vorstellbar, dass das direkt im urbanen Kontext zugängliche Spiel vielschichtige Raumerfahrungen erlaubt, eine spontane, intensive Kommunikation der Akteure untereinander oder auch nur Vermittlung von Information direkt vor Ort. Solche Spiele könnten Planungsprozesse bereichern – vor allem um Aspekte des Einfacheren, Effektiveren und letztlich auch Unterhaltsameren: Das Computer-Planungsspiel wird zum selbstverständlichen, jederzeit und überall abrufbaren Bestandteil des Alltags.
Potenzial und Risiken
Wenn die Einsatzmöglichkeiten spielerisch konzipierter digitaler Planungstools bewertet werden, ist das Spektrum breit: vom Kreativwerkzeug zur Entwicklung eines Stadtentwurfs über die Initiierung und Moderation des planerischen Diskurses bis hin zur spielerischen Attraktivierung des Prozesses selbst. Dabei ist jedes Tool spezifisch auf das zu lösende Problem zugeschnitten. Auch in Spielhandlung, -umgebung und -handhabung sowie in der Einstellung auf die jeweiligen Spielertypen[3] müssen Differenzierungen vorgenommen werden. Unabhängig von ihrer möglichen Wirkung als Katalysator planerischer Prozesse – im Sinne einer zeitgemässen Verfahrenskultur und als Möglichkeit, Potenziale zur Mitbestimmung zu aktivieren – bleiben auch Zweifel: Neben der Positionierung des Games (Genre, spezifische Planungssituation) sind dies Fragen zur Editierfähigkeit eines Spiels und zu seiner Anpassungsfähigkeit bezüglich Veränderungen, zu seiner Prozessoffenheit und seinen Zielvorgaben. Fragen, die das Problem der Kontrolle, der Manipulation und der Ausgrenzung betreffen: Wer entscheidet, wer was in welchem Umfang spielt – Spieler oder Autor? Wer entscheidet, wie ein Spiel konzipiert und eingesetzt, welcher Rahmen vorgegeben wird und wie dieser bei Bedarf verändert werden kann? Wie offen ist eine Internetplattform wirklich? Werden die Entscheidungen der Spielenden eingeschränkt oder in eine bestimmte Richtung gelenkt? Wie werden welche Entscheidungskompetenzen legitimiert, wie verteilt? Wie dürfen welche Zufälle entstehen? Wie autonom agiert gar ein intelligentes Spielsystem – und wie autonom darf es agieren?
Jeder Akteur riskiert, mit der Teilnahme am planerischen Diskurs seine Identität und seine Bewegungen im urbanen Raum öffentlich zu machen und sich der Kontrolle durch die Möglichkeiten des Internets auszuliefern: Der Nutzer wird gläsern, die Freiheitsbegriff des Internets verdreht sich in sein Gegenteil. Wenn die demokratischen Strukturen eines netzbasierten Games als Vorteil eines solchen Partizipationstools gelten sollen, muss auch der Zugang zu den Medien demokratisch sein. Endgeräte müssen ebenso verfügbar sein wie eine handhabbare Software, eine mit dem Tool kompatible Medienkompetenz der User und auch einfach nur der Zugang zum Netz.
Spiele können mobilisieren
Spiele stellen im Sinne der Mobilisierung der mündigen Gesellschaft einen Schritt zur aktiven Selbstbestimmung und zur Loslösung von überkommenen tayloristischen Strukturen dar – die Wahl der «Methode Spiel» in zeitgemässer Technik ist auch als Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Mündigkeit zu verstehen. Dazu gehört aber auch die Kompetenz zur Risikobegrenzung – die Stadtgesellschaft verfügt darüber letztlich selbst.
[Maike Lück, Architektin, promoviert zum Thema «Computerspiele und computergestützte, spielerisch operierende Tools als Instrumente und Hilfen in der städtebaulichen Planung» bei Prof. Michael Braum (Universität Hannover/Berlin/Potsdam), Prof. Kees Christiaanse (ETH Zürich) und Prof. Dr. Ludger Hovestadt (ETH Zürich)]
Literatur:
Manfred Fassler, Claudius Terkowsky (Hg.): Urban Fictions. Die Zukunft des Städtischen, München 2006
Claus Pias: Computer Spiel Welten, München 2002
Katie Salen, Eric Zimmerman: Rules of Play. Game Design Fundamentals, Cambridge, Mass. 2003
Anett Zinsmeister, (Hg.): Constructing Utopia. Konstruktionen künstlicher Welten, Zürich, Berlin 2005
Kaas Oosterhuis, Lukas Feireiss (Hg.): Game Set Match II. On Computer Games, Advanced Geometries, and Digital Technologies, Rotterdam 2006
Anmerkungen:
[01] Wichtige Modelle hierfür sind «Massively Multiplayer Online Role Playing Games» (MMORPGs). Online-Foren, die z.B. als Form des E-Governments zur Bürgerbeteiligung bei Planungsvorhaben eingesetzt werden, verfügen – noch – nicht über die einem Spiel innewohnende Motivationskraft zur aktiven Teilnahme und machen sich nur bedingt die Freiheiten des virtuellen Raums zunutze
[02] Die Entwicklung dieser Spiele steckt grösstenteils noch in einer Forschungs- und Erprobungsphase. Das Spektrum ist thematisch und technisch heterogen und reicht von kommerziellen Egoshooter-Adaptionen für das GPS-taugliche Mobiltelefon bis zu Multiplayer-Experimenten. Als Prototyp mag hier «REXplorer» (vgl. S. 27) genannt werden, das in Form eines spielerisch aufgemachten Stadtführers in Regensburg für die touristische Nutzung konzipiert wurde (Rafael Ballagas, Steffen P. Walz [Julien Biere, Jan Borchers], Media Computing Group, RWTH Aachen, Lehrstuhl CAAD, ETH Zurich, 2006)
[03] Spieler haben Vorlieben und Abneigungen. Als Beispiel: die vier Spielertypen eines Rollenspiels, die als «Achievers», «Explorers», «Socializers» oder «Killers» klassifiziert werden können (vgl. Richard Bartle: Hearts, Clubs, Diamonds, Spades: Players Who Suit MUDs, in: Katie Salen, Eric Zimmerman [Hg.]: The Game Design Reader – A Rules of Play Anthology, Cambridge, Mass. 2006)TEC21, Fr., 2010.06.18
18. Juni 2010 Maike Lück