Editorial
Schon Napoleon Bonaparte wollte einen Tunnel unter dem Ärmelkanal graben. Das Vorhaben wäre mit den damaligen Mitteln wahrscheinlich nicht ausführbar gewesen. Die Projektidee lebte aber weiter, und heute, zwei Jahrhunderte später, fahren fahrplanmässig Züge durch den Eurotunnel. Dieser Werdegang ist typisch für Systeme und Infrastrukturbauwerke, die unser heutiges Verkehrswesen prägen. Am Anfang stand eine Vision, und die Realisierung erfolgte, wenn die Zeit dafür reif, die Umstände günstig und die Finanzierung, zumindest für den Anfang, gesichert waren.
In diesem Heft greifen wir eine Auswahl visionärer Verkehrsprojekte mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und Realisierungspotenzial auf. Neue Ideen für den motorisierten Individualverkehr sind nicht darunter. Es scheint, dass sich diese Transportart dem Ende ihrer Entwicklung nähert und kaum noch Visionen generiert.
Mit einer Ausnahme verlaufen die beschriebenen Transportsysteme weitgehend, oder zumindest in den entscheidenden Abschnitten, in Tunnels. Der Trend ist eindeutig: In Zukunft findet der Verkehr grösstenteils unter der Erdoberfläche statt. Als Folge davon wird das Bedürfnis für «schö-nes», erlebnisreiches Reisen in der Freizeit zunehmen, was unter anderem den Bergbahnen zugute kommen dürfte.
Ein weiteres gemeinsames Merkmal der vorgestellten Visionen ist die Entflechtung der Verkehrsströme und der Verkehrsarten. Die Trennung von Personen- und Gütertransport, oder von Arbeits- und Freizeitverkehr, bedingt verschiedene Systeme, jedes mit optimaler Effizienz für seine spezifische Aufgabe. Effizienz bedeutet auch, dass bei den meisten vorgestellten Projekten nicht die Geschwindigkeit das wesentliche Kriterium ist. Es geht vielmehr darum, spezifische Transportanforderungen nicht möglichst schnell, sondern logistisch, ökonomisch und ökologisch optimal zu erfüllen.
Visionen berücksichtigen nicht alle Komponenten der Realität in gleichem Mass. Die vorgestellten visionären Projekte sind bzw. waren, tech-nisch gesehen, mit den verfügbaren Mitteln machbar, was sie von technischen Utopien unterscheidet. Ihre Urheber sind keine weltfremden Fantasten, sondern ernst zu nehmende Fachleute mit anerkannten Leistungsausweisen. Was den technischen Visionen hingegen oft fehlt, ist der frühzeitige Einbezug ihrer ökologischen, raumplanerischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Diese umfassen die Folgen für das Mobilitäts-verhalten von Menschen und Gütern und damit für die zukünftige Nutzung des Siedlungsraums.
In den nächsten Jahren wird sich zeigen, bei welcher der vorgestellten Verkehrsvisionen, unter welchen Rahmenbedingungen, realistische Chancen für die Realisierung bestehen. Die Begeisterung der Initianten und die technische Machbarkeit sind dazu zwar notwendige, aber nicht die einzigen Voraussetzungen.
Aldo Rota
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Grosse Schiebung
10 MAGAZIN
Vision in Meterspur | AlpTrain verbindet Metropolen | Versicherer nutzen Gefahrenkarten | Bücher
22 VIA D'ACQUA TRANSALPINA
Kurt Wanner
Vor einem Jahrhundert entstand das Projekt für einen Schifffahrtskanal über den Splügenpass – es ist Projekt geblieben.
26 EIN TUNNEL NACH AFRIKA
Giovanni Lombardi
Mithilfe der heutigen Technik ist der Bau eines Eisenbahntunnels unter der Meerenge von Gibraltar denkbar.
30 EIN FÖRDERBAND DURCH DIE SCHWEIZ
Martin Klöti, Guido Grütter
Das unterirdische, automatische Gütertransportsystem könnte den Verkehrskollaps der Schweiz verhindern.
33 VISION IM SEIL
Lukas Reichel
Erst virtuell existiert das Konzept «Revolvient», ein einzigartiges Transportmittel zwischen Seilbahn und Fluzeug.
39 SIA
CAS Unternehmensführung für Planer | Architekturwoche «15n» | Architekturauszeichnung Solothurn | Initiative Energieeffizienz (IEE)
45 PRODUKTE
53 IMPRESSUM
54 VERANSTALTUNGEN
Ein Tunnel nach Afrika
Meerengen haben Politiker, Künstler, Feldherren und Ingenieure seit der Antike zu Visionen herausgefordert. Dies trifft insbesondere auf die Strasse von Gibraltar zu.[1] Jahrzehntelange Erfahrung im Tunnelbau und fortgeschrittene Bautechnik rücken heute die Realisierung des fundierten Projekts einer internationalen Ingenieurgemeinschaft in den Bereich des Möglichen.[2]
Seit etwa einem halben Jahrhundert ist das Gebiet von Gibraltar Gegenstand von mehr und auch weniger realistischen Projektideen, um die Meerenge zu überqueren. Aus verschiedenen Gründen mussten Projekte für eine Hängebrücke, einen Tunnel auf dem Seeboden und einen schwimmenden Tunnel in beschränkter Tiefe fallen gelassen werden. Nur ein Bahntunnel im Felsuntergrund kommt beim heutigen Wissensstand infrage.
Natürliche Rahmenbedingungen
Die Breite der Meerenge variiert zwischen etwa 15 km bei Algeciras bis etwa 30 km bei Tanger (Abb. 1). Die Tiefe verläuft umgekehrt von 1000 m bei Gibraltar bis auf 300 m in der Achse Punta Paloma–Tanger, wo eine «Schwelle» vorhanden ist (Abb. 4). Es scheint, dass beim Einbruch des Atlantiks in das Mittelmeer ein zentraler Graben von etwa gleichmässiger Breite erodiert wurde, während die kontinentalen Sockel von der Erosion teilweise verschont blieben. Daraus ergab sich die Entscheidung, den Tunnel entlang der genannten Schwelle zu trassieren. Der Untergrund der Meerenge besteht im Wesentlichen aus Flyschformationen, d. h. einer Wechsellagerung von dünnen Sandstein- und Mergelschichten (Abb. 7).
Die Serie von subvertikalen Schuppen, die durch Störungszonen voneinander getrennt sind, deutet auf eine ausserordentliche tektonische Tätigkeit hin. Als wichtige natürliche Tatsache sind die sehr starken Wasserströmungen in beiden Richtungen durch die Meerenge zu erwähnen, die den Sondierungen des Untergrunds ernsthafte Schwierigkeiten entgegenstellen.
Vorgeschichte
Im Jahr 1980 wurde von den Königen von Spanien und Marokko eine Erklärung unterzeichnet, um die Studien für die Schaffung einer festen Verbindung zwischen den zwei Ländern zu fördern. Es wurden auch entsprechende Studiengesellschaften gegründet. In der Folge entstand 1996 das sogenannte APP96 (Avant-Projet Préliminaire 1996) auf Grund der damals bekannten natürlichen Gegebenheiten.
Die Trassierung folgte der erwähnten Meeresschwelle. Der tiefste Punkt des Tunnels lag etwa auf Kote minus 400 m. Die Länge des Tunnels betrug rund 38 km und die Steigung der Rampen maximal 25 ‰. Der Ausbruch der Hohlräume im angenommenen Flyschgebirge sollte an sich keine besonderen Probleme aufwerfen. In den folgenden Jahren wurden verschiedene Sondierkampagnen ausgeführt. Zur grossen Überraschung wurden dabei zwei mit Brekzien (Gesteinstrümmer mit grober, eckiger Form, die in einer feinkörnigen Grundmasse eingebettet sind) gefüllte Gräben entdeckt (Abb. 2).
Brekzien, Gräben und Wettbewerb
Entlang der Tunneltrassierung sind somit diese zwei Gräben zu queren, die eine Tiefe von mindestens 600 m aufweisen und die auf der Kote von minus 500 m zwischen 2.8 km und 4.8 km Breite erreichen. Der Ursprung dieser Gräben wird in der Erosion des Flyschgebirges durch die Wasserströmung vom Atlantik zum Mittelmeer vermutet. Anschliessend sollen grosse Rutschungen die Gräben bis auf etwa Kote minus 300 m aufgefüllt haben. Die Auffüllung besteht aus Flyschbrekzien, die unter Wasser gerutscht sind und somit nicht gut konsolidiert sein können. Die sehr schlechten felsmechanischen Eigenschaften des Gebirges stellten die Machbarkeit des Projektes APP96 infrage und verlangten zumindest dessen grundlegende Revision.
In der Tat ging es um das Erstellen eines neuen Projektes, da sich in der Zwischenzeit auch andere Erfordernisse geändert hatten. Deshalb wurde 2006 ein Ingenieurwettbewerb für das neue Projekt APP07 durchgeführt. Die Vergabe erfolgte an die Ingenieurgemeinschaft Typsa Madrid, Lombardi AG Minusio-Locarno, Geodata Torino und Ingema Rabat.
Das Projekt
Die geotechnischen Eigenschaften der Brekzien und die Entdeckung von Sanden im Bereich der Gräben haben eine tiefere Trassierung des Tunnels bis etwa auf Kote minus 475 m veranlasst. Demzufolge ergeben sich steilere Rampen, falls die Gesamtlänge des Tunnels nicht über das Minimum erhöht werden soll. Die Steigungen erreichen 30 ‰, was als oberster zulässiger Wert angesehen wird (Abb. 3).
Zwischen den zwei Gräben liegt eine als «Monte Tartesos» bezeichnete Zone gesunden Flyschgebirges. Darin ist am tiefsten Punkt der Trassierung eine Sicherheitshaltestelle vorgesehen (Abb. 3 und 4). Die fertig gestellte Anlage würde aus zwei eingleisigen Bahntunneln und einem Sicherheitsstollen, mit Querverbindungen im Abstand von 340 m, bestehen und somit dem Ärmelkanal-Tunnel sehr ähnlich sein. Von der Sicherheitshaltestelle wird die Abluft – und im Brandfall der Rauch – durch den Sondierstollen abgesogen.
Gesteine und Baumethode
Die Brekzien in den zwei Gräben bilden die grösste Schwierigkeit für das Projekt (Abb. 8). Die Ermittlung ihrer wirklichen geotechnischen Eigenschaften ist immer noch anhand von einigen Bohrkernen aus den Sondierungen im Gange (vgl. Abb. 2). Wie die Erfahrung mit Sondierschächten und -stollen bewiesen hat, ist der Aushub im Flysch ohne besondere Probleme möglich. Erst vor Kurzem wurde aber die Quellfähigkeit dieser Formationen erkannt. Der natürliche Spannungszustand wird sich nur mit der Zeit wieder aufbauen, sodass eine sehr starke Auskleidung notwendig ist.
Die Durchquerung der erwähnten Gräben verlangt zweifellos den Einsatz von Tunnelbohrmaschinen mit geeignetem Schild (EBP). Die Ortsbrust muss durch einen Erd- oder Schlammdruck stabilisiert werden. Als Folge des aussergewöhnlich hohen Wasserdruckes ist auch eine vorausgehende sehr intensive Drainierung des Gebirges durch einen Ring von Bohrungen erforderlich.
Rechnerische Untersuchungen
Wegen der bisher im Tunnelbau noch nirgends angetroffenen Verhältnisse werden nicht nur neue Baumethoden und neue Baumaschinen entwickelt werden müssen, sondern es galt zuerst, neue Berechnungsmethoden aufzustellen. Dabei handelt es sich um eine gekoppelte mechanisch-hydraulische Analyse unter der Bedingung eines fortschreitenden Vortriebes.
Die dreidimensionale Analyse konnte unter den gegebenen Verhältnissen durch ein zentralsymmetrisches Modell ersetzt werden (Abb. 5). Die sehr niedrige Durchlässigkeit der Brekzie von 10-10 m / s bis 10-7 m / s bestimmt die Dauer einer Drainage ungünstig mit. Es wurde ein Tunnel von 6 m Innendurchmesser simuliert, der demjenigen des Sicherheitsund des Sondierstollens entspricht. Viele Fälle wurden durchgerechnet, die das ganze Spektrum der denkbaren Verhältnisse abdecken sollen (Abb. 6). Für jeden Fall wurden der Verlauf der Konvergenz, die effektiven Spannungen und der Porendruck im Verlaufe der Zeit, d.h. des Vortriebs, errechnet.
Die radiale Konvergenz vor dem Schild musste auf 40 cm beschränkt werden, um die Führung der Tunnelbohrmaschine zu ermöglichen. Der Gegendruck an der Tunnelbrust wurde als Grundwert zu 1 MPa festgelegt, was etwa der obersten Grenze für heutige Bohrmaschinen entspricht. Ein höherer Wert, zum Beispiel um 2 MPa, wäre aber viel günstiger.
Die durchgeführten Berechnungen zeigen, dass:
– die Strömungskräfte für die Stabilität der plastischen Zone während des Vortriebs massgebend sind
– in den Brekzien und in den Flyschen der schlechtesten Felsklasse Drainagebohrungen unerlässlich sind
– die erreichbare Vortriebsgeschwindigkeit von der Wirkung der Drainage und von der Durchlässigkeit des Gebirges abhängt
– der Gegendruck an die Ortsbrust höher als 1 MPa sein sollte
– die Gefahr des Einklemmens des Schildes gegeben ist.
Fortsetzung des Projektes
Am Ende der Studien schlägt die Ingenieurgemeinschaft die folgenden Massnahmen für die Weiterbearbeitung des Projekts vor:
1. In Zusammenarbeit mit den Herstellern von Tunnelbohrmaschinen ist zu untersuchen, ob ein höherer Gegendruck als 1 MPa auf die Ortsbrust möglich ist.
2. Vertikale Sondierbohrungen im Kanal sollen die Ausdehnung der Gräben festlegen.
3. Die anfallenden Bohrkerne sind felsmechanisch zu analysieren.
4. Der Ausbruch eines Sondierstollens ist unerlässlich.
5. Von diesem Sondierstollen aus sollen gezielte Bohrungen ausgeführt werden, um die Verhältnisse zu erforschen und um die Trassierung zu optimieren.
Aus heutiger Sicht ergibt sich ein Bauprogramm, welches etwa 30 Jahre umfassen würde. Die Baukosten sind in der Grössenordnung von etwa 12 Mrd. Euro geschätzt worden. Aus den bis heute durchgeführten Untersuchungen zeigt sich, dass der Bau eines Tunnels unter der Meerenge von Gibraltar denkbar ist. Die effektive Machbarkeit muss jedoch noch nachgewiesen werden.
Es ist klar, dass ein Gefälle von 30 ‰ in den beiden Rampen nicht begeistern kann. Ein kleineres Gefälle könnte kaum durch Reduktion der Tiefe in der Durchquerung der Gräben erreicht werden, sondern nur durch Verlängerung des Trassees.
Anmerkungen:
[01] Ein Beispiel dafür ist das Projekt «Atlantropa» für einen Staudamm in der Strasse von Gibraltar, siehe TEC21 23 / 2007
[02] Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Referats, das der Autor am Swiss Tunnel Congress 2010 im KKL Luzern am 10. Juni 2010 halten wird. Organisation: FGU Fachgruppe Untertagebau / Swiss Tunneling Society Anmeldungen und Auskünfte: fgu@thomibraem.chTEC21, Fr., 2010.04.09
09. April 2010 Giovanni Lombardi