Editorial

Schon Napoleon Bonaparte wollte einen Tunnel unter dem Ärmelkanal graben. Das Vorhaben wäre mit den damaligen Mitteln wahrscheinlich nicht ausführbar gewesen. Die Projektidee lebte aber weiter, und heute, zwei Jahrhunderte später, fahren fahrplanmässig Züge durch den Eurotunnel. Dieser Werdegang ist typisch für Systeme und Infrastrukturbauwerke, die unser heutiges Verkehrswesen prägen. Am Anfang stand eine Vision, und die Realisierung erfolgte, wenn die Zeit dafür reif, die Umstände günstig und die Finanzierung, zumindest für den Anfang, gesichert waren.

In diesem Heft greifen wir eine Auswahl visionärer Verkehrsprojekte mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und Realisierungspotenzial auf. Neue Ideen für den motorisierten Individualverkehr sind nicht darunter. Es scheint, dass sich diese Transportart dem Ende ihrer Entwicklung nähert und kaum noch Visionen generiert.

Mit einer Ausnahme verlaufen die beschriebenen Transportsysteme weitgehend, oder zumindest in den entscheidenden Abschnitten, in Tunnels. Der Trend ist eindeutig: In Zukunft findet der Verkehr grösstenteils unter der Erdoberfläche statt. Als Folge davon wird das Bedürfnis für «schö-nes», erlebnisreiches Reisen in der Freizeit zunehmen, was unter anderem den Bergbahnen zugute kommen dürfte.

Ein weiteres gemeinsames Merkmal der vorgestellten Visionen ist die Entflechtung der Verkehrsströme und der Verkehrsarten. Die Trennung von Personen- und Gütertransport, oder von Arbeits- und Freizeitverkehr, bedingt verschiedene Systeme, jedes mit optimaler Effizienz für seine spezifische Aufgabe. Effizienz bedeutet auch, dass bei den meisten vorgestellten Projekten nicht die Geschwindigkeit das wesentliche Kriterium ist. Es geht vielmehr darum, spezifische Transportanforderungen nicht möglichst schnell, sondern logistisch, ökonomisch und ökologisch optimal zu erfüllen.

Visionen berücksichtigen nicht alle Komponenten der Realität in gleichem Mass. Die vorgestellten visionären Projekte sind bzw. waren, tech-nisch gesehen, mit den verfügbaren Mitteln machbar, was sie von technischen Utopien unterscheidet. Ihre Urheber sind keine weltfremden Fantasten, sondern ernst zu nehmende Fachleute mit anerkannten Leistungsausweisen. Was den technischen Visionen hingegen oft fehlt, ist der frühzeitige Einbezug ihrer ökologischen, raumplanerischen und gesellschaftlichen Auswirkungen. Diese umfassen die Folgen für das Mobilitäts-verhalten von Menschen und Gütern und damit für die zukünftige Nutzung des Siedlungsraums.
In den nächsten Jahren wird sich zeigen, bei welcher der vorgestellten Verkehrsvisionen, unter welchen Rahmenbedingungen, realistische Chancen für die Realisierung bestehen. Die Begeisterung der Initianten und die technische Machbarkeit sind dazu zwar notwendige, aber nicht die einzigen Voraussetzungen.
Aldo Rota

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Grosse Schiebung

10 MAGAZIN
Vision in Meterspur | AlpTrain verbindet Metropolen | Versicherer nutzen Gefahrenkarten | Bücher

22 VIA D'ACQUA TRANSALPINA
Kurt Wanner
Vor einem Jahrhundert entstand das Projekt für einen Schifffahrtskanal über den Splügenpass – es ist Projekt geblieben.

26 EIN TUNNEL NACH AFRIKA
Giovanni Lombardi
Mithilfe der heutigen Technik ist der Bau eines Eisenbahntunnels unter der Meerenge von Gibraltar denkbar.

30 EIN FÖRDERBAND DURCH DIE SCHWEIZ
Martin Klöti, Guido Grütter
Das unterirdische, automatische Gütertransportsystem könnte den Verkehrskollaps der Schweiz verhindern.

33 VISION IM SEIL
Lukas Reichel
Erst virtuell existiert das Konzept «Revolvient», ein einzigartiges Transportmittel zwischen Seilbahn und Fluzeug.

39 SIA
CAS Unternehmensführung für Planer | Architekturwoche «15n» | Architekturauszeichnung Solothurn | Initiative Energieeffizienz (IEE)

45 PRODUKTE
53 IMPRESSUM
54 VERANSTALTUNGEN

Via d’Acqua transalpina

Der Transport auf dem Wasserweg ist die wirtschaftlichste Methode, um Massengüter über grosse Distanzen zu verschieben. Allerdings sind Gebirge für die Schifffahrt unüberwindliche Hindernisse. Vor einem Jahrhundert wollte das der Bündner Ingenieur Pietro Caminada nicht hinnehmen. Er entwarf einen direkten Wasserweg für Lastkähne vom Mittelmeer zur Nordsee.[01]

Der Warentransport über den Splügenpass stieg nach dem Ausbau vom Saumpfad zur Fahr- beziehungsweise Kommerzial- oder Kunststrasse zwischen 1818 und 1823 rasch an und erreichte 1856 mit 27 100 Tonnen einen Höchststand. Zu dieser Zeit war der endgültige Niedergang des alpinen Warentransports wegen der Verlagerung von der Strasse auf die Schiene aber bereits vorprogrammiert. In den folgenden 50 Jahren wurde die einst dominante Splügenpassstrasse unaufhaltsam zur Marginalie im alpenquerenden Güterverkehr, obwohl es nicht an Bestrebungen fehlte, die Bedeutung des Passes zu erhalten.

Zahlreich waren die Projekte, die eine Überquerung des Splügenpasses unabhängig von der Strasse ins Auge fassten: Das kühnste von allen war zweifellos jenes von Pietro Caminada, der vor 100 Jahren den Splügen auf einem transalpinen Wasserweg überqueren wollte.

Pietro Caminada wurde am 20. Mai 1862 als Sohn eines ausgewanderten Vriners und einer Italienerin in Mailand geboren. In den 1880er-Jahren hielt er sich mit seinem Bruder Angelo in Argentinien auf. 1892 unternahmen die beiden Exilbündner einen Ausflug nach Rio de Janeiro, wo Pietro seinem Bruder kurzerhand erklärte, er bleibe hier.

Ein Bauwerk in Rio muss Caminadas besondere Aufmerksamkeit erregt haben: der «Arcos da Lapa», der einst das Trinkwasser ins Stadtzentrum geführt hatte (Abb. 1). Pietro Caminada kam auf die Idee, das ausgediente Aquädukt als Trassee für die neue städtische Strassenbahn zu benützen. 1896 wurde seine Idee umgesetzt, und seither bildet der «Arcos da Lapa» mit seinem altertümlichen Tram eine der Hauptattraktionen der Stadt. Zudem befasste er sich mit dem Bau einer zweigleisigen Hängebahn, die er über diverse Flussläufe zu führen gedachte. Die Behauptung, Caminada habe Rio de Janeiro zu einer modernen Stadt umgebaut, mag übertrieben klingen, aber er hat beispielsweise mit der Umgestaltung der Hafenanlagen einen wichtigen Beitrag zum Wandel des vom portugiesischen Kolonialstil geprägten Rio in eine Weltstadt geleistet. Caminada ist in Südamerika vom Ingenieur zum Städteplaner geworden. Als 1891 der Beschluss, eine neue Hauptstadt für Brasilien zu bauen, in der Verfassung verankert wurde, war es Pietro Caminada, der die ersten Pläne für ein zukünftiges Brasilia entwarf – mehr als 60 Jahre vor dessen Erbauung.

Städteplaner in Mailand, Rom und Genua

1907 kehrte Pietro Caminada nach Europa zurück und liess sich in Rom nieder. In «La Stampa » lesen wir: «Seit einigen Wochen taucht in den Zeitungen mit grosser Regelmässigkeit der Name des Mailänder Ingenieurs Pietro Caminada auf, der nach einem 20-jährigen Aufenthalt in Südamerika mit einer genialen Idee nach Italien zurückgekehrt ist: das Mittelmeer über die Alpen hinweg mit der Nordsee zu verbinden, genauer, einen Kanal zu bauen, der von Genua über den Splügenpass bis an den Bodensee führt.» Bis zu seinem Tod lebte Caminada in Rom, wo er sich 1912 mit dem Um- und Ausbau des Hafens von Civitavecchia auseinandersetzte und 1920 ein Projekt für eine «Gartenstadt» im Römer Stadtteil Montesacro verfasste. Er beschäftigte sich auch ausserhalb Roms, etwa mit dem Ausbau des Hafens von Genua und dessen Anbindung ans Eisenbahnnetz. Er sah dort sogar den Bau einer U-Bahn vor, die erst 1990 realisiert wurde. In der Umgebung von Neapel war er auch im Erzabbau tätig. Am 20. Januar 1923 verstarb Pietro Caminada nach längerer Krankheit in Rom, wo später eine Strasse nach ihm benannt wurde.

Caminadas Wasserweg über den Splügen

Bereits in Südamerika begann Caminada seine Auseinandersetzung mit der Schiffbarmachung der grösseren Flüsse Europas und deren Verbindung über die Alpen hinweg unter Nutzung der Bergbäche. Den Verlauf seines «Alpenkanals» plante er wie folgt: Nach einem Hafenkanal in Genua erfolgt der Aufstieg zum Passo Giovi, der mit einer Galerie überwunden wird. Dann geht es Richtung Mailand, wo ein Hafen vorgesehen ist, von dem aus die Hauptroute zum Comersee führt. In Chiavenna beginnt dann der grosse Aufstieg zum Splügenpass, durch den ein 15 km langer Tunnel das Südportal auf 1250 m Höhe beim Dörfchen Isola (Abb. 5) mit dem Nordportal auf 1100 m Höhe in der Rofflaschlucht verbindet. Durch die Viamala (Titelbild) erreicht der Kanal Thusis, wo – wie in Chur – ein kleines Hafenbecken vorgesehen ist. Rheinabwärts wird via Bodensee Basel erreicht. Der gesamte Wasserweg Genua–Basel weist eine Länge von 591 km auf, von denen 230 km auf Seen und schiffbare Flüsse entfallen. Der eigentliche Kanal misst 361 km, wovon 30 km in doppelten Galerien, 43 km im Röhrensystem und der Rest im offenen Kanal geführt werden.

1908 wird in der «Weltrundschau» der technische Vorgang erläutert: «Caminada geht von der richtigen Voraussetzung aus, dass ein grosser Kraftaufwand und eine verhältnismässig grosse Wassermenge dazu gehören, um ein Schiff von Stufe zu Stufe emporzuheben. Da diese Kraft und die für sie nötigen Gefälle und Wassermengen nicht überall zur Verfügung stehen, sucht er eine Verringerung des Kraftaufwandes herbeizuführen. Dazu hat er ein neues Kanalsystem erdacht, das wir uns am besten als eine Wasserleitung vorstellen, die vom Reservoir über Hügel und Hänge zur Stadt führt. Ähnliche Röhren will Caminada als Kanalbett verwenden. Diese sind mit einer Anzahl von Schleusentoren versehen, die in Serpentinen auf die Höhen hinaufführen (Abb. 2, Anm. d. Red.).

Im Innern liegt eine Schiene. Soll nun ein Schiff über die Alpen gebracht werden, so fährt es in die unterste Schleuse ein, deren Tor sich hinter ihm schliesst. Es wird dann mit der Schiene verbunden, sodass es auf dieser emporzurollen vermag. Dann wird Wasser in die Schleuse eingelassen, das sich hinter dem Schiff zu sammeln beginnt und das Schiff vor sich her schiebt, sodass dieses vor- und aufwärts befördert wird, bis es das Niveau der nächsten Schleuse erreicht. Die Grundlage des Caminadaschen Systems beruht darauf, dass die Stufenschleusen zu fortlaufenden Rohrschleusen umgewandelt sind.»

Zustimmung im Ausland, Skepsis in Graubünden

Neben zahlreichen Berichten in Italien, Frankreich und Deutschland stiess das Projekt sogar bei der Presse in Übersee auf Beachtung. Unter der Schlagzeile «Project for a Waterway across the Alps» veröffentlichte die «New York Times» eine reich illustrierte Darstellung von Pietro Caminadas Vorhaben.

Auch in der Schweizer Presse kam es zu Reaktionen. Im «Schweizer Baublatt» lesen wir: «Wenn der neu konstruierte Wasserweg 400 km lang ist, gehört er selbst bei einem Kostenaufwand von 2 Millionen [Lire] per Kilometer nicht zu den unsinnigen Plänen. Freilich wäre eine Nachprüfung der Zahlenangaben durch eine Kommission von Fachleuten nötig. Ernster Erörterung ist das Projekt wohl wert.»

Im Tessin und in Graubünden wurde Caminadas Projekt jedoch nicht gerade positiv aufgenommen. Die «Bündner Post» schreibt 1908: «Es ist nicht zu leugnen, dies Projekt ist grossartig; es wird aber noch viel Wasser den Rhein hinunterfliessen, bis das nötige Baukapital zusammengebracht und der Kanal gebaut sein wird. Die jetzige Generation wird dies kaum mehr erleben. Uns wäre besser gedient, wenn die Italiener sich einmal energisch aufraffen und fest erklären würden, wir geben so und so viele Millionen an die [von Chur nach Chiavenna geplante] Splügenbahn.»

In Italien stiess Caminadas Idee einer «via d’acqua transalpina» auf Wohlwollen. König Vittorio Emanuele III. empfing den 42-jährigen Ingenieur am 3. Januar 1908 zu einer Privataudienz, um sich persönlich das Projekt erläutern zu lassen. Die Sache muss recht günstig ausgefallen sein, denn der Monarch erklärte abschliessend: «Wenn ich schon längst vergessen sein werde, wird man immer noch von Ihnen reden.»

Gab es überhaupt wirtschaftliche und politische Interessen an Caminadas Bauvorhaben? Die damalige Stimmungslage war für eine industrielle Entwicklung in Italien günstig. Im «Schweizer Baublatt» lesen wir in derselben Ausgabe: «Selbstverständlich ist die Durchführung des Projektes für Italien von grösster wirtschaftlicher Bedeutung. Genua ist nur in geringem Umfang Ausfuhr- und Transithafen. Während seine Lage ihm eigentlich den Transportdienst für einen Teil Mitteleuropas sichern sollte, ist eine Verringerung statt eine Vermehrung des diesbezüglichen Verkehrs wahrzunehmen. In der Schweiz dominieren die Häfen Antwerpen und Rotterdam.» Deshalb wolle Caminadas Kanal die auf dem Meere ankommenden Waren in die Schweiz bringen und Italien Kohle und Metalle aus Mitteleuropa zuführen. Trotz diesen guten Voraussetzungen ist Pietro Caminadas Projekt nie umgesetzt worden. Einerseits fehlte es an politischer Unterstützung, andererseits verhinderten Kriege eine rasche Verwirklichung: 1911/12 eroberte und annektierte Italien Gebiete Libyens, und 1915 – 1918 nahm es am 1. Weltkrieg teil.

«Ein brennender Vesuv mit Schnee auf dem Gipfel»

Pietro Caminada und sein Werk sind in Vergessenheit geraten. Auf eindrückliche Weise gewürdigt wurde er von einem anderen prominenten Vriner Bürger, von Christian Caminada, damals Dompfarrer, später Bischof von Chur, in einem 1923 im «Bündner Tagblatt» veröffentlichten Nachruf. Pietro Caminada sei durch seine Pläne zur Schiffbarmachung aller Flüsse Europas und deren Verbindung über die Alpen hinweg weltbekannt geworden. «An allen Hochschulen bildet das Schleusensystem Caminadas eines der grossartigsten Probleme. Die Ausführung seines genialen Werkes würde Italien zum Mittelpunkt der gesamten Weltschifffahrt machen. Unserem Kanton Graubünden hatte er eine grosse Rolle zugedacht.»

Gerne wäre Pietro Caminada im Sommer 1923 in seinen Heimatort zurückgekehrt, um die Schiffbarmachung der Bergflüsse zu studieren. Dazu ist es nicht mehr gekommen, aber «der Tod des genialen Mannes könne vielleicht dazu beitragen, dass man sich wieder intensiver mit seinen Plänen beschäftigt, die eine vollständige Umwälzung aller Verkehrsmittel in Europa bringen müsste. Es wäre für die Bahn eine Konkurrenz ohnegleichen, wenn man bedenkt, dass die Flussläufe zur gleichen Zeit die Triebkraft und die Schienen ersetzen würden. Die Ausrechnungen bewiesen, dass Warenbeförderungen im Verhältnis zu den Bahnen unbegreiflich wohlfeil würden.»

Pietro Caminada habe gewusst, dass die Ausführung seiner Pläne auf sich warten liesse. Für solche Pläne brauche es grosse Idealisten, schreibt Christian Caminada weiter in seinem Nachruf: «Er war ein Feuerkopf mit langem weissem Bart und Haar bis auf die Schultern, ein brennender Vesuv mit Schnee auf dem Gipfel (vgl. Abb. 4, Anm. d. Red.).» Dieweil er im Januar 1923 in der Ewigen Stadt zur Grabesruhe bestattet wurde, hätten im «kleinen Vrin trauernd die Glocken geläutet, weil einer der Ihrigen gestorben ist, auf den sie stolz sein dürfen».

[Kurt Wanner, Publizist, war 1990 bis 2005 Sekretär der Walservereinigung Graubünden und lebt heute im Piemont.]


Anmerkung:
[01] Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Beitrag «Pietro Caminada und seine ‹via d’acqua transalpina›», der erstmals in Heft 2/2005 des «Bündner Monatsblatt» erschienen ist. Bündner Monatsblatt, herausgegeben von: Institut für Bündner Kulturforschung ikg und Bündner Heimatschutz BHS Redaktion: Reichsgasse 10, 7000 Chur, redaktion@buendner-monatsblatt.ch Verlag: Casanova Druck und Verlag AG, Rossbodenstrasse 33, 7004 Chur, www.casanova.ch/verlage

TEC21, Fr., 2010.04.09

09. April 2010 Kurt Wanner

Ein Tunnel nach Afrika

Meerengen haben Politiker, Künstler, Feldherren und Ingenieure seit der Antike zu Visionen herausgefordert. Dies trifft insbesondere auf die Strasse von Gibraltar zu.[1] Jahrzehntelange Erfahrung im Tunnelbau und fortgeschrittene Bautechnik rücken heute die Realisierung des fundierten Projekts einer internationalen Ingenieurgemeinschaft in den Bereich des Möglichen.[2]

Seit etwa einem halben Jahrhundert ist das Gebiet von Gibraltar Gegenstand von mehr und auch weniger realistischen Projektideen, um die Meerenge zu überqueren. Aus verschiedenen Gründen mussten Projekte für eine Hängebrücke, einen Tunnel auf dem Seeboden und einen schwimmenden Tunnel in beschränkter Tiefe fallen gelassen werden. Nur ein Bahntunnel im Felsuntergrund kommt beim heutigen Wissensstand infrage.

Natürliche Rahmenbedingungen

Die Breite der Meerenge variiert zwischen etwa 15 km bei Algeciras bis etwa 30 km bei Tanger (Abb. 1). Die Tiefe verläuft umgekehrt von 1000 m bei Gibraltar bis auf 300 m in der Achse Punta Paloma–Tanger, wo eine «Schwelle» vorhanden ist (Abb. 4). Es scheint, dass beim Einbruch des Atlantiks in das Mittelmeer ein zentraler Graben von etwa gleichmässiger Breite erodiert wurde, während die kontinentalen Sockel von der Erosion teilweise verschont blieben. Daraus ergab sich die Entscheidung, den Tunnel entlang der genannten Schwelle zu trassieren. Der Untergrund der Meerenge besteht im Wesentlichen aus Flyschformationen, d. h. einer Wechsellagerung von dünnen Sandstein- und Mergelschichten (Abb. 7).

Die Serie von subvertikalen Schuppen, die durch Störungszonen voneinander getrennt sind, deutet auf eine ausserordentliche tektonische Tätigkeit hin. Als wichtige natürliche Tatsache sind die sehr starken Wasserströmungen in beiden Richtungen durch die Meerenge zu erwähnen, die den Sondierungen des Untergrunds ernsthafte Schwierigkeiten entgegenstellen.

Vorgeschichte

Im Jahr 1980 wurde von den Königen von Spanien und Marokko eine Erklärung unterzeichnet, um die Studien für die Schaffung einer festen Verbindung zwischen den zwei Ländern zu fördern. Es wurden auch entsprechende Studiengesellschaften gegründet. In der Folge entstand 1996 das sogenannte APP96 (Avant-Projet Préliminaire 1996) auf Grund der damals bekannten natürlichen Gegebenheiten.

Die Trassierung folgte der erwähnten Meeresschwelle. Der tiefste Punkt des Tunnels lag etwa auf Kote minus 400 m. Die Länge des Tunnels betrug rund 38 km und die Steigung der Rampen maximal 25 ‰. Der Ausbruch der Hohlräume im angenommenen Flyschgebirge sollte an sich keine besonderen Probleme aufwerfen. In den folgenden Jahren wurden verschiedene Sondierkampagnen ausgeführt. Zur grossen Überraschung wurden dabei zwei mit Brekzien (Gesteinstrümmer mit grober, eckiger Form, die in einer feinkörnigen Grundmasse eingebettet sind) gefüllte Gräben entdeckt (Abb. 2).

Brekzien, Gräben und Wettbewerb

Entlang der Tunneltrassierung sind somit diese zwei Gräben zu queren, die eine Tiefe von mindestens 600 m aufweisen und die auf der Kote von minus 500 m zwischen 2.8 km und 4.8 km Breite erreichen. Der Ursprung dieser Gräben wird in der Erosion des Flyschgebirges durch die Wasserströmung vom Atlantik zum Mittelmeer vermutet. Anschliessend sollen grosse Rutschungen die Gräben bis auf etwa Kote minus 300 m aufgefüllt haben. Die Auffüllung besteht aus Flyschbrekzien, die unter Wasser gerutscht sind und somit nicht gut konsolidiert sein können. Die sehr schlechten felsmechanischen Eigenschaften des Gebirges stellten die Machbarkeit des Projektes APP96 infrage und verlangten zumindest dessen grundlegende Revision.

In der Tat ging es um das Erstellen eines neuen Projektes, da sich in der Zwischenzeit auch andere Erfordernisse geändert hatten. Deshalb wurde 2006 ein Ingenieurwettbewerb für das neue Projekt APP07 durchgeführt. Die Vergabe erfolgte an die Ingenieurgemeinschaft Typsa Madrid, Lombardi AG Minusio-Locarno, Geodata Torino und Ingema Rabat.

Das Projekt

Die geotechnischen Eigenschaften der Brekzien und die Entdeckung von Sanden im Bereich der Gräben haben eine tiefere Trassierung des Tunnels bis etwa auf Kote minus 475 m veranlasst. Demzufolge ergeben sich steilere Rampen, falls die Gesamtlänge des Tunnels nicht über das Minimum erhöht werden soll. Die Steigungen erreichen 30 ‰, was als oberster zulässiger Wert angesehen wird (Abb. 3).

Zwischen den zwei Gräben liegt eine als «Monte Tartesos» bezeichnete Zone gesunden Flyschgebirges. Darin ist am tiefsten Punkt der Trassierung eine Sicherheitshaltestelle vorgesehen (Abb. 3 und 4). Die fertig gestellte Anlage würde aus zwei eingleisigen Bahntunneln und einem Sicherheitsstollen, mit Querverbindungen im Abstand von 340 m, bestehen und somit dem Ärmelkanal-Tunnel sehr ähnlich sein. Von der Sicherheitshaltestelle wird die Abluft – und im Brandfall der Rauch – durch den Sondierstollen abgesogen.

Gesteine und Baumethode

Die Brekzien in den zwei Gräben bilden die grösste Schwierigkeit für das Projekt (Abb. 8). Die Ermittlung ihrer wirklichen geotechnischen Eigenschaften ist immer noch anhand von einigen Bohrkernen aus den Sondierungen im Gange (vgl. Abb. 2). Wie die Erfahrung mit Sondierschächten und -stollen bewiesen hat, ist der Aushub im Flysch ohne besondere Probleme möglich. Erst vor Kurzem wurde aber die Quellfähigkeit dieser Formationen erkannt. Der natürliche Spannungszustand wird sich nur mit der Zeit wieder aufbauen, sodass eine sehr starke Auskleidung notwendig ist.

Die Durchquerung der erwähnten Gräben verlangt zweifellos den Einsatz von Tunnelbohrmaschinen mit geeignetem Schild (EBP). Die Ortsbrust muss durch einen Erd- oder Schlammdruck stabilisiert werden. Als Folge des aussergewöhnlich hohen Wasserdruckes ist auch eine vorausgehende sehr intensive Drainierung des Gebirges durch einen Ring von Bohrungen erforderlich.

Rechnerische Untersuchungen

Wegen der bisher im Tunnelbau noch nirgends angetroffenen Verhältnisse werden nicht nur neue Baumethoden und neue Baumaschinen entwickelt werden müssen, sondern es galt zuerst, neue Berechnungsmethoden aufzustellen. Dabei handelt es sich um eine gekoppelte mechanisch-hydraulische Analyse unter der Bedingung eines fortschreitenden Vortriebes.

Die dreidimensionale Analyse konnte unter den gegebenen Verhältnissen durch ein zentralsymmetrisches Modell ersetzt werden (Abb. 5). Die sehr niedrige Durchlässigkeit der Brekzie von 10-10 m / s bis 10-7 m / s bestimmt die Dauer einer Drainage ungünstig mit. Es wurde ein Tunnel von 6 m Innendurchmesser simuliert, der demjenigen des Sicherheitsund des Sondierstollens entspricht. Viele Fälle wurden durchgerechnet, die das ganze Spektrum der denkbaren Verhältnisse abdecken sollen (Abb. 6). Für jeden Fall wurden der Verlauf der Konvergenz, die effektiven Spannungen und der Porendruck im Verlaufe der Zeit, d.h. des Vortriebs, errechnet.

Die radiale Konvergenz vor dem Schild musste auf 40 cm beschränkt werden, um die Führung der Tunnelbohrmaschine zu ermöglichen. Der Gegendruck an der Tunnelbrust wurde als Grundwert zu 1 MPa festgelegt, was etwa der obersten Grenze für heutige Bohrmaschinen entspricht. Ein höherer Wert, zum Beispiel um 2 MPa, wäre aber viel günstiger.

Die durchgeführten Berechnungen zeigen, dass:

– die Strömungskräfte für die Stabilität der plastischen Zone während des Vortriebs massgebend sind
– in den Brekzien und in den Flyschen der schlechtesten Felsklasse Drainagebohrungen unerlässlich sind
– die erreichbare Vortriebsgeschwindigkeit von der Wirkung der Drainage und von der Durchlässigkeit des Gebirges abhängt
– der Gegendruck an die Ortsbrust höher als 1 MPa sein sollte
– die Gefahr des Einklemmens des Schildes gegeben ist.

Fortsetzung des Projektes

Am Ende der Studien schlägt die Ingenieurgemeinschaft die folgenden Massnahmen für die Weiterbearbeitung des Projekts vor:

1. In Zusammenarbeit mit den Herstellern von Tunnelbohrmaschinen ist zu untersuchen, ob ein höherer Gegendruck als 1 MPa auf die Ortsbrust möglich ist.
2. Vertikale Sondierbohrungen im Kanal sollen die Ausdehnung der Gräben festlegen.
3. Die anfallenden Bohrkerne sind felsmechanisch zu analysieren.
4. Der Ausbruch eines Sondierstollens ist unerlässlich.
5. Von diesem Sondierstollen aus sollen gezielte Bohrungen ausgeführt werden, um die Verhältnisse zu erforschen und um die Trassierung zu optimieren.

Aus heutiger Sicht ergibt sich ein Bauprogramm, welches etwa 30 Jahre umfassen würde. Die Baukosten sind in der Grössenordnung von etwa 12 Mrd. Euro geschätzt worden. Aus den bis heute durchgeführten Untersuchungen zeigt sich, dass der Bau eines Tunnels unter der Meerenge von Gibraltar denkbar ist. Die effektive Machbarkeit muss jedoch noch nachgewiesen werden.

Es ist klar, dass ein Gefälle von 30 ‰ in den beiden Rampen nicht begeistern kann. Ein kleineres Gefälle könnte kaum durch Reduktion der Tiefe in der Durchquerung der Gräben erreicht werden, sondern nur durch Verlängerung des Trassees.


Anmerkungen:
[01] Ein Beispiel dafür ist das Projekt «Atlantropa» für einen Staudamm in der Strasse von Gibraltar, siehe TEC21 23 / 2007
[02] Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte Fassung des Referats, das der Autor am Swiss Tunnel Congress 2010 im KKL Luzern am 10. Juni 2010 halten wird. Organisation: FGU Fachgruppe Untertagebau / Swiss Tunneling Society Anmeldungen und Auskünfte: fgu@thomibraem.ch

TEC21, Fr., 2010.04.09

09. April 2010 Giovanni Lombardi

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