Editorial
TEC21 widmet dieses Jahr vier Ausgaben der Raumplanung. Die erste halten Sie in den Händen. Die Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Während der Bau von Gebäuden und Verkehrsinfrastruktur, abgesehen von einigen konjunkturellen Schwankungen, mehr oder weniger kontinuierlich ablief (mit ca.1 m²/s Landverbrauch), verläuft unsere persönliche Wahrnehmung der Veränderung ruckweise – etwa anlässlich von Besuchen an Orten, wo wir länger nicht mehr waren.
Gar nur ganz selten erhält das Thema Raumplanung öffentliche Aufmerksamkeit. Das erste Mal gegen Ende der 1950er-Jahre, als klar wurde, dass das rasante Wachstum auch einen Ausbau der öffentlichen Infrastruktur nötig machte, dann in der Ölkrise um 1973 unter dem Schock der soeben entdeckten Grenzen des Wachstums.
Und nun offenbar wieder: Es scheint, dass die Öffentlichkeit heute zum ersten Mal wirklich wahrnimmt, was Fachleute schon seit 70 Jahren kommen sehen: Dass die ungezügelte bauliche Entwicklung das Land zu zerstören droht, weil uns die unversehrten Landschaften ausgehen, die Ortschaften zusammenwachsen, die Natur abhanden kommt, die Artenvielfalt dezimiert wird – und uns das Gesicht der Heimat immer öfter als hässliche Fratze begegnet.
Im August 2008 wurde die Landschaftsinitiative eingereicht. Sie will Bund und Kantone in die Pflicht nehmen und fordert ein 20-jähriges Moratorium für Einzonungen. Der Bundesrat reagierte zunächst mit einer überstürzten Vorlage für ein neues Raumentwicklungsgesetz, die in der Vernehmlassung scheiterte, und nun mit einer Teilrevision des Raumplanungsgesetzes im Bereich Siedlungsentwicklung als indirektem Gegenvorschlag. Es wird immer klarer: Es braucht eine breite und tabufreie öffentliche Debatte darüber, wie das Nachhaltigkeitsprinzip auch bei unserem Umgang mit dem Boden zum Tragen kommen kann. Vorschläge für Verfahren sind vorhanden, gesucht ist aber vor allem ein politisch gangbarer Weg.
Eine Diskussionsgrundlage wäre das Raumkonzept Schweiz, für das in einem landesweiten partizipativen Prozess Perspektiven für die räumliche Entwicklung gesammelt wurden. Der Entwurf liegt beim Bundesamt für Raumentwicklung. Unterdessen steigt TEC21 schon in die Diskussion ein: in dieser ersten Nummer mit einem Überblick über die Geschichte der Raumplanung und ihre aktuellen Herausforderungen.
Wir haben den Fotografen Hannes Henz gebeten, seine Sicht beizusteuern. Er wird in den kommenden vier Jahreszeiten in die vier Landesteile reisen, aus denen die Schweiz heute besteht – Stadt, Agglomeration, Land, Berge – und dort Orte fotografieren, wo räumliche Entwicklungen der letzten Jahre exemplarisch sichtbar werden. Für dieses Heft hat er das winterliche Andermatt im Urserental gewählt.
Ruedi Weidmann
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Glaspalast am Bodensee
12 MAGAZIN
Der Weg zur Biodiversitätsstrategie | Der Ingenieur in der Literatur | Kalifornien will ökologisch bauen
18 RUFER IN DER WÜSTE
Martina Koll-Schretzenmayr
Es dauerte Jahrzehnte, bis die Pioniere der Schweizer Raumplanung Gehör fanden. Ihr Mut wäre heute wieder gefragt, denn die Raumplanung steht vor einer Bewährungsprobe.
23 MEHR MUT ZUM EINGRIFF
Hans-Georg Bächtold
Die Raumplanung hat bisher ihr Ziel, den haushälterischen Umgang mit dem Boden, nicht erreicht. Sie muss politischer denken lernen und künftig auch auf Verhaltensänderungen abzielen.
28 RAUMPLANUNG NEU DENKEN
Martin Lendi
Was will die Raumplanung? Hat sie Erfolg? An welche Grenzen stösst sie? Ein Überblick zeigt, dass sie heute neue Akzente beachten muss.
33 SIA
Mehr Dimensionen in die Raumplanung | Vernehmlassungen | Neuer Leiter Vereinskommunikation | Graue Energie – Merkblatt für Planer
37 FIRMEN
45 IMPRESSUM
46 VERANSTALTUNGEN
Rufer in der Wüste
Die Pioniere der Schweizer Raumplanung waren Rufer in der Wüste. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie Gehör fanden. Ihr Mut und Pioniergeist wären auch heute wieder gefragt, denn die Raumplanung steht an einem Wendepunkt.
Armin Meili war Architekt und Pionier der schweizerischen Raumplanung. Was bringt einen namhaften Architekten und erfolgreichen Direktor der «Landi 39» dazu, sich über Jahrzehnte hinweg mit Hingabe einem Anliegen zu verschreiben, von dem er in seinen Lebenserinnerungen selbst urteilte, es habe ihn zum «Rufer in der Wüste» gemacht? Meili war der festen Überzeugung, dass es nur mit Hilfe der Landesplanung – wie die Raumplanung damals hiess – gelingen könne, die weitere «Verhüselung» der Landschaft zu verhindern, «die Schönheit unserer Heimat» zu erhalten und die künftige Entwicklung des Landes so zu gestalten, dass sie «dem Wohlergehen des einzelnen Menschen bestmöglich Rechnung trägt». Aufgabe der Landesplanung sei es, die unterschiedlichen Nutzungsansprüche an den Boden zu koordinieren und «die Anlagen der Städte, der landwirtschaftlichen Gebiete, der Verkehrswege zu Land und Wasser sowie in der Luft mit Bedacht der Entwicklung anzupassen und aufzubauen»[1].
Als Meilis Publikation «Allgemeines über die Landesplanung» 1933 erschien, stiessen diese Zielsetzungen in Fachkreisen rasch auf Sympathie; der Kreis der Freunde der Landesplanung wuchs stetig. Doch in der Verfassung wurde die Raumplanung erst 1969 verankert. Weshalb dauerte es so lange?
Ungezügeltes Wachstum
Die Raumplanung war nie eine Massenbewegung «von unten», sondern formierte sich in den 1930er-Jahren als kulturpolitische Bewegung einer Elite, die für den Schutz der Heimat plädierte und die Landesplanung zu einem Teil der Geistigen Landesverteidigung erhob. In der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten der Landesplanung jedoch gesetzliche Regelungen – insbesondere die von Armin Meili bereits 1941 geforderte verfassungsrechtliche Grundlage –, aber auch der Rückhalt in der breiten Öffentlichkeit. Denn staatliche Planung war nach den langen Krisen- und Kriegsjahren unbeliebt, man wollte die wiedergewonnenen Freiheiten ohne Einschränkungen ausleben. Und Planung wurde seit ihren Anfängen in den 1930er-Jahren mit staatlichem Dirigismus und Enteignung assoziiert. Die 1950er-Jahre brachten Wirtschaftswachstum und Konsumgesellschaft – und wurden damit zur Wiege der Umweltproblematik. Denn in keinem Jahrzehnt zuvor war die Veränderung der natürlichen Umwelt durch das Wachstum der Industrie, die Intensivierung der Landwirtschaft, die Motorisierung des Individualverkehrs und den Wandel der Lebensformen so tief greifend gewesen. Zwischen 1950 und 1970 wuchs die Bevölkerung der Schweiz von 4.7 auf 6.3 Mio. und die Zahl der Autos um 700 %, die überbaute Fläche verdoppelte sich. Von 1954 bis 1959 wurde das Netz der Nationalstrassen geplant, ohne dass deren Lenkungswirkung auf die Siedlungsentwicklung thematisiert wurde. Kritische Auseinandersetzungen mit den Folgen des Wachstums blieben in den 1950er-Jahren Ausnahmen. Lediglich der Lawinenwinter 1951 / 52 bewirkte eine Sensibilisierung für Naturgefahren.
Erste Schutzverordnungen
Die Planer bemühten sich während dieser Zeit trotz fehlenden rechtlichen Grundlagen nach Kräften. Mit viel Innovationsgeist machten sie sich an die Entwicklung des erforderlichen Instrumentariums und bauten auf Erfolgen auf, die bereits in den 1940er-Jahren erzielt worden waren, etwa bei der Sicherung von Frei- und Grünflächen mit der Schutzverordnung Greifensee (1941), der Juraschutzverordnung (1942) oder dem Bericht «Landschaftsschutz am Zürichsee» (1945). 1943 war die Schweizerische Vereinigung für Landesplanung (VLP) mit Armin Meili als erstem Präsidenten gegründet worden. Ihr Ziel war, die noch junge Landesund Regionalplanung durch Studien und eine Zusammenarbeit mit Bund, Kantonen und Gemeinden zu fördern. In zahlreichen Gemeinden und Regionen bzw. Kantonen nahmen in den 1950er-Jahren Regional- und Ortsplanungen ihre Anfänge. Als grosser Erfolg ist auch die Revision des Hochbautengesetzes des Kantons Basel-Stadt (1959) zu werten, mit der eine Verkleinerung der Bauzonen erreicht wurde.
Mit manchen Anliegen scheiterten die Planer aber. 1956 setzte der Regierungsrat des Kantons Zürich eine Expertenkommission für Regionalplanungsfragen ein mit der Aufgabe, «Vorschläge zu unterbreiten über Massnahmen, die geeignet wären, der weiteren unerwünschten Zusammenballung von Menschen entgegenzuwirken». Im Abschlussbericht empfahl die Kommission 1960 eine «dezentrale Besiedelung» mit Wetzikon und Bülach als starken Regionalzentren neben Zürich und Winterthur. Dieses siedlungspolitische Konzept fand jedoch die Unterstützung der Politik nicht, sodass die notwendigen Vorleistungen der öffentlichen Hand, etwa der Ausbau des Verkehrssystems, nicht erfolgten. Wetzikon und Bülach blieben unattraktiv für Investitionen in den Wohnungsbau. Das Glatttal lag näher: Die heutige Glatttalstadt nahm ihren Anfang.
Die Folgen des Booms
In den 1960er-Jahren wurde das übermächtige «Vorwärts!», das die unmittelbare Nachkriegszeit geprägt hatte, von einem «Wohin?» abgelöst. Die anhaltende Überhitzung der Bauwirtschaft schuf Probleme. Zwischen 1960 und 1963 wurden in den eidgenössischen Räten insgesamt acht Motionen und Postulate eingereicht, die die Bodenspekulation, die Steigerung der Bodenpreise und die Notwendigkeit einer Bodenpolitik betrafen. Zersiedlung, Umweltzerstörung und Bodenpreisexplosion überschritten die Schmerzgrenze aller Bevölkerungsteile. Spätestens als aus dem Wasserhahn verschmutztes Wasser rann und selbst auf entlegensten Waldlichtungen Häuser entstanden, wurde den Bürgern bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Der «planlosen Bauerei» sollte Einhalt geboten werden.
Das Jahr 1963 markiert einen Wendepunkt. Im März wurde die Typhusepidemie in Zermatt zu einem umweltpolitischen Schlüsselerlebnis. Im Juli reichten SP und Gewerkschaftsbund zusammen das «Volksbegehren gegen die Bodenspekulation» ein. Die Initiative verlangte, dass der Bund «unter Mitwirkung der Kantone Massnahmen zur Verhinderung einer ungerechtfertigten Steigerung der Grundstückpreise, zur Verhütung von Wohnungsnot und zur Förderung einer der Volksgesundheit und der schweizerischen Volkswirtschaft dienenden Landes-, Regional- und Ortsplanung» treffe.
Ein immer grösserer Kreis von Führungspersönlichkeiten erkannte die Gefahren der «planlosen » Besiedelung und setzte sich für die Landesplanung ein. In Rudolf Stüdeli, ab 1960 Direktor der VLP, fand die Landesplanung einen engagierten Lobbyisten. Die Politik näherte sich der Raumplanung als staatspolitischer Aufgabe zögerlich, aber stetig an, auf Bundesebene ausgehend von der Wohnbauförderung. 1965 wurde Fritz Berger Delegierter des Bundesrats für den Wohnungsbau. Sein Ziel war es, möglichst rasch genügend Wohnungen von guter Qualität am richtigen Ort zu erstellen. Berger erteilte dem 1961 an der ETH Zürich gegründeten Institut für Orts-, Regional und Landesplanung unter der Leitung von Martin Rotach (dem späteren Delegierten des Bundesrats für Raumplanung) den Auftrag, «schweizerische Siedlungskonzepte mit Leitbildern» auszuarbeiten. Diese bildeten die Grundlage für das planerische Leitbild der «dezentralisierten Konzentration»[2]. Im Vordergrund stand die Idee der Planung eines räumlichen Endzustandes. Es zeigte sich jedoch in der Folge, dass diese Herangehensweise zu sehr vom Glauben an die Beherrschbarkeit des Modernisierungsprozesses und die Steuerbarkeit des sozioökonomischen Systems beseelt war und letztlich am Föderalismus scheiterte.
Raumplanung wird endlich verankert
Die Initiative gegen die Bodenspekulation wurde 1967 von Volk und Ständen abgelehnt. Trotzdem wirkte sie als Beschleuniger für die Institutionalisierung der Raumplanung. Im Kalten Krieg, der geprägt war von Antikommunismus und der Angst um die freiheitliche, demokratische Gesellschaftsordnung, ortete die politische Elite eine «redaktionelle Lücke» in der Bundesverfassung, in der eine ausdrückliche Eigentumsgarantie fehlte. Sie sah die Gelegenheit, dieses Loch im Zuge einer verfassungsrechtlichen Regelung der Landesplanung zu stopfen. Denn so viel war klar: Eine Regelung landesplanerischer Anliegen musste Aussagen zu den öffentlichrechtlichen Beschränkungen des Grundeigentums treffen, die aus der Planung resultieren würden. 1969 wurden die ergänzenden Verfassungsartikel 22ter, der das Grundeigentum und Entschädigung bei Enteignung garantierte, und 22quater mit der Grundlage für die Raumplanung zusammen vom Volk angenommen. Zur vollständigen Institutionalisierung fehlte nun noch ein Bundesgesetz über die Raumplanung.
Notrecht gegen Zersiedelung
Die Ausdehnung der Siedlungsfläche schritt, wenn auch nach dem Ölschock von 1973 abgeschwächt, munter fort. Es war deshalb ein Akt von politischer Weitsicht, dass der Bundesrat 1972 den Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen auf dem Gebiet der Raumplanung erliess. Mit ihm wurde – wenn auch nur durch notrechtlichen Erlass und für einen Teilbereich – erstmals Raumplanungsrecht des Bundes verwirklicht. Im Fokus standen gefährdete Landschaften; der Bundesbeschluss schuf die Grundlage für die Ausscheidung grosser Schutzgebiete durch die Kantone. Wie nötig diese Weitsicht war, zeigte sich, als das Volk 1976 die Vorlage für das Raumplanungsgesetz ablehnte. Erst die zweite Vorlage wurde 1979 angenommen. Seit 1980 trennt das Raumplanungsgesetz Siedlungsgebiet von Nichtsiedlungsgebiet und gibt Bund, Kantonen und Gemeinden ein Instrumentarium an die Hand, das eine geordnete Besiedlung und einen haushälterischen Umgang mit dem Boden erlaubt.
Pioniere mit Mut und Ausdauer
Dem Einsatz der Pioniere ist es zu verdanken, dass der Raumplanung der Weg geebnet wurde und die Schweiz heute ein attraktiver Wirtschafts-, Wohn- und Erholungsstandort ist. Zahlreiche Eingriffe mit verheerenden Folgen für das Siedlungs- und Landschaftsbild konnten damit verhindert werden. Trotzdem beurteilen viele Raumplanungspioniere, die im Rahmen des ETH-Forschungsprojektes zur Geschichte der Raumplanung Schweiz befragt wurden, die Erfolge rückblickend alles andere als euphorisch. In der öffentlichen Meinung wird Raumplanung nach wie vor kritisch beäugt. Und gegenwärtig fühlen sich viele RaumplanerInnen wieder als «Rufer in der Wüste». Denn die Zersiedlung konnte bislang nicht im erwünschten Mass eingedämmt werden. Mit der hängigen, breit abgestützten Landschaftsinitiative ist eine ähnliche Situation entstanden wie in den 1960er-Jahren bei der Initiative gegen die Bodenspekulation: Die Politik bemüht sich heftig, der als radikal empfundenen Initiative mit einer Teilrevision des Raumplanungsgesetzes eine weniger mutige Variante entgegenzustellen. Doch zeigt der Blick auf die 1950er- bis 1970er-Jahre, dass in der Raumplanung Wirkung nur mit mutigen Schritten – und mit viel Ausdauer – zu erreichen ist.
Anmerkungen:
[01] Armin Meili: Landesplanung in der Schweiz. Separatdruck NZZ, 1941
[02] Raumplanerisches Leitbild der Schweiz CK-73. Eine Grundlage für das Gespräch zwischen Bund und Kantonen. Hg. Martin Rotach, Delegiertier für Raumplanung. Bern 1TEC21, Fr., 2010.03.05
05. März 2010 Martina Koll-Schretzenmayr
Mehr Mut zum Eingriff
Die Bevölkerung wächst, die Wohnfläche pro Kopf nimmt zu, die Siedlungsfläche dehnt sich aus, die gefahrenen Distanzen werden länger. Dadurch wird der Raum enger, das Bauland knapper, intakte Landschaft seltener, die Artenvielfalt kleiner. Die Raumplanung hat bisher nicht zum gewünschten Ziel geführt. Um mehr Wirkung zu erzielen, muss sie politischer denken lernen und künftig mutiger auf Verhaltensänderungen abzielen.
Der Blick auf die heutige Schweiz zeigt es deutlich: Planerische Praxis, politische Realität und gesellschaftlicher Wandel haben nicht zum Ergebnis geführt, das sich die Raumplanung einst als Wunschziel gesetzt hat. Artikel 1 des Bundesgesetzes über die Raumplanung legt fest: «Bund, Kantone und Gemeinden sorgen dafür, dass der Boden haushälterisch genutzt wird. Sie stimmen ihre raumwirksamen Tätigkeiten aufeinander ab und verwirklichen eine auf die erwünschte Entwicklung des Landes ausgerichtete Ordnung der Besiedlung. Sie achten dabei auf die natürlichen Gegebenheiten sowie auf die Bedürfnisse von Bevölkerung und Wirtschaft.» Die aktuellen Diskussionen, ausgelöst unter anderem durch das Einreichen der Landschaftsinitiative, belegen diesen Befund und bringen Defizite zur Sprache. Diese gehen auf «Konstruktionsfehler» bei der Gesetzgebung vor 30 Jahren zurück und zeigen sich im Alltag bei der Umsetzung. Sie sind aber auch eine Folge der steigenden individuellen Ansprüche an den Lebensraum: geräumigeres Wohnen, flexible Arbeitsplätze, mehr Mobilität und attraktive Erholungsräume für die zunehmende Freizeit.
Wer sich mit unserem Lebensraum und der Raumplanung auseinandersetzt, kommt nicht umhin, Antworten zu suchen auf die Fragen, welche Kräfte in unserem Lebensraum wirken oder wirken werden und ihn massgeblich mitgestalten und welche räumliche Ordnung die Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung der Schweiz sein könnte. Raumplanungstheorie und Forschung liefern gute Ansätze für Antworten. Doch die räumliche Entwicklung ist eng mit der gesellschaftlichen verflochten. Deshalb braucht es auch Antworten auf die viel schwierigeren Fragen, welche Raumstrukturen im föderalistischen System Schweiz machbar sind und wie die Raumplanung als staatliche Aufgabe die individuellen Ansprüche an den Lebensraum lenken und sogar begrenzen kann.
Ein Blick zurück
1955 sorgte die kleine rote Broschüre «achtung: die schweiz» für landesweites Aufsehen. Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter schrieben darin: «Es geht einfach weiter, Serie um Serie, wie die Vergrösserung einer Kaninchenfarm. Fährt man weiter, zeigt sich, dass das schweizerische Mittelland aufgehört hat, eine Landschaft zu sein.»[1] 1979 legte das Raumplanungsgesetz Ziele und Verfahrensregeln für den Umgang mit unserem Lebens- und Wirtschaftsraum fest. Damit nahm die Raumplanung auf allen Staatsebenen die Arbeit auf. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass der Boden ein beschränktes, nicht vermehrbares Gut darstellt.
Doch auch im letzten Jahrzehnt betrug das Wachstum der überbauten Siedlungsgebiete in der Schweiz rund 13 %. Es lag damit deutlich über dem Bevölkerungswachstum von rund 9 %. Die Siedlungsflächen wachsen pro Kopf und Jahr um 1.5 m². Rund ein Drittel des Flächenzuwachses entfällt auf den Bau von Einfamilienhäusern. Der Anteil der Zweitwohnungen am Gesamtwohnungsbestand erreicht rund 12 %. Der Zuwachs an Zweitwohnungen beschränkt sich keineswegs auf die Tourismusgebiete; in Basel erreicht ihr Anteil bereits rund 8 %, in Zürich rund 6 %. Die Lebensweise ist offensichtlich entscheidender als die Anzahl Menschen.Mit der Zersiedelung und dem Siedlungswachstum in die Fläche geht die fortlaufende funktionale Entmischung von Wohnort, Arbeitsplatz, Einkaufsstandorten und Freizeitanlagen einher. Die heutige Siedlungsstruktur ist nur mit einem hohen Mobilitätsgrad der Bevölkerung und einer entsprechend ausgebauten Verkehrsinfrastruktur funktionsfähig. 81 % aller Haushalte der Schweiz verfügten 2005 über mindestens ein Auto, vor 30 Jahren waren es noch 70 %. 2005 hatten 31 % der Haushalte zwei oder mehr Autos, 1980 waren es erst 17 %.
Zwei Drittel aller Distanzen werden heute mit dem Auto zurückgelegt. Der Preis der hohen Mobilität im Bereich des motorisierten Individualverkehrs ist die Umweltbelastung: Ein Drittel der schweizerischen Wohnbevölkerung ist tagsüber einem Strassenlärm ausgesetzt, der das Wohlbefinden erheblich einschränkt. Hinzu kommen die Luftverschmutzung und der Landverbrauch.
Das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) forderte 2006 einen Bericht internationaler Experten zum Stand der Raumentwicklung und der Raumplanung Schweiz an.[2] Dort ist nachzulesen, dass die Zersiedelung mit ihren Folgeerscheinungen weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll sei und die Handlungsspielräume kommender Generationen einschränke. Die Entwicklung müsse deshalb zu einem grossen Teil über die Transformation des Bestandes bewältigt werden. Darin liegt eine zentrale Herausforderung für die weitere Raumentwicklung.
Die Zukunft als Massstab
Der Blick zurück genügt nicht. Massstab für die Raumplanung Schweiz ist die Zukunft. Die Schweizerbevölkerung wächst laufend. Wir nähern uns der 8-Millionen-Grenze. Die Wachstumsrate liegt heute bei rund 1 %. Das entspricht fast 80 000 zusätzlichen Einwohnenden pro Jahr. Würden sie konzentriert leben, entspräche das jährlich einer neuen Stadt in der Grösse von St. Gallen. Zur Erinnerung: 1962, als die Schweiz 5.5 Mio. Einwohnende zählte, stellte der St. Galler Professor Francesco Kneschaurek seine Studien zur Bevölkerungsentwicklung vor, seine Vision einer 10-Millionen-Schweiz, für die es Wohnraum und Infrastruktur bereitzustellen gelte. Dieser damalige Trend wurde der Planung als Ziel unterlegt. Von zentraler Bedeutung ist auch eine zweite Wachstumsrate: Die Schweizerinnen und Schweizer wohnen heute auf 49 m² pro Kopf – 1960 beanspruchten sie noch 22 m². In den Wohnungen breiten sich Wohnlandschaften aus, die Singlehaushalte nehmen zu, und der Individualismus mit seinen Ansprüchen wächst.
Gemeinden, Kantone, Bund
Die Träger der Raumplanung sind in der Schweiz die Gemeinden, die Kantone und der Bund. Die Raumplanung als öffentliche Aufgabe muss die raumwirksamen Tätigkeiten, vor allem die der Gemeinwesen aller Stufen, ständig aufeinander abstimmen. Dazu kommen weitere raumrelevante private Akteure wie die Ersteller von Einkaufszentren, Sport- und Freizeitanlagen.
Den über 2600 Schweizer Gemeinden obliegt es, im Rahmen der Nutzungsplanung Bauzonen auszuweisen, meist über Volksentscheide. Damit werden Art, Dimension und Ort der einzelnen Nutzungen grundeigentümerverbindlich festgelegt. Die Bauzonen bilden die Grundlage für das Erteilen der Baubewilligungen. Bisher ist bei dieser Art von Nutzungsplanung ein Übergewicht der Bodennutzungsplanung zu verzeichnen. Die Wirkungen auf benachbarte Nutzungen und die Verträglichkeit mit der Umwelt und dem Umfeld werden zu wenig berücksichtigt.
Den Kantonen kommt die Hauptverantwortung für die Raumplanung zu. Ihre Richtpläne zeigen den aktuellen Stand der Koordination im Hinblick auf die gewünschte räumliche Entwicklung. Sie geht von räumlichen Konflikten aus und sucht nach Lösungen. Doch dieses Steuerungspotenzial wird noch ungenügend eingesetzt, insbesondere zur Koordination raumwirksamer Aspekte der einzelnen Fachplanungen (Verkehrsplanung, Ver- und Entsorgung usw.). Der Bund erarbeitet Grundlagen, um seine raumwirksamen Aufgaben erfüllen zu können, erstellt die nötigen Konzepte und Sachpläne und stimmt sie aufeinander ab. Er arbeitet mit den Kantonen zusammen und gibt ihnen seine Konzepte, Sachpläne und Bauvorhaben rechtzeitig bekannt. Und er genehmigt die Richtpläne der Kantone.
Fehlerhafte Aufgabenteilung
Diese Aufgabenteilung ist in Anbetracht der Herausforderungen mit grundlegenden Konstruktionsfehlern behaftet:
1. Der Gesetzgeber hat die Macht von Gemeindehoheit und Gemeindeautonomie zu wenig beachtet. Die Gemeindegrenzen stellen ein wesentliches Hindernis für den Vollzug der flächendeckenden Raumentwicklung dar. In der heutigen Planungsrealität hat die kommunale Entwicklung erste Priorität. Sie wird mittels Ausweisung genügender und attraktiver Bauzonen umgesetzt – ohne Abstimmung mit den Nachbargemeinden. Die Kantone haben die Nutzungsplanung weitgehend den Gemeinden überlassen. Die Kombination von kommunaler Kompetenz zum Ausweisen von Bauzonen und kommunaler Steuerhoheit führt dazu, dass heute viele Bauzonen am falschen Ort liegen. Die kantonale Richtplanung hat es meist nicht geschafft, die Gemeinden zu einem regionalen oder kantonalen Denken zu bringen. Und es ist zu wenig gelungen, die Pläne und Wünsche der Gemeinden mit den Zielvorstellungen des Kantons in Übereinstimmung zu bringen. Als Folge davon gibt es zwar genug Bauzonen für eine Entwicklung, aber sie liegen am falschen Ort.
2. Die Kantone – als Hauptverantwortliche der Raumplanung – sind zu schwach. Das Defizit liegt nicht bei den Instrumenten (insbesondere der Richtplan ist ein wesentlicher Bestandteil im Gefüge der Führungsinstrumente, da er einen klaren Orientierungsrahmen für die kantonale Raumentwicklung schafft), sondern vielmehr bei den Politikerinnen und Politikern. Die Gemeinden ans Gängelband zu nehmen, ist in den kantonalen Parlamenten nicht beliebt. Die Mitglieder kantonaler Regierungen und Parlamente verstehen sich in erster Linie als Vertreter einer Gemeinde oder Region und weniger als Verantwortliche für den gesamten Kanton. Dazu kommen die leidenschaftliche Uneinigkeit der Politik bei Eingriffen ins Grundeigentum und in die individuellen Freiheiten sowie ihre häufigen Schwierigkeiten beim Umgang mit langen und komplexen Prozessen.
Vor diesem Hintergrund gehen viele Kantone die Richtplanung zu technisch, zu bürokratisch und zu wenig strategisch und problemorientiert an. Planen in funktionalen, die Gemeindegrenzen überschreitenden Räumen hat noch kaum Fuss gefasst. Ein klares Defizit liegt auch darin, dass sich die Richtpläne nicht präzise genug zur Siedlungsentwicklung äussern. Auch Aspekte der sehr raumrelevanten Steuerpolitik finden sich in den Richtplänen nicht. Der Bund wird diesbezüglich seine Genehmigungspraxis ändern müssen.
3. Auf Bundesebene fehlt eine Grundlage für eine gesamtheitliche Sicht der Raumentwicklung Schweiz: eine Auslegeordnung, die als Basis zur Koordination der einzelnen Sachplanungen dienen könnte. Zudem muss sich der Bund den Vorwurf gefallen lassen, seine Sachpläne, insbesondere in den sehr raumwirksamen Bereichen Verkehr und Luftfahrt, zu spät, zu wenig koordiniert und zu wenig zielgerichtet erarbeitet zu haben.
Im Raumplanungsalltag ist auch immer wieder festzustellen, wie schwach das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) ist, insbesondere bei der zwingend notwendigen Koordination der verschiedenen Bundesämter. Dazu kommt, dass die Raumplanung über wenig Geld verfügt. Ein gutes Beispiel dafür, wie trotzdem grenzüberschreitende Planungen in Gang gesetzt werden können, bildeten die Modellvorhaben des Bundes.[3] Auch die Agglomerationsprogramme sind ein guter Ansatz – trotz fehlender Klarheit und fehlenden Finanzmitteln.
Verkehr - der heimliche Raumplaner
Die heute als Zersiedlung angeprangerte Entwicklung ist das Ergebnis der Nachfrage nach Boden, diese ist ihrerseits die Folge der Infrastrukturplanung und -realisierung. Das Zusammenspiel zwischen Verkehrsinfrastruktur und Bevölkerungsentwicklung mit ihren Auswirkungen auf den Raum zeigt sich etwa am Beispiel des Kantons Aargau.[4] Der bestens erschlossene Kanton konnte kürzlich den 600 000. Einwohnenden willkommen heissen; Prognosen gehen von bis zu 740 000 im Jahr 2035 aus. Das bedeutet, dass 6 Mio. zusätzliche Quadratmeter Wohnfläche benötigt werden. Auffallend, aber nicht überraschend ist dabei, dass die Bevölkerungsentwicklung vorwiegend in ruhigeren Räumen mit guter Verkehrserschliessung stattfindet – diese Kombination macht einen guten Wohnstandort aus.
Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum führen zu kritischen Engpässen: Schiene wie Strasse stossen zunehmend an ihre Kapazitätsgrenzen. Dadurch nehmen die Erreichbarkeit und damit die Standortattraktivität ab. Es entsteht eine wachsende Spannung zwischen Siedlungsentwicklung, Wirtschaftsentwicklung, Verkehrsentwicklung und Standortattraktivität – keine leichte Aufgabe in Anbetracht der grossen Gemeindeautonomie.
Vor diesem Hintergrund sind neue Raumentwicklungsstrategien gefragt: tangenziale Verbindungen wie die Glatttalbahn, um die Agglomeration zu verdichten (dafür dürfen die S-Bahn-Netze räumlich nicht weiter ausgedehnt werden) oder Konzentration der Siedlungsentwicklung: eine neue Stadt im Kanton Aargau an einem Standort mit hervorragender Anbindung an den öffentlichen Verkehr. Nur mit solch mutigen – und dem bisherigen Planungssystem noch fremden – Ansätzen kann das Ziel der Raumordnung erreicht werden, verbunden mit massiven und zeitgerechten Investitionen in die Verkehrssysteme. In dieser Richtung gibt es bereits gute Ansätze.[5]
Mehr Mut, Politikverständnis und ein Paradigmenwechsel
Die Raumplanung muss die Zukunftsprobleme unseres Lebensraums lösen. Was kann sie tun? Das Bevölkerungswachstum, das heisst die Einwanderung stoppen? Zur Mässigung und zum Verzichten aufrufen? Die bestehenden Siedlungen an sehr gut erschlossenen Standorten verdichten? Neue Städte bauen? Die Aufgabenteilung in der Raumplanung ändern? In den letzten Jahren ist der Mut zu Visionen – offenbar im Gleichschritt mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten – einem überstarken Pragmatismus gewichen. Selbstverständlich muss das Machbare ein wesentlicher Bestandteil der räumlichen Planung sein. Zu beklagen ist aber das Fehlen von Mut als treibende Kraft. Im letzten Jahrhundert mit seinem Fortschrittsglauben haben Fachleute immer wieder mutige Ideen zur Diskussion gestellt.[6] Die Raumplanung ist zunehmend auf den politischen Gestaltungswillen angewiesen. Sie muss deshalb das politische System kennen und erfordert Eindenken in die politischen Prozesse und Abläufe. Bei Studierenden und Mitarbeitenden in den Raumplanungsämtern ist aber gerade in diesem Bereich schwindendes Interesse festzustellen und – damit zusammenhängend – auch das Fehlen überzeugender Argumentation, von Engagement und Leidenschaft. Dafür trifft man auf Flucht in Formalismus und Routine.
Die Zukunftsprobleme unseres Lebensraumes sind mit den Instrumenten der Raumplanung zu lösen. Dafür muss es aber zu einem Paradigmenwechsel kommen: Raumplanung darf sich nicht länger auf das Festlegen von Nutzungsflächen beschränken, sondern muss dazu beitragen, die raumwirksamen Aktivitäten zu koordinieren und dabei Möglichkeiten berücksichtigen, wie die Verhaltensweisen der Menschen gesteuert werden können. Heute stehen dafür nur rudimentäre Mittel zur Verfügung. In Anbetracht der Herausforderungen wird dies noch zu wenig ernsthaft diskutiert. Zur Entwicklung von intelligenten und akzeptierten Lösungen braucht es eine viel grosszügigere geistige Welt – und eine erfolgreiche Raumplanung. Denn der Raumplanung kommt nur dann eine Schlüsselrolle zu, wenn es ihr gelingt, Handlungen zu bewirken.
Anmerkungen:
[01] Max Frisch, Lucius Burckhardt, Markus Kutter: achtung: die schweiz. Zürich, 1955
[02] Raumplanung und Raumentwicklung Schweiz. Bericht der internationalen Expertengruppe, Zürich, 2008
[03] www.are.admin.ch
[04] Peter C. Beyeler: «Verkehrsinfrastrukturen im Aargau: Wie stark hinkt die Projektrealisierung den Bedürfnissen hinterher?», in: Planen und Bauen von Infrastrukturen: Geht’s auch schneller? Dokumentation zur Infra-Tagung vom 21. Januar 2010, S. 25–33
[05] Nicole Wirz: «Bauen am richtigen Ort», in: TEC21 7/2010, S. 49
06] Walter Schiesser: «Die Sixties und die Lust am Fabulieren», in: NZZ Folio 02/1994TEC21, Fr., 2010.03.05
05. März 2010 Hans-Georg Bächtold