Editorial

Vor sechs Jahren thematisierte TEC21 in «Bionik – Von der Natur lernen» (TEC21 38/2003) erstmals diesen neuen Forschungszweig. Wir setzten uns kritisch mit der noch wenig bekannten Disziplin auseinander und stellten seinerzeitige Entwicklungsschwerpunkte und frühe praktische Anwendungen bionischer Prinzipien vor. Als aussichtsreiche Entwicklungen galten unter anderen selbstreinigende Oberflächen (Lotus-Effekt) und die natürliche Klimaregulierung von Gebäuden. Den Ergebnissen der damaligen Bionikprojekte war ihre Anlehnung an natürliche Vorbilder wie Pflanzenblätter oder Wespennester noch deutlich anzusehen.

Wie steht es heute, sechs Jahre später, um die Bionik? Eine «bionische Revolution», die unser Leben grundlegend verändert, hat in dieser Zeitspanne jedenfalls nicht stattgefunden. Die Resultate jahrelanger Forschung und Entwicklung können sich aber durchaus sehen lassen: Diverse Produkte und Techniken, insbesondere im Bereich des Oberflächenschutzes, haben den Weg in die Praxis gefunden, andere hoffnungsvolle Entwicklungen stehen kurz vor der Markteinführung, und gleichzeitig dringt die bionische Grundlagenforschung immer tiefer in die Mikro- und Nanostrukturen natürlicher Werkstoffe und Systeme vor.

Das vorliegende Heft ist eine Momentaufnahme einiger Entwicklungsrichtungen dieser sich rasch wandelnden Wissenschaft. Eine Auslegeordnung des aktuellen Standes der bionischen Forschung und Entwicklung zeigt das Spektrum von selbstreparierenden Materialien bis zu biegsamen Tragkonstruktionen für Gebäude (S. 22ff.). Der anschliessende Beitrag geht vertieft auf bionische Entwicklungen von textilen Geweben und ihrer Oberflächeneigenschaften ein und knüpft damit an die selbstreinigenden Oberflächen an.

Lernen lässt sich von der Natur auch in den Bereichen Kommunikation und Organisation vieler gleichartiger Individuen.
Schwarmintelligenz, bei Fischen, Vögeln und Insekten hoch entwickelt, ist auch zwischen Computern in Automobilen denkbar. Der Beitrag «Lebensähnliche Computersysteme» zeigt, wie sich damit beispielsweise Verkehrsstaus vermeiden lassen.

Schliesslich werden konkrete Anwendungen bionischer Materialien und Prinzipien für die Herstellung innovativer Fluggeräte vorgestellt (S. 34ff.). Neben wirkungsvollen und leichten künstlichen Muskeln ist für das Funktionieren dieser Konzepte die Adaption natürlicher Bewegungsabläufe entscheidend.

Angesichts der heute dringenden Suche nach nachhaltigen Lösungen ist das grosse Potenzial der Natur als Vorbild noch lange nicht ausgeschöpft. Die Redaktion freut sich darauf, bald über weitere Lernfortschritte der Technik berichten zu können.
Aldo Rota

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Bäderquartier Baden | «Gecko: Think forward»-Award

12 MAGAZIN
Wachsender Turm | Ozon gegen Verunreinigungen | El cable ingles | «Ti fan vedere ciò che non vedi»

18 PERSÖNLICH
Thomas Paulay 1923–2009 | Francesca Ferguson verlässt das S AM

22 BIONISCHE INNOVATIONEN
Thomas Speck, Olga Speck
Vorgestellt werden aktuelle bionische Entwicklungen in den Bereichen Ober- & Grenzflächen, Leichtbau & Materialien sowie Architektur & Design.

26 TECHNISCHE TEXTILIEN
Thomas Stegmaier, Heinrich Planck
Technische Textilien eignen sich besonders gut für bionische Entwicklungen, wie dieser Überblick über neue Produkte zeigt.

31 LEBENSÄHNLICHE COMPUTERSYSTEME
Stefan Fischer, Axel Wegener
Computersysteme, die sich selbst organisieren, optimieren oder «heilen», sind zum Beispiel zur Steuerung des Strassenverkehrs einsetzbar.

34 FLIEGEN MIT FORELLEN UND DRACHEN
Rolf Luchsinger, Silvain Michel
Auch in einem hochentwickelten Gebiet wie der Aviatik kann die Natur nach wie vor neue Ideen liefern, wie zwei aktuelle Beispiele zeigen.

38 SIA
Zwischenbericht Tragwerkserhaltung | Über den Tellerrand hinausblicken | Direktionsklausur II | Ja zum 3. Konjunkturförderungspaket | Führungskompetenzen gefragt

45 PRODUKTE

53 IMPRESSUM

54 VERANSTALTUNGEN

Bionische Innovationen

Die verstärkte Suche nach innovativen und nachhaltigen Technikkonzepten hat in den letzten zehn Jahren zu einem grossen Aufschwung der Bionik sowohl im Forschungs- als auch im Anwendungsbereich geführt. Vielversprechend sind unter anderem Entwicklungen in den Bereichen Ober- & Grenzflächen, Leichtbau & Materialien sowie Architektur & Design, von denen die wichtigsten im Folgenden vorgestellt werden.

Der Begriff Bionik setzt sich aus den Worten Biologie und Technik zusammen und steht für das kreative Übertragen von Wissen und Anregungen aus der Biologie in die Technik. Dieser Prozess verläuft ausgehend vom biologischen Vorbild in der Regel über mehrere Abstraktions- und Modifikationsschritte: Analyse des biologischen Vorbilds – Prinzipverständnis – Abstraktion – technische Umsetzung (Konzeption, Demonstrator, Prototyp) – Markteinführung.[1,2]

Dabei ist Bionik eine sehr transdisziplinäre Wissenschaft, in der Naturwissenschafter mit Ingenieuren, Architekten und Designern zusammenarbeiten. Bei bionischen Forschungs- und Entwicklungsprojekten lassen sich zwei prinzipielle Vorgehensweisen unterscheiden: Beim Bottom-up-Prozess (Biology Push) steht die für eine technische Umsetzung interessante Entdeckung aus der Biologie am Anfang des Projekts. Beim Top-down-Prozess (Technology Pull) ist die Fragestellung nach einer gezielten bionischen Verbesserung von Seiten der Technik bzw. Industrie der Ausgangspunkt. Heute werden in der Bionik meist sieben Teilbereiche unterschieden [1,2,6]:
1. Fluiddynamik, Schwimmen & Fliegen
2. Biomechatronik & Robotik
3. Optimierung 4. Leichtbau & Materialien
5. Oberflächen & Grenzflächen
6. Kommunikation & Sensorik
7. Architektur & Design.

Während es sich bei den ersten drei Bereichen um «traditionelle» Themen der Bionik handelt, haben sich in den letzten Jahren vor allem auch die übrigen Bereiche als sehr innovative und anwendungsrelevante Gebiete für die bionische Forschung und Entwicklung erwiesen.[2–4]

Molekulare und Energiebionik

Aufgrund der sehr dynamischen Struktur der bionischen Forschungslandschaft sind die Übergänge zwischen den Teilbereichen fliessend, und es bilden sich immer wieder neue Forschungsrichtungen heraus. Zu nennen sind hier beispielsweise die Energie- und die molekulare Bionik, die sich gerade in den letzen beiden Jahren als Vielversprechend erwiesen haben und in vielfältiger Weise mit den sieben etablierten Teilbereichen vernetzt sind. Molekulare Bionik beschäftigt sich mit der Übertragung molekularer Strukturen und Funktionsweisen aus der Biologie in bionische Materialien, wobei eng mit der makromolekularen Chemie und Physik Zusammengearbeitet wird. Die Energiebionik erforscht die Möglichkeiten zur Übertragung der Prinzipien des hocheffizienten Energiehaushalts biologischer Vorbilder in technische Anwendungen. Hierbei erstreckt sich die Spannweite von bionischen Energiekonzepten für Gebäude bis zur molekularen Umsetzung in energieautonome Materialien.

Selbstreparierende Systeme

Im Bereich Leichtbau & Materialien haben sich in den letzten Jahren unter anderem die sogenannten «Selbst-X-Materialien» als Entwicklungen mit hohem Innovations- und Anwendungspotenzial erwiesen. Darunter fasst man Materialien zusammen, die ähnlich wie ihre biologischen Vorbilder selbstständig auf veränderliche Umwelteinflüsse reagieren können, d. h. selbstadaptiv sind oder über andere biologisch inspirierte Eigenschaften verfügen wie Selbstreinigung, Selbstreparatur, Selbsterneuerung, Selbstreplikation, Wachstum durch Selbstorganisation oder über eine autonome Energieversorgung. Ein aktuelles Forschungsfeld ist die Entwicklung selbstreparierender technischer Materialien nach dem Vorbild der Natur.[5] In der Plant Biomechanics Group (PBMG) Freiburg werden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Projektpartnern zwei Forschungsprojekte zu diesem Thema bearbeitet. Das erste Projekt beschäftigt sich mit der Entwicklung bionischer Selbstreparaturkonzepte nach dem Vorbild wundversiegelnder pflanzlicher Latex- und Harzsysteme für Polymerwerkstoffe, die in (mechanisch hochbelasteten) Dichtungen und Schwingungsdämpfern eingesetzt werden sollen. Die Idee ist, dass ähnlich wie beim biologischen Vorbild bei der Entstehung von Mikrorissen zwei chemische Komponenten, die in Mikrokapseln oder -röhren im Material eingebettet sind, im Bereich des Risses freigesetzt werden und polymerisieren. Hierdurch wird eine weitere Rissausbreitung unterbunden und der Riss repariert (Abb. 4).

Das zweite, in Kooperation mit der Empa Dübendorf und dem Freiburger Materialforschungs­zentrum durchgeführte Projekt hat die Entwicklung selbstreparierender bionischer Membranen für pneumatische Systeme (z. B. Tensairity-Strukturen, vgl. «Fliegen mit Forellen und Drachen», S. 34ff.) zum Thema. Vorbild sind hierbei zelluläre Selbstreparatursysteme, wie sie bei vielen Pflanzen nach inneren Spannungsrissen durch Wachstumsprozesse oder nach äusseren Verletzungen aktiviert werden. Hierbei quellen aufgrund des Innendrucks Zellen in die Risse und versiegeln diese (Abb. 1). In späteren Phasen der Selbstreparatur, wie sie bei Lianen der Gattung Aristolochia exemplarisch beobachtet werden können, teilen sich die Reparaturzellen, kleiden den Riss vollständig aus und können letztlich sogar dickwandig werden und verholzen und somit zusätzlich zur Rissversiegelung die mechanischen Eigenschaften des reparierten Gewebes wiederherstellen. Basierend auf den biologischen Vorbildern wurde durch geschlossenporige Schäume, die unter Überdruck auspolymerisiert werden, eine bionische, selbstreparierende Beschichtung entwickelt und patentiert, die den Luftausstrom bei Verletzungen bis 5 mm Durchmesser um 2 bis 3 Grössenordnungen verlangsamen kann.[5] Ziel der aktuellen Forschungen ist es, eine vollständige Abdichtung und die Wiederherstellung der mechanischen Eigenschaften der Membran durch den bionischen Selbstreparaturschaum zu erreichen.

«Hierarchische» Materialien

Vielversprechende Entwicklungen im Bereich Leichtbau & Materialien laufen auch im Bereich der «hierarchischen» Materialien. Als Vorbilder dafür nutzt man biologische Materia­lien, die typischerweise auf mehreren hierarchischen Grössenskalen, die von der molekularen Ebene bis zum makroskopischen Aufbau reichen, strukturiert und funktionalisiert sind. Spezifische Funktionen können entweder auf einer einzelnen Hierarchiebene oder mehrere Ebenen übergreifend erreicht werden. Mit der hierarchischen Materialstrukturierung wie zum Beispiel der Entwicklung bionischer Materialien, bei denen die verschiedenen Komponenten durch allmähliche strukturelle und mechanische Übergänge verbunden sind, befassen sich auch mehrere aktuelle Projekte in der PBMG Freiburg. Dabei geht es um die Entwicklung struktur- und gewichts­optimierter, verzweigter und unverzweigter bionischer Faserverbunde mit allmählichem Steifigkeitsübergang zwischen Fasern und Matrix, die in Kooperation mit verschiedenen Projektpartnern durchgeführt wird (Abb. 2) (vgl. «Technische Textilien», S. 26ff.). Ziel ist es, dauerhaft hoch belastbare, stark dämpfende bionische Materialien mit einem gutmütigen Bruchverhalten zu entwickeln.

Haft- und Antihaft-Oberflächen

Im Bereich Grenz- und Oberflächen sind neben den für bionische Materialien wichtigen inneren Grenzflächen vor allem auch die äusseren Oberflächen und deren Funktionalisierung nach dem Vorbild der Natur ein interessanter Forschungsbereich. Zwei der wichtigsten Entwicklungen der modernen Bionik stammen aus diesem Themenbereich: die nach dem Vorbild von Pflanzenblättern entwickelten selbstreinigenden Oberflächen (Lotus-Effekt, vgl. TEC21 38/2003) und die der Schuppenstruktur der Haihaut nachempfundenen reibungsvermindernden Oberflächen (Riblettstrukturen, vgl. äusseres Titelbild).[4,6] Obwohl beide bioni­schen Entwicklungen bereits in den 1980er- bzw. 1990er-Jahren begonnen wurden, wird auch heute noch intensiv zu dieser Thematik geforscht, wobei vor allem die Übertragung auf verschiedene technische Materialien im Vordergrund steht (vgl. «Technische Textilien», S 26ff.).

Weitere Forschungsrichtungen im Bereich Grenzflächen- und Oberflächen beschäftigen sich mit der Entwicklung biologisch inspirierter Haft- und Antihaftstrukturen. Vorbilder für reversible bionische Haftstrukturen sind die Anhaftungssysteme der Füsse von Geckos (vgl. inneres Titelbild), Baumfröschen, Spinnen und Insekten. Für permanente bionische Haft­systeme werden die Haftstrukturen von Pflanzen (z. B. Haftpads des Wilden Weins [Abb. 3], Haftwurzeln von Efeu) als biologische Vorbilder genutzt.[4, 6] Für bionische Antihaftoberflächen wird vor allem die Interaktion zwischen Insekten und Pflanzenoberflächen, auf denen Insekten schlecht oder gar nicht laufen können, untersucht. Weitere aktuelle Forschungsschwerpunkte sind Antifouling-Beschichtungen nach dem Vorbild der Haut von Meereslebewesen, die einen Bewuchs von Schiffen mit Seepocken und anderen Meereslebewesen verhindern[6], und die Entwicklung von Oberflächen, die unter Wasser langfristig eine Luftschicht halten können, wie man sie z. B. bei Wasserspinnen und Schwimmfarnen findet. Solche Strukturen können beispielsweise als reibungsvermindernde Oberflächen bei Schiffsrümpfen oder für die Herstellung trocken bleibender Badekleidung eingesetzt werden [4, 6].

Biegsame Flächentragwerke

Unter den oben aufgeführten, aktuell sehr intensiv bearbeiteten Teilbereichen der Bionik nimmt die Architektur eine gewisse Sonderstellung ein. Sie kann nicht nur von originär architekturbionischen Entwicklungen wie biegsamen Flächentragwerken (siehe unten) oder bionischen Lüftungssystemen profitieren, sondern zudem viele Entwicklungen aus anderen Teilbereichen der Bionik wie Leichtbau & Materialien, Oberflächen & Grenz­flächen, Optimierung sowie Sensor- und Energiebionik nutzen. Diese liefern vielfältige innovative Ideen und Produkte, die im Bauwesen zum Einsatz kommen können. Ein weiterer Vorteil, den der Einsatz der Bionik im Bauwesen bietet, ist die Tatsache, dass Gebäude in der Regel Unikate darstellen. In diesen können bionische Entwicklungen sozusagen auf der Ebene eines Prototyps, aber dennoch mit voller Kundennutzung umgesetzt und im Dauer­betrieb untersucht werden.

Ein aktuelles bionisches Forschungsprojekt im Bereich Architektur befasst sich mit biegsamen Flächentragwerken. Durchgeführt wird das Projekt vom Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen der Universität Stuttgart in Kooperation mit der PBMG Freiburg. Biologische Bewegungsmechanismen – vor allem bei Pflanzen und wirbellosen Tieren – beruhen häufig auf der Nachgiebigkeit ihrer Komponenten und zeichnen sich durch Robustheit, d. h. geringe Störungsanfälligkeit des Systems, energieeffiziente Kinematik und spar­samen Umgang mit Materialien aus. Im Forschungsprojekt soll ausgehend von der Identifikation und der Analyse der biologischen Vorbilder (z. B. sich entfaltende oder einfaltende Blüten- und Blattstrukturen) die Umsetzung in eine architektonische Lösung durchgeführt werden. Ziel des Vorhabens ist es, wandelbare Konstruktionen mit adaptiver Steifigkeit für Architektur und Bauwesen zu entwickeln, deren bionische Kinematik auf der reversiblen Verformung ihrer in der Steifigkeit anpassungsfähigen Komponenten auf der Basis neu­artiger Verbundwerkstoffe beruht. Vorteil dieser Konstruktionsweise gegenüber konventionellen Systemen ist die Vielfalt der statisch stabilen Verformungszustände, wodurch sie sich flexibler an verschiedene Nutzungsbedingungen anpassen können und neue bionische Ansätze für Fassadenverschattungen und Überdachungen liefern.[7]


[Thomas Speck, Prof. Dr., Lehrstuhl für Botanik: Funktionelle Morphologie und Bionik, Plant Biomechanics Group (PBMG), Botanischer Garten der Universität Freiburg, Deutschland, Sprecher des Kompetenznetzes Biomimetik und Vicepresident BIOKON international, Wissenschaftliches Mitglied im Freiburger Materialforschungszentrum (FMF)
Olga Speck, Dr., Managerin des Kompetenznetzes Biomimetik, Plant Biomechanics Group (PBMG), Botanischer Garten der Universität Freiburg, Deutschland]

Anmerkungen:
[01] Speck, T., und Speck, O.: Bionik – Innovative Wege zu neuen Materialien und Technologien, 2008. – MB-Revue-Maschinenbau: Das Schweizer Industriemagazin, Jahreshauptausgabe 2008, S. 104–108 [02] Speck, T., und Speck, O.: Process sequences in biomimetic research, 2008. – In: Brebbia, C.A. (ed.), Design and Nature IV, p. 3–11. WIT Press, Southampton
[03] Fratzl, P.: Biomimetic materials research – What can we really learn from Nature’s structural materials? 2007. – J. Roy. Soc. Interface, 4, p. 637–642
[04] Bhushan, B. (ed.): Biomimetics I: functional biosurfaces and Biomimetics II: fabrication and application, 2009. – Phil. Trans. R. Soc. Lond. A, 367, 1443–1813
[05] Speck, T., Luchsinger, R., Busch, S., Rüggeberg, M., und Speck, O.: Self-healing processes in nature and engineering: self-repairing biomimetic membranes for pneumatic structures, 2006 – In: Brebbia, C.A. (ed.), Design and Nature III, p. 105–114. WIT Press, Southampton
[06] Spektrum Bionik – Vorbild Natur in Leben und Technik. Wissen Media Verlag (Bertelsmann), Gütersloh
[07] Lienhard, J., Poppinga, S., Schleicher, S., Masselter, T., Speck, T., und Knippers, J.: Abstraction of plant movements for deployable structures, 2009. – Thiebaut, B. (ed.), Proceedings of the 6th International Plant Biomechanics Conference Cayenne, in press

TEC21, Fr., 2009.09.11

11. September 2009 Thomas Speck, Olga Speck

Technische Textilien

Technische Textilien eignen sich besonders gut für bionische Entwicklungen. Eine der bekanntesten ist der Klettverschluss. Für neuere Entwicklungen stehen beispielsweise der Flüssigkeitstransport in Lianen oder die lichttechnischen Eigenschaften des Eisbärenfells Pate.

Das Prinzip des Klettverschlusses entdeckte der Schweizer George de Mestral 1948: Wenn er mit seinem Hund von der Jagd zurückkam, waren beide voller Kletten. Unter dem Mikroskop erkannte er den Haltemechanismus der Klettfrucht und baute ihn unter Einsatz der damals ganz neuen Polyamidfasern nach.
Die textilen Verfahrenstechniken bieten von Haus aus ein gutes Potenzial für bionische Entwicklungen:
– Analog den Wachstumsprozessen in der Natur mit Atomen und Molekülen als Bausteinen werden in der Textiltechnik ausgehend von kleinen und kleinsten Fasern grössere Systeme geschaffen. Gegenüber den in der Technik oft eingesetzten Prozessen wie der Herstellung grosser Halbzeuge (z.B. Stahlplatten), deren anschliessender Zerkleinerung (z.B. Schneiden, Bohren, Drehen, Fräsen) und dem folgenden Zusammenbau (z. B. Maschinenmontage) sind sie energiearm und materialschonend.
– Faserige und haarige Strukturen sind bei Pflanzen und Tieren in mannigfacher Weise ausgebildet. Haare finden sich an Blattober- und -unterseiten, an Füssen und Köpfen von Insekten, als Dicht- und Gleitelemente zwischen Hartschalen von Insekten, im Gefieder von Vögeln, im Pelz von Tieren und in Fadenform auch bei Spinnennetzen. Sie sind die Basis für viele Funktionen und Mechanismen, die wir bislang nur zum Teil verstanden haben.
– Auch faserverstärkte Materialien gibt es in der Natur in vielen Facetten und Formen. Faserverbundwerkstoffe finden sich in weicher und harter Ausbildung in Knochen, Pflanzenhalmen, Blättern und Oberflächen. Sie bestehen aus organischen und anorganischen Elementen und sind die Grundlage von hochbelastbaren und gleichzeitig leichten und materialarmen Strukturen.

Selbstreinigende Oberflächen

Oberflächen von Pflanzen und auch von einigen Tieren zeigen erstaunliche selbstreinigende Eigenschaften, indem abfliessende Wassertropfen sowohl aufliegenden Schmutz als auch Bakterien und Pilze mitnehmen. Bekannt ist dieses Phänomen als Lotus-Effekt. Für eine funktionierende technische Umsetzung, wie sie beim Lotus-Effekt in den letzten Jahren gelang, sind einige Rahmenbedingungen zu beachten. Sie gehen – wie bei vielen guten bionischen Entwicklungen – weit über eine reine Kopie des natürlichen Vorbildes hinaus:
– Die Natur generiert die Selbstreinigung mit zwei topografischen Hierarchieebenen: Mikrostrukturen im Bereich von 10 bis 50µm und Nanostrukuren im Bereich von 20 bis 200nm. Bei textilen Werkstoffen können diese beiden Hierarchieebenen durch die Einzel­faserdimension und eine nanotechnologische Ausrüstung, die auf den Fasern eine Strukturierung auf der Nanometerebene erzielt, gebildet werden. Zusätzlich unterstützt jedoch eine Makrostruktur im Bereich von 20 bis 200 µm die Selbstreinigung durch die Hierarchieebene der textilen Flächenbildung, beispielsweise beim Weben durch die Bindungstechnik von Kett- und Schussfäden. Selbstreinigende Oberflächen gelingen besonders gut mit Endlosgarnen, den sogenannten Multifilamenten.
– Kombiniert wird die Rauigkeit mit hydrophoben Oberflächen. Entgegen den Oberflächen von Blättern müssen sich die meisten technischen Oberflächen aber auch von Ölen und Fetten reinigen lassen. Somit genügen in der Technik nicht allein Wachse, wie sie die Natur einsetzt, sondern sind vielmehr Beschichtungen notwendig, die ölabweisend wirken. Dies wird in der Technik mit Hilfe von Fluorcarbonen erzielt.
– Die technischen Materialien müssen ausserdem länger halten als viele Materialien in der Natur, die sich erneuern, seien es Pflanzenblätter oder nachwachsende Haare im Pelz von Tieren. Entsprechend ist im Aussenbereich auf UV-resistente Werkstoffe zu achten.
– Auch die Abrasionsbeständigkeit muss in der Technik höheren Anforderungen genügen, zumal bei den technischen Materialien noch keine Selbsterneuerung von Oberflächen wie bei den natürlichen Vorbildern entwickelt werden konnte.

Im Textilbereich sind erste Produkte mit Lotus-Effekt auf dem Markt erhältlich (Abb. 1, 2).[1] Entsprechend dem guten Entwicklungsstand hat das Institut für Textil- und Verfahrenstechnik (ITV) Denkendorf ein Qualitätszeichen für selbstreinigende Textilien auf der Basis des Lotus-Effektes erstellt, das für Produkte vergeben werden kann, die die strengen Prüfungen erfolgreich bestehen. Eine der Voraussetzungen ist die Reinigung von russ- und ölhaltigem Schmutz, der leicht in die Oberfläche eingerieben wird, allein mit Wasser.

Eines der ersten Produkte, die das Qualitätszeichen tragen dürfen, sind Markisen eines deutschen Herstellers. Sie sind entgegen den bisherigen Geweben nicht mit Spinnfasergarnen, sondern mit Multifilamenten in Kombination mit einer witterungsbeständigen und ausreichend abriebbeständigen, nanostrukturierten Ausrüstung entwickelt. Zurzeit arbeitet das ITV Denkendorf mit der Industrie an der Übertragung der Selbstreinigung auf beschichtete Gewebe (Membranen) für Bauanwendungen, z.B. für die Dächer von Stadien, Flughäfen oder Bahnhöfen.

Flüssigkeitstransport ohne Pumpen

Weitere Entwicklungen betreffen den Transport von Niederviskosen Flüssigkeiten mit faserbasierten Systemen ohne Pumpen. Biologische Vorbilder hierfür sind Bäume und insbesondere Lianen, die in der Lage sind, Wasser über grosse Höhen und weite Entfernungen ohne mechanische Pumpsysteme zu transportieren. Die benötigte Energie wird hierbei letztlich durch die Sonne über den Transpirationssog geliefert. Für eine Umsetzung in textile Materialien sind neben der Tatsache, dass kein aktiver Pumpmechanismus vorliegt, vor allem folgende Eigenschaften von Interesse:
– Das Transportvolumen regelt sich ausschliesslich nach dem Bedarf, d.h. es wird genau so viel Wasser transportiert, wie für den Stoffwechsel der Pflanzen benötigt wird.
– In den Pflanzen ist eine hohe Transportsicherheit durch Vermeidung und Reparatur von Embolien realisiert. Aufgrund des hohen negativen Innendrucks, der in den wasserleitenden Zellen herrscht, besteht die Gefahr, dass bei Verletzungen z.B. durch Astbrüche oder Frostrisse Gasblasen entstehen. Clevere Mechanismen der Pflanzen machen solche Embolien unschädlich, damit der Wasserfaden und somit der Wassertransport nicht unterbrochen werden. Diese Mechanismen sind mit Hilfe von Transportkapillaren realisiert, die in der Länge auf wenige Zentimeter begrenzt sind und das Wasser über Membranschleusen an die nächste Kapillare weitergeben. Gasblasen werden damit eingeschlossen und isoliert, möglicherweise auch zusätzlich durch Diffusionsprozesse eliminiert. Die biologischen Studien werden hierzu in naher Zukunft noch einige Geheimnisse lüften.

Die technische Realisierung ist noch in der Grundlagenforschung. Jedoch sind die Anwendungsmöglichkeiten enorm. Einsatzbereiche für bionisch inspirierte Textilien für den Flüssigkeits(fern)transport sind beispielsweise unterirdische Bewässerungssysteme ohne aktiven Pumpmechanismus mit sparsamer, bedarfsregulierter Wasserabgabe für die Bewässerung von Pflanzen. Am ITV Denkendorf gelingt der Transport mit speziellen Fasermaterialien aktuell über 1.5 m Förderhöhe. In weiteren Grundlagenstudien sind bereits Förderhöhen über 17 m realisiert.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten für dieses neue Prinzip finden sich in Bereichen, in denen grössere Mengen an Flüssigkeit über einen längeren Zeitraum abtransportiert werden müssen. Solche Bereiche sind die Drainage von Bauwerken, medizinische und Bekleidungstextilien sowie Brennstoffzellen.

Trinkwassergewinnung durch Nebelernte

Die Bereitstellung von Trinkwasser ist eine der grossen Herausforderungen der Zukunft. Auch hier liefert die Natur Ideen zur Gewinnung von Wasser aus der Luft, was insbesondere in extremen Wüstengebieten zu finden ist. Aktuell lernt das ITV Denkendorf – in Kooperation mit der Universität Tübingen – vom Wüstenkäfer Onymacris unguicularis (Abb. 3) und vom Dünengras Stipagrostis sabulicola die Details der Nebeltröpfchenabscheidung aus der Luft. Die inzwischen entwickelten Textilstrukturen[2] ermöglichen einen sehr guten Kompromiss aus:
– mechanischer Beständigkeit gegen starke Winde und Stürme
– hoher Luftdurchlässigkeit für einen guten Nebeldurchsatz
– sehr hoher Nebelabscheidung, die über dem 3- bis 4fachen von üblichen Textilnetzen liegt (Abb. 4).

Im Moment laufen Feldversuche in der Wüste Namib sowie auf der Insel Kreta für die Gewinnung von Trinkwasser und die Bewässerung von Kulturpflanzen. Weitere technische Anwendungen sind beispielsweise die Aerosolabscheidung in der Luftfiltration. So ist zum Beispiel die Ölnebelabscheidung der Absaugluft an Werkzeugmaschinen ein gesetztes Ziel dieser Entwicklungsarbeiten.

Transparente Wärmedämmung für Solarkollektoren

Auch für Energiefragen bietet die Natur noch viele Anregungen, insbesondere zur technischen Nutzung der Sonnenenergie. Die derzeit eingesetzten Solarkollektoren für Warmwassergewinnung bestehen aus starren Materialien und sind damit schwer und ortsgebunden. Für die Abdeckung der schwarz-bläulichen Absorber besteht der Wunsch nach einer flexiblen, leichten, bruchsicheren und transparenten Wärmedämmung für das Einfangen des Lichtes. Diese hat die Aufgabe, das Licht durchzuleiten, aber die entstehende Wärme im Absorber zu isolieren und den Wärmefluss nach aussen möglichst gut zu unterbinden.

Dies konnte durch die Übertragung der lichttechnischen Funktionen des Eisbärenfells in ein faserbasiertes technisches Produkt realisiert werden (Abb. 5 und 6). Der Eisbär vereint dabei erstaunliche Funktionen. Trotz seinem opaken Fell, das auf eine (anteilige) Reflexion des Sonnenlichtes hinweist, ist er in der Lage, grosse Anteile des einfallenden Sonnenlichts einzufangen, mittels seiner weissgelblichen Haare an die schwarze Epidermis weiterzuleiten und dort in Wärmeenergie umzuwandeln. Das Fell dient gleichzeitig dazu, die so gewonnene Wärme in der Haut zu isolieren und zurückzuhalten. Das gelingt so gut, dass der Eisbär für eine Infrarotkamera nahezu unsichtbar ist.

Das nach diesem Vorbild entwickelte technische Produkt, das grossindustriell hergestellt werden kann, basiert auf textilen Abstandsstrukturen, das heisst Textilien aus zwei Textil­lagen, die über vergleichsweise steife Fäden auf Abstand gehalten werden.[3] Bewährt haben sich inbesondere Abstandstextilien, die zusätzlich mit transparenten (Abb. 6) bzw. eingefärbten Beschichtungen aus Silikonkautschuk versehen werden. Dieses technische System ist für einfallendes Licht im sichtbaren Spektrum transparent, sperrt jedoch UV-Licht aus und reduziert durch seinen Aufbau den Wärmeverlust durch Konvektion stark. Einem Wärme­verlust durch Emission des langwelligen Lichtes kann durch geeignete Beschichtung entgegengewirkt werden. Die technische Anforderung zur Selbstreinigung kann mit einer Oberflächenvergütung des Silikonkautschuks erfüllt werden.

Faserverstärkte Werkstoffe

Die bionische Arbeit in der Faserverbundtechnik umfasst die Umsetzung von natürlichen, gewichtsoptimierten Strukturen wie Knochen oder Pflanzenhalmen (Abb. 7) in hochsteife bzw. hochfeste Bauteile. In der Natur sind die Fasern optimal in den Hauptbelastungsrichtungen orientiert. Hier werden nur so viele Fasern eingelagert, wie benötigt werden. Die Forschungen am ITV Denkendorf gehen dahin, kostengünstige textile Techniken zu entwickeln, die es ebenfalls ermöglichen, Verstärkungsfasern gezielt entlang den Kraftflussrichtungen einzubringen, beispielsweise zur Herstellung von biege-, knick- und torsionsbeanspruchten Faserverbundwerkstoffen. Trotz höheren Herstellkosten bietet diese Werkstoffgruppe gegenüber Metall, Holz oder Stahlbeton mannigfache Vorteile für die Bauindustrie und die Architektur. Besonders hervorzuheben sind die Korrosions- und Frostbeständigkeit, die Beständigkeit gegen biologischen Befall (Algen, Pilze) sowie der geringe energetische Aufwand für die Herstellung. Selbst in betonähnlichen Werkstoffen können Fasern mit grossem Vorteil auch für dünnwandige Bauteile eingesetzt werden: Ein faserverstärkter Verbund mit dem Namen Vubonite besteht aus einer keramischen, betonähnlichen Matrix, die sehr feinkörnig ist und spezielle Additive hat, die nicht alkalisch auf die Fasern (Glas oder Basalt) wirken. Vubonite widersteht im Brandfall einer Temperatur von bis zu 1000 °C, während die Stahlbewehrung von regulärem Beton unter diesen Bedingungen ihre Zugfestigkeit verlieren würde.

In laufenden Entwicklungen am ITV Denkendorf werden Erkenntnisse des Netzwerkpartners Plant Biomechanics Group der Universität Freiburg über den Aufbau von Pflanzenhalmen technisch genutzt und Faserverbundprofile mit optimierter gewichtsbezogener Biegesteifigkeit bzw. Biegefestigkeit und hoher dynamischer Belastbarkeit und Dämpfung hergestellt.4 Mit der Flechtpultrusionsanlage (siehe Kasten S. XX) sind dünnwandige, geflechtverstärkte Hohlprofile mit thermo-/duroplastischer Matrix bzw. erste Muster von «technischen» Pflanzenhalmen herstellbar (Abb. 8).


[Thomas Stegmaier, Dr.-Ing., Institut für Textil- und Verfahrenstechnik Denkendorf, Deutschland
Heinrich Planck, Prof. Dr.-Ing., Institut für Textil- und Verfahrenstechnik Denkendorf, Deutschland
Das ITV Denkendorf ist Mitbegründer des baden-württembergischen Kompetenznetzes «Biomimetik – Pflanzen und Tiere als Ideengeber für technische Produkte» und Mitglied im bundesweiten Netzwerk BIOKON e.V. sowie dem internationalen Pendant BIOKON international]

Anmerkungen:
[01] Stegmaier, T.; Arnim, V. v.; Linke, M.; Sarsour, J.; Scherrieble, A.; Schneider, P.; Planck, H.: Bionische Entwicklungen – Möglichkeiten und Herausforderungen. Tagungs-CD, Avantex, Frankfurt, 16–18. Juni 2009
[02] Sarsour, J; Stegmaier, T.; Linke, M.; Planck, H.: Bionische Entwicklung textiler Materialien, um Wasser aus Nebel zu gewinnen. Tagungs-CD, TechTextil Symposium, Frankfurt, 16.–18. Juni 2009
[03] Stegmaier, T.; Linke, M.; Planck, H.: Bionics in Textiles: flexible and translucent thermal insulations for solar thermal applications. Buchbeitrag in Biomimetics II: fabrication and applications. Philosophical Transactions of the Royal Society, Royal Society Publishing, ISSN 1364-503X, 2009, S. 1749–1758
[04] Speck, T.; Harder, D.; Milwich, M.; Speck, O.; Stegmaier, T.: Die Natur als Innovationsquelle. Buchbeitrag in «Technische Textilien», Deutscher Fachverlag, ISBN 3-87150-892-6, 2006

TEC21, Fr., 2009.09.11

11. September 2009 Thomas Stegmaier, Heinrich Planck

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