Editorial
Vor genau 100 Jahren ist Hans Leibundgut (1909–1993), eine der markantesten Persönlichkeiten der Schweizer Forstwirtschaft, geboren worden. Als Professor für Waldbau an der ETH Zürich prägte er zahlreiche Generationen von Schweizer Waldfachleuten. Anlässlich seines 100. Geburtstages findet Ende Juni auf dem Gurten bei Bern eine Tagung statt. Zwei Arbeitsschwerpunkte von Leibundgut stehen dabei im Zentrum: der naturnahe Waldbau und die Urwaldforschung. Diesen beiden Themen ist auch das vorliegende Heft gewidmet.
Der Waldbau ist eine Kerntätigkeit der Forstleute. In erster Line geht es darum, die Waldentwicklung mit gezielten Eingriffen in die gewünschte Richtung zu lenken. Das Adjektiv «naturnah» bedeutet dabei nicht «Zurück zur Natur», sondern vielmehr, dass bei der Waldbewirtschaftung die natürlichen Abläufe im Wald so weit wie möglich berücksichtigt werden. Der Beitrag auf Seite 20ff. geht der Frage nach, wann das Konzept des naturnahen Waldbaus entstanden ist, was dessen Kern ausmacht und welche neuen Herausforderungen zu bewältigen sind.
Hans Leibundgut hat zweifellos entscheidend zur Weiterentwicklung und Verbreitung des naturnahen Waldbaus beigetragen. Die ursprünglichen Ideen reichen aber weiter zurück. Ende des 19. Jahrhunderts erkannte der in München wirkende Forstprofessor Karl Gayer, dass der Anbau von ausgedehnten Monokulturen in eine Sackgasse führt. Eine Anbauform, die zu weit entfernt ist von der Natur, hielt er für zu riskant. Stattdessen schlug er Mischwälder vor – eine Forderung, die angesichts des Klimawandels heute aktueller denn je ist. Eine weitere nicht zu unterschätzende Herausforderung ist die Mechanisierung der Holzernte, was einen verstärkten Einsatz von Forstunternehmern mit sich bringt.
Der Beitrag «Von der Natur lernen» stellt die aktuelle Forschung in unbewirtschafteten Waldreservaten der Schweiz vor. Leibundgut gehörte zu den Pionieren der Urwaldforschung. Seine Motivation bestand hauptsächlich darin, die natürlichen Abläufe in vom Menschen unbeeinflussten Wäldern kennenzulernen. Er betrachtete Urwälder als Wegweiser für eine naturnahe Waldwirtschaft. Aufgrund der langen forstlichen Produktionszeiträume sollten unnötige Investitionen vermieden, die natürlich und damit kostenlos ablaufenden Prozesse im Wald hingegen möglichst ausgenutzt werden. Heute sind Waldreservate vor allem auch für den Naturschutz von besonderem Interesse, weil sie seltenen und gefährdeten Arten einen Lebensraum bieten.
Lukas Denzler
Inhalt
05 WETTBEWERBE
Genossenschaft Kalkbreite, Zürich | Burgdorf: Bahnhofplatz, Typonsteg und Emmepark
12 MAGAZIN
Die dritte Dimension der Dichte | Leserbrief | 50 Jahre Verkehrshaus Schweiz | Neuerungen erfolgreich umgesetzt | Das schräge Dach
20 DIE NATURKRÄFTE IM WALD OPTIMAL NUTZEN
Lukas Denzler
Der naturnahe Waldbau versucht die Naturkräfte im Wald so zu lenken, dass die angestrebten Ziele bestmöglich und effizient erreicht werden. Die natürlichen Abläufe im Wald dienen dabei als Vorbild.
26 VON DER NATUR LERNEN
Harald Bugmann, Peter Brang
Die Forschung in Naturwaldreservaten liefert wichtige Erkenntnisse für den Naturschutz und die naturnahe Waldwirtschaft.
23 KREATIVE BESCHAFFUNG ALS GRUNDSTEIN
Martin Deuring
Mit einem überlegten und kreativen Beschaffungsprozess den Grund-stein legen, um hochwertig zu bauen.
31 SIA
1. Delegiertenversammlung 2009 | 2. ZNO-Sitzung und -Klausur | Fachtagung «Hindernisfreie Bauten» | Bulgarienreise
35 PRODUKTE
45 IMPRESSUM
46 VERANSTALTUNGEN
Die Naturkräfte im Wald optimal nutzen
Mit dem naturnahen Waldbau sollen die Naturkräfte so gelenkt und in ihrer Wirkung gefördert werden, dass die angestrebten Ziele im bewirtschafteten Wald bestmöglich und effizient erreicht werden. Als Vorbild dienen die natürlichen Abläufe im Wald. Die Idee entstand im 19. Jahrhundert und veränderte das forstliche Denken entscheidend. Wie der Wald bewirtschaftet werden soll, ist jedoch bis heute Gegenstand kontroverser Diskussionen.
Das Konzept des naturnahen Waldbaus wird in der Schweiz in erster Linie mit Hans Leibundgut in Verbindung gebracht. Leibundgut war Professor für Waldbau an der ETH Zürich von 1940 bis 1979 und eine der markantesten Persönlichkeiten der Schweizer Forstwirtschaft. In seiner langen akademischen Tätigkeit als Hochschullehrer prägte er das Denken und Handeln von zahlreichen Generationen von Forstleuten entscheidend.
Naturnaher Waldbau als umfassendes Konzept
Interessanterweise gibt es bis heute keine genaue Definition des naturnahen Waldbaus. Dessen ungeachtet haben die meisten Waldfachleute in der Schweiz jedoch eine relativ klare Vorstellung davon, was unter naturnahem Waldbau verstanden wird. So ist damit nicht eine spezifische Waldbehandlung gemeint, sondern vielmehr eine Denkhaltung oder ein umfassendes Gesamtkonzept der Waldnutzung. Es geht also um die grundsätzliche Frage, wie der Wald genutzt werden soll.
Jean-Philippe Schütz, der Nachfolger von Leibundgut an der ETH Zürich, zählt zu den Grundprinzipien der naturnahen Nutzung unter anderem naturkonforme Waldbestände mit verschiedenen Baumarten. Ziel ist es, die Produktionskräfte der jeweiligen Waldstandorte, die sehr unterschiedlich sein können, möglichst gut auszunützen. Grundsätzlich ist die Nutzung von Bäumen gleichzeitig auch ein pflegerischer Eingriff. Die Walderneuerung erfolgt zudem kontinuierlich und in der Regel auf natürlichem Weg. Eine erfolgreiche Naturverjüngung setzt allerdings voraus, dass genügend Samenbäume der gewünschten Baumarten vorhanden sind. Weil der naturnahe Waldbau sich auf die örtlichen Verhältnisse abstütze, könne er nicht präzis definiert werden, sagt Schütz. Klar sei hingegen, was nicht dazu gehöre, so zum Beispiel grosse Kahlschläge, Methoden und Eingriffe, die dem Boden schaden, ein grossflächiger Anbau von fremdländischen Baumarten oder der Einsatz von Chemikalien.[1]
Um den Wald in die gewünschte Richtung zu lenken, stehen dem Bewirtschafter ein ganze Palette von Eingriffsmöglichkeiten zur Verfügung. So kann er durch die Jungwaldpflege und das Fällen von bestimmten Bäumen (Durchforstungen) die Baumartenzusammensetzung sowie die Struktur eines Bestandes beeinflussen. Durch die Eingriffsstärke beziehungsweise die Grösse eines Schlages wird bestimmt, wie viel Licht auf den Boden gelangt, was beispielsweise entscheidend dafür ist, ob eher schattentolerante Arten wie die Buche eine Chance haben oder lichtbedürftige Arten wie etwa die Eiche. Jean-Philippe Schütz vergleicht die Methoden des Waldbaus mit einer Werkzeugkiste. Je nach Ausgangssituation und Zielsetzung kommen andere Werkzeuge zum Einsatz. Und es gibt Parallelen zum Ingenieurdenken. So ist nach Schütz zuerst immer der Waldbestand zu analysieren und anschliessend eine Lösung zu suchen, die der Individualität des Bestandes Rechnung trägt. Genau auf diesen Aspekt ist auch eines der am häufigsten zitierten Leitmotive Leibundguts gemünzt: «Jeder Bestand ist etwas Einziges und Einmaliges.»[2]
Karl Gayer und der Mischwald
Die Initialzündung für den naturnahen Waldbau kam jedoch nicht von Hans Leibundgut. Die entscheidenden Anstösse gab in erster Linie Karl Gayer, der von 1878 bis 1893 als Professor für forstliche Produktionslehre an der Universität München wirkte. 1886 veröffentlichte Gayer sein berühmtes Buch «Der gemischte Wald»[3], in dem er die damals üblichen Reinbestände, vorwiegend Fichtenmonokulturen, kritisierte und stattdessen für Mischwälder plädierte. Seine Schrift ist auch heute noch lesenswert, und man nimmt mit Staunen zur Kenntnis, mit welcher Klarheit Gayer vor mehr als 100 Jahren die Probleme erkannt hat. So schrieb er etwa: «Wollte man, wie es ja von vereinzelten Stimmen verlangt wird, einigen wenigen Nadelholzarten die Alleinherrschaft im zukünftigen Walde einräumen, so wäre das jener allgemeine Wälderzustand, in welchem nicht mehr der Eigentümer die Wirtschaft im Walde führt, sondern der Sturm, die Insekten und die übrigen ihn bedrohenden Gefahren und Angriffe, wie es leider an vielen Orten schon heute der Fall ist.» Und weiter: «Es ist ein alterkanntes Gesetz, dass mit jeder Störung des Gleichgewichtes in der natürlichen Ordnung der Dinge, ein verstärktes Heraufwachsen der Gefahren für das Bestehende verknüpft ist.» Diese Äusserungen verdeutlichen, weshalb Gayer zu Recht als Vater des naturnahen Waldbaus betrachtet wird.
In einer Zeit, in der die Forstwirtschaft durch ein flächiges und schematisches Vorgehen geprägt war, schlug der Gelehrte aus München einen völlig neuen Weg ein. Karl Gayer habe das forstliche Denken paradigmatisch verändert, sagt Schütz. Wichtig seien aber auch die Ideen von Adolphe Gurnaud gewesen, der zur selben Zeit in Frankreich die sogenannte Kontrollmethode entwickelt und diese 1878 an der Weltausstellung in Paris vorgestellt habe. Die damals übliche grossflächige Schlagwirtschaft mit ihren gleichförmigen Waldbeständen wurde unter anderem praktiziert, weil dieses Vorgehen einen besseren Überblick ermöglichte und damit die forstliche Planung sehr erleichterte. Aufgrund des Raubbaus am Wald war man bestrebt, nur so viel Holz zu nutzen, wie jeweils auch nachwächst. Den Holzvorrat und den Zuwachs in gemischten und ungleichaltrigen Beständen zuverlässig zu erfassen, war jedoch schwierig. Deshalb teilte man den Wald in gleich grosse Flächen ein, die dann im Turnus genutzt werden sollten. Gurnaud lieferte mit seiner Methode, die auf periodischen Inventuren im Wald beruht, das Werkzeug, um die relevanten Wachstumsgrössen auch in heterogenen Waldbeständen relativ einfach bestimmen zu können.
Durchbruch in der Schweiz
Gayer stiess bei seinen Zeitgenossen auf ein unterschiedliches Echo. Die einen befürworteten seine Ideen, während andere seine Methoden als «Ausbund an Unordnung» charakterisierten. Sein Vorgehen, Löcher in den Wald zu schlagen, um die Walderneuerung einzuleiten, war so ziemlich das Gegenteil von einer klaren räumlichen Ordnung und damit eine Provokation für die klassisch denkenden Forstbeamten. Gurnaud wiederum publizierte zwar viel, seine Kontrollmethode fand im zentralistischen Frankreich aber keine Gnade – als Einzelkämpfer wurde er schliesslich auf eine andere Stelle versetzt.
In der Schweiz hingegen wurden die neuen Ideen aus Deutschland und Frankreich relativ rasch aufgenommen – und auch umgesetzt. An der ETH Zürich war es Arnold Engler, der um 1900 die Gedanken von Gayer übernahm und lehrte. Dazu zählte auch die Idee der Naturverjüngung, wonach der Wald über den Weg der natürlichen Ansamung kontinuierlich erneuert wird und nicht abrupt mittels Kahlschlägen und anschliessender Pflanzungen. Henry Biolley, der als Kreisförster im neuenburgischen Val de Travers wirkte, wandte die von Gurnaud entwickelte Kontrollmethode 1890 in Couvet (NE) zum ersten Mal an. Diese ermöglichte ihm, seine Vision eines ungleichförmigen Waldes, in dem junge und alte Bäume auf engstem Raum zusammenstehen, umzusetzen. Biolley nannte diese Art der Bewirtschaftung «jardinage cultural». Er legte damit den Grundstein für die berühmten Plenterwälder in Couvet, die – obwohl sehr stark durch den Menschen geprägt – als Inbegriff für einen naturnahen Wald gelten. Plenterwälder kommen in der Schweiz traditionellerweise auch im bäuerlich geprägten Emmental vor.
Der Waldbau hat sich somit endgültig von einer schematischen Planung emanzipiert. In seinem 1951 erschienenen Buch «Der Wald»[4] schreibt Leibundgut, einst habe der Förster versucht, die Natur zu beherrschen und ausschliesslich nach seinem Sinn und Geist Wälder zu schaffen und zu formen. Heute aber begnüge sich der Waldbauer damit, als neuer, zusätzlicher Faktor in das unübersichtliche Räderwerk der Natur einzugreifen, um den Lebensablauf des Waldes derart zu lenken, dass der nachhaltig grösstmögliche Nutzen unter geringstem Aufwand erzielt werde. So ist es auch folgerichtig, dass Leibundgut die Urwälder und die dort ablaufenden Prozesse intensiv studierte (vgl. Artikel Seite 26 ff.).
Dennoch bekannte sich Leibundgut zu einer grundsätzlich sehr liberalen Interpretation des naturnahen Waldbaus. So akzeptierte er beispielsweise kleinere Kahlschläge, sofern diese fachlich begründet waren. Seine Überzeugung brachte er auf folgende Kurzformel: «Das wesentliche Merkmal unseres Waldbaus liegt in der Freiheit von jedem Dogma und jeder Schablone.» Diese Unverbindlichkeit wurde verschiedentlich auch kritisiert. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob einfach alles erlaubt ist. Natürlich nicht. Und auf gar keinen Fall bedeute dies die komplette Narrenfreiheit des Bewirtschafters, erläutert Schütz. Das Handeln im Wald habe sich primär an den Gegebenheiten der Natur und deren Reaktion zu orientieren.
Beginn des internationalen Umweltschutzes
Leibundgut hatte ein feines Gespür für neue Entwicklungen. So erkannte er sehr früh die Bedeutung einer multifunktional ausgerichteten Waldwirtschaft. «Die waldwirtschaftliche Aufgabe besteht überall namentlich darin, ununterbrochen möglichst viel und möglichst wertvolles Holz zu erzeugen und dabei den Wald in einem Zustand zu erhalten, in welchem er gleichzeitig auch die zahlreichen Wohlfahrts- und Schutzwirkungen in bester Weise auszuüben vermag», schreibt er in seinem Buch 1951. Bereits 1970 organisierte Leibundgut ein sehr gut besuchtes Symposium zum Thema «Schutz unseres Lebensraumes». In jener Zeit formierte sich der Umweltschutz. Der Club of Rome publizierte seinen Bericht zu den «Grenzen des Wachstums». 1972 fand in Stockholm die erste Uno-Konferenz zum Umweltschutz statt, die unter anderem zur Gründung des Umweltprogramms (UNEP) der Vereinten Nationen führte. Ein weiterer Meilenstein der internationalen Bemühungen zum Schutz der Lebensgrundlagen war 1992 die Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro. Seither ist die nachhaltige Entwicklung als allgemein anerkannte Leitlinie in aller Munde. In Rio wurden damals zwei Rahmenkonventionen verabschiedet: die Klima- und die Biodiversitätskonvention. Ursprünglich war auch eine Konvention zum Schutz der Wälder vorgesehen. Sie scheiterte aber am Widerstand der Entwicklungsländer. Stattdessen einigte man sich auf sogenannte Rahmenprinzipien für den Schutz der Wälder.[5]
Das Ziel einer nachhaltigen Nutzung der Wälder liegt global gesehen immer noch in weiter Ferne. Die Ideen des naturnahen Waldbaus haben sich vor allem in West- und Mitteleuropa durchgesetzt. Und es fragt sich, inwiefern die Bezeichnung «naturnaher Waldbau» den Kern der Sache heutzutage noch trifft. Reinhard Mosandl, der Inhaber des Lehrstuhls für Waldbau an der Technischen Universität München, bevorzugt denn auch die Bezeichnungen «ökologischer Waldbau» oder «ökologisch ausgerichtete Waldwirtschaft». Immer mehr spricht man zudem allgemein von Waldökosystemmanagement.[6] Darin kommt zum Ausdruck, dass eine nachhaltige Waldwirtschaft unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschiedenste Ansprüche zu berücksichtigen hat.
Die Sache nicht einfacher macht die Tatsache, dass seit einigen Jahren zahlreiche Forstbetriebe und Waldeigentümer in der Schweiz, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern, mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Die Erträge aus dem Holzverkauf, die nach wie vor die Haupteinnahmequelle bilden, vermögen die Aufwände immer weniger zu decken. Zum Teil stellt sich auch das Problem, dass Investitionen, die heute getätigt werden (müssten), erst in einigen Jahrzehnten ihren Nutzen erbringen. Entschärft sich die finanzielle Problematik nicht, so könnte dies zu einem ernsthaften Problem für eine ökologisch ausgerichtete Waldwirtschaft werden. Vordringlich ist daher eine kosteneffiziente Waldnutzung, ohne die Vorteile der Naturnähe preiszugeben.
Mechanisierung bringt neue Herausforderungen
Die Forstbetriebe versuchen ihre Lage zu verbessern, indem sie Personal abbauen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Immer mehr werden Arbeiten auch an private Forstunternehmer ausgegliedert, denn diese sind in der Lage, die Holzernte mit grossen Maschinen rentabel zu betreiben. Dies wirft jedoch die zentrale Frage auf, wie die zunehmende Mechanisierung den Waldbau beeinflussen wird. Werden wir anstelle von einem naturnahen Wald bald einen maschinengerechten Wald haben? Reinhard Mosandl verneint dies. Man dürfe sich den Waldbau nicht durch die Maschinen vorschreiben lassen. Und Jean-Philippe Schütz sagt, dass Maschinen grundsätzlich kein Problem seien, solange der Förster die zu fällenden Bäume bestimme. Diese Aufgabe dürfe unter keinen Umständen an den Forstunternehmer oder Maschinisten delegiert werden. Der Fachverein Wald des SIA hat die Problematik der Unternehmereinsätze ebenfalls erkannt. Damit die Zusammenarbeit künftig möglichst geordnet abläuft, wird deshalb eine neue SIA-Norm ausgearbeitet (siehe Kasten).
Klimaänderungen und Zwangsnutzungen
Immer mehr beschäftigt die Waldfachleute auch der Klimawandel. Im Vordergrund stehen vor allem Extremereignisse wie Stürme und Trockenheit. Damit war man zwar auch schon früher konfrontiert. Doch scheinen sich Extremereignisse zu häufen. Seit 1990 haben die durch Stürme oder Borkenkäferbefall bedingten Zwangsnutzungen bedrohlich zugenommen. Gayers Warnung, dem Waldeigentümer oder Bewirtschafter könnte das Zepter im Wald aus der Hand genommen werden, hat jedenfalls nichts an Aktualität eingebüsst. Ganz allgemein geht man davon aus, dass ein naturnaher und gemischter Wald verhältnismässig gut gewappnet ist, um Klimaänderungen standzuhalten. Eine der Schwierigkeiten ist dabei, dass das Ausmass und die Geschwindigkeit des Klimawandels unsicher sind. Anpassungsfähige und gegen Störungen resistente Wälder sind deshalb noch stärker als bisher zu fördern. Anzustreben sind Wälder mit einer hohen Vielfalt an Strukturen und Baumarten.[7] Immer mehr wird auch der Vergleich zu Aktien gemacht. Was in der Finanzwelt als «Risikostreuung» oder «Diversifikation» schon länger bekannt ist (allerdings nicht immer befolgt wird), lässt sich sinngemäss auf die Waldwirtschaft übertragen. Kürzlich entwickelten Wissenschafter der Technischen Universität München erste Modelle über die unterschiedlichen Produktionsrisiken von Mischwäldern und Monokulturen. Dabei integrierten sie auch Elemente aus der Finanztheorie. Und es erstaunt kaum, dass Mischwälder deutlich besser abschnitten als Monokulturen.[8]
Braucht es ein neues ökologisches Sicherheitsnetz?
Während die Waldwirtschaft in den vergangenen Jahren sich über eine mangelnde Holznachfrage beklagte, könnte sich dies bald ändern. Teilweise wird sogar das Gespenst eines neuen Raubbaus infolge eines höheren Bedarfs an erneuerbaren Energien oder Rohstoffen heraufbeschworen. Und auch der Naturschutz könnte unter die Räder kommen. Um die Balance in der Waldwirtschaft nicht zu verlieren, wird deshalb zurzeit über «Grundanforderungen an den naturnahen Waldbau» diskutiert. Das durch das Bundesamt für Umwelt initiierte Projekt soll sicherstellen, dass ein minimales ökologisches Niveau in der Waldwirtschaft auch bei einer erhöhten Holznutzung erreicht wird. Bei der Frage der Verbindlichkeit von solchen minimalen Standards sind sich die Akteure hingegen nicht einig. Der Verband der Schweizer Waldeigentümer sieht keinen zusätzlichen Regulierungsbedarf. Ein grosser Teil der Waldfläche sei ohnehin zertifiziert (siehe Kasten). Die Naturschutzorganisa tionen hingegen begrüssen die Festlegung von minimalen Anforderungen für die Waldbewirtschaftung. Die Kantone finden eine Diskussion grundsätzlich sinnvoll. Wie Ueli Meier, der Präsident der Konferenz der Kantonsoberförster, erklärt, wolle man aber auf keinen Fall neue verbindliche Vorschriften, die in der Praxis gar nicht vollzogen werden könnten. Durch die Verweigerung von Schlagbewilligungen könnten die Kantone immer noch die Notbremse ziehen. Im eidgenössischen Waldgesetz ist in Artikel 21 nämlich festgeschrieben, dass wer im Wald Bäume fällen will, eine Bewilligung des Forstdienstes benötigt.
Vielleicht liegt die Herausforderung künftig ohnehin an einem ganz anderen Ort. Urs Mühlethaler, Professor für Waldökosystemlenkung an der Schweizerischen Hochschule für Landwirtschaft, ortet ein grosses Problem darin, dass die Waldfachleute immer weniger Zeit haben, um Waldbau wirklich auch draussen im Wald zu betreiben. Doch genügend Zeit für diese Kernaufgabe ist Voraussetzung, um die künftige Waldentwicklung entscheidend beeinflussen zu können.
Anmerkungen
[01] J.-Ph. Schütz: Naturnaher Waldbau: gestern, heute, morgen. Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen 150, S. 478–483, 1999
[02] J.-Ph. Schütz: Der naturnahe Waldbau Leibundguts: Befreiung von Schemen und Berücksichtigung der Naturgesetze. Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen 145, S. 449–462, 1994
[03] K. Gayer: Der gemischte Wald – seine Begründung und Pflege insbesondere durch Horst- und Gruppenwirtschaft. Berlin, 1886
[04] H. Leibundgut: Der Wald – eine Lebensgemeinschaft. Zürich, 1951
[05] Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe (DEH): Die Schweiz und die Konferenz von Rio über Umwelt und Entwicklung. Schrift enreihe der DEH 3, 1993
[06] R. Mosandl, B. Felbermeier: Vom Waldbau zum Waldökosystemmanagement. Forstarchiv 72, S. 145–151, 2001
[07] P. Brang et al.: Klimawandel als waldbauliche Herausforderung. Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen 159, S. 362–373, 2008
[08] T. Knoke, A. Hahn: Baumartenvielfalt und Produktionsrisiken: ein Forschungseinblick und -ausblick. Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen 158, S. 312–322, 2007TEC21, Fr., 2009.06.19
19. Juni 2009 Lukas Denzler
Von der Natur lernen
Seit den 1940er-Jahren wird in der Schweiz die Entwicklung von Wäldern, in die der Mensch nicht eingreift, beobachtet. Die Forschung in Naturwaldreservaten liefert wichtige Erkenntnisse für den Naturschutz. Sie ermöglicht zudem, die Waldbewirtschaftung zu optimieren und Simulationsmodelle für künftige Waldentwicklungen zu verbessern.
Bereits im 19. Jahrhundert stellte man in der heutigen Tschechischen Republik Urwaldreste unter Schutz, um die Entwicklung des Waldes unter natürlichen Bedingungen, d. h. in Abwesenheit von menschlichen Eingriffen, beobachten zu können. Dies geschah anfangs aus einer naturkundlichen Neugier; man war sich der Einzigartigkeit dieser Wälder bewusst. Später kam die Einsicht hinzu, dass die Bewirtschaftung von Wäldern sich sinnvoller weise an natürlichen Prozessen orientieren sollte, d. h., dass man möglichst mit der Natur und nicht gegen die Natur wirtschaftet.
In der Schweiz wurde die Errichtung und Erforschung von Waldreservaten, in denen keine Bewirtschaftung erfolgt, seit den 1940er-Jahren durch Hans Leibundgut, Professor an der ETH Zürich, vorangetrieben. Im Jahr 1948 wurde das Reservat «Moos» bei Birmensdorf vertraglich gesichert, und im Lauf der Zeit dehnte Leibundgut die Forschungstätigkeit auf ein schweizweites Netzwerk von 37 Reservaten aus. Die bekanntesten davon sind der Bödmerenwald im Kanton Schwyz, das Reservat im von Charles Ferdinand Ramuz literarisch verewigten Talkessel von Derborence[1], der berühmte Aletschwald am Rand des Aletschgletschers und der Blockschutt-Fichtenwald Scatlè bei Breil/Brigels.
Der Aufbau eines schweizerischen Waldreservatnetzwerks erfolgte in enger internationaler Zusammenarbeit. Leibundgut und seine Fachkollegen setzten sich auch für die Erforschung der verbleibenden Urwaldreste in Osteuropa – etwa in den Westkarpaten, in Slowenien und Polen – ein. Der Besuch dieser Urwälder ist auch heute noch sehr lohnend und hinterlässt unvergessliche Eindrücke.
Vielfältige Forschungsziele
Die heutige Waldreservatspolitik der Schweiz steht im Einklang mit den internatio nalen Bemühungen (siehe Kasten). Sie hat zum Ziel, einen Teil der Waldfl äche zu schützen, damit natürliche Prozesse sich entfalten und bedrohte Tier- und Pfl anzen arten ein Refugium erhalten. Während Bäume in forstlich genutzten Wäldern in der Regel im Alter von 80 bis 150 Jahren geerntet werden, erreichen einige von ihnen im Naturwald ein sehr viel höheres Alter. 300 Jahre alte Bäume sind in einem Urwald keine Seltenheit. Die Bäume erreichen auch grössere Dimensionen. Und nach ihrem Absterben verbleiben sie als Totholz im Wald, was wertvolle Lebensräume für spezielle Arten schafft.
In einem Teil der Waldreservate erforschen die Eidgenössische Forschungsanstalt WSL, die ETH Zürich und das Bundesamt für Umwelt (Bafu) den Zustand und die Entwicklung des Waldes (Abb. 1). Eine wichtige Mo tivation dieser Forschung ist es, Unterschiede zwischen bewirtschafteten Wäldern und Waldreservaten nachzuweisen, was unter anderem der Wirkungskontrolle der Waldreservatspolitik des Bundes dient.
Auch ein besseres Verständnis der Dynamik von waldbaulich unbeeinfl ussten Be ständen ist von besonderem Interesse, weil kostenlos ablaufende natürliche Prozesse in der Waldbewirtschaftung möglichst weitgehend genutzt werden sollten. Dazu zählt unter anderem die natürliche Walderneuerung. Zudem liefert die Reservatsforschung wichtige Grundlagen, um die zukünftige Entwicklung von Wäldern unter der vom Menschen verursachten globalen Klimaveränderung mit Simulationsmodellen abschätzen zu können.
Bis zu sechs Inventuren
Basie rend auf sorgfältigen Beobachtungen und ers ten Erhebungsresultaten entwickelten Leibund gut und andere Wissenschafter schematische Darstellungen der Entwicklungsdynamik verschiedener Waldtypen. Sie teilten die Waldentwicklung ein in aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen wie die Jungwald-, die Optimal- und Alterungsphase des Waldes. Diese Vorstellungen der Waldentwicklung fanden eine weite Verbreitung in den Forstwis senschaften. In der neueren Forschung werden sie anhand der konsolidierten Daten aus den schweizerischen Waldreservaten und anderen Quellen sowie unter Einbezug der jetzt verfügbaren Zeitreihen kritisch überprüft. In einigen Reservaten liegen seit 1956 nun bereits fünf oder sogar sechs Ergebnisse von Inventuren vor. Bei jeder Inventur werden alle Bäume im Reservat nach einem genau vorgeschriebenen Protokoll vermessen: Der Stammdurchmesser auf 1.3 m über Boden, die Vitalität der Bäume und andere Grössen werden aufgenommen; bei einem Teil der Bäume wird auch die Höhe gemessen. Die Inventuren fi nden je nach Baumarten, Höhenlage und Entwicklungsgeschwindigkeit der Wälder alle fünf bis zwölf Jahre statt.
Natürliche Störungen berücksichtigen
Die vor ein paar Jahren angelaufenen systematischen Auswertungen der Daten der Schweizer Waldreservate zeigen, dass die ursprüng lichen Vorstellungen davon, wie sich unbewirtschaftete Wälder entwickeln, verfeinert und teils sogar revidiert werden müssen. So ist aus heutiger Sicht insbesondere klar, dass die Rolle von natürlichen Störungen (z. B. Insektenbefall, Windwürfe) explizit in die Betrachtung mit einbezogen werden muss, da solche Störungen aus ökologischer Sicht nicht wirklich stören, sondern ein Teil der natürlichen Dynamik der Wälder sind.
Aufgrund erster Auswertungen der vorliegenden Daten können wir zum Beispiel sagen, dass in den meisten Reservaten im Mittelland im Verbreitungsgebiet der Buche die Dominanz der Buche zunimmt. Da die Buche eine dichte Krone hat und sehr viel Schatten wirft, kommen viele andere Baumarten unter Druck, weshalb die Baumartenvielfalt langsam zurückgeht. Im bewirtschafteten Wald kommt hingegen wegen der Holznutzung immer wieder Licht in die Bestände, was auch lichtbedürftigeren Arten das Überleben sichert. Manchmal möchte man das Wachstum von lichtbedürftigen Baumarten wie Kirschbaum, Ahorn oder Eiche bewusst fördern. Wird nun der Natur freien Lauf gelassen, so kommt die Buche während einer gewissen Zeit verstärkt zur Dominanz. Dafür nimmt in Waldreservaten die Menge an Totholz und damit die Diversität an vielen Insekten-, Vogel- und Pilzarten, die auf abgestorbenes Holz angewiesen sind, stark zu. Längerfristig, d. h., wenn die derzeit heranwachsende und älter werdende Buchengeneration abgelöst wird, dürfte die Baumartendiversität wieder zunehmen, ganz besonders nach Störungsereignissen wie Windwurf. Sollen die Auswirkungen der Unterschutzstellung eines Waldes beurteilt werden, so muss man also genau hinschauen: Was für eine Artengruppe positiv ist, kann für eine andere Gruppe negativ sein.
Den Datenschatz pflegen und nutzen
Seit 2006 ist die Waldreservatsforschung der Schweiz[2] ein Gemeinschaftsprojekt der WSL, der ETH Zürich und des Bafu. Die Methoden wurden über ar beitet, das Reservatsnetzwerk überprüft und ergänzt. Neu werden auch sogenannte «Habitatstrukturen» aufgenommen, z. B. die Anzahl der Spechtlöcher pro Baum oder das Vorhandensein von toten Kronenteilen; damit soll es noch stärker als bisher möglich sein, Aussagen zum Naturschutzwert der Waldreservate zu machen. Ausserdem wird auch Totholz detaillierter erfasst. Erhoben wird schliesslich auch die Verjüngung, d. h. Bäume mit einem Stammdurchmesser von weniger als 4 cm. Dies ist besonders wichtig, da die Zusammensetzung der Verjüngung ein wichtiger Indikator für die in Zukunft zu erwartende Waldentwicklung ist.
Den Datenschatz, mit dem wir heute arbeiten können, verdanken wir der kontinuierlichen Arbeit von mehreren Generationen von Wissenschaftern sowie unzähligen Mitarbeitenden, welche die Daten über Jahrzehnte in einer immensen Fleissarbeit sehr zuverlässig erhoben haben. Der Wert der Datenzeitreihen nimmt mit jeder Inventur zu. Wir sind bestrebt, diesen Datenschatz zu pfl egen und zu erweitern sowie für neue Frage stellungen nutzbar zu machen. Neben der wissenschaftlichen Erforschung im Rahmen von Doktorarbeiten ist gegenwärtig eine Buchpublikation in Vorbereitung.
Anmerkungen
[01] Das literarische Werk «Derborence» des Westschweizer Schrift stellers Charles Ferdinand Ramuz erschien 1934. Es handelt vom Bergsturz südlich des Diablerets-Massivs in den Walliser Bergen. Dieser ereignete sich 1714, verschüttete zahlreiche Alphütten und forderte mehrere Menschenleben. 1956 wurde auf der Urwaldfläche beim Lac de Derborence, der durch einen weiteren Bergsturz 1749 gestaut wurde, ein Waldreservat eingerichtet.
[02] Weitere Informationen: www.waldreservate.chTEC21, Fr., 2009.06.19
19. Juni 2009 Harald Bugmann, Peter Brang