Editorial
Man stelle sich die Welt ohne Schwerkraft vor, mit Bäumen, die bis in den Himmel wachsen und tentakelartig ausladenden Ästen. Menschen und Tiere schweben über dem Erdboden, bewegen sich federnd leicht, kennen weder oben noch unten. Und die Häuser? Sie haben Türen auf dem Dach und werden bei Bedarf am Boden festgezurrt, die grössten Spannweiten werden mit pergamentdünnen Konstruktionen gemeistert.
Die Realität sieht anders aus. Vor wenigen Monaten stürzte in St. Gallen völlig unerwartet eine Turnhallendecke ein, die wenige Jahre alt war. Dieses Ereignis rief ins Bewusstsein, was wir gerne verdrängen: Jeder Bau, sei er noch so klein, muss sich gegen die Schwerkraft behaupten. Die Überwindung von horizontalen Distanzen stellt dabei die grösste Herausforderung dar. Früher, als technisch noch nicht so vieles möglich war, bestimmte die Art der Deckentragwerke die Dimensionierung der Räume. Die dadurch gesetzten Grenzen waren zuweilen eng. Gewölbe, Kuppeln, Flachdecken oder Zimmermannskonstruktionen, Mauern oder Stützen, sie alle dienen natürlich nicht nur dem Lastabtrag. Vielmehr können sie auch als architektonische Elemente eingesetzt werden, die den Charakter eines Gebäudes, dessen Räume und Erscheinungsbild wesentlich prägen.
Genau dies verstehen wir unter «Starken Strukturen»:
Tragstrukturen, die nicht im Verborgenen ihre Funktion erfüllen und die Lasten möglichst diskret ins Erdreich leiten, sondern aus dieser existentiellen Thematik, diesem Drama, Architektur machen. Kein Wunder ist die Formensprache solcher Bauten oftmals eher expressiv und erhält die Arbeit der Bauingenieure mehr Beachtung als sonst – was aber nicht heisst, dass Tragwerke dieser Art für den Ingenieur eine grössere Herausforderung darstellen würden.
Selbstredend sind starke Strukturen nicht von den Dimensionen eines Gebäudes abhängig. Analog zur «Forme forte», der starken Form eines Gebäudes, ein Begriff, den Martin Steinmann anfangs der Neunzigerjahre geprägt hat, liegt die Kraft solcher Tragwerkskonzepte weniger in der physischen, als vielmehr in der visuellen oder gestalterischen Stärke. Die bildhafte Wirkung starker Strukturen täuscht nämlich mitunter darüber hinweg, dass der Kräfteverlauf komplexer ist, als vorgegeben wird. Dennoch verkörpern starke Strukturen oftmals etwas Elementares, wie die Beispiele in diesem Heft zeigen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Bauten mit architektonisch präsenten Tragstrukturen deutlicher als andere von den existentiellen Bedingungen des Bauens künden. Sind deshalb etwa Analogien zur Natur besonders beliebt, Blattmuster oder die Struktur eines Baumes?
Die Redaktion