Editorial

Im 18. Jahrhundert galt Holz vor allem im Brückenbau als «Hightechmaterial» – in der Schweiz vornehmlich unterstützt durch die herausragenden Leistungen von Hans Ulrich Grubenmann (S.11). Man reizte die konstruktiven Möglichkeiten des traditionellen Baustoffs aus, wohlverstanden im zimmermannsmässigen Holzbau. Holz gab aber seinen Platz mit der Entwicklung von Stahl in der Industrialisierung und der Patentierung von Stahlbeton durch Joseph Monier Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich ab und galt dann über viele Jahrzehnte als Baustoff für traditionelle Verwendungskategorien – Gemütlichkeit und Heimeligkeit wurden mit ihm in Verbindung gebracht, Blockhausbau und Chalethüttenstil. Erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entdeckte man den einheimischen und nachwachsenden Rohstoff wieder – es entwickelte sich der eigentliche Ingenieurholzbau und mit ihm die Forschung am Material Holz.

Längst hat sich der nachhaltige Rohstoff von den sich hartnäckig haltenden Vorurteilen gelöst. Zeitgemässer Holzbau endet keineswegs in alpiner Blockhausromantik, sondern positioniert sich erneut im Hightechbereich. Diese Entwicklung unterstützten aus technischer Sicht vor allem die Neubeurteilung des Brandverhaltens von Holz sowie die technologische Entwicklung von neuen Holzwerkstoffen und -halbfabrikaten und deren effiziente Bearbeitungsmöglichkeiten. Der Artikel von Paul Knüsel «Mehrgeschossig», (S. 28 ff.) thematisiert denn auch eine Studie, die gerade an diesen Entwicklungsschritten anknüpfen will. Die Machbarkeit – wenn nicht sogar die Grenzen der Realisierbarkeit – eines Hochhauses mit einer Tragkonstruktion rein aus Holz sollen aufgezeigt und als Referenzobjekt herbeigezogen werden können.

Ökologische Aspekte fördern den vermehrten Gebrauch von Holz als Baumaterial zusätzlich. Im Artikel «Unsichtbar» (S. 23 ff.) beschreibt Francesco Della Casa unter anderem, wie die Projektverfasser von vier mehrgeschossigen Wohnblocks in Lausanne die tragende Holzrahmenkonstruktion begründeten: Der Einsatz von (einheimischem) Holz beeinflusste die Zertifizierung der Gebäude als Minergie-eco-Standard wesentlich.

Die Wiederbelebung des Holzes als tragendes Bauelement ist weder allein in seinem konstruktiven Einsatz begründet noch in seiner oft als Begründung herbeigezogenen Funktion als CO2-Speicher. Genauso verjüngt wird das Image des Materials durch den Forschungsdrang nach Verbesserung im Planungs- und Herstellungsprozess. Im Artikel «Gefaltet» (S. 18 ff.) beschreiben die Autoren die praktische Umsetzung eines Forschungsprojektes, das TEC21 bereits seit 2008 verfolgt (TEC21 12/2008 und 17-18/2008). Der aktuelle Artikel rundet unsere Reihe ab und zeigt, dass die Forschung im Bereich Holz nicht nur Theorie bleibt, sondern rasch in der Praxis umgesetzt werden kann – die Gesellschaft steht dem neuen/althergebrachten Material positiv gegenüber.
Clementine van Rooden

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Elefantenpark Zoo Zürich

11 PERSÖNLICH
Hans Ulrich Grubenmann

13 MAGAZIN
Vorzeigehaus

18 GEFALTET
Hani Buri, Yves Weinand
Planung: Ein Modellierwerkzeug für den Entwurf eines Bauwerks sowohl auf architektonischer wie ingenieurtechnischer Ebene wurde erstmals in der Praxis angewandt.

23 UNSICHTBAR
Francesco Della Casa
Architektur: Die Holztragkonstruktion von vier mehrgeschossigen Wohnblocks in Lausanne versteckt sich hinter der Brandschutzverkleidung, trägt aber massgeblich zum Minergie-eco-Standard bei.

28 MEHRGESCHOSSIG
Paul Knüsel
orschung: Eine Machbarkeitsstudie aus Österreich zeigt das Potenzial von tragendem Holz anhand eines Projekts für ein 20-stöckiges Hochhaus.

33 SIA
Ein Museum für die Ingenieurbaukunst | BWL-Tag 2009 | Kurse SIA-Form im März/April 2009 | Auflösung SIA-Fachgruppe FAA

37 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Gefaltet

Am Lehrstuhl für Holzkonstruktionen der EPFL arbeitet ein interdisziplinäres Team unter der Leitung von Yves Weinand an der Entwicklung eines digitalen Modellierwerkzeugs, das unter anderem die Zusammenarbeit von Architekten und Ingenieuren bereits in der Entwurfsphase unterstützen könnte. Beispielsweise sollen damit Faltwerke gleichzeitig aus architektonischer und ingenieurtechnischer Sicht enwickelt werden können. Nun konnte die Forschungsarbeit mit einer Architektengruppe erstmals praktisch umgesetzt werden: Seit letztem Sommer steht eine Kapelle im waadtländischen Pompaples – ein Faltwerk konstruiert aus Brettsperrholzplatten.

In der Natur – etwa bei den Blättern vieler Pflanzen – sind gefaltete Strukturen weitverbreitet: Sie ermöglichen es, grosse Oberflächen mit einem minimalen Materialaufwand zu stabilisieren. Von der japanischen Papierfaltkunst inspirierte Faltwerke aus Holz sind deshalb ein Forschungsschwerpunkt am IBOIS. Dabei geht es nicht nur darum, ihr Tragverhalten zu untersuchen: Das Forschungsteam hat auch ein auf diskreten (finiten) Elementen basierendes digitales Tool entwickelt, mit dessen Hilfe Fachleute aus Architektur und Ingenieurwesen solche Faltwerke gemeinsam entwerfen können (vgl. auch TEC21 12/2008 und 17–18/2008). Seit 2007 galt es, das Tool zu testen und praktische Erfahrungen im Entwurfsprozess sowie bei Bau und Montage eines Faltwerks aus Brettsperrholzplatten zu sammeln. Shel, ein explizit für die praktische Umsetzung von Forschungsarbeiten des IBOIS gegründetes Planungsbüro, suchte und fand eine Partnerschaft für eine erste Realisierung. Die Diakonissen gemeinschaft von St-Loup im waadtländischen Pompaples organisierte im Sommer 2007 einen Wettbewerb, um ihr Mutterhaus umzubauen und zu renovieren.

Die Arbeitsgemeinschaft Bureau d’architecture Danilo Mondada und Localarchitecture gewann den Wett -bewerb und plante daraufhin die Ausführung. Für die Zeit des Umbaus – von Sommer 2008 bis Ende 2009 – musste jedoch eine provisorische Lösung für die täglichen Gottesdienste der Diakonissen gefunden werden. Das Anmieten von Baucontainern oder eines Zeltes empfanden sowohl von die Bauherrinnen als auch von die Architekten als unangemessen. Weil Holz schon immer ein bevorzugtes Baumaterial von Localarchitecture war – ihr Stall in Lignières wurde 2006 mit dem Preis Holz 21 ausgezeichnet – und weil die Architekten sich für die Forschungsarbeiten am IBOIS interessierten, schlugen sie den Diakonissen vor, gemeinsam mit den Planern von Shel eine innovative Lösung für die provisorische Kapelle zu finden. So stiessen diese im Dezember 2007 zum Planerteam. Schon die ersten Papiermodelle über-zeugten die Schwesterngemeinschaft von der Angemessenheit einer solchen Lösung, und innerhalb weniger Wochen konnte ein definitives Projekt erarbeitet werden.

Formfindung

Mit dem entwickelten digitalen Modellierwerkzeug können Faltwerke, die man bisher als Modell von Hand hergestellt hat, direkt im Computer gefaltet werden. Die Form der Kapelle wurde durch zwei Linien generiert. Eine definiert die charakteristische Form im Schnitt: ein Rechteck (rote Linien, Bild 2); die andere schliesst die Grundrissform (blaue Linie, Bild 2) und definiert als Zickzacklinie die Riffelung der Faltung (Bild 3). Die Form der Riffelung kann durch Variieren der einzelnen Segmentlängen zusätzlich moduliert werden (Bild 4). Die beiden Linien beeinflussen sich gegenseitig: Dadurch, dass die allgemeine Form der Grundrisslinie leicht gebogen ist, entwickelt sich die Schnittform von einem auf der Längsseite liegenden Rechteck zu einem hochkant stehenden.

Der Faltungsprozess – beziehungsweise der Formfindungsprozess – kann dementsprechend nach folgenden, unterschiedlichen Kriterien beeinflusst werden:
1. Architektur: Das Schiff der Kapelle entwickelt sich aus architektonischem Gestaltungswillen von einem von der Horizontalen zu einem von der Vertikalen dominierten Raum, an dessen Ende Licht in den Altarraum scheint.
2. Konstruktion: Das Regenwasser soll über die Form fliessend entsorgt werden. Mit der Modulation der Riffelung konnte das dafür notwendige Gefälle in der Faltung erreicht werden. Das Wasser fliesst in Querrichtung jeweils in die eine oder andere Richtung ab.
3. Tragwerk: Die Steifigkeit der Tragstruktur entsteht durch die Faltung. Der Faltmechanismus erlaubt somit, die Steifigkeiten lokal zu erhöhen, indem zum Beispiel tiefere Falten vorgesehen werden oder die Anzahl der Falten lokal erhöht wird. Hierdurch lassen sich grössere Spannweiten verwirklichen, oder es können dünnere Holzplatten eingebaut werden.

Mit diesem interdisziplinären Formfindungsprozess fallen die wichtigsten Entscheidungen, die das Tragwerk und die Proportionen im Wesentlichen bestimmen, in einer sehr frühen Entwurfsphase. Sie können auf sehr effiziente Weise direkt in den Formgebungsprozess eingebracht werden. Das allerdings befreit das Planungsteam und insbesondere den verantwortlichen Bauingenieur keineswegs davon, die allgemeingültigen Nachweise der Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit durchzuführen.

Statisches System der räumlichen Konstruktion

Um das mechanische Verhalten des aus dem Formgebungsprozess entwickelten Faltwerks zu analysieren, wurde die digitale Datei aus dem Modellierwerkzeug direkt in das Statikprogramm Diamond (Buildsoft) importiert und als Vernetzung flächiger, finiter Elemente eingelesen. Das Tragwerk sollte aus Brettsperrholzplatten konstruiert werden und wurde mit den entsprechenden Eigenschaften und Stärken von 40 mm für vertikal und 60 mm für horizontal angeordnete Bauteile in das Statikprogramm eingegeben. Mit den Berechnungsanalysen wurden die Eingaben verifiziert und die definitiven Plattendicken schliesslich in das Modellierwerkzeug eingegeben.

Die Kanten der Faltungen (die Geraden und die Kehlen) wurden in der Berechnung als Gelenke modelliert (Bild 5). Trotz durchgängig gelenkiger Lagerung ist die Gesamtsteifigkeit mit der speziellen räumlichen Anordnung der Tragelemente gegeben. Alle Drehungen sind frei modelliert – lediglich die Freiheitsgrade der Translationen (Parallelverschiebung in Kantenrichtung) wurden im Modell blockiert. Tatsächlich entstehen entlang der Falten jedoch Einspannmomente, da die Holzplatten mit dünnen Stahlblechen miteinander verbunden sind. Je nach Drehrichtung der Momente entstehen durch den einseitigen Anschluss der Holz- mit den Stahlplatten unterschiedlich grosse Hebelarme. Diese lokalen Einspannmomente wurden in diesem Modell jedoch vernachlässigt.

Aus dem Statikprogramm konnten sowohl die Schnittkräfte (Bild 6) als auch die Verformungen ermittelt werden. Die 60 mm starken Platten des Daches tragen über rund 9 m Spannweite, was einer Schlankheit von 1/150 entspricht. Die enorme Effizienz der Faltstrukturen wird gerade durch diese hohe Schlankheit deutlich. Der Punkt mit der grössten Verformung der gesamten Struktur befindet sich an der Aussenkante des Faltwerks direkt über dem Eingang. Da hier keine weitere Faltung ansetzt, wirkt der Rand frei und ist nicht ausgesteift (Bild 7).

Architektur und Kosntruktion

Der Innenraum ist sowohl horizontal als auch vertikal zum Altar hin ausgerichtet. Der Rhythmus der Stützen wird durch die Faltungen aufgenommen, wobei die beiden Längsfassaden jeweils eine leichte Bogenform beschreiben. Dadurch verengt sich der Raum zum Altar hin, und die Faltung wird vertikal aufgestossen. Der progressive Übergang von der Horizontalen zur Vertikalen fokussiert die Aufmerksamkeit zur kürzeren «Giebelwand», wo der Altar steht. Dabei beleben die gegenläufigen Falten den Raum nicht nur optisch, sie verbessern auch seine Akustik und lösen das Problem des Dachwasserabflusses.

Die Verbindung der vertikalen Elemente des Faltwerkes wurde mit gefalteten Lochblechen und Schrauben bewerkstelligt. Innen sind die Platten roh belassen, die Aussenhaut besteht aus einer Dichtungsbahn und 19 mm starken, imprägnierten Dreischichtplatten. Die beiden «Giebelwände» bestehen aus unregelmässigen Kantholzrahmen, auf denen innen ein transparentes Polykarbonat und aussen ein Windschutztextil angebracht ist. Formal erinnern sie an klassische Kirchenfenster, doch ihr Nutzen ist auch praktisch: Die Maschenweite des Textils verhindert Einblicke und garantiert die Intimität des Gottesdienstes – von innen her gesehen scheint sich die Landschaft in ein impressionistisches Bild aufzulösen.

Erfahrungen aus der Praxis

Die Erfahrungen bei Entwurf und Bau der Kapelle waren sehr positiv. Das digitale Modellierwerkzeug ermöglichte es, in der Entwurfsphase gut auf formale, funktionelle und konstruktive Anforderungen einzugehen und das Projekt zu vertiefen. Es zeigte sich auch, dass neue und eigenständige architektonische Formen erzeugt werden können, die ohne das Werkzeug nur schwer vorstellbar wären. Der Produktionsprozess wird ausserdem rationalisiert, indem die digitalen Dateien für den Zuschnitt der Brettsperrholzplatten direkt im Modellierwerkzeug gezeichnet und danach an den Produzenten geliefert werden – ein nochmaliges Zeichnen der Pläne für die Herstellung entfällt.

Die Kapelle von St-Loup wurde mit diesem gemeinsamen Entwurfsprozess zum Resultat einer gelungenen Zusammenarbeit zwischen Architekten, Forschern und Ingenieuren. Dabei spielte die Begeisterungsfähigkeit und Innovationsbereitschaft der Bauherrinnen eine wesentliche Rolle in der Umsetzung. Die Diakonissen sind von der neuen Kapelle sehr eingenommen: Die Klarheit und Einfachheit von Raum und Konstruktion dieser komplexen Form findet in ihrem Glaubensbekenntnis Resonanz.

Literatur:
[1] Buri, Hani, Weinand, Yves: Origami: Faltstrukturen aus Holzwerkstoff en. Bulletin Holzforschung Schweiz, Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Holzforschung SAH, Dübendorf 2006, 2/2006, p. 8–12
[2] Buri, Hani, Weinand, Yves: Origami – Folded Plate Structures. Architecture, 10th World Conference on Timber Engineering, Miyazaki, WCTE, Japan, 2008, zur Verfügung auf: www.ewpa.com/Archive/2008/june/Paper_286.pdf
[3] Haasis, Marcel, Weinand, Yves: Origami – Folded Plate Structures. Engineering, 10th World Conference on Timber Engineering, Miyazaki, Japan, 2008, zur Verfügung auf: www.ewpa.com/Archive/2008/june/Paper_287.pdf

TEC21, Do., 2009.02.26

26. Februar 2009 Hani Buri, Yves Weinand



verknüpfte Bauwerke
Chapelle de St- Loup

Unsichtbar

In Lausanne werden zurzeit vier mehrgeschossige Wohnblocks gebaut. Die vom Genfer Architekturbüro Bonhôte Zapata entworfenen Bauten werden – auch dank ihrer Tragkstruktur aus Holz – den Minergie-eco-Standard erfüllen. Das aus nahen Wäldern stammende Holz ist günstig, hat gute statische Eigenschaft en, eignet sich für die Vorfabrikation von Bauteilen, senkt den Verbrauch an grauer Energie und wirkt sich positiv auf das Klima aus, indem es CO2 bindet. Nur sehen wird man es nicht, weil es hinter Brandschutzverkleidung und Aussenisolation zum Verschwinden gebracht wird.

Im Jahr 2005 veranstaltete die Lausanner Wohnbaugenossenschaft Cité Derrière einen Architekturwettbewerb mit Präqualifikation für den Entwurf einer Wohnüberbauung an der Avenue Victor Ruffy 57–63, in einem am Hang der Vuachère gelegenen Quartier, das mehrheitlich von Mehrfamilienhäusern mit Abstandsgrün geprägt ist. Als Sieger konnten sich Philippe Bonhôte und Julia Zapata aus Genf durchsetzen. Ihr Projekt – es umfasst vier Wohnblocks mit 64 Wohnungen und zwei Tiefgaragen – fügt sich nahtlos in den neuen Gestaltungsplan ein und greift das in Lausanne favorisierte, lockere Bebauungsmuster auf. Es versucht, die Vorteile des Standorts in Bezug auf Aussicht und Besonnung auszuschöpfen, gleichzeitig aber auch die Möglichkeiten in Bezug auf die Volumetrie sowie auf die Anzahl und Fläche der Wohnungen optimal zu nutzen.

Der Aussenraum ist mit terrassenartig angelegten Gärten (Bilder 1–3) und Pfaden gegliedert, die sich gut in das umliegende Wegenetz einfügen. Die grösste dieser Terrassen befindet sich auf halber Höhe des Grundstücks und verbindet die Eingänge der vier Gebäude. Mit ihren Bänken und dem recht dichten Baumbestand ist sie der zentrale Aussenraum des neuen Komplexes. Von hier aus zweigen kleinere Wege ab, die zu kleinen Spiel- oder Ruheplätzen führen.

Flexible Grundrisse und Minergie-Eco-Standard

Die vier Wohnblocks weisen ein Erd- und drei Obergeschosse sowie ein Attikageschoss auf. Die Wohnungen sind gleichmässig auf alle vier Seiten verteilt, was zu differenzierten Aussichts- und Besonnungseigenschaften führt. Ein zentrales Treppenhaus erschliesst pro Stockwerk drei bis vier Wohnungen, die jeweils eine Ecke des Gebäudes einnehmen und ähnlich aufgebaut sind, unabhängig davon, ob sie ein oder vier Zimmer haben. Die Sanitärräume sind um den zentralen vertikalen Erschliessungsschacht angeordnet. Ein breiter Flur fungiert als Eingangshalle, von der aus die Zimmer abgehen. Deren Anzahl und Grösse kann gemäss dem Wunsch der Bewohnerinnen und Bewohner variieren. Diese nutzungsneutrale Typologie bietet die gewünschte Flexibilität für den Fall, dass die Wohnungen zu einem späteren Zeitpunkt umgebaut werden. In den Gebäudeecken bilden die Küchen, Balkone und Wohnzimmer einen gemeinsamen Aufenthaltsbereich; auch diese Räume können nach Bedarf ganz oder teilweise abgetrennt werden (Bilder 4 5). Das Besondere an diesem Entwurf sind indes weder die Volumetrie, die von den starren Vorgaben des Gestaltungsplans weitgehend vorgegeben war, noch die flexible Typologie, die im heutigen Wohnungsbau letztlich nichts Ungewöhnliches darstellt. Interessant ist vielmehr die Frage, wie viel architektonische Gestaltungsfreiheit den Entwerfenden nach Erfüllung des Minergie-eco-Standards überhaupt noch bleibt. Und nicht zuletzt ist das Projekt auch ein gutes Beispiel für die Planung von mehrgeschossigen Holzbauten.

Günstige Vorfabrikation aus lokalem Holz

Eine Besonderheit ist, dass für die primäre und die sekundäre Tragstruktur Holz aus der Region zum Einsatz kommt. Dieser Entscheid fiel nicht aus ästhetischen Gründen, sondern weil Holz gute statische Eigenschaften hat und seine Verwendung sich positiv auf die Ökobilanz des Gebäudes auswirkt: Gemäss den geltenden Brandschutzvorschriften müssen die Fassaden nämlich mit einer feuersicheren Verkleidung versehen werden. Holz hat ausserdem den Vorteil, dass es die Vorfabrikation erleichtert; für die Errichtung der einzelnen Gebäude wurde jeweils eine Zeitspanne von fünf Wochen veranschlagt. Die Entscheidung für Holz hat in diesem Fall auch strategische Bedeutung. Es stammt aus Wäldern, die von der Stadt Lausanne selbst bewirtschaftet werden, sodass für Verarbeitung und Transport nur minimale Wege anfallen und damit auch die Auswirkungen auf die Umwelt geringer sind. Diese (auch ökonomische) Ersparnis wurde genutzt, um 55 überdachte Parkplätze in das Projekt zu integrieren, was die Wohnungen in kommerzieller Hinsicht noch attraktiver macht.

Der Umstand, dass gemäss Pflichtenheft der Bauherrschaft die Zertifizierung nach Minergieeco zu erreichen war, hat auch zur Folge, dass die Wärmedämmung der Gebäudehülle erhöhten Ansprüchen zu genügen hat. Aufgebaut ist die Hülle aus einer tragenden Rahmenkonstruktion, die mit einer 20 cm dicken Isolation ausgefacht ist, einer Brandschutzverkleidung auf beiden Seiten sowie einer äusseren, 10 cm dicken Schicht Mineralwolle. Rechnet man noch die Innenverkleidung hinzu, hat die Gebäudehülle eine Stärke von 42 cm. Bei den Öffnungen sind Schiebeläden vorgesehen, was eine glatte Fassade ohne vorstehende oder integrierte Storenkästen ermöglicht (Bilder 6 7).

Die kontrollierte Lüftung sorgt für ein gesundes Innenklima, da die Luft in den Wohnungen ständig erneuert wird. Dies bedeutet allerdings, dass die Bewohnerinnen und Bewohner umdenken und das Lüften durch Öffnen der Fenster reduzieren müssen. Hinzu kommt, dass wegen der notwendigen abgehängten Decken die Raumhöhe um 6 cm reduziert und damit das Volumen der Wohnräume verkleinert wird. Durch den Einbau grosser Panoramafenster mit Schallschutzverglasung sind die Wohnungen gegen den Verkehrslärm der stark befahrenen Avenue Victor Ruffy geschützt. Die Heizenergie wird aus dem städtischen Fernwärmenetz bezogen, was den Verzicht auf Sonnenkollektoren auf dem Dach rechtfertigt.

Vorteilhafte Ökobilanz und gelungene Finanzierung

Ulrick Liman, Spezialist für nachhaltige Entwicklung bei der Stadt Lausanne, betont: «Was die CO2-Emissionen betrifft, erweist sich die Entscheidung, mit Holz zu bauen, als doppelt richtig: Zum einen können für die gesamte Lebensdauer des Projekts 1300 Tonnen CO2 gespeichert werden, hauptsächlich in den massiven Deckenplatten. Zum anderen reduzieren sich die Emissionen bei der Fertigung, die graue Energie des lokalen Bauholzes ist niedrig. Unter Berücksichtigung der drei CO2-Emissionsquellen – Material, Wärme und Strom – ist davon auszugehen, dass beim Projekt Victor Ruffy 55 % weniger CO2 als bei der Standardbauweise freigesetzt wird» (Bilder 9–12). Zudem heisst das: «Bei der Wärmeerzeugung fallen pro Jahr 4.4 kgeq CO2/m2 an, also zehnmal weniger als bei einem gewöhnlichen Bau aus den 1970er-Jahren. Beim Stromverbrauch dürften 2.7 kgeq CO2/m2 pro Jahr anfallen, immer vorausgesetzt, die Bewohnerinnen und Bewohner haben einen sparsamen Verbrauch. Nach den Effizienzkriterien der Energieetikette Display dürften diese vier Gebäude in der besten Kategorie, in der Kategorie A, eingestuft werden.»

Liman kommt zum Schluss, «dass das Projekt Victor Ruffy im Vergleich zur klassischen Bauweise den Verbrauch an Primärenergie um 50 % senken kann. Dank dem Baustoff Holz und der Erfüllung des Minergie-eco-Labels konnte die graue Energie um 10 % auf 127 MJ/m2 pro Jahr reduziert werden, und dies trotz dem höheren Materialverbrauch, der wegen der Auflagen in Bezug auf die Wärmedämmung angefallen ist. Mit diesem Entwurf können im Vergleich zur Planung nach SIA 380/1 in 80 Jahren 65 000 MWh an Primärenergie eingespart werden. Dies entspricht dem jährlichen Energieverbrauch von 1500 Personen in der Schweiz.» (Bilder 9–12)

Die Wohnungen in den drei Gebäuden, die zum Selbstkostenpreis verkauft wurden, fanden trotz den Mehrkosten durch die Minergie-eco-Zertifizierung schnell Abnehmer. Die Vermutung ist nicht abwegig, dass die Verwendung von einheimischem Holz und der geringe Energieverbrauch gewichtige Argumente für eine Kaufentscheidung waren. Dieser Erfolg ermöglicht die Finanzierung des vierten Hauses, das Sozialwohnungen zur Vermietung enthalten wird.

Energetische Optimierung versus architektonische Qualität?

Die bemerkenswerten ökologischen Leistungen und die erfolgreiche Immobilientransaktion – ein Auftakt zum ehrgeizigen Vorhaben der Stadt Lausanne, 3000 neue Wohnungen zu errichten – sollten dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Projekt auch kritische Fragen aufwirft. Die gewählten Lösungen sind in erster Linie das Ergebnis eines intelligenten und feinfühligen Abwägens von äusserst einschränkenden Randbedingungen; mit architektonischem Erfindungsreichtum haben sie weniger zu tun. Dieses Projekt veranschaulicht exemplarisch die Gefahr, dass ambitionierte energetische Zielsetzungen – auch wenn sie aus ökologischer Sicht sehr erstrebenswert sind – eine Verarmung und Formalisierung des architektonischen Vokabulars nach sich ziehen könnten (vgl. auch TEC21 45/2008, «Ökologie und Baukultur»).

Sorgfältig abzuwägen ist auch die immer wieder geäusserte Kritik an den diversen Minergie- Standards, die nicht nur zur erwünschten energetischen Optimierung der Bauten führen, sondern auch zu deren – für eine Senkung des Energieverbrauchs nicht immer zwingend notwendigen – technischen Aufrüstung. Dadurch erzeugen sie einen Mehrverbrauch an Baumaterialien und erhöhte Baukosten, die der Bauindustrie wohl zugutekommen, deren Nutzen für die Allgemeinheit aber nicht immer erwiesen ist.

TEC21, Do., 2009.02.26

26. Februar 2009 Francesco Della Casa

4 | 3 | 2 | 1