Editorial

Ganz neu sind sie nicht, die pädagogischen Erkenntnisse, die es im heutigen Schulhausbau architektonisch umzusetzen gilt. Die Durchmischung der Jahrgänge im Unterricht beispielsweise hatte bereits Maria Montessori (1870–1952) gefordert; Rudolf Steiners 1907 erschienene Schrift «Die Erziehung des Menschen vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» postulierte eine ausgewogene Förderung der intellektuell-kognitiven, künstlerisch-kreativen und handwerklich-praktischen Fähigkeiten der Kinder; und als die Erlebnispädagogik um 1930 ihren ersten Höhepunkt erreichte, gehörte selbstständige Projektarbeit zu ihren wichtigsten Komponenten.

Auch die Beschäftigung von Architektinnen und Architekten mit pädagogischen Konzepten wie ganzheitliche Förderung, individuelle Entfaltung oder Erziehung zur Sozialkompetenz hat eine längere Geschichte. Alfred Roth hat in seinem Buch «Das neue Schulhaus»[1] eine Reihe von beispielhaften Bauten versammelt, von denen viele bis heute nichts von ihrem Vorbildcharakter eingebüsst haben: Hans Scharouns 1958–1961 erbautes Geschwister-Scholl-Gymnasium in Lünen etwa weist neben fliessenden Erschliessungs- und Kommunikationsräumen auch «Klassenwohnungen» – heute würde man sagen: Cluster – auf, die jeweils aus Garderobe, Hauptraum, Gruppenraum und Gartenhof zusammengesetzt sind. Den Gedanken, dass das Schulhaus als zweites Zuhause fungieren und die Kinder zu mündigen, demokratisch denkenden Bürgerinnen und Bürgern erziehen solle, hatte Scharoun bereits in seinem 1951 publizierten Entwurf «Volksschule Darmstadt» zum Ausdruck gebracht.

Dennoch haben die Schulhäuser, die in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz gebaut wurden, solche reformerischen Konzepte in der Regel kaum berücksichtigt. Trotz teilweise bemerkenswerten Leistungen auf gestalterischem oder technischem Gebiet weisen die meisten eine konventionelle Raumgliederung auf. Gebäude wie das Schulhaus im Birch von Peter Märkli in Zürich Oerlikon (2004) oder das im Bau befindliche Schulhaus Leutschenbach von Christian Kerez stellen noch Ausnahmen dar. In Finnland dagegen hat man mit der Umsetzung neuer, sich wandelnder Schulkonzepte breitere Erfahrung, und auch in den USA finden sich innovative Beispiele. Daher widmet sich dieses Heft einer Auswahl jüngerer Bauten aus diesen beiden Ländern – denn entgegen dem Sprichwort sollten wir nicht nur für das Leben, sondern eben auch für die Schule lernen.
Judit Solt

Anmerkungen
[1] Alfred Roth: The New Schoolhouse. Das Neue Schulhaus. La Nouvelle Ecole. 4. Auflage, Verlag für Architektur (Artemis), Zürich 1966

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Schulen im Wettbewerb

13 MAGAZIN
Leserbrief

18 SCHULHAUSBAU JENSEITS DES ATLANTIKS
Markus Ziegler
Öffentliche Schulen in den USA spüren den Druck der privaten Konkurrenz und daher auch die Notwendigkeit, neue Raumkonzepte zu erproben – ein erfolgreiches Beispiel aus Minneapolis.

24 FINNISCHE LERNLANDSCHAFTEN
Ulrike Altenmüller
Finnland steht Innovationen im Bildungswesen offen gegenüber. Dank dem Fehlen starrer Baugesetze können neue Erkenntnisse rasch in architektonische Form gebracht werden.

34 SIA
Vortrag der Reihe «Werkberichte» | Nachruf Prof. Dr. Bruno Thürlimann | Energieausweis | Marketing, Werbung, PR

37 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Schulhausbau jenseits des Atlantiks

Mehr noch als in der Schweiz geraten die öff entlichen Schulen in den USA zunehmend unter Druck. Die Konkurrenz durch private und halbprivate Anbieter wächst, der Anspruch auf die architektonische Berücksichtigung neuer didaktischer Erkenntnisse ebenfalls. Der Autor erörtert die Unterschiede zwischen dem schweizerischen und dem amerikanischen Schulhausbau – und präsentiert zwei gelungene Beispiele aus Zürich und Minneapolis

Seit letztem Jahr bereist die 2004 in Zürich konzipierte und gezeigte Ausstellung «Schulbauten: der Stand der Dinge» die USA.[1] In Übersee ist das Interesse für europäische Schulbauten gross; an allen Anlässen, welche die Wanderausstellung begleiteten, wurde intensiv über sie debattiert. Im Folgenden sollen die wichtigsten Diskussionsthemen wieder aufgegriffen und zwei innovative Schulhäuser – eines in Zürich, eines in Minneapolis – vorgestellt werden. Denn die Schule ist beidseits des Atlantiks in Bewegung, und trotz unterschiedlichen Rahmenbedingungen gibt es viel voneinander zu lernen.

Neue Herausforderungen im Schulhausbau

In den USA erhalten öffentliche Schulen nicht nur von Privatanbietern Konkurrenz, sondern zunehmend auch von sogenannten Charter Schools: halbprivaten Schulen, die als privat organisierte Schulbetriebe die Aufgaben der öffentlichen Schule übernehmen und dafür vom Staat einen Beitrag pro Schulkind erhalten.[2] Mit dem wachsenden Begehren nach sogenannten Bildungsgutscheinen[3] steht der Schweizer Volksschule eine ähnliche Konkurrenz bevor. Abgesehen von diesem betrieblichen Druck ist der aufgestaute Unterhaltsbedarf der öffentlichen Bauten sowohl in der Schweiz als auch in den Vereinigten Staaten ein Problem. Die Verantwortlichen haben sich mit fehlenden finanziellen Mitteln, Unsicherheit über künftige Entwicklungen der Pädagogik, steigenden Raumbedürfnissen und suboptimaler Raumausnutzung zu beschäftigen. Als Herausforderung bei der Planung kommt die Kommunikation zwischen Fachleuten aus Pädagogik und Architektur hinzu: In Europa wie in den USA wurde erkannt, dass gute Lösungen die Integration beider Sichtweisen voraussetzen. Dennoch entspricht die architektonische Umsetzung von Schulbauten oft nicht den Wünschen der Lehrerschaft. Dies beruht nicht zuletzt auf der unterschiedlichen Interpretation bestimmter Schlagwörter: Unter «Flexibilität» und «offenem Raum» verstehen Pädagoginnen und Pädagogen nicht immer das gleiche wie Architektinnen und Architekten. Eine mögliche Lösung wäre, dass die Lehrerschaft nicht länger zu erklären versucht, was für Räume sie will – und so den Entwurf vorgibt –, sondern vielmehr ihre Visionen und Absichten artikuliert und die räumliche Umsetzung den Architektinnen und Architekten überlässt.

Pädagogische Konzepte, in Steine gemeisselt

Ein zurzeit intensiv diskutiertes Thema im Schulhausbau ist die Flexibilität. Die Forderung der Pädagoginnen und Pädagogen nach flexibel nutzbaren Räumen zeigt, dass sie noch nicht abschätzen können, wohin die Entwicklung der Didaktik führen wird, und sich alle Optionen offen halten wollen. In Europa wie in den USA geht man davon aus, dass sich das pädagogische Konzept während der Nutzdauer eines Schulgebäudes mehrmals grundlegend ändern wird. Daher müssen Architekturschaffende im Schulhausbau auf eine «finale Architektur» verzichten: Bereits die ersten Entwürfe sollten berücksichtigen, dass Nutzung und Raumprogramm mit der Zeit variieren werden. Durch diesen Zwang zur Flexibilität besteht jedoch die Gefahr, dass Schulhäuser zu charakterlosen Kisten werden, in denen alles möglich und nichts bestimmt ist. Im Gegensatz zum flexiblen Inneren ist deshalb ein prägnantes Äusseres wichtig: Die klare Formgebung bietet eine Kompensation für die Unsicherheit, die als Folge des raschen gesellschaftlichen Wandels in Bezug auf die künftige Aufteilung und Nutzung der Räume herrscht. Gerade wegen der flexiblen Grundrisse wird eine analoge Hilfestellung im Inneren notwendig: Lesbare, nachvollziehbare Raumbezüge erleichtern die Orientierung im Gebäude.[4]

Auch die allgemeine Frage, was ein gutes Schulhaus sei, wird kontrovers diskutiert. Dennoch zeichnet sich ein gewisser Konsens ab. Der Klassenverband löst sich zunehmend auf; das Austauschen, Zeigen und Mitteilen nimmt an Bedeutung zu, auch zwischen Klassen und Stufen. In der heutigen Pädagogik ist es wie in der Arbeitswelt durchaus erlaubt, Arbeiten zu präsentieren, die noch nicht ausgereift sind oder die einen Beitrag zur Arbeit anderer leisten. Daher braucht es neben «Foren» zum (Mit-)Teilen und «Bühnen» fürs (Schau-)Spielen und Präsentieren auch «Ateliers», in denen gemeinsam geforscht wird. Den Gemeinschaftsräumen stehen Nischen gegenüber, die einen individuellen Rückzug für das Entwickeln und Beobachten erlauben. Auch das «Imaginarium» zielt in diese Richtung: Es dient der Inspiration und bietet ebenfalls eine Rückzugsmöglichkeit für individuelles Überlegen und Denken. Daher muss ein Schulhaus heute unterschiedlichste Räume für formelles wie informelles Lernen umfassen.[5]

Pädagogikfachleute sind sich einig, dass ein gutes Schulhaus ihre Arbeit zwar vereinfacht, doch keine zwingende Bedingung für gute Pädagogik ist. Auch unter widrigsten räumlichen Verhältnissen kann ein guter Unterricht angeboten werden: Entscheidend sind Motivation und Einstellung der Lehrpersonen; eine starke pädagogische Vision vermag immer eine betrieblich funktionierende Lösung zu schaffen. Als wesentlich werden deshalb die Führung und die Bildung des Lehrteams eingestuft. Wo Pädagoginnen und Pädagogen eng zusammenarbeiten und sich im Unterricht gegenseitig ergänzen, werden weit bessere Prüfungsund Lernergebnisse erzielt als in Schulen mit lauter Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfern. Auf diesem Gebiet sind die Lehrpersonen in den USA ihren Schweizer Kolleginnen und Kollegen voraus.

Wettbewerbswesen in Zürich

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen den USA und der Schweiz liegt in der Art und Weise, wie ein Architektenteam respektive eine architektonische Lösung ausgewählt werden. In der Schweiz wurde der im 19. Jahrhundert geläufige Standard-Schulhausgrundriss verdrängt: Im Laufe des 20. Jahrhunderts setzte sich das Wettbewerbswesen durch, das bei jedem Projekt eine neue Chance zur Innovation bietet.[6]

Ein aktuelles Resultat dieses Modells ist das von Christian Kerez entworfene Schulhaus Leutschenbach in Zürich Nord, das sich zurzeit im Bau befindet und dessen Eröffnung für 2009 geplant ist. Das Projekt wurde im Vorfeld lediglich in den Grundsätzen definiert, und die architektonische Lösung wurde im Wettbewerbsverfahren gefunden. Die Wettbewerbsgrundlagen umschrieben das Bedürfnis der Schule nach Klassenzimmern (Ateliers), Mehrzwecksaal (Bühne), Bibliothek (Imaginarium) und benutzbaren Erschliessungsflächen (Foren und Nischen). Deren räumliche Umsetzung wurde bewusst den Entwurfsteams überlassen. Das aus diesem Prozess entstandene Schulhaus erfüllt alle betrieblichen Anforderungen, gibt aber darüber hinaus ein radikales städtebaulich-architektonisches Statement ab. Kein Standard hätte diese Prägnanz und Klarheit schaffen können.

Etablierte Firmen in den USA

Im Gegensatz zur Schweizer Wettbewerbskultur verlassen sich amerikanische Gemeinden in der Regel auf bewährte Standardlösungen. In den USA werden – vor allem in Staaten entlang der Ostküste – strikte und umfassende Vorgaben erstellt, die auf Sicherheit, problemlosen Unterhalt und einfache bauliche Lösung zielen. Wenn solche strengen Raumstandards mit ebenso strengen Kostenvorgaben und standardisierten Raumprogrammen gekoppelt werden, bleibt den Entwerfenden wenig Spielraum für Innovation. Wie in kleineren Schweizer Gemeinden werden auch in den USA häufig Architekturbüros mit der Projektdefinition beauftragt; doch im Unterschied zur Schweiz können sich diese Büros anschliessend auch für den Planungsauftrag bewerben. Zudem sind zahlreiche Firmen entstanden, die Gemeinden als professionelle Bauherrenberater in der Definition, in der Entwicklung und im Management des Projekts unterstützen. Auf diese Weise wird der Architekturwettbewerb zusehends von einer aktiven Akquisition durch Büros verdrängt, die aufgrund ihrer Expertisen und Erfolgsbeispiele überzeugen. Warum soll eine Gemeinde unter diesen Umständen noch das Risiko eines Wettbewerbs eingehen? Kritisch ist, dass dieses Modell junge und innovative Büros, die noch keinen Vorgängerbau vorweisen können, aus dem Markt ausschliesst.

Die WMEP Interdistrict Downtown School in Minneapolis belegt indes, dass auch das amerikanische Vorgehen zu innovativen Ergebnissen führen kann. Die Cuningham Group Architecture, ein in Minneapolis und mehreren weiteren amerikanischen Städten ansässiges Architekturbüro, hat den Bau im Auftrag von nicht weniger als elf Schulgemeinden definiert, projektiert und realisiert. Dank dem direkten Auftragsverhältnis zwischen Planungsfachleuten und Betreiber konnte das moderne Betriebskonzept der Schule schon früh in die Projektdefinition einfliessen. Das Schulhaus ist für 600 Kinder ab dem Kindergartenalter bis zum zwölften Schuljahr konzipiert und umfasst vier Geschosse. Im Erdgeschoss befinden sich die Spezialräume – Bibliothek, Computerraum, Administration, Werkzimmer und Gymnastikräume – sowie ein Mehrzweckraum, der auch zur Mittagsverpflegung dient (externe Belieferung). Die Klassengeschosse sind grösstenteils offen: Die Klassenzimmer bilden räumliche Nischen, welche die Zusammenarbeit zwischen Klassen nicht ausschliessen. Das Gebäude weist alle oben beschriebenen Raumarten auf: von den Nischen, die durch mobile Möbel gebildet werden können, bis zum Imaginarium der Bibliothek.

Gute Ergebnisse, viel Entwicklungsbedarf

Das Zürcher Vorgehen bei Wettbewerben stösst in den USA gegenwärtig auf grosses Interesse – insbesondere weil die Stadt das Projekt selber definiert, bevor sie externe Architektur- und Planungsfachleute beizieht, und solide Grundlagen für das Projekt schafft, ohne die architektonische Innovation mit Standards unnötig einzuschränken. Im Schulhausbau muss die Schweiz den internationalen Vergleich also nicht scheuen. Doch sie darf sich mit dem Erreichten auch nicht zufriedengeben. Ganz im Sinne des Ingenieurs Henry Petroski – «Form does not follow function! Form follows failure.» – soll der Schulhausbau weiterhin kritisch auf seine Schwächen geprüft werden, damit die Fehler der Vergangenheit nicht in die Zukunft getragen werden. Der Austausch im Rahmen der Wanderausstellung hat gezeigt, dass auf beiden Seiten des Atlantiks ähnliche Themen aktuell sind, auch wenn sich die Lösungsansätze zuweilen stark unterscheiden.

Anmerkungen
[1] Die Ausstellung zeigt 27 Schulbauten aus der Schweiz und Europa, welche die ETH und die Stadt Zürich als richtungsweisende Beispiele zusammengetragen haben. Sie wurde unter der Schirmherrschaft des American Institute of Architects (AIA) in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Konsulat ins Englische übersetzt. Im Februar 2007 war die Ausstellung zu Gast in New York, im September 2007 in Minneapolis, im März 2008 in Washington DC und im Juni 2008 in Boston. Weitere Stationen werden Portland, Dallas und San Francisco sein.
[2] Dieser Beitrag wird von den Steuereinnahmen finanziert und deckt die Unterrichtskosten pro Kind wie bei einer öffentlichen Schule ab; weitere Mittel holen sich die Charter Schools von privaten Donatoren und Stiftungen in Form von Spenden. Der Staat prüft jährlich, ob die Schulen die Charterbedingungen einhalten. Wenn nicht, kann der Charter aufgehoben werden.
[3] Das klassische Gutscheinmodell von Milton Friedman beruht auf der Idee, dass das Steuergeld den Bildungsträgern (Schulen, Universitäten) nicht mehr direkt zufliesst, sondern auf dem Umweg der Auszubildenden (Subjekt- statt Objektsubventionierung). Der Bildungsgutschein ist persönlich und nicht übertragbar; die Auszubildenden geben ihn an einer frei wählbaren, staatlich anerkannten Bildungsstätte ab, die ihn bei der Staatskasse gegen Geld einlöst. Auf diese Weise sollen Chancengleichheit unter den Auszubildenden und pädagogischer Wettbewerb unter den Bildungseinrichtungen gewährleistet werden.
[4] Hinweis von Prof. Rudolf Isler, Pädagogische Hochschule Zürich, und Urs Dörig, Pädagogische Hochschule Thurgau
[5] Hinweis von Prof. Edith Ackermann, Visiting Scientist, School of Architecture and Planning, Massachusetts Institute of Technology. Vgl. http://media.mit.edu/~edith sowie blog: linkedith.kaywa.com
[6] Die Sachlage ist vergleichbar mit dem Kanton Zürich anno 1836, als der Kanton eine «Anleitung über die Erbauung von Schulhäusern» publizierte – komplett ausgerüstet mit Plänen. Dieses Festhalten an Normen und Standardlösungen war damals nötig, da die Schule für die Gemeinden eine neue Aufgabe darstellte und die wenigsten Baufachleute eine Vorstellung davon hatten, wie eine Schule gebaut werden soll.

TEC21, Mo., 2008.09.08

08. September 2008 Markus Ziegler

Finnische Lernlandschaften

Finnland steht Innovationen im Bildungswesen aufgeschlossen gegenüber. Dank dem Fehlen starrer Baugesetze und einer gut eingespielten Diskussionskultur zwischen den Entscheidungsträgern können neue Entwicklungen – klassenübergreifende Gruppenarbeit, individuelle Förderung, kooperative Unterrichtsmethoden oder exploratives Lernen – rasch in architektonische Form gebracht werden. Meist sind die Gebäude nicht nur vom Schulbetrieb flexibel nutzbar, sondern stehen auch der Bevölkerung zur Verfügung.

Das finnische Bildungswesen gilt als eines der besten und leistungsstärksten der Welt und steht im Ruf, landesweit in allen sozialen Schichten ein hohes Bildungsniveau zu erzielen. Die Transparenz und die Flexibilität einer dezentral organisierten Verwaltung erlauben es, schnell und unkompliziert auf neue gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen oder auf spezifische lokale Bedürfnisse zu reagieren. Dies gilt sowohl für das gesamte Schulwesen als auch für den Schulhausbau. Anhand zweier gebauter Beispiele werden im Folgenden einige der wichtigsten Funktions-, Raum- und Gestaltungskonzepte erläutert, durch die sich zeitgenössische Schulen in Finnland auszeichnen und die sich in den vergangenen Jahren bewährt haben.

Aurinkolahti-Schule, Helsinki

Die 2002 erbaute Aurinkolahti-Schule in Helsinki ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, aus dem der Entwurf von Jeskanen-Repo-Teränne & Leena Yli-Lonttinen als Sieger hervorging. Erklärtes Ziel der Auslobung war es, ein Lernumfeld zu schaffen, in dem die Schulkinder – gemäss dem vorgesehenen neuen pädagogischen Konzept – aktiv und eigenverantwortlich im Selbststudium, aber auch in der Gruppe lernen können. Daher sollte eine Atmosphäre geschaffen werden, die sowohl die Interaktion innerhalb der Gruppe als auch den Austausch mit der Umgebung fördert.

Wie viele andere Schulen in Finnland steht auch diese in unmittelbarer Nähe eines Parks und öffentlicher Sportanlagen, die den Schülerinnen und Schülern offen stehen. Das Gebäude selbst dient nicht nur als Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz, sondern auch als kulturelles Begegnungszentrum für den umgebenden Stadtteil; ausserhalb der Unterrichtszeiten steht es der Nachbarschaft zur Verfügung. Für die meisten Kommunen ist eine derart erweiterte Nutzung von Schulgebäuden und deren Ausstattung auch wirtschaftlich sinnvoll, da die hochwertigen Investitionen deutlich besser ausgelastet sind.

Um die erweiterte Nutzung zu ermöglichen, sind viele finnische Schulbauten in kleinere Gebäudeteile oder Einheiten aufgegliedert, die sich um einen grosszügigen, zentralen Gemeinschaftsbereich gruppieren. Dieser bildet mit Bibliothek, Bühne, Aula und Cafeteria häufig den kommunikativen Mittelpunkt des Gebäudes und das multifunktionale Herz der Schule. Als offener Raum verknüpft er die verschiedenen Teilbereiche der Anlage funktional und optisch – und schafft dabei auch räumliche Grosszügigkeit. Die einzelnen Gebäudeteile sind durch eine dezentrale Erschliessung kontrolliert zugänglich. Zum einen ergibt sich dadurch die Möglichkeit, sie auch abends oder an den Wochenenden voneinander unabhängig zu nutzen. Zum anderen werden die Verkehrsflächen insgesamt deutlich seltener frequentiert. Die daraus resultierende Ruhe innerhalb des Bauwerkes und die Grosszügigkeit der Korridorflächen lassen es zu, die Verkehrsflächen als Aufenthalts- oder zusätzliche Unterrichtsbereiche zu nutzen. Damit erhöht sich der Anteil der Nutzfläche gegenüber dem der Nebenflächen. Dank dieser geschickten Raumorganisation werden Funktionserweiterungen und Mehrfachnutzungen erreicht, ohne dass die Baukosten in die Höhe getrieben würden. Transparenz und ein hohes Mass an räumlich-visueller Kommunikation vermitteln ein Gefühl der Sicherheit.

Flexible nutzbare Cluster und Klassenzimmer

Durch neue Unterrichtsmethoden und Lerninhalte hat der Schulbetrieb in Finnland umfassende Veränderungen erfahren, die besonders grossen Einfluss auf die Arbeit im Klassenzimmer hatten. Die Aneignung von Wissen entwickelt sich zunehmend zu einem aktiven Prozess, in dem die Lernenden mit explorativen, experimentellen und kooperativen Unterrichtsmethoden arbeiten: Die Schülerinnen und Schüler sollen unterschiedliche Lernstrategien als mögliche Methoden kennen lernen, um auch ohne Anleitung am Prozess des lebenslangen Lernens teilnehmen zu können.[1]

Die vermehrte Wissensvermittlung in Gruppen- und Projektarbeit, die eigenständige Recherche am Computer, erweiterte Aktivitätsprogramme der Schule im Ganztagesbetrieb und die zunehmende Individualisierung des Lernprozesses wirkten sich besonders stark auf die Raumprogramme und die innere Struktur der Schulen aus. In der Aurinkolahti-Schule findet der Unterricht in Klassenclustern statt: Die Räume sind um einen gemeinschaftlichen Aufenthalts- und Lernbereich gruppiert, der über grosszügige Glasflächen mit den Klassenzimmern verbunden ist. Dass die Schulkinder zunehmend in Kleingruppen oder in Einzelbetreuung gefördert werden, erhöht wiederum den Bedarf an unterschiedlich grossen und verschieden ausgestatten Unterrichtsräumen beziehungsweise Werkstätten.

Hiidenkivi-Schule, Helsinki

Die 2005 fertiggestellte Hiidenkivi-Schule in Helsinki von Seppo Häkli veranschaulicht, wie das Lernen und Lehren in Klassengruppen stattfinden kann. Klassenzimmer unterschiedlicher Grösse sind zu räumlichen Einheiten zusammengefasst, die mit einem zu den Unterrichtsräumen verglasten Gemeinschaftsbereich, eigenen Nebenräumen sowie einem Zugang zu den Aussenanlagen ausgestattet sind. Auch die Arbeitsräume der Lehrpersonen gehören häufig zum Raumangebot der Klassen-Cluster; Verbindungstüren zwischen den Klassenzimmern laden zum gruppenübergreifenden Unterricht ein. Viele Pädagoginnen und Pädagogen haben festgestellt, dass diese räumliche Organisation schülerzentrierte Unterrichtsmethoden unterstützt und zu einem höheren Grad an Identifikation mit der Bildungsanstalt führt: Schulkinder und Lehrpersonen fühlen sich zu Hause, Vandalismus ist nahezu unbekannt.Die Differenzierung des Unterrichtsraumes in verschiedene Zonen – das heisst: die Abweichung vom klassischen rechteckigen Klassenzimmer mittels Ecken, Nischen, in manchen Schulen auch Emporen – lädt zu wechselnden Bespielungsarten und variierenden Lehrmethoden ein. Die aus leichten, flexiblen Tischen und Stühlen sowie aus rollbaren Regalen und Containern bestehende Möblierung erlaubt es, die Klassenzimmer für verschiedene Lernszenarien schnell neu zu arrangieren; insbesondere in Primarschulen werden den Kindern oft Sofas und Nischen als zusätzliche Rückzugsmöglichkeiten angeboten. Einbaumöbel mit ausreichend Stauraum vervollständigen in der Regel die Ausstattung der Klassenzimmer. In allen Unterrichtsräumen steht technisches Gerät auf dem jeweils aktuellen Stand zur Verfügung.

Diskussionskultur statt baugesetzlicher Vorlagen

In den vergangenen Jahren sind in Finnland immer wieder Funktions-, Raum- und Gestaltungskonzepte[2] entstanden, die das Erlernen von sozialen Kompetenzen, Teamfähigkeit und Gruppenarbeit fördern. Viele Neubauten bilden heute einen geeigneten Rahmen für soziale Interaktion und stetiges Lernen. Dennoch müssen sie adaptierbar sein, um zukünftige pädagogische Innovationen zuzulassen und im besten Fall zu unterstützen. Gleichzeitig – und im Widerspruch zu diesem Flexibilitätsanspruch – wird auch eine hohe Funktionalität gefordert, die lokale Gegebenheiten und Bedürfnisse berücksichtigt.

Der Umstand, dass es in Finnland kaum restriktive gesetztliche Vorgaben im Schulhausbau gibt, hat die neuen architektonischen Konzepte sehr gefördert. In den Rahmenlehrplänen und Bildungsstandards haben die Empfehlungen für die Gestaltung der Lernumgebung3 den Charakter einer generellen architektonischen Qualitätsbeschreibung, die genügend Raum für spezifische, auf die funktionalen und pädagogischen Konzepte der jeweiligen Schule abgestimmte Lösungen lässt. Bei der Ausarbeitung und der Umsetzung von Schulbauvorhaben stehen heute Behörden, Lehrpersonen und Architekturbüros in einem engen Dialog, der auf nationaler Ebene vom Zentralamt für Unterrichtswesen, auf lokaler Ebene von Schulbeziehungsweise Bauämtern moderiert wird. In intensiver Kooperation werden innovative Ansätze diskutiert, um angemessen auf die veränderte Erziehungswirklichkeit in den Schulen reagieren zu können.

Die Frage, inwiefern die architektonische Gestaltung der Lernumgebung zum Erfolg der finnischen Schulkinder bei internationalen Vergleichsstudien beiträgt, kann nicht abschliessend beantwortet werden: Der konkrete Einfluss des Bauwerkes auf die schulischen Leistungen kann weder absolut noch relativ mit wissenschaftlicher Aussagekraft gemessen werden. Dennoch bleibt festzustellen, dass die erwähnten architektonischen Parameter – vor allem in ihrer Kombination – die Vermutung nahe legen, dass eine angenehme, ästhetisch hoch stehende und funktionale Lernumgebung positive Effekte auf das Lernverhalten der Schulkinder und auf das Wohlbefinden aller Nutzerinnen und Nutzer hat. Die architektonische Qualität von Schulbauten, die Ausstattung und die Gestaltung von Unterrichtsräumen sind ein Spiegelbild der Wertschätzung, die eine Gesellschaft der Bildung entgegenbringt. Das Beispiel Finnland zeigt, dass Investitionen in die Ausbildung der Bevölkerung und insbesondere der Kinder sich trotz einem gewissen fi nanziellen Aufwand letztlich immer auszahlen – als Investitionen einer Gesellschaft in ihre eigene Zukunft.

Anmerkungen
[1] Kaisa Nuikkinen: En sund och trygg skolbyggnad. Opetushallitus/Utbildningsstyrelsen, Helsinki 2005, S. 12 ff .
[2] Vgl. Ulrike Altenmüller: Koulu – Schule auf Finnisch. Funktions-, Raum- und Gestaltungskonzepte für zeitgenössische Schulen in Finnland. Dissertation, Fakultät Architektur, Bauhaus- Universität Weimar 2008. In der Arbeit werden zahlreiche zeitgenössische finnische Schulgebäude analysiert. Aus diesen Betrachtungen ergaben sich oben genannte, wiederkehrende Parameter, die als allgemeine Tendenzen im Schulbau des nordischen Landes gewertet werden können
[3] Vgl. Zentralamt für Unterrichtswesen (Hrsg.): Rahmenlehrpläne und Standards für den grundbildenden Unterricht an finnischen Schulen. Edita Prima Oy, Helsinki 2004, S. 19 ff .: «Unter ‹Lernumgebung› [verstehen wir] die mit dem Lernen verbundene physische Umgebung sowie die Gesamtheit der physischen Faktoren und sozialen Beziehungen, in denen der Wissenserwerb und das Lernen erfolgt. Zum physischen Lernumfeld zählen insbesondere das Schulgebäude, die Schulräume, die Unterrichtsmittel und Lernmaterialien. Dazu gehören auch die sonstige bebaute Umgebung der Schule und ihre natürliche Umwelt.» In den Rahmenlehrplänen und Standards für den grundbildenden Unterricht des Zentralamtes für Unterrichtswesen wird der Durchführung des Unterrichts ein eigenes Kapitel gewidmet. In diesem werden unterschiedliche Bereiche betrachtet, die über die Grundlagen des Rahmenlehrplanes hinausgehen. Die Vermittlung von Lernstrategien, Arbeits- und Motivationsmethoden, der Handlungskultur mit ihren Verhaltensmustern, Werten und Prinzipien wird dort ebenso beschrieben wie die Grundlagen der Lernumgebung, also der Räume, in denen Lehren und Lernen stattfindet

TEC21, Mo., 2008.09.08

08. September 2008 Ulrike Altenmüller

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