Editorial

Nur noch zwei Stunden dauert eine Zugfahrt von Zürich nach Visp, seit der Lötschberg- Basistunnel offen ist. Der neue Verkehrsknotenpunkt im Oberwallis bereitet sich auf den erwünschten Ansturm von Ostschweizer Touristen vor. Jutta Glanzmann hat für TEC21 den neuen Bahnhof besucht, und Christian Schwager hat einen fotografi schen Streifzug durch den kleinen Ort unternommen, der auf eine grosse Zukunft hofft.

Tunnels, die die Fahrzeit zwischen zwei Regionen verkürzen, können das wirtschaftliche, soziale und bauliche Gefüge an ihren Zielorten tief greifend verändern. Können – denn die Hoffnungen hinter dem Investitionsentscheid erfüllen sich nicht in jedem Fall oder erst viel später. Die Anbindung an die Welt ist nur einer von vielen Faktoren für die Entwicklung einer Gegend. Aufschlussreich und Bauwerken wie jenen der Neat angemessen ist eine langfristige Betrachtung: Da Planung und Erstellung von Verkehrsbauten dieser Grösse Jahrzehnte in Anspruch nehmen, erfolgen die Investitionen unabhängig von der wirtschaftlichen Konjunktur. Die Eröffnung kann in eine Krise fallen – und jede Wirkung vorerst ausbleiben. So geschehen im Unterengadin, wo sich seit der Eröffnung des Vereinatunnels 1999 weder die Hoffnungen des Baugewerbes erfüllt noch die Befürchtungen der Umweltschützer in Sachen Zersiedelung bestätigt haben. Menschen brauchen Zeit, um zu merken, wozu sie eine neue Verbindung nutzen können. Auch das verzögert eventuell deren Wirkung, dafür kann diese dann umso heftiger auftreten. So legt etwa die dynamische Geschichte der Gotthardbahn die Vermutung nahe, dass das Potenzial des künftigen Gotthard-Basistunnels noch nicht absehbar ist.[1] In sozioökonomischer Hinsicht sind Tunnels Röhren, die einen Sog entwickeln können, nur ist nicht sicher voraussagbar, in welche Richtung. Der Lötschberg- Basistunnel wird mehr Touristen ins Wallis bringen; das schafft Arbeitsplätze. Wird er auch mehr WalliserInnen dazu bewegen, in Bern zu arbeiten? Die Folge wäre möglicherweise ein Braindrain – ein Problem etwa im bestens erschlossenen Kanton Uri.

Daneben haben Tunnels auch unintendierte und kaum bemerkte langfristige Folgen, sozusagen kulturelle Nebenwirkungen. Der Simplon- und der alte Lötschbergtunnel brachten vor hundert Jahren nicht nur den Massentourismus ins Wallis, sondern auch die italienischen Mineure mit ihren Familien, ihrer Kultur und ihrem Unternehmergeist. Weil der Tunnelbau ein Vierteljahrhundert dauerte, sind sie geblieben und Teil der Oberwalliser Gesellschaft geworden. Elisabeth Joris erzählt aus dem Tunneldorf Naters, dem Zentrum dieser erfolgreichen Immigration; Christian Schwager hat dort bauliche Spuren gesucht und gefunden.
Ruedi Weidmann

Anmerkung
[1] Der direkte Weg in den Süden. Die Geschichte der Gotthardbahn. Zürich 2007

Inhalt

05 WETTBEWERBE
Campus des Bildes: Dreispitz-Areal in Basel

10 MAGAZIN
«Ein industriefeindliches Volk?» Rezension der ersten Industriegeschichte des Wallis | Protest gegen britische Öko-Städte | Fan-City 2008 | «Minergie-P» – Rezension

18 BAHNHOF VISP
Jutta Glanzmann
Mit dem Lötschberg-Basistunnel wird Visp zum Verkehrsknotenpunkt. Ein neuer Bahnhof von Steinmann & Schmid macht den Anfang.

22 VISP AM WENDEPUNKT
Christian Schwager
Noch ist Visp nicht das Zentrum, zu dem es sich bald entwickeln wird. Ein fotografischer Streifzug am Wendepunkt einer Ortsgeschichte.

26 TUNNELDORF NATERS
Elisabeth Joris
In Naters siedelten Mineure, die den Simplon- und den Lötschbergtunnel bauten. Viele italienische Familien blieben, ihre Häuser und Lokale verschwinden.

33 SIA
Direktionssitzung | Geschäftsleitung vergrössert | Berufshaftpflicht | Bodenschutz | Aufbewahrungspflicht für Baupläne

37 PRODUKTE

45 IMPRESSUM

46 VERANSTALTUNGEN

Bahnhof Visp

Der im Dezember eröffnete Lötschberg-Basistunnel hat Visp vom Industriestandort zum Verkehrsknotenpunkt gemacht. Die Zahl der Reisenden hat sprunghaft zugenommen, im Bahnhofquartier sind grössere Planungen im Gang. Mit dem Neubau von Bahnhof und Busterminal haben die Basler Architekten Steinmann & Schmid eine solide Basis für weitere Entwicklungen des Ortes gelegt.

Seit dem Fahrplanwechsel am 9. Dezember 2007 ist Visp das neue Tor ins Oberwallis ge - worden. Sind hier bisher circa 400 000 Personen pro Jahr um- oder ausgestiegen, werden es künftig fast zehn Mal mehr sein. Der 2002 gefällte Entscheid der SBB, Visp und nicht das bekanntere Brig zum neuen Hauptverkehrsknotenpunkt zu machen, veränderte das Bahnhofsquartier grundlegend. Vom ursprünglichen Projekt, mit dem die Basler Architekten Steinmann & Schmid 1999 einen nationalen Studienauftrag für die Neugestaltung des Bahnhofs gewonnen hatten, blieb nur die Idee, die Gleise der Matterhorn Gotthard Bahn (MGB) und der SBB auf der Ebene des Bahndamms zusammenzufassen und den Bahnhof ebenerdig auf Stadtebene zu erschliessen. Für die zusätzlichen Gleise wurde das Gleisfeld Richtung Süden um rund 20 m verbreitert; zwölf Gebäude südlich des alten Bahndamms mussten für die Infrastrukturanlagen und die Hochbauten des Bahnhofs Platz machen, darunter Wohnund Geschäftsbauten, Lagerhallen, Werkstätten und das Hotel «Touring». Eine Erweiterung Richtung Norden kam aufgrund der bestehenden Gleisgeometrie nicht in Frage. Steigt man heute in Visp aus dem Zug, ist der radikale Neuanfang selbst dann spürbar, wenn man das erste Mal hier ist – weniger im Gleisbereich des Bahnhofs als auf dem neuen Bahnhofplatz, wo sich jetzt auch der Busterminal für die vierzehn von Visp abgehenden Postautolinien befi ndet. An verschiedenen Stellen wird noch gebaut, einzelne Gebäude stehen aufgrund der neuen städtebaulichen Situation an exponierter Lage. Die Bauzeit für das 120-Millionen-Projekt war kurz: Nach einer intensiven Planungsphase blieben für die Realisierung der Perron- und Gleisanlagen sowie den Hochbau knapp drei Jahre. Gleichzeitig wirkt der momentane Zustand wie eine Metapher für den Aufbruch, den man sich in Visp aufgrund der neuen Ausgangslage verspricht. Mit dem Zug ist Bern in einer Stunde, Zürich und Basel in zwei Stunden erreichbar.

Städtebaulicher Akzent für die Zukunft

Kernstück des neuen Bahnhofs ist das fünfgeschossige Aufnahme- und Dienstleistungsgebäude. Der schmale, über 100 m lange Baukörper liegt parallel zum Bahndamm, der Visp in einen nördlichen, vorwiegend durch die Industrieanlagen der Lonza-Werke geprägten Teil und einen südlichen Siedlungsbereich trennt. Das Volumen ist dem Bahndamm quasi übergestülpt und wird so zur räumlichen Verbindung zwischen höher liegendem Bahntrassee und Stadtebene. Im entstehenden Bahnhofquartier setzt es – zusammen mit der über 400 m langen Stützmauer entlang des Bahndamms – einen ersten starken Akzent. Der ganz in Glas gehüllte Bau beherbergt in den unteren beiden Geschossen kommerzielle Nutzungen wie Café, Läden, Kiosk und die Kundenplattform von SBB und MGB. In den oberen drei Etagen befinden sich je rund 1300 m² Büroflächen. Sowohl bahn- als auch platzseitig ist das unterste Geschoss durch die zurückspringende Fassade klar als Sockel ausgebildet. In den oberen Stockwerken überspielt die äussere Verglasung der doppelschaligen Fassade die unterschiedliche Nutzung und verleiht dem Volumen einen homogenen, an trüben Tagen fast finsteren Ausdruck; ein Eindruck, der sich ändern mag, sobald die jetzt noch leeren Räume belebt sein werden. Bei guten Lichtverhältnissen spiegeln sich die umliegenden Berge in den Glaselementen, die geschossweise zueinander gekippt sind, und lassen ein sich stetig wechselndes Fassadenbild entstehen. Aufgrund seiner Lage betontdas Volumen von aussen die räumliche Trennung des Ortes durch den Bahndamm. Ganz anders im Innern: Von den oberen drei Geschossen geht der Blick durch die raumhohe Verglasung rundum in alle vier Himmelsrichtungen und ermöglicht eine Sicht auf Visp, die es so bisher nicht gegeben hat.

Schlichte Formen und klare Farben im Infrastrukturbereich

Für die Perrondächer entwickelten Steinmann & Schmid eine eigene Lösung, die von den üblichen Standarddächern der SBB abweicht. Dunkle, rechteckige Stahlstützen tragen die schlichte Konstruktion aus Holzelementen und Stahlträgern. In die helle Untersicht eingelassene Lichtbänder bringen beim Eindunkeln ein verspieltes Element in die formal strenge Komposition – ein Thema, das in der Personenunterführung und im leicht zurückversetzten Eingangsgeschoss wiederkehrt. Von den Perrons führen Treppen und Rampen, deren Einschnitte mit rostroten Stahlplatten ausgekleidet sind, in die Personenunterführung, die stadtseitig in den Bahnhofplatz übergeht. Dabei wirkt die Brandmauer des Gebäudes direkt gegenüber – ein Relikt aus einem Quartierplan der frühen 1990er-Jahre – leider nicht besonders einladend auf Reisende. Am nördlichen Ausgang der Fussgängerverbindung befi nden sich das neue Stellwerk und der zweite, neu gestaltete Zugang mit Veloabstellplätzen. Ein bemerkenswertes Detail: Runde Lichtstelen mit Birkenmuster begleiten die Fussgänger zum Eingang der Unterführung. Parallel zur Personen- liegt die Strassenunterführung, die um rund 20 m verlängert wurde und südseitig in einen neu geschaffenen Kreisel mündet. Von hier wird das um 150 Plätze ergänzte Bahnhofparking erschlossen. Dieses ist mit dem Untergeschoss des Bahnhofs über einen grosszügig gestalteten Zwischenbereich verbunden, wo sich Kurzzeitparkplätze befinden. Die 14 in unmittelbarer Nachbarschaft des neuen Dienstleistungsgebäudes fächerartig aufgereihten Haltekanten des neuen Busterminals von Postauto Wallis werden durch ein 100 m langes, diagonal verzogenes und an den Enden abgerundetes Betondach geschützt. Zusammen mit den Pilzstützen und den rot eingefärbten Haltekanten bildet der Terminal ein monolithisches Element, das verspielter und leichter wirkt als sein formal strengeres Gegenüber. Durch unterschiedlich grosse Oberlichtkuppeln fällt Tageslicht, abends taucht ein raffi niertes Beleuchtungskonzept den Busbahnhof in ein leicht schimmerndes, glänzendes Licht. Die an den Terminal anschliessende Grünanlage wird gegenwärtig realisiert, ebenso wie weitere Umgebungsarbeiten, die bis Mai 2008 abgeschlossen sein sollen. Seitens der Gemeinde, die sich bereits im Rahmen des Bahnhofneubaus mit rund 24 Millionen Frankendafür eingesetzt hat, dass dieser nicht zu einer reinen Umsteigeplattform wird, sind weitere Massnahmen geplant, um Visp für Einheimische und Besucher attraktiver zu machen. Dazu gehören laut Gemeindevizepräsident Niklaus Furger ein übergeordnetes Beleuchtungskonzept und kurzfristige Eingriffe im Zusammenhang mit der Möblierung des öffentlichen Raums, die man in nächster Zeit in Angriff nehmen will.

Ortschaft im Aufbruch

Die Aufwertung des Quartiers rund um den Bahnhof steht erst am Anfang. Durch die optimale Anbindung an den regionalen und den nationalen öffentlichen Verkehr ist Visp zu einem attraktiven Standort geworden – nicht nur als Arbeitsort, was die Gemeinde mit 6700 Einwohnern und 8400 Arbeitsplätzen ja bisher schon war, sondern auch als Wohnort für neue Einwohnerschichten. Laut Niklaus Furger hat die Wohnbautätigkeit im Ort in den letzten Jahren deutlich zugenommen: «Aktuell sind Projekte für Investitionen von rund 50 bis 60 Millionen Franken in der Pipeline.» Die rund 3600 m² Büroflächen im neuen Bahnhofgebäude waren bereits vor dem Bezug praktisch alle verkauft. Für zwei Areale in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs, die aufgrund der Konzentration der Umsteigebeziehungen frei geworden sind, haben Steinmann & Schmid Testplanungen durchgeführt. Auf dem Postareal, dem bisherigen Standort der Postautos, sollen 3000 m² Verkaufsflächen und 55 Wohnungen entstehen. Für das ehemalige Gleisfeld der MGB sind eine Überbauung mit Parkplätzen im Untergeschoss, Verkaufsflächen und öffentliche Nutzungen im Erdgeschoss sowie rund 70 Wohnungen geplant. Beide Projekte, für die im April beziehungsweise Ende 2008 die Baueingaben vorliegen sollen, führen zu einer städtebaulichen Verdichtung des Quartiers rund um den Bahnhof. Visp ist gewillt, die Chance zu packen. Die Ausgangslage jedenfalls könnte nicht besser sein, schrieb doch «Tages- Anzeiger Online» am 6. März: «Deutschschweizer strömen ins Wallis». An Wochenenden stosse der neu gebaute Bahnhof bereits an seine Kapazitätsgrenzen, der Walliser Tourismusdirektor Urs Zenhäusern fordere deshalb den Vollausbau des Lötschberg-Basistunnels auf durchgehend zwei Röhren.

TEC21, Mo., 2008.04.14

14. April 2008 Jutta Glanzmann

Tunneldorf Naters

Der Bau des Simplon- und des Lötschbergtunnels vor hundert Jahren lockte viele Mineure aus Italien an. Sie siedelten in Naters bei Brig und prägten die Gemeinde baulich und sozial. Da der Tunnelbau 25 Jahre dauerte, blieben viele italienische Familien für immer im Oberwallis. Ihre ersten Häuser verschwinden jedoch allmählich. Als das Ehepaar Joseph und Kreszentia Biffiger-Wyssen 1900 sein neues Wohnhaus mit Laden in Naters zwischen dem alten Dorfkern mit seinen von der Sonne geschwärzten Holzhäusern und dem neuen Italienerquartier jenseits des Kelchbachs baute, demonstrierte es den wirtschaftlichen Aufschwung, den das Dorf seit den Anfängen des Tunnelbaus erlebte. Dabei hatte alles klein angefangen: Mit dem Ersparten aus ihrer Zeit als Köchin in Paris und der finanziellen Unterstützung ihres Bruders, der Pfarrer in Gondo war, hatte Kreszentia Wyssen 1886 einen kleinen Laden eröffnet. Sie ahnte damals nicht, welch aus - gezeichnete Wahl sie mit dem Lokal an der Peripherie getroffen hatte. Die Handlung Biffiger avancierte bald zum bedeutendsten Detailgeschäft von Naters, in dem man sich mit allem Notwendigen, von Lebensmitteln über Textilien bis zu Eisenwaren aller Art, eindecken konnte.

Mineure und Ingenieure, Negotiantinnen und Nonnen

Den entscheidenden Schub zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel löste der Tunnelbau aus: 1898–1906 wurde die erste Simplonröhre zwischen Brig und Isella gebaut, 1906–1913 der Lötschbergtunnel zwischen Goppenstein und Kandersteg und 1913–1921 die zweite Simplonröhre. Bis dahin war das gegenüber von Brig gelegene Naters eine weitgehend von der Landwirtschaft geprägte Gemeinde gewesen, die sich als mehrstufi ger Kulturraum vom Dorfkern rund um die grosse Kirche im Talgrund über Blatten bis zur Belalp und zum Aletschgletscher hin erstreckte. Weit mehr als die Hälfte der im Tunnelbau Beschäftigten siedelte sich hier an, vor allem entlang der alten Furkastrasse, der heutigen Land-/Weingartenstrasse, die sich von der Handlung Biffi ger nach Osten über den Weiler Weingarten hinaus bis an die Grenze der Gemeinde Bitsch erstreckte. So wuchs die Bevölkerung von 1888 bis zur Jahrhundertwende von 1075 auf 3953 Personen, von denen mehr als die Hälfte Italienisch sprach. Alle diese Leute mussten wohnen und essen, wollten sich unterhalten und ihre Feste feiern, ihre Kleider mussten gewaschen und geflickt werden. Und so zogen mit den Ingenieuren und Mineuren auch Gewerbetreibende nach Naters. Die Zahl der Handlungen vervierfachte sich von 7 im Jahr 1896 auf 28 im Jahr 1899 und pendelte sich in dieser Grössenordnung ein. Die Zahl der Wirtschaften wuchs noch rasanter von 1898 bis 1915 von 6 auf 53. Neben einer provisorischen Wohnbarackensiedlung im Talgrund entstanden schon innert weniger Monate nach Beginn der Tunnelarbeiten an der alten Furkastrasse Gebäulichkeiten verschiedenster Grösse und Qualität.

Italiener und Oberwallis

Das Gebiet im Süden der alten Furkastrasse hat mit dem Tunnel- und dem Eisenbahnbau immer wieder Umwandlungen erfahren. Es liegt gegenüber dem Eingang des Simplontunnels auf der anderen Seite der Rhone. Ausbruchmaterial aus dem Tunnel wurde hier verteilt, das Flussbett mehrfach verlegt und schliesslich eingedämmt; der neu gewonnene Boden wurde mit provisorischen Wohnbaracken und dauerhaften Häusern bebaut, von meist italienischen Familien als Garten genutzt und vom Trassee der Furkabahn belegt. Im Unterschied zu den meisten anderen historischen Tunnelbaudörfern, die nach dem Bau wieder schrumpften oder verschwanden, weil die Mineure weiterzogen, veränderte sichNaters nachhaltig. Weil sich die drei Tunnelbaustellen hier über 25 Jahre hinweg nahtlos ablösten, blieben grosse Teile der Arbeitskräfte über lange Jahre beschäftigt. Sie gründeten Familien und Unternehmen und blieben defi nitiv im Oberwallis. Die damals entstandene räumliche, soziale, bauliche und ökonomische Struktur prägt die Gemeinde bis in die Gegenwart, auch wenn die hundertjährigen Häuser zunehmend spärlicher werden, neuen Gebäuden weichen müssen oder zwischen mehrstöckigen Neubauten fast untergehen. Für die seelische und die schulische Betreuung der italienischen Zugezogenen war ab 1912 die Missione Cattolica Italiana zuständig, die sich unweit vom Kaufhaus Biffi ger talaufwärts etablierte. Als Teil der karitativen «Opera Giuseppe Bonomelli» aus Cuneo im Piemont hatte sich die Mission zu Beginn des Lötschbergtunnelbaus in Goppenstein und Kandersteg niedergelassen. Nach Abschluss der Bauarbeiten zogen mit den italienischen Mineursfamilien auch der Pfarrer Don Pasquale und die Suore Giuseppine samt ihrer Infrastruktur nach Naters und bauten hier ihre Schule wieder auf. Generationen von Kindern sollten sie besuchen. Der kleine, inzwischen hellgrau gemalte Holzbau dient heute als Krippe und wird fast erdrückt vom 1992 eröffneten wuchtigen Neubau des «Zentrum Missione», dem gegenwärtigen Treffpunkt der italienischen Migrantinnen und Migranten im Oberwallis und wichtigsten Veranstaltungsort von Naters. In diesen beiden Bauten der Italienerkolonie verdichtet sich anschaulich die Veränderung, die mit dem Tunnelbau begonnen und in den letzten Jahrzehnten nochmals eine Beschleunigung erfahren hat.

Bauliche Veränderungen

Das Wachstum der Gemeinde machte Infrastrukturbauten nötig: Es entstanden Bauwerke zur Eindämmung des Kelchbachs zwischen altem Dorf und Italienerviertel, und nach einer Typhusepidemie im ersten Barackendorf, das auf sumpfi gem Grund erbaut worden war, baute die Gemeinde ein Reservoir, Trinkwasserbrunnen und Abwasserkanäle. Doch vor allem die Siedlungsentwicklung entlang der Landstrasse kennzeichnete den Aufschwung. Die Einheimischen sprachen despektierlich vom «Negerdorf», auch wenn nicht nur Kreszentia Biffi ger-Wyssen von den Zugezogenen profi tierte. Dichter als sonst irgendwo im Kanton reihten sich im Italienerquartier Gaststätten aneinander, von der winzigen Bar oder Osteria in der Holzbaracke bis zum stattlichen Gasthaus mit Kost und Logis, vom Familienbetrieb bis zum anrüchigen Lokal. Die Cafés trugen Namen wie «Roma», «Monte Rosa», «Nazionale» und «Unione». Oft wurde gleichzeitig gewirtet und gehandelt. Ausser Spirituosen und Wein verkaufte man von Süssigkeiten und Tabakwaren bis zu Textilien und Kohle alle zum Leben notwendigen Waren, in kleinsten Mengen bis en gros. Bäcker, Negotiantinnen, Schuster, Früchtehändler, Schneiderinnen, Coiffeure, Velohändler, ja selbst ein Fotograf und ein Kinobetreiber boten in Lokalitäten verschiedenster Grösse ihre Dienste an. Neue Gastwirtschaften entstanden auch im Westen an der neuen Bahnhofstrasse, die über die Rhonebrücke nach Brig führte und wo – im Gegensatz zu den einfachen und oft improvisierten Bauten im Osten – die neuen Gebäude einen Hauch von Stadt verströmten. Die Bahnhofstrasse blieb jedoch Stückwerk. Den Brückenkopf am nördlichen Rhoneufer dominierte nicht etwa ein elegantes Geschäftshaus, sondern der hohe Bau der neuen Mühle. Stückwerk blieb auch das neue Rhoneufer mit den beiden repräsentativen Häusern von Rossi, dem italienischen Baumeister von Brigs Bahnhof und Bahnhofstrasse. Mit dieser konnte die Natischer Bahnhofstrasse niemals konkurrenzieren, sie blieb Hinterausgang. Das wirkte sich aus: Über Jahrzehnte liessen sich Bahnarbeiter und einfache Bahnangestellte an der Landstrasse und im Natischer Feld nieder; die hohen Zoll- und Bahnbeamten hingegen wohnten in Brig, das sich als internationaler Knotenpunkt verstand. Selbst sozial aufsteigende italienische Familien zog es nach dem Krieg nach Brig; die meisten Nachkommen der Mineure dagegen blieben in Naters.

Migration im Verwandtschaftverband

Die meisten Mineure kamen ebenso wie die Gewerbetreibenden aus dem heutigen Norditalien. Fast alle migrierten im Verwandtschaftsverband. Frauen und Männer, Junge und Alte sicherten sich in enger Kooperation und vielfältiger Arbeitsteilung die Existenzgrundlage.Exemplarisch zeigt dies die Familie Giachetto. Sie stammte aus einem Minendorf bei Turin und war bereits auf anderen norditalienischen und österreichisch-ungarischen Tunnelbaustellen beschäftigt gewesen, bevor sie sich in Naters niederliess und schliesslich eines der kleinen Häuser an der Landstrasse bezog. Ins Oberwallis war die Familie im Dreigenerationenverband gekommen: der Mineur Giuseppe Martino Giachetto, seine Frau Maria Beisone, die sich auf das Nähen von Kleidern für die Mineure spezialisiert hatte, sein Vater, ein Mineur auch er, seine Mutter, die den Gemüsegarten besorgte, sowie Söhne und Töchter. Die älteste Tochter Domenica arbeitete zeitweise als Köchin für Mineure, einen von ihnen heiratete sie 1921. Einige ihrer Geschwister arbeiteten in der für die neue italienische Kundschaft eröffneten Pastafabrik. Auch die «Dienstmagd» Genoveffa Milani kam zusammen mit zwei Brüdern, beide Mineure, nach Naters. Hier heiratete sie Liberale d’Alpaos, der im Dienste der Eisenbahngesellschaft «Jura-Simplon» Holzmaquetten für den Tunnelbau konstruierte. Zur Zeit des Baus der Lötschberglinie übernahm Genoveffa D’Alpaos-Milani 1908 weit draussen im Weingartenquartier das «Café Venezia», wo sie mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Kinder Mineure verköstigte. Liberale D’Alpaos machte sich mit der angegliederten Schreinerei ebenfalls selbstständig. Das «Venezia» blieb bis in die 1970er-Jahre ein wichtiger Treffpunkt der italienischen Bevölkerung von Naters, wo vor allem am Sonntag Handorgel gespielt und gesungen wurde. Seine Ausstrahlung hat es seitdem verloren, denn das alte Italienerquartier hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert.

Neuer Tunnel, neuer Wandel

Mit dem Bau der neuen Furkastrasse von der Bahnhofstrasse durch das Natischer Feld 1957 verschob sich in den Zeiten der Hochkonjunktur der 1960er- bis 1970er-Jahre das geschäftliche Zentrum nach Süden an die breite Strasse mit mehrstöckigen Wohn- und Geschäftsbauten aus Beton. Diese liessen die Häuser der Nachkommen der Mineure, aber auch vieler Bahnangestellter klein und verloren aussehen. Die Landstrasse geriet etwas ins Abseits, ebenso wie der alte Dorfkern rings um die Kirche. Im mehrfach vergrösserten Kaufhaus der Nachkommen von Kreszentia Biffi ger-Wyssen wechselten in den letzten Jahren verschiedentlich die Mieter. Bereits aber blättert auch schon der Verputz von den Blöcken aus der Hochkonjunktur, und an der breiten, auf den Autoverkehr ausgerichteten Furkastrasse bleiben einige Geschäfte unvermietet. Die leeren Schaufenster nehmen sich hier trostloser aus als die ebenfalls immer zahlreicheren ungenutzten Lokale an der alten Landstrasse. Während wohl die meisten Zeugnisse der Italienerzeit bald niedergerissen werden, um weiteren Baukomplexen Platz zu machen, fressen sich hinter der alten Missione moderne Wohnüberbauungen für gehobene Ansprüche den sonnigen Berghang hinauf. Wegen dieser Hanglage mausert sich Naters heute selbst für Briger vom einstigen Bauern-, Bähnler- und Proletendorf am Hinterausgang ihres prächtigen Bahnhofs zu einer attraktiven Wohnalternative. Denn auf die internationale Bedeutung dieses Aushängeschilds von Baumeister Rossi ist seit der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels und des Knotens Visp im Dezember 2007 kein Verlass mehr.

TEC21, Mo., 2008.04.14

14. April 2008 Elisabeth Joris

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