Editorial
uns interessieren hier nicht übrig gebliebene altertümlichkeiten und auch nicht die resultate einer nostalgischen sehnsucht nach dem vergangenen. doch gibt es in der geschichte der kultur immer wieder bewusste rückgriffe auf vermeintlich Überholtes, die jeweils ganz gegenwärtig sind, ja in die zukunft weisen. oft genug bilden sie sogar die basis für einen grossen aufbruch. man denke nur an die rückbesinnung auf die antike in der renaissance, an den so genannten primitivismus in der kunst zu beginn des 20. jahrhunderts, oder, parallel dazu, an den aufbruch der modernen architektur aus dem rückblick heraus auf die zeit „um 1800“. das griechische wort archaios, das dem begriff des archaismus zu grunde liegt, meint ja nicht bloss alt oder altertümlich, sondern auch ursprünglich. dieses ursprüngliche, in dem sich das unverstellt wesentliche zeigt, ist es, was archaismen so verheissungsvoll macht: in ihnen lässt sich eine feste basis (er)finden, auf der man aufbauen kann.
im berühmten frontispiz zu marc-antoine laugiers „essai sur l’architecture“ von 1755 wird dies wunderbar anschaulich gemacht. die architektur, mit zirkel und winkel zur rationalität gerüstet, weist auf die urhütte im hintergrund, die noch ganz roh und unmittelbar mit der natur verbunden ist. gleichzeitig steht sie im dialog mit einem genius, der die flamme der erkenntnis und der inspiration trägt und ebenfalls nach hinten zeigt: die architektur, ihr ursprung und ihre schöpferkraft bilden ein dreieck, aus dem die elaborierten kapitelle und gesimse im vordergrund ausgeschlossen bleiben, sinnlos zusammengewürfelt und ruinös. geht es darum, sie erneut zu einem ganzen zu fügen, oder gar darum, sich endgültig von ihnen abzuwenden? so oder so ist es der archaische bau, der dafür die grundlage bilden soll. nur durch eine orientierung an ihm liessen sich fundamentale fehler vermeiden und echte vollkommenheit erreichen, sagt laugier.
ein derartiges zurückgreifen auf grundlegendes bedeutet nun keineswegs, dass das resultat archaisch, oder gar primitiv oder auch nur einfach ausfallen müsste. alle beispiele in diesem heft beweisen dies, indem sie sich als höchst raffiniert und komplex erweisen. und doch schöpfen sie alle eine besondere kraft aus der rückbesinnung auf primäre themen. sie erscheinen dadurch auf besondere weise geerdet, und zwar nicht nur das lehmhaus von martin rauch und roger boltshauser, wo dies auch, aber eben nicht nur, in einem ganz wörtlichen sinn gilt.
es erstaunt nicht, dass archaismen häufig an epochenschwellen auftauchen, als ausdruck des bedürfnisses, sich angesichts einer ausgehenden, als allzu komplex oder gar unverständlich empfundenen kultur neu zu orientieren. für uns heute ist jedoch längst die „gleichzeitigkeit des ungleichzeitigen“ eine realität und damit auch das nebeneinander und die Überlagerung von bewusst oder unbewusst archaischem und raffiniertem. archaismen scheinen eine art permanenter kontrapunkt zu unserer kultur zu bilden, was ihnen nichts von ihrer reinigenden, den blick öffnenden kraft nimmt. die redaktion