Editorial
Zum Bild der Schweiz gehören die Alpen. Sie sind Lebens- und Wirtschaftsraum für die Alpenbewohner, Erholungsraum für stressgeplagte Städter, sie beherbergen eine aussergewöhnliche Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten und sind das Wasserschloss Europas, in dem auch ein grosser Teil der Schweizer Energie erzeugt wird. Aber das Bild, das wir in den Köpfen haben, bröckelt in der Realität. Viele alpine «Dörfer» unterscheiden sich mit ihrem wuchernden Siedlungsbrei kaum noch von den Städten im Flachland, die Klimaerwärmung macht sich bemerkbar, lässt Gletscher schmelzen und bringt auftauende Permafrostböden ins Rutschen. Auf verlassenen Alpweiden breitet sich der Wald aus, und die Biodiversität ist in Gefahr.
Wie sich Landschaften und Lebensräume der Alpen künftig entwickeln werden – und entwickeln sollen –, war die zentrale Frage des kürzlich abgeschlossenen Nationalen Forschungsprogramms 48, das insgesamt 35 Forschungsprojekte umfasste. Drei davon stellen wir in diesem Heft vor. Ein wichtiges Fazit der Forscher war, dass die Landschaftsentwicklung im Alpenraum nicht dem Zufall überlassen werden darf, sondern bewusst gestaltet werden muss, damit sie auch in Zukunft die vielfältigen an sie gestellten Ansprüche erfüllen kann. Voraussetzung dafür ist, dass die verschiedenen Wünsche und Bedürfnisse bekannt sind. Marcel Hunziker und sein Team befragten daher Alpenbewohner, Touristen und Fachleute. Dabei zeigte sich, dass Einheimische Landschaftsveränderungen eher aus einer existenziellen Perspektive beurteilen, während Auswärtige primär das Ursprüngliche und Wilde schätzen. Diese verschiedenen Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen ist eine Herausforderung für Politiker und Planer. Konfliktträchtig ist dabei auch der Umstand, dass Experten und Entscheidungsträger die Landschaftsentwicklung nochmals deutlich anders beurteilen als die breite Bevölkerung. Soll hier nicht an den Bedürfnissen vorbeigeplant werden, müssen also bei der Gestaltung von Landschaft und Lebensraum alle Interessengruppen einbezogen werden.
Ein weiteres zentrales Fazit des Forschungsprogramms ist, dass die in den Alpenraum fliessenden öffentlichen Mittel zielgerichteter eingesetzt werden müssen, indem sie an einen Leistungsauftrag gekoppelt werden. Martin Boesch und sein Team schlagen dafür die Zertifizierung von Regionen, die Landschaftsqualität fördern und auf eine nachhaltige Regionalentwicklung setzen, mit einem Label vor. Diese Label-Regionen würden einerseits finanziell gefördert und könnten andererseits das Label auch für die Vermarktung ihrer Produkte einsetzen.
Doch nicht alle Veränderungen lassen sich vom Menschen steuern: Die Alpen werden in den kommenden Jahrzehnten in einem ganz erheblichen Ausmass vom Klimawandel betroffen sein. Neben dem Bemühen, dessen Ausmass zu begrenzen, braucht es die frühzeitige Planung von Anpassungsstrategien, um mögliche Schäden zu minimieren. Eine wichtige Voraussetzung dafür schufen Wilfried Haeberli und Markus Egli, die die zu erwartenden Veränderungen mithilfe eines Geoinformationssystems am Beispiel des Oberengadins darstellten. Claudia Carle
Wer will welche Landschaft?
Die Landschaft ist eine der wichtigsten Ressourcen alpiner Regionen. Im Rahmen eines Forschungsprojektes wurden Alpenbewohner, Touristen, Städter und Experten zu ihren Erwartungen und Ansprüchen an künftige Landschaftsveränderungen befragt. Die teilweise gegensätzlichen Bedürfnisse offenbaren erhebliches Konfliktpotenzial.
Die alpinen Landschaften dienen der lokalen Bevölkerung seit je als wichtige Ressource, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ihr Erscheinungsbild war deshalb früher in erster Linie von der jeweiligen landwirtschaftlichen Nutzungsform geprägt. Die tief greifenden sozioökonomischen Veränderungen im 19. und 20. Jahrhundert haben die alpine Landschaft jedoch grundlegend verändert. Dabei wurden insbesondere drei neue landschaftsprägende Kräfte ausschlaggebend: Tourismus, Industrie und Transit.[1]
Heute ist die Alpenlandschaft längst nicht mehr nur für die ansässige Bevölkerung von Bedeutung. Sie muss diverse, sich oft widersprechende Bedürfnisse verschiedenster Interessengruppen befriedigen. Eine Planung der alpinen Landschaftsentwicklung, die den Bedürfnissen und Zielvorstellungen breiter Bevölkerungskreise entspricht, ist deshalb eine komplexe Aufgabe.
Doch welches sind diese Bedürfnisse und Zielvorstellungen? Dieser Frage widmete sich das Forschungsprojekt «Zielvorstellungen und Konflikte hinsichtlich alpiner Landschaftsentwicklung», ein Projekt des Nationalen Forschungsprogramms «Landschaften und Lebensräume der Alpen» (NFP 48).[2] Es versuchte, die Beurteilung von (künftigen) Landschaftsveränderungen im Alpenraum zu erfassen und ihre Hintergründe aus soziokultureller und umweltpsychologischer Perspektive zu erklären. Unter anderem wurden folgende Forschungsfragen behandelt:
– Welche Präferenzen hat die Bevölkerung gegenüber alpiner Landschaftsentwicklung, und wie lassen sie sich erklären?
– Unterscheiden sich die Haltungen verschiedener Bevölkerungsgruppen in Bezug auf Landschaftsveränderungen?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden zwei Teilprojekte mit unterschiedlichen Methoden durchgeführt. Im ersten Teilprojekt wurden Bewohner und Touristen von Mittelbünden interviewt. Im Zentrum des Interesses standen die Bedeutungen, die beide Gruppen mit Landschaftsattributen verbinden, aber auch die Wünsche und Befürchtungen der lokalen Bevölkerung hinsichtlich der Landschaftsentwicklung. Diese Fokussierung erlaubte die Untersuchung der Hintergründe von Urteilen über Landschaftsveränderungen.
Im zweiten Teilprojekt wurden repräsentative Erhebungen mit standardisiertem Fragebogen durchgeführt, welche mit statistischen Verfahren ausgewertet wurden. Wichtiger Bestandteil des Fragebogens waren visualisierte Entwicklungsszenarien von Landschaftsausschnitten aus der Region Mittelbünden. Erhoben wurden die Einstellungen der Schweizer Bevölkerung (inkl. Bewohner Mittelbündens), der Touristen Mittelbündens sowie von regionalen und überregionalen Experten und Entscheidungsträgern bezüglich Landschaftsentwicklung. Dieses Teilprojekt ermöglichte es, die Einstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen zu vergleichen.
Kulturlandschaft oder «Wildnis»?
Vielerorts im Alpenraum ist heute die Erhaltung der (traditionellen) Kulturlandschaft aufgrund des Rückzugs der Landwirtschaft in Frage gestellt. Verbuschung und Wiederbewaldung («sekundäre Wildnis») sind mögliche Folgen. Was sagt die breite Schweizer Bevölkerung dazu? Welche Präferenzen haben die Einheimischen bzw. die Touristen?
Die breite Bevölkerung, die zu 70% im (peri)urbanen Raum ausserhalb der Alpen wohnt, und die Touristen unterscheiden kaum zwischen den verschiedenen Landschaftsszenarien und beurteilen sie alle positiv (Bilder 2, 4 bis 7, 8 bis 13). Alpine Landschaft gefällt grundsätzlich, ein Befund, der besonders die Touristiker beruhigen sollte: Solange die Alpenlandschaft noch weitgehend naturnah, «grün», ist, spielen kleine Unterschiede in der Intensität der Bewirtschaftung keine so grosse Rolle, wie oft befürchtet wird. Die Wiederbewaldung wird zumindest nicht negativer beurteilt als die Erhaltung der Kulturlandschaft. Das heisst nun, dass aus der Sicht der Steuerzahler und Touristen im Hinblick auf das Landschaftserlebnis nicht jeder Quadratmeter Kulturlandschaft erhalten werden muss. Dabei ist jedoch zu beachten, dass dieses Urteil aus einer Situation heraus gefällt wurde, in welcher Kulturlandschaft auch im Alpenraum noch reichlich vorhanden ist. Wird diese knapper, dürfte ihre Wertschätzung wieder steigen.
Wahrnehmung der Landschaft als Existenzgrundlage
Die Unterschiede zwischen den drei Gruppen «breite Schweizer Bevölkerung», «Einwohner Mittelbündens» und «Touristen Mittelbündens» sind hinsichtlich der grossräumigen Landschaftsentwicklung (Bilder 2, 4 bis 7) in den meisten Fällen eher gering. Dieses Ergebnis ist für Politik und Planung erfreulich: Man kann weitgehend davon ausgehen, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen ähnliche Präferenzen haben. Eine Ausnahme bildet das Szenario «Verbrachung und Wiederbewaldung» (Bild 7): Dieses beurteilen die Mittelbündner signifikant negativer als die Touristen oder die Gesamtschweizer Bevölkerung. Wiederbewaldung ist für Personen aus der Region mehr als für Aussenstehende mit dem befürchteten Verschwinden der noch immer als ökonomische Existenzgrundlage wahrgenommenen Landwirtschaft verbunden. Für Personen von aussen hingegen scheint das Wilde und Ursprüngliche reizvoll zu sein – eine Landschaft, die sie an ihrem Wohnort nur selten erleben können. Ähnliches zeigt sich auch bei der Beurteilung anderer Entwicklungsszenarien durch die verschiedenen Interessengruppen, insbesondere, wenn sie aus der Nähe betrachtet werden (Bilder 8 bis 13), weil dann die mit der Landschaft verbundenen Bedeutungen konkreter erlebt werden. So beurteilen die Einheimischen intensive landwirtschaftliche Nutzung (Bilder 8, 10), die «innovative» Nutzungsform «Golfplatz» (Bilder 8, 13) sowie die tourismusbedingte Siedlungsentwicklung (Bild 1) positiver als die Auswärtigen.
Was ist authentisch?
Es geht also nicht nur um existenzielle Aspekte bei der Beurteilung der Entwicklungen. Aus den Ergebnissen der Interviews ging hervor, dass auch unterschiedliche Vorstellungen von authentischer Alpenlandschaft eine Rolle spielen[3]: Einig ist man sich darin, dass historische Landschaftselemente das kulturelle Erbe ausdrücken und damit zur Authentizität beitragen. Entsprechend werden traditionelle Nutzungsformen und Siedlungsteile positiv beurteilt, obschon diese Elemente u. U. ihre Funktion inzwischen eingebüsst haben. Für die Einheimischen ist aber auch die Entwicklung der Landschaft entsprechend ihren ak-tuellen (existenziellen) Bedürfnissen ein Ausdruck von Authentizität, auch wenn die reine «Erscheinungsform» der neuen Landschaftselemente nicht dem gängigen Bild der traditionellen Alpenlandschaft entspricht, das für die Schweizer Bevölkerung als nostalgisches Idealbild hohe Bedeutung hat. Diese «funktionale Authentizität» wird von den Auswärtigen zumeist nicht gewürdigt: Sie beurteilen primär funktionale Landschaftsentwicklungen (intensive Landnutzung, Golfplatz, moderne Siedlungsentwicklung) negativer als die Einheimischen. Für die Planung und die Politik, welche die Landschaftsentwicklung lenkt, ist dies eine Herausforderung: Es gilt, eine Entwicklung zu realisieren, die einerseits den Wunsch der lokalen Bevölkerung nach kultureller Identifikation und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten erfüllt, die aber auch den ebenfalls berechtigten Ansprüchen der Gesamtbevölkerung entspricht.
Experten urteilen anders als die Bevölkerung
Grosse Beachtung ist dem Umstand zu schenken, dass es zumeist nicht die breite Bevölkerung ist, welche die Landschaftsentwicklung lenkt. Dies übernehmen meist Experten mit ihren Gutachten und Ratschlägen sowie die Entscheidungsträger in Politik und Planung. Auch diese Personen sind Individuen mit spezifischen Präferenzen bzgl. Landschaftsentwicklung. Decken sich diese Präferenzen mit jenen der breiten Bevölkerung, den sogenannten Laien? Unsere Untersuchungen ergaben ein deutliches Resultat: Experten und Entscheidungsträger urteilen anders als die breite Bevölkerung (Bild 3). So bewerten die Experten die traditionelle Kulturlandschaft deutlich positiver, die Wiederbewaldung deutlich negativer als die breite Bevölkerung. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Experten und Entscheidungsträger stärker von Erkenntnissen früherer Untersuchungen – z. B. dem Unesco- und Nationalfonds-Forschungsprogramm «Man and Biosphere»[4], das die Erhaltung der traditionellen Kulturlandschaft vertrat – geprägt sind als die breite Bevölkerung, die stärker aufgrund der eigenen Interessen und Erlebensweisen urteilt. Will sich Politik und Planung jedoch in ihrem Handeln nicht von den Präferenzen der Bevölkerung abkoppeln und damit Akzeptanzschwierigkeiten riskieren, tut sie gut daran, die Einstellungen der «Laien» in ihre Entscheidungen aktiv einzubeziehen, beispielsweise mittels partizipativer Verfahren.
[ Marcel Hunziker, Dr. sc. nat., Geograf/Sozialwissenschafter, Katrin Gehring, Dr. phil., Psychologin, Susanne Kianicka, Dr. sc. nat., Ethnologin, Matthias Buchecker, Dr. phil. nat., Geograf / Sozialwissenschafter.
Alle AutorInnen waren Mitglieder des Projektteams und sind (z.T. ehemalige) Mitarbeitende der Gruppe Sozialwissenschaftliche Landschaftsforschung, Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, Birmensdorf ]TEC21, Mo., 2007.11.05
Literatur
[1] Bätzing, W.: Die Alpen. Entstehung und Gefährdung einer europäischen Kulturlandschaft. C.H. Beck, München, 1931.
[2] Lehmann, B., Steiger, U. und Weber, M.: Landschaften und Lebensräume der Alpen – Zwischen Wertschöpfung und Wertschätzung. Reflexionen zum Abschluss des Nationalen Forschungsprogramms 48. vdf, Zürich, 2007.
[3] Kianicka, S., Gehring, K., Buchecker, M. & Hunziker, M.: Wie authentisch ist die Schweizer Alpenlandschaft für uns? Ein Schwerpunkt des NFP-48-Projekts «Zielvorstellungen und Konflikte hinsichtlich alpiner Landschaftsentwicklung». Bündner Monatsblatt 2/2004, S. 196–210.
[4] Messerli, P.: Mensch und Natur im alpinen Lebensraum. Risiken, Chancen, Perspektiven. Haupt, Stuttgart, 1989.
05. November 2007 Marcel Hunziker, Katrin Gehring, Susanne Kianicka, Matthias Buchecker
Klimafolgen im Hochgebirge
Der Klimawandel wird Landschaft und Lebensraum in den Hochgebirgsregionen drastisch verändern. Das Projekt GISALP entwickelte ein vierdimensionales Geoinformationssystem für das Oberengadin, mit welchem die Veränderungen dargestellt werden können.
Die Entwicklung von Klima, Landschaft und Lebensraum der Alpen führt immer weiter von der historisch-empirischen Wissensbasis weg.[1, 2] Die Zukunft des hochkomplexen Mensch-Umwelt-Systems abzuschätzen, wird immer schwieriger. In besonderem Masse gilt dies für das durch Schnee und Eis geprägte Hochgebirge, wo die Zeichen des beschleunigenden Klimawandels schon heute klar zu erkennen sind: Der rasante Schwund der Gletscher und die tief greifende Erwärmung des Permafrostes oberhalb der Waldgrenze[3, 4, 5] sind in der öffentlichen Wahrnehmung stark in den Vordergrund getreten.
Um Handlungsmöglichkeiten und Planungsbedürfnisse abschätzen zu können, müssen Erfahrungen aus der Vergangenheit mehr und mehr durch realistische Szenarien zukünftig möglicher Entwicklungen ergänzt, wenn nicht gar ersetzt werden. Dazu braucht es eine entsprechende Wissensbasis. Das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 48 «Landschaften und Lebensräume der Alpen» durchgeführte Projekt GISALP hatte zum Ziel, ein integriertes räumlich-zeitliches («vierdimensionales») Geoinformationssystem aufzubauen, das als Instrument für Kommunikation, Analyse, partizipative Planung und Management dienen soll.[6, 7] Das entwickelte Geoinformationssystem bezieht sich auf die hochalpine Landschaft des Oberengadins, die durch steile Bergflanken und Gipfel, Schnee und Eis, Pioniervegetation sowie eine intensive Dynamik von Oberflächenprozessen charakterisiert ist. Die Untersuchung kombiniert die thematischen Schwerpunkte Geoinformatik und regionale Planung am Beispiel einer Region, deren weltberühmter Naturraum (Bild 1) die Basis für die wichtigste Einnahmequelle, den Tourismus, darstellt und die möglicherweise von drastischen Veränderungen bedroht ist.
Problemräume identifizieren
In einer für langfristige Trends angewendeten Analyse8 erscheinen die Klimaänderung – speziell der Eisschwund – und die Planungspolitik als entscheidende Treiber im Hochgebirgsteil des gesamten Mensch/Umwelt-Systems[7]: Sie beeinflussen die Landschaftsattraktivität, die Nutzungskonflikte, die Wahrnehmung der Region und die Zufriedenheit der Bevölkerung. Das GIS-basierte Geoinformationssystem GISALP6 konzentriert sich dementsprechend auf die Erfassung von Schlüsselvariablen der klimagesteuerten Landschaftsevolution im Hochgebirge: Gletscher, Permafrost, Pioniervegetation und Bodencharakteristik, wo die stärksten mittel- bis langfristigen Veränderungen auftreten.[10, 11, 12] Die vorhandenen Daten werden mit räumlichen Modellen und Klimaszenarien so verknüpft, dass für spezifische Objekte räumliche Verbreitungsmuster (z. B. Permafrost, Bodentypen), spezifische Prozesse (z.B. Murgänge, Eisstürze), integrative Aspekte (z. B. Disposition zu Naturgefahren, Landschaftsattraktivität) und entsprechende Veränderungs- und Problemräume berechnet werden können. Erste Modellierungen zukünftiger Entwicklungen basieren auf einem (wohl eher optimistischen) Klimaszenario mit einem Anstieg der mittleren Lufttemperatur für das Jahr 2050 von + 1.6°C und für das Jahr 2100 von +3°C bei gleichbleibendem Niederschlag.
Schneller Rückgang bei Gletschern und Permafrost
In Szenarien zukünftig erhöhter Temperatur sind Veränderungen im Zusammenhang mit Gletschern und Permafrost in den höchsten Bergregionen schon mit dem verwendeten, optimistischen Klimaszenario wie erwartet dramatisch (Bild 3). Eine weitgehende Entgletscherung auch der Berninagruppe ist noch im Laufe des jetzigen Jahrhunderts wahrscheinlich. Die Änderungen im Permafrost, der als Untergrundphänomen der direkten Beobachtung entzogen ist, dürften nicht minder drastisch sein und vor allem grosse Tiefenbereiche (> 100 Meter) umfassen. Im Gegensatz zum schnellen Gletscherschwund sind der Anstieg der Waldgrenze und die Verwaldung subalpiner Weiden langsame Prozesse. Selbst nach einem Jahrhundert werden Bäume in neu eisfrei gewordenen Gletschervorfeldern nur eine untergeordnete Rolle spielen (Bild 5). Subalpine Weiden werden auch bei Nutzungsaufgabe nur unmerklich verwalden. In den Gletschervorfeldern werden nach dem Gletscherrückzug mit der Zeit neue, jedoch geringmächtige Böden entstehen. Die generellen Bodeneigenschaften in den restlichen Gebieten werden sich im betrachteten Zeithorizont von max. 100 bis 150 Jahren nur wenig verändern.
Seen und Schuttfluren statt Eisflächen
Mit diesen klimaabhängigen Veränderungen eng verknüpft werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Landschaftsattraktivität (Bild 2) und die Naturgefahrenpotenziale wesentlich verändern. Dies vor allem dort, wo neu Seen in heute gletscherbedeckten, übertieften Tälern entstehen. Gletscher, Wald und Seen als charakteristische Landschaftselemente der Hochgebirgslandschaft im Oberengadin werden in ihrer heutigen Kombination kaum erhalten bleiben. Durch den Gletscherrückzug werden die Fels- und Moränenvorfelder bedeutend an Fläche zunehmen. Die «leuchtenden» Firn-/Eisflächen mit ihrem Symbolcharakter für eine «reine, ungestörte» Natur dürften für Generationen durch monotone Schutt- und Felsfluren ersetzt werden. Eine Folge davon ist die Abnahme der Landschaftsattraktivität dort, von wo aus Gletscher ursprünglich sichtbar waren, also auch in den Siedlungen der Tallage. Lokal wird diese negative Entwicklung durch neu entstehende Seen in sukzessive eisfrei werdenden Gletscherbetten kompensiert. Solche Seen könnten sich schon in den kommenden Jahrzehnten am Morteratschgletscher am Fuss des Piz Bernina und am Persgletscher unterhalb des Piz Palü bilden (Bild 4). Die Veränderung von Naturgefahren und damit verbundene Nutzungskonflikte werden am deutlichsten bei der Bildung solcher Seen sichtbar. Die Möglichkeit von grossen Sturzereignissen aus umgebenden Steilflanken mit ihren stark veränderten Eisbedingungen über und unter der Oberfläche13 nimmt zu und führt zusammen mit den Seen in ihrer potenziellen Sturzbahn zur Gefahr von grossen und weitreichenden Flutwellen und Murgängen (Bild 4) – Prozessketten, die mit modernen und zukunftsorientierten Konzepten der Naturgefahrenabschätzung behandelt werden müssen[14].
Basis für frühzeitige Anpassungsstrategien
GIS-basierte Geoinformationssysteme wie GISALP ermöglichen es, nicht nur einzelne Landschaftsobjekte oder Naturgefahrenprozesse räumlich-zeitlich zu modellieren, sondern die Hochgebirgslandschaft als Synthese aus einzelnen Teilbereichen gesamthaft zu betrachten und die Reaktion auf steigende Temperaturen beispielsweise durch Koppelung von regionalen Klimamodellen und GIS-basierten Impaktmodellen15 integral abzuschätzen. Sie sind die Basis für den Aufbau regionaler Kapazität im Umgang mit schnellen Umwelt- und Geosphärenveränderungen. In erster Linie vermitteln sie eine Übersicht über das vorhandene Wissen und Verständnis bezüglich der beteiligten Komponenten. Dadurch machen sie die wissenschaftliche Reflexion – Annahmen, Prozessverständnis, Empirie, Szenarien – transparent und zeigen Wissenslücken auf. Insbesondere helfen sie, die langfristige Entwicklung komplexer Systeme abzuschätzen. Sie sind allerdings noch weit von Idealzuständen entfernt und müssen deshalb im Hinblick auf die schnellen Veränderungen im Forschungsstand, in der einsetzbaren Technologie und vor allem in der Natur ständig verbessert werden.
Im Gegensatz zu Daten und Modellen für die abiotischen Bereiche (z. B. Gletscher, Seebildung, Permafrost, Murgänge) sind die biotischen Aspekte wesentlich komplexer und weit weniger gut erfasst. Für die Bodenverbreitung wurde im Zusammenhang mit dem
GISALP-Projekt eigens ein neues GIS-basiertes Modell entwickelt16. Für das Nachrücken der Vegetation in eisfrei werdende Gebiete fehlt jedoch ein quantitatives räumlich-zeitliches Modell noch weitgehend. In Anbetracht der beschränkten, inhomogenen und teilweise fehlenden Grundlagen müssen relativ einfache und robuste Modelle verwendet werden, deren Anwendungsbereich nach Möglichkeit durch komplexere Modelle und gezieltes Monitoring zu überprüfen ist. Die vorhandene räumlich-langzeitige Information muss mit Daten und Modellen höherfrequenter Abläufe (Lawinen, Schneeschmelze, Hochwasser etc.) kombiniert werden. Einsatz und Weiterentwicklung der Systeme erfordert eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen wissenschaftlicher Forschung, lokaler Praxisberatung und politischer Planung. Im Hinblick auf die bevorstehenden Veränderungen sind möglichst frühzeitig Visionen für mittel- bis langfristige Milderungs- und Anpassungsstrategien (Bild 6) gefragt. Systeme wie GISALP können helfen, entsprechende Möglichkeiten und Grenzen zu definieren.
[ Wilfried Haeberli, Geografisches Institut, Universität Zürich, Markus Egli, Geografisches Institut, Universität Zürich ]TEC21, Mo., 2007.11.05
Anmerkungen
Weitere Informationen findet man im Schlussbericht des NFP-Projektes GISALP6, in den Dissertationen von Rothenbühler
und Meilwes[7, 9] oder in spezialisierten Publikationen z.B. [10, 11, 12].
Literatur
[1] Bätzing, W.: Die Alpen – Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. Verlag C.H. Beck, München,
2003, 431S.
[2] Huber, U. M., Bugmann, H. K. H., und Reasoner, M. A. (Hrsg.): Global change and mountain regions (a state of
knowledge overview). Springer, Dordrecht.
[3] Watson, R. T., und Haeberli, W. (2004): Environmental threats, mitigation strategies and high-mountain areas.
In: Royal Colloquium: Mountain Areas – a Global Resource; Ambio Special Report 13, 2004, S. 2–10.
[4] Zemp, M., Haeberli, W., Hoelzle, M., und Paul, F.: Alpine glaciers to disappear within decades? Geophysical
Research Letters 33, 2006, L13504 (doi: 10.1029/2006 GL026319).
[5] Noetzli, J., Gruber, S., Kohl. Th., Salzmann, N., und Haeberli, W.: Three-dimensional distribution and evolution
of permafrost temperatures in idealized high-mountain topography. Journal of Geophysical Research 112, 2007,
F02S13 (doi: 10.1029/2006JF000545).
[6] Haeberli, W., Keller, F., Krüsi, B.O., Egli, M., Rothenbühler, C., Meilwes, J., Maisch, M., Burga, C., und Gruber,
S.: Raum-zeitliche Information über schnelle Klimaänderungen in hochalpinen Umweltsystemen als strategisches
Werkzeug für Analyse, Kommunikation, partizipative Planung und Managment im Tourismusgebiet Oberengadin.
Schlussbericht des Teilprojektes GISALP, NFP 48 (Nationales Forschungsprogramm «Alpen»). Vdf-Verlag, Zürich,
2007.
[7] Rothenbühler, C.: GISALP – räumlich-zeitliche Modellierung der klimasensitiven Hochgebirgslandschaft des
Oberengadins. Schriftenreihe Physische Geographie (Universität Zürich), Glaziologie und Geomorphodynamik 50,
2006, 179 S.
[8] Vester, F.: Die Kunst, vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Deutscher
Taschenbuch Verlag, München, 2002.
[9] Meilwes, J. (im Druck): Sozioökonomische und landschaftsökologische Betrachtung hochalpiner Regionen unter
Berücksichtigung systemrelevanter Veränderungsprozesse am Beispiel des Oberengadins. Schriftenreihe Physische
Geographie (Universität Zürich), Glaziologie, Geomorphodynamik & Geochronologie.
[12] Paul. F., Maisch, M., Rothenbühler, C., Hoelzle, M., und Haeberli, W.: Calculation and visualisation of future glacier
extent in the Swiss Alps by means of hypsographic modelling. Global and Planetary Change 55, 2007, 343–357.
[13] Gruber, S., und Haeberli, W.: Permafrost in steep bedrock slopes and its temperature-related destabilization
following climate change. Journal of Geophysical Research 112, 2007, F02S18 (doi:10.1029/2006JF000547).
[14] Huggel, C., Haeberli, W., Kääb, A., Bieri, D., und Richardson, S.: An assessment procedure for glacial hazards
in the Swiss Alps. Canadian Geotechnical Journal 41, 2004, 1068–1083.
[15] Salzmann, N., Noetzli, J., Hauck, C., Gruber, S., Hoelzle, M., und Haeberli, W.: Ground surface temperature
scenarios in complex high-mountain topography based on regional climate model results. Journal of Geophysical
Research 112, 2007, F02S12 (doi:10.1029/2006JF000527).
[16] Egli, M., Margreth, M., Fitze, P., Tognina, G. und Keller, F.: Modellierung von Bodeneigenschaften im Oberengadin
mit Hilfe eines GIS. Geographica Helvetica 60, 2007, S. 87–96.
05. November 2007 Wilfried Haeberli, Markus Egli