Editorial

Gesellschaftliche Achtung und Anerkennung orientieren sich meist an den Leistungen oder der Beliebtheit einer Person. Bei Architekten und Ingenieuren geschieht dies zum einen über die Anerkennung des Titels, zum anderen oftmals über die Berichterstattung in Zeitschriften, die über die Qualität ihrer Werke befindet oder in der Realität über die Höhe der Honorarleistungen. Letzteres scheint dabei genauso willkürlich zu sein wie die oft subjektive Architekturkritik, denn Stararchitekten erhalten ein anderes Honorar und Prestige als alle anderen. Dass aber diese selbst auch Schwierigkeiten bei der Ausführung ihrer Bauten haben, zeigen Beispiele von Perrault in Moskau oder Herzog & de Meuron in Peking.

Die Leistungen, gemessen an der Qualität der Bauwerke, und deren Wertschätzung betreffen sowohl das Erhalten des architektonischen Erbes und damit den Umbau, die Sanierung oder das Weiterbauen am Bestand als auch das Erstellen von Neubauten. So forderte schon Gottfried Semper, dass sich niemand in seine Entwürfe einmische, und er kritisierte heftig den lange Zeit in Dresden wirkenden Altertumsforscher Johann Joachim Winkelmann: Durch ihn und viele andere Kunsthistoriker sei wegen fehlender Wertschätzung «an der Architectur schreiendes Unrecht geschehen [...]». So wäre es eigentlich selbstverständlich, den Architekten bzw. die Architektin des Bauwerkes bei einem Umbau hinzuzuziehen. Dies geschieht jedoch leider allzu selten und ist urheberrechtlich nicht einzufordern, denn alles, was nachträglich – nach der Fertigstellung des Baus – von der Bauherrschaft verändert wird, ist rechtens, sofern es sich nicht um ein geschütztes Denkmal handelt. Oftmals fehlen auch die objektiven Kriterien für qualitätvolle Architektur – ist diese dem Zeitgeist unterworfen oder der nicht mehr angemessenen Nutzung?
Bei Neubauten beginnt die Auseinandersetzung um die Wertschätzung der Planer bereits in der Wettbewerbsphase und deren gerechter und angemessener Durchführung, sie geht weiter bei der Planung und den Abänderungsmöglichkeiten durch Dritte und damit der Gewährung des Urheberrechts und endet in der Ausführung, wenn andere Partner wie Unternehmer und Investoren mitwirken. So führen derzeit der Architekt I.M. Pei und der Bauunternehmer Fluor Corp über die Überschreitung von 40 Mio. US-Dollar bei der Errichtung des Orange County Performing Art Center in Kalifornien einen Rechtsstreit, wobei auch die Ästhetik der Architektur Teil der Debatte ist.

Wichtig ist, dass ein Bewusstsein geschaffen wird, das der Baukultur einen adäquaten gesellschaftlichen Stellenwert zugesteht. Preise wie der AIA Gold Medal Award, der 2006 an Antoine Predock verliehen wurde (S. 18 ff.), können dabei helfen. Doch selbst bei fast schon historischen Figuren wie Oskar Niemeyer (S. 27ff.), wo dieser Stellenwert eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, sind Grenzen gesetzt. Und von anderen wie Meinrad Gerkan in Berlin (S. 24ff.) muss dieser Stellenwert erst mühsam erstritten werden – nicht nur um die Ehre des Architekten zu wahren, sondern für den Erhalt des Berufsstandes der Architektinnen und Ingenieure und deren kreative ­Leistungen.

Inhalt

Wettbewerbe
Villa Patumbah, Zürich

Magazin
Raumfüllende Sprungschicht | Wald und Raumplanung: Quo vadis?

Archaische Formen
Dominic Marti
Das Schaffen des Architekten Antoine Predock ist geprägt von der Bauweise der Anasazi-Indianer. Bauwerk und Landschaft verschmelzen zu einer Einheit.

Lernen von Berlin
Isabelle Vogt
Der Lehrter Bahnhof von Berlin darf nicht entstellt werden. Mit diesem Urteil setzt das Landgericht Berlin ein Zeichen für den Schutz gestalterisch wertvoller Bauwerke.

Sensibilisieren in Beirut
Carole Gürtler
Im Libanon diente ein unvollendetes Messegelände von Oscar Niemeyer lange als Militärbasis. Nun kämpfen Intellektuelle für dessen Erhalt und Schutz.

SIA
Symposium Via della Pietra | Vernehmlassung Norm SIA 384/1 Hochzufriedene Projektierer| Seminar Freizeitwald

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Archaische Formen

An der Wand hinter Antoine Predocks Arbeitstisch hängen zwei grosse Schwarzweissfotos von Chaco Canyon und Pueblo Bonito, Bauten der Anasazi-Indianer aus der Hochblüte ihrer Kultur zwischen 850 und 1150. Es ist diese Architektur, die auf sein Schaffen grossen Einfluss ausübt und auf die er seine Arbeiten bezieht. Predock ist Träger zahlreicher renommierter Auszeichnungen und erhält diesen Herbst den Design-Award 2007 des Smithsonian Cooper-Hewitt National Museum.

Predocks zeitgenössische Werke weisen den Bauten der Anasazi-Indianer (Kasten S.20) ähnliche architektonische «DNA-Spuren» auf. Es sind archaische Formen, die die Erd-
kruste durchstossen – Bauwerk und Landschaft verschmelzen dabei zu einer Einheit: schlichte, fensterlose Gebäudeformen, die als Teil der Landschaft wahrgenommen werden. Predock arbeitet mit nackten Materialien, die der Kargheit der Landschaft entsprechen. Seine Bauten integrieren sich in einen Kontext, sind aber als eigenständige, moderne Zeichen lesbar. Sie sind mit der Tradition und dem Wesen des Ortes verbunden. Predock: «Die Grundlage meiner Entwürfe ist immer der Ort, der Ausdruck des Geistes eines Ortes. Hinter diesem universalen Anspruch steht die Frage nach dem Wesentlichen, dem Tiefgründigen, Unsichtbaren.»
Zwanzig Jahre baute Predock in der Landschaft, die seine Heimat geworden war, im Südwesten der USA. Seine Bauten dort sind dem Wüstenklima angepasst, sie gelten als gute Beispiele eines zeitgenössischen Regionalismus. Sein Hauptbüro ist in Albuquerque an der Route 66, weitere Ateliers befinden sich in Los Angeles und Taiwan. Seit Mitte der 1980er-Jahre ist Predock über den regionalen Rahmen hinausgewachsen, Projekte in
Florida, Texas, Taiwan, Minnesota, Wyoming, Winnipeg, Los Angeles, Paris, Kopenhagen, Sevilla, San Diego und Agadir liegen auf den Tischen.

«Wer in der Wüste baut, muss wissen, woher der Wind weht»
1936 geboren in einer Kleinstadt in Missouri, zog Predock Mitte der 1950er-Jahre nach Albuquerque zum Studium an der UNM University of New Mexico. Sein Lehrer Don Schlegel erkannte bald seine Begabung zum Zeichnen. Nach dem Diplom und Arbeiten in Architekturbüros in Texas realisierte Predock seinen Erstling, die Wohnsiedlung La Luz (Bilder 1–3) am Stadtrand von Albuquerque an den Ufern des Rio Grande(1967–74). Lehmziegel zu Blocksteinen geformt und luftgetrocknet (Adobe), so bauten bereits die Pueblo-Indianer und die Spanier. La Luz ist alt und zugleich neu. Predock hat der Lehmarchitektur ihren Platz in der Modernen Architektur geschaffen. Dicke Mauern schützen vor glühender Tageshitze und geben die im Lehm gespeicherte Wärme in den kühlen Nächten an die Räume ab. «Wer in der Wüste baut, muss wissen, woher der Wind weht.» (Predock)

Nach Südwesten, der Richtung, aus der die jährlichen Sandstürme kommen, zeigen sich nur fensterlose Mauern. Mit äusserster Sorgfalt ist die Mauer bearbeitet. Sie ist das schützende Element, wächst tief aus dem Erdinnern zum Himmel, trennt Licht von Schatten, verbindet Himmel und Erde. Die Farben der Wände stehen im Einklang mit der Wüstenlandschaft. Antoine Predock: «New Mexico hat mein Denken, meine Entwürfe geprägt, New Mexico ist eine Herausforderung, die ich angenommen habe, New Mexico ist eine Schule, die mich die richtige Verhaltensweise gelehrt hat; diese Erfahrungen haben auch anderswo ihre Gültigkeit.»

Bewusstere Wahrnehmung unerwarteter Räume

Der Mythos der Goldenen Städte von Cibola, in New Mexico vermutet, bewahrte die Indianer New Mexicos vor grösseren Massakern. Etwas von diesem Mythos lebt weiter im Werk von Antoine Predock: die geheime Öffnung, durch die Energie des Kosmos in die menschliche, kulturelle Manifestation strömt (Campbell). Der Zugang zum Raum will entdeckt werden. Predocks Bauten offenbaren sich nicht auf den ersten Blick. Wo geht es hinein, wie komme ich wieder heraus? Der Betrachter wird verführt zum bewussten Wahrnehmen unerwarteter Räume.

Zur bewussten Wahrnehmung gehört auch eine gewisse Desorientierung. Der Weg führt durch Schleusen, an jeder Schleuse gibt der Besucher ein Stück Erinnerung ab an den Lärm, an die Gluthitze. Das grelle Licht wird gebrochen, filtriert. Der Besucher wird erfasst vom geheimnisvollen Innenraum mit seinem Wechselspiel von Licht und Schatten – ein Kino-Effekt. Architektur erfahren ist eine physische und intellektuelle «Reise» – ins Unerwartete. Die Choreografie muss stimmen wie bei Tanz und Ballet (während seiner Studienzeit hatte sich Predock intensiv mit Tanz und Ballet, mit der Bewegung des Körpers im Raum befasst). Der Bewegungsablauf bringt ständigen Wechsel der Gegensätze: Spannung – Entspannung, Licht – Schatten, wechselnde Raumhöhen.

bauen mit phantasie und Disziplin

Nebst dem musischen Talent verfügt Antoine Predock über die Doppelbegabung Phantasie und Disziplin. Phantasievoll und zugleich diszipliniert ist sein erster grösserer Bau – ein Auftrag aus einem Wettbewerb –, das Nelson Fine Arts Museum (1989, Bild 4): ein kühner Bau, dynamisch. Der Besucher wird auf eine Entdeckungsreise geführt, langsam wandert das Auge vom Licht ins Dunkel. Der Bau auf dem Universitätsgelände beinhaltet ein Kunst- museum, eine Schauspielschule, ein Tanzstudio, ein Theater und mehrere Skulpturengärten. Wesensverwandt und doch anders: das Spencer Theater for the Performing Arts, auf einer Mesa (Tafelberg) in der Wüste von New Mexico gelegen (Bilder 5 und 6). Lage und Form sind abgeleitet vom majestätischen Bergmassiv der Sierra Blanca: ein weisser Baukörper (Kalkstein), der die Erdkruste durchdrungen hat, um dem Berg die Reverenz zu
erweisen. Im Innern des Theaters, im Foyer, schweift der Blick weit über die Mesa.

Überraschend ist der Zugang zum Besucherzentrum im Rio-Grande-Naturreservat (Bilder 7 und 8). Durch einen langen Tunnel betreten die Besucher das Naturreservat und finden sich am Ausgang in der üppigen Natur des Rio-Grande-Ufers wieder. Eine akustisch gelungene Ergänzung ist die Übertragung der vielen Vogelstimmen in den Raum der Beobachtungsstation (1982).
In den Wohnhäusern Lazarus und Shadow House zeigt sich die Fähigkeit zur Abstraktion. Beide Bauten gehen weit über das übliche Adobe-Haus hinaus. Der Raum ist fliessend, die Übergänge sind rund, es gibt keine spitzen Kanten und rechten Winkel. «Lazarus» ist ein Zeichen in der Wüste.

Ebenso durch ein klares Zeichen gut sichtbar ist die Mesa Public Library (inneres Titelbild) an der Kante der Mesa (1994). Sie besteht aus Bibliothek, Lesesälen, Büchermagazin und Verwaltung. Der Bau wählt einen Mittelweg zwischen einer abstrakten Skulptur und der stilistischen Anpassung an die Umgebung der Forschungsstation Los Alamos.

In diesen Tagen wird Predocks neustes Werk, die Architekturschule von New Mexico, eingeweiht: Die New School of Architecture and Planning UNM ist ein gemeinsames Werk von Antoine Predock und Jon Anderson. Der Bau will den Studierenden das Potenzial vermitteln, das in guter Architektur und Raumgestaltung liegt, er soll Lehrstück sein für werdende Architekten, Ansporn, es noch besser machen zu wollen. Die UNM ist landesweit die einzige Architekturschule direkt an der legendären Route 66.

Identifikation mit dem Ort

Letztes Jahr durfte Predock für sein Gesamtwerk den AIA Gold Medal Award entgegennehmen, und In diesem Herbst wird er anlässlich der National-Design-Woche auch den Preis des Smithsonian Cooper-Hewitt National Design Museum erhalten. 1980 bereits hatte die Zeitschrift «Forbes» Antoine Predock als einen der Erneurer der amerikanischen Architektur aufgeführt, mit ihm damals I.M Pei, Philip Johnson, Ezra Ehrenkranz, Bennie Gonzales, Charles Moore, John Rauch, Denise Scott Brown und Robert Venturi. Robert Venturi über seinen Kollegen Predock: «Es ist genial und zeugt von grosser Kunst, wie Antoine sich mit dem Ort, wo er baut, identifiziert. Diese Qualität macht ihn zur Weltklasse.»

Das Werk von Antoine Predock passt in kein Schema und keine Schule. Er ist Einzelgänger, ohne Paten und Sponsoren. Gerade diese Stellung macht ihn in Amerika so populär. Dem Betrachter in Europa sind wohl das Hotel Santa Fe bei Paris, das Projekt für den Amerikanischen Pavillon an der Weltausstellung in Sevilla oder jenes für das Dänische Nationalarchiv bekannt – im Übrigen muss ihn Europa aber noch entdecken.

TEC21, Mo., 2007.09.03

03. September 2007 Dominic Marti

Lernen von Berlin

Das Landgericht Berlin hat in einem Aufsehen erregenden Urteil eine Klage der Architekten Meinrad von Gerkan und Jürgen Hillmer gutgeheissen. Diese hatten sich gegen die Entstellung des von ihnen entworfenen Lehrter Bahnhofs in Berlin gewehrt. Das Gericht hat mit seinem Entscheid ein starkes Zeichen für den Schutz gestalterisch wertvoller Bauwerke vor Entstellung gesetzt.

Die Architekten Meinhard von Gerkan sowie Jürgen Hillmer entwarfen und planten für die Deutsche Bahn AG den «Neuen Lehrter Hauptbahnhof Berlin». In umittelbarer Nähe des Berliner Regierungsviertels gelegen, entstand bis 2006 ein gigantisches Bauwerk, das zum grössten Bahnhof Europas für Fern-, Regional- und Nahverkehr werden sollte. Beim Projekt handelt es sich um einen Kreuzungsbahnhof, dessen oberirdische Gleise mit West-/Ostverlauf in 15 m Tiefe von einem achtgleisigen Nord-Süd-Trassee gekreuzt werden. ­Eingebettet sind die unterirdischen Gleise in einer 450 m langen, rund 12 m hohen Bahnhofshalle.

Aus akustischen Gründen und zur Verkleidung der Versorgungsleitungen wurde die Halle mit einer abgehängten Decke ausgestattet. Dafür hatten die Architekten eine Kreuzgewölbedecke mit Gewölbetischen bestehend aus je vier Gewölbesegeln ge­plant. Die Deutsche Bahn AG liess statt dessen ohne Wissen der Architekten Flachdecken einbauen. Dagegen reichten die Architekten Klage beim Landgericht Berlin ein. Sie verlangten, dass die Flachdecke entfernt wird. Zwar hatten die Architekten, wie bei solchen Grossprojekten verbreitet, der Bauherrin im Planervertrag u.a. das ausschliessliche, unwiderrufliche, unbeschränkte Recht eingeräumt, alle Pläne, Entwürfe ganz oder teilweise zu nutzen und ohne ihre Mitwirkung zu ändern. Sie stellten sich jedoch auf den Standpunkt, dass die ­vorliegende Änderung unzulässig sei, weil mit dem Einbau der Flachdecke das von ihnen geplante Bahnhofsgebäude entstellt worden sei; damit sei ihr Persönlichkeitsrecht als ­Urheber verletzt worden. Das Landgericht Berlin hiess im November 2006 die Klage der ­Architekten vollumfänglich gut und verpflichtete die Deutsche Bahn AG, die Flachdecke zu entfernen. Dieser Entscheid, der für die Bauherrin Kostenfolgen von über 44.5 Mio. Euro bedeutet, hat in Deutschland hohe Wellen geschlagen. Zwischenzeitlich liegt die schriftliche Begründung des Urteils vor – Grund genug, sie sich auch hierzulande genauer anzusehen.

Begründung des Urteils

Das Landgericht geht in seinem Entscheid nach genauer Analyse des Bahnhofsgebäudes und der geplanten Gewölbedecke davon aus, dass es sich dabei um individuelle schöpferische Leistungen und deshalb um urheberrechtlich geschützte Werke im Sinn des deutschen Urheberrechtsgesetzes handelt; das vorliegende Bauwerk sei ein Unikat, das bereits mit dem Anspruch in Auftrag gegeben worden sei, ein in jeder Hinsicht herausragendes, für die Hauptstadt repräsentatives Kunstwerk zu entwerfen, einem Anspruch, dem die Architekten gerecht geworden seien.

Als urheberrechtlich geschütztes Werk untersteht der Bahnhof mit seiner Gewölbedecke dem deutschen Urheberrechtsgesetzes (UrhG). In seiner Rechtsprechung geht der deutsche Bundesgerichtshof davon aus, dass ein Urheber «grundsätzlich ein Recht darauf [hat], dass das von ihm geschaffene Werk, in dem seine individuelle Schöpferkraft ihren Ausdruck gefunden hat, der Mit- und Nachwelt in seiner unveränderten individuellen Gestaltung zugänglich gemacht wird» (BGH GRUR 1999, S. 230 f). Dieser Anspruch gelte allerdings nicht absolut; nicht jede Abweichung von einem Entwurf stelle eine Verletzung des Urheberrechts dar. Der Anspruch des Architekten auf Realisierung eines Bauwerkes nach seinen Vorstellungen setzt gemäss den deutschen Richtern vielmehr zunächst voraus, dass der Bauherr, der die finanziellen Folgen eines Bauprojektes trägt, den Entwurf genehmigt hat. Dies könne ausdrücklich geschehen oder dadurch, dass er mit der Umsetzung des Projektes beginnt. Im vorliegenden Fall sah das Gericht diesen Umstand als erwiesen an; die Bauherrin hatte den Rohbau mit den entsprechenden Vorrichtungen zur Aufnahme der abgehängten Gewölbedecke errichten lassen und damit eine Entscheidung zugunsten der Gewölbedecke getroffen.

Grenzen des Änderungsrechts

Zwar hatte sich die Bauherrin vertraglich ein Änderungsrecht gesichert. Von einer Änderungsbefugnis dürfe ein Bauherr – so das Landgericht Berlin – gemäss Treu und Glauben aber nicht uneingeschränkt, sondern nur zur Wahrung eigener berechtigter Interessen Gebrauch machen. Dazu zählten das Interesse an der Einhaltung der Baukostensumme, wobei nur eine «nachhaltige Überschreitung der prognostizierten Baukosten» eine Änderung rechtfertige. Dies sei vorliegend nicht nachgewiesen. Eine Grenze finde das Änderungsrecht zudem im Verbot der Entstellung eines Werkes, einem Ausfluss des Urheberpersönlichkeitsrechtes. Eine Entstellung liege bei einem besonders schwerwiegenden Eingriff in die geistige Substanz des Bauwerkes vor, der den Gesamteindruck des Werkes verändere und damit die Reputation der Architekten als vermeintliche Schöpfer des Werkes nachhaltig beeinträchtige. Eine solche Entstellung sahen die Richter durch die Wirkung und die Grösse des Eingriffs sowie angesichts der (internationalen) Bedeutung des Baus und seines hohen gestalterischen Anspruchs als gegeben an.

Schliesslich verlangen die deutschen Richter, dass die Vorteile, die den Architekten durch die Entfernung der Flachdecke erwachsen, in einem zumutbaren Verhältnis zu den der Bauherrin erwachsenen Nachteilen stehen. Da die Entfernung der Decken als technisch machbar erklärt wurde, erachtete das Gericht dies trotz des enor­men Kostenaufwandes als zumutbar angesichts der «Bedeutung des Bahnhofs als künstlerisches Unikat und unter Berücksichtigung des Ranges, den ihm die öffentliche Wahrnehmung zubilligt».
Das Landgericht Berlin hat mit dem vorliegenden Urteil dem Urheberpersönlichkeitsrecht und dem sich daraus ergebenden Schutz gegen Entstellung eines Werkes grosses Gewicht verliehen. Und es hat nachdrücklich erklärt, dass der Persönlichkeit des Urhebers wie auch der gestalterischen Integrität von Bauwerken als Kulturgut gegenüber rein wirtschaftlichen Interessen ein hoher Wert beigemessen wird. Dieses Verdikt dürfte in Zukunft in Deutschland dazu führen, dass Architekten als Gestalter ernster genommen und dass für Änderungen an Bauwerken während und nach deren Realisierung vermehrt die Entwurfsarchitekten beigezogen werden.

Ein Vergleich mit der Schweiz

Auch in der Schweiz existiert eine gesetzliche Grundlage, auf die sich der Urheber eines Werkes berufen kann, wenn er sich gegen die Entstellung seines Werkes wehren will. In Art. 11 Abs. 2 des Schweizerischen Urheberrechtsgesetzes (URG) heisst es: «Selbst wenn eine Drittperson vertraglich oder gesetzlich befugt ist, das Werk zu ändern (...), kann sich der Urheber oder die Urheberin jeder Entstellung des Werkes widersetzen, die ihn oder sie in der Persönlichkeit verletzt.» Zu diesem Zweck kann er u.a., wie in Deutschland, die Beseitigung des bestehenden, verletzenden Eingriffs verlangen (Art. 62 Abs. 1 lit. b URG). Die Rechtsgrundlagen sind in diesem Punkt in Deutschland und der Schweiz vergleichbar. Dennoch ist ein Entscheid, wie er in Deutschland ergangen ist, derzeit in der Schweiz kaum denkbar; regelmässig werden hierzulande die wirtschaftlichen Interessen und das Selbstbestimmungsrecht der Grundeigentümer höher gewertet als das Interesse an Werkintegrität und am Schutz des Urheberpersönlichkeitsrechtes. Dies dürfte im vorliegenden Fall, da die finanziellen Folgen für die Bauherrschaft ganz beträchtlich sind, in besonderem Mass zutreffen. Damit offenbart sich auf der Grundlage einer vergleichbaren rechtlichen Grundlage eine grundsätzlich unterschiedliche Haltung gegenüber Architektur und Umweltgestaltung. Eine Haltung, die auf Schweizer Seite angesichts der Konsequenzen für den Bestand hochwertiger Architektur als Teil unseres Kulturgutes überdacht werden sollte.

TEC21, Mo., 2007.09.03

03. September 2007 Isabelle Vogt

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