Details

Bauherrschaft
Jüdische Gemeinde Mainz
Funktion
Sakralbauten
Wettbewerb
1999
Fertigstellung
2010
Bruttogeschossfläche
2.500 m²
Baukosten
6,0 Mio EUR

Publikationen

Presseschau

17. Januar 2011Karl R. Kegler
db

Zeichensprache

(SUBTITLE) Synagogenzentrum in Mainz

Wie eine Skulptur aus grünen Keramikelementen wächst das neue jüdische Gemeindezentrum direkt aus dem schwarzen Asphalt. Das expressive Gebäude von hoher Qualität signalisiert Selbstbewusstsein und eine gewisse Anspannung, weniger ruhige Gelassenheit.

Wie eine Skulptur aus grünen Keramikelementen wächst das neue jüdische Gemeindezentrum direkt aus dem schwarzen Asphalt. Das expressive Gebäude von hoher Qualität signalisiert Selbstbewusstsein und eine gewisse Anspannung, weniger ruhige Gelassenheit.

Am Haupteingang des neuen Mainzer Synagogenzentrums ist ein grünes Keramikkästchen angebracht. Es ist eine Mesusa, eine Kapsel, die ein Pergament mit dem zentralen Glaubensbekenntnis des Judentums aus dem fünften Buch Mose enthält. Nach jüdischer Tradition findet dieses Zeichen seinen Platz an jedem Türrahmen eines Hauses. Auf dem kleinen Behälter ist die Silhouette des Neubaus eingeprägt; sie wirkt als abstrahierte Linie wie ein Schriftzug. Dass der Kubatur des Synagogenzentrums auch selbst eine Buchstabenfolge – das hebräische Qadushah: »Heiligung« – eingeschrieben ist, vermag der unkundige Betrachter allenfalls über dieses Detail zu erahnen. Auch Kenner des hebräischen Alphabets werden ihre Schwierigkeiten haben, die fünf Buchstaben Quoph, Daleth, Waw, Shin und He in der Silhouette zu erkennen. Doch auch ohne dieses Wissen kann man sich schwer der Wirkung der gezackten skulpturalen Form des Gebäudes entziehen. Wie eine vieltürmige expressionistische Stadt legt sich der langgezogene Baukörper bandartig um einen geschützten Innenbereich. Im Grundriss knickt das linear organisierte Gebäude dreimal ab, definiert nach Süden und Westen einen Blockrand und bildet zur Innenstadt einen Vorplatz vor dem Haupteingang aus. In seinen Dimensionen bleibt das expressive Ensemble dagegen zurückhaltend. Das trichterartige, riesige Oberlicht des Gebetsraums – das mit Abstand höchste Bauteil – überragt ein angrenzendes viergeschossiges Wohnhaus nur marginal und bleibt niedriger als die benachbarten sechsgeschossigen Baublöcke der Mainzer Neustadt.

Sieben Straßen laufen aus allen Richtungen auf die »Bauinsel« zu, die sich das Synagogenzentrum mit dem genannten Wohnhaus und einem eingeschossigen Kindergarten teilt. An dieser Stelle entstand 1912 die alte Hauptsynagoge, eine von drei Mainzer Synagogen, die die Nationalsozialisten im November 1938 zerstörten. 1999 gewann der damals gerade 29-jährige Architekt Manuel Herz den Wettbewerb für die Neuerrichtung des jüdischen Gemeindezentrums an historischer Stelle. Im November 2008, 70 Jahre nach der Zerstörung des Vorgängerbaus, erfolgte nach einer langen Finanzierungsphase die Grundsteinlegung. Das vollendete Bauwerk weicht erstaunlicher- und erfreulicherweise nur wenig von den Wettbewerbsplänen von 1999 ab.

Form und Formauflösung

Zu den Grundgedanken des Entwurfs gehört die Gestaltung der Längsfassaden mit plastischen Keramikelementen. Die dunkelgrün glasierten Formteile legen sich in konzentrischen Rahmen um die unregelmäßig eingeschnittenen Fenster und füllen die gesamte Fassadenfläche. Die verschieden ausgerichteten Rahmenfelder aus parallelen Zackenkämmen treffen in stumpfen und spitzen Winkeln aufeinander und zeichnen ein Muster aus verzogenen Dreiecken, Rhomben und Trapezen, das zwischen Form und Formauflösung oszilliert. Ein verblüffender und überaus reizvoller Effekt der Fassade besteht darin, dass die lotrechten Außenwände eine kubistische Dreidimensionalität und Tiefe gewinnen. Dies ist durch das unregelmäßige Patchwork aus Feldern paralleler Linien bedingt, die das Gehirn als dreidimensionale Körper interpretiert. Verstärkend kommt hinzu, dass Licht und Schatten auf den dreidimensionalen Elementen unterschiedliche Zonen von spiegelnder Helligkeit und tiefem Schwarz erzeugen. ›

Eine ähnliche optische Tiefenwirkung hat der amerikanische Künstler Frank Stella, der zu den Inspirationsquellen des Architekten zählt, in den späten 60er Jahren in minimalistischen Linienbildern erkundet. Stella stellte traditionelle Bildformate und -rahmungen in Frage und entwickelte aus den Polygonfeldern seiner zweidimensionalen Linienbilder dreidimensionale Skulpturen. Für das Mainzer Synagogenzentrum hat Manuel Herz ein ähnliches Verwirrspiel aus Flächenmustern auf die mehrfach abknickenden Längsseiten des Gebäudes übertragen. Eine gewisse Nervosität in dieser Inszenierung wird vor allem auf der Gartenseite deutlich. Im optisch vieldeutigen Spiel der keramischen Rahmenelemente sind die unregelmäßig eingeschnittenen Fenster lediglich Restflächen. Das Linienmuster wirkt zwar dreidimensional, bleibt aber ein zweidimensionales »Bild«. Die Keramikbekleidung ist eine Skulptur aus abknickenden Flächen, weniger die Hülle eines dreidimensionalen Körpers. Folgerichtig haben die Schmalseiten des Gebäudes, das ganz aus einer Stahlbetonkonstruktion besteht, einen anderen Charakter als die aufwendig gestalteten Längs- und Bildseiten und sind mit blaugrau vorpatinierten Zinkblechen verkleidet, die sich gewissermaßen in einer einzigen Bahn von der Sockelzone im Osten über die etwa 30 Mal abknickende Dachfläche bis zur gegenüberliegenden Schmalseite ziehen.

»Die Farbe gefällt mir einfach«

Der Wettbewerbsentwurf von 1999 sah die Umsetzung der skulpturalen Fassade durch vorgefertigte Betontafeln vor, was sich nicht als praktikabel erwies. Herz entwickelte darauf die Winkelelemente der Fassadenverkleidung in Zusammenarbeit mit dem Kölner Keramik-Experten Niels Dietrich und einem Deutschen Keramik-Hersteller. Grundelement ist eine einzelne Strangpressform, die werksseitig auf drei Längenmodule, drei Standard-Gehrungslemente sowie für spezielle Pass- und Anschlussstücke zugerichtet wurde. Die rationelle Produktion der Grundform und die Herstellung von Passstücken halten sich bei diesem System die Waage. Die einzelnen Winkelelemente, die wie Nut und Feder ineinandergreifen, werden auf ein Befestigungssystem aus Aluminiumschienen aufgesetzt, das exakt das spätere Linienmuster vorzeichnet. Durch die unterschiedlichen Längenmodule wird das optisch unbefriedigende Zusammentreffen von Stoßfugen vermieden. Die Keramikelemente zeichnen – in Analogie zur Fachsprache der Maurer – einen wilden Verband.

Ein wichtiges Element für die Wirkung der Keramikfassade ist ihre Farbe. Durch ihre dreidimensionale Form wird der Farbverlauf der dunkelgrün glasierten Teile im Brennprozess leicht unregelmäßig. Bei direktem Sonnenlicht strahlt die Außenhaut in einer Vielzahl leicht changierender Grüntöne, bei trübem Wetter wirkt sie fast schwarz. Die ausgewählte grüne Glasur ist Ergebnis einer langen Versuchsreihe aber letztlich eine Setzung des Architekten. »Mir gefällt die Farbe einfach«, erzählt Manuel Herz. Die Zulassung der völlig neu entwickelten Fassade war aufgrund der Unterstützung der Prüfingenieure des Herstellers kein Problem.

Offen & expressiv

Vorteil der dreidimensionalen Fassadenelemente und ihrer Glasierung ist nicht zuletzt, dass sie für das Anbringen von Graffitis unattraktiv ist und leicht gereinigt werden kann. Jedes Element kann zudem im Bedarfsfall einzeln ersetzt werden. In vielen Detailfragen spielten bei der Planung auch Sicherheitsüberlegungen eine Rolle. Ein direktes Heranfahren an das Gebäude ist von keiner Seite möglich, sämtliche Fenster bestehen aus Sicherheitsglas. Es ist das Verdienst der jüdischen Gemeinde und des Architekten, dass sich der Gebäudekomplex trotzdem ohne Zäune und schwere Betonbarrieren zur Stadt hin öffnet. Auffälligstes Bauteil des Ensembles ist das riesige, kantige, trichterförmige Oberlicht der Synagoge, das fast genausoviel Volumen umschließt wie der Versammlungsraum selbst. Die zinkverkleidete Untersicht dieses »Lichttrichters«, der an ein »Schofar«, ein zeremonielles Widderhorn, erinnern soll, bietet von außen leider eine weniger attraktive Ansicht als die Keramik verkleideten Längsseiten. Im Innern des Gebetsraums ist die Wirkung vollkommen anders. Dem Architekten ist das wirkliche Meisterstück gelungen, der nach innen orientierten Versammlungsstätte durch die Lichtführung eine Richtung zu geben, ohne den meditativen Charakter des Zentralraums zu relativieren. Der Gebetsraum wirkt harmonisch, ruhig und selbstverständlich. Das riesige Fenster des Oberlichts weist nach Osten, nach Jerusalem. Alle Wandflächen sind mit einem goldfarbenen Stuckrelief aus Tausenden dicht an dicht stehenden hebräischen Buchstaben gestaltet. Die Buchstabentextur lichtet sich an herausgehobenen Stellen; dort werden hebräische Texte Mainzer Rabbiner des 11. Jahrhunderts lesbar.

Das übrige Raumprogramm besteht aus einem Foyer, einem Versammlungssaal, Schulungs- und Verwaltungsräumen und zwei Wohnungen für Hausmeister und Rabbiner. Die öffentlichen Nutzungen bilden ein spannungsvolles Raumkontinuum. Die Nutzungsbereiche sind jeweils durch abwechselnd niedrige und sehr hohe Deckenzonen gekennzeichnet, die Wände teilweise gekippt und nach innen durchfenstert. Schiebetüren schließen auf dem Galeriegeschoss zwei Seminarbereiche ab. Es sind in ihrer momentanen Leere beinahe beunruhigende Räume. Der Betrachter fühlt sich hier – stilgeschichtlich gesprochen – in das expressionistische Kabinett des Dr. Caligari versetzt.

Innen wie außen präsentiert sich das neue Haus außergewöhnlich offen und selbstbewusst – aber nicht ohne Spannung und expressive Zerrissenheit. Die grünen Fassadenelemente sind mittlerweile zu einem Sinnbild des Bauwerks geworden, das auf einem Sympathieplakat der Stadt Mainz stellvertretend für das ganze Gebäude steht: »Willkommen mitten unter uns! Mainz freut sich über die neue Synagoge.«



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08. Januar 2011Wojciech Czaja
Der Standard

Der Raum zwischen den Zeilen

Mainz hat eine neue Synagoge. Architekt Manuel Herz schuf sie mit Beton und Keramik - und mit der Kraft der hebräischen Schrift.

Mainz hat eine neue Synagoge. Architekt Manuel Herz schuf sie mit Beton und Keramik - und mit der Kraft der hebräischen Schrift.

Reichskristallnacht, November 1938: Im Deutschen Reich werden 191 Synagogen niedergebrannt, 76 weitere werden verwüstet und zerstört. Unter den Trümmern am Morgen des 10. November findet sich auch die Synagoge Mainz, ein klassizistischer, pompöser Rundbau aus dem Jahr 1912.

Mehr als sieben Jahrzehnte muss Mainz ohne Synagoge auskommen. Gearbeitet und gebetet wird in den Räumlichkeiten einer gründerzeitlichen Wohnung in der Mainzer Neustadt. „Bis in die 90er-Jahre hat das recht gut funktioniert“, sagt Stella Schindler-Siegreich, Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz. „Mit dem Zuzug vieler Russen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Situation allerdings dramatisch verändert. Innerhalb weniger Jahre ist die Gemeinde in Hessen von 70 auf über 1000 Mitglieder angewachsen.“

Mainz, dessen architektonische Sehenswürdigkeiten bisher an einer Hand abzuzählen waren, hat seit letztem Jahr ein schönes Stück Baukunst mehr: die Synagoge Maor Hagolah, Licht der Diaspora. Als hätte Daniel Libeskind Pate gestanden, wandert das Gotteshaus an der Hindenburgstraße (Baukosten rund sechs Millionen Euro) auf und ab, springt vor und zurück, faltet sich schließlich zu einem mäandrierenden, expressionistischen Etwas zusammen.

Die Ähnlichkeit zu Libeskinds Jüdischem Museum in Berlin, fertiggestellt zur Jahrtausendwende, ist kein Zufall. Der Wettbewerb für die Synagoge Mainz wurde 1999 ausgeschrieben, zeitgleich zum Bau des großen, silbrig glänzenden Zickzacks in der Spreemetropole. Der Dekonstruktivismus war damals hoch im Kurs.

„Die Synagoge hat nichts mit Dekonstruktivismus und schon gar nichts mit Libeskind zu tun“, sagt der Schweizer Architekt Manuel Herz. „Aber natürlich ist es kein Zufall, dass sich diese zeitgenössische Form der Architektursprache in den letzten Jahren vor allem in der jüdischen Kultur durchgesetzt hat.“ Das Judentum sei die einzige Religion im Abendland, die jahrtausendelang über keine eigene Architektur verfügte. „Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem 70 nach Christus gibt es keine traditionelle jüdische Baukultur mehr“, sagt Herz. In den Pogromnächten 1938 seien schließlich auch die jüngsten Versuche einer jüdisch-baulichen Identität zerstört worden.

„Die Produktion von Räumen hat sich im Judentum im Gegensatz zu anderen Religionen nicht in Bauwerken abgespielt, sondern in Büchern sowie in der überaus plastischen hebräischen Schrift“, erklärt der Architekt. „So war es möglich, trotz Diaspora jahrhundertelang einen ganz eigenen, spezifischen Raumbegriff aufzubauen.“ Genau diesem Schreiben ist die Form der Mainzer Synagoge zu verdanken. Wie ein abstraktes Abbild des hebräischen Segenswortes Qadushah entwickelt sich die Fassade in die Höhe, ist mal härter, mal weicher, bis sie sich an ihrem östlichen Ende zum weit überhängenden, hebräischen Buchstaben Qoph aufbäumt.

„Es geht nicht darum, das Haus lesen zu können, schließlich ist das ein Gebäude und keine Schriftrolle“, erklärt Herz. „Sehr wohl lässt sich an der Fassade aber eine gewisse Dialektik erkennen. Zwischen Passanten und Synagoge entsteht eine Art Gespräch - ganz gleich, ob man jüdischen Glaubens ist oder nicht.“

Wie Fluchtpunkte sitzen die wild geschnittenen Fenster in der Außenwand, gerahmt von Passepartouts aus grün lackierten Keramikstäben. Die Geometrie der Verkleidung ist bis zur Perfektion getrieben. Winkel und Gehrungsschnitte sind millimetergenau aufeinander abgestimmt. Der Betrachter wird so zum Opfer eines perspektivischen Täuschungsmanövers.

„Die Fassade wirkt auf den ersten Blick aufwändig, tatsächlich ist das System aber sehr einfach und redundant“, sagt Manuel Herz zum Standard. „Wir haben in der Strangpresse 17.000 Meter von diesem Keramikprofil herstellen lassen, danach mussten die Stäbe nur noch in die gewünschte Länge geschnitten werden.“ Durch die färbige Glasur schimmert die Synagoge je nach Sonnenstand mal gelbgrün, mal smaragdfarben, bis sie in der Dämmerung zu einer dramatischen, schwarzen Skulptur aus dem Cabinet des Dr. Caligari mutiert.

Durch eine schwere Tür aus Aluminiumguss - an der Außenseite ist der Schriftzug Maor Hagolah, Beit Knesset Magenza (Licht der Diaspora, Synagoge Mainz) zu lesen - gelangt man in ein rundum weißes Foyer aus zueinander schräggestellten Wand- und Dachflächen. Viele kleine Fenster.

Alles sehr dramatisch. Schade nur, dass in den Nebenräumen Boden und Türen, scheinbar in einem Moment der mentalen Erschöpfung, lavendelfarben zugekleistert wurden. Hier verkommt das eben noch beeindruckende Gebäude zu einem Kartenhaus im Kindergarten-Look. Neben Verwaltungs- und Bürotrakt, Dienstwohnung, Unterrichtsräumen sowie einem großen Veranstaltungssaal führt eine der geheimnisvollen Türen in den eigentlichen Gebetsraum. Und wieder Buchstaben: Die Wandoberflächen sind über und über mit Millionen von stilisierten hebräischen Schriftzeichen gesäumt. Ab und zu nur lichtet sich das geometrische Relief und macht Platz für einen Vers aus der Tora.

Prächtig bricht sich das Licht an den bronze- und goldfarbenen Wänden. Wie ein Trichter, der sich hungrig nach oben streckt, öffnet sich an dieser Stelle das überhängende Qoph in den Himmel. Durch ein rund 200 Quadratmeter großes Glasdach strömt das Tageslicht direkt auf die Bimah, von wo aus während der Gottesdienste aus der Tora gelesen wird.

„Die neue Synagoge ist mehr als nur ein Gotteshaus“, sagt Stella Schindler-Siegreich. „Sie ist Treffpunkt und Veranstaltungsort für alle, die an unserer Gemeinde und an der jüdischen Kultur interessiert sind.“ Der Beweis ist erbracht: Die ersten Seminare, Konferenzen und Konzerte sind bereits über die Bühne gegangen.

Ist das die neue Architektur des Judentums? Das erste Wort ist gesprochen. Der Rest wird sich mit der Zeit entziffern.

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