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09. Oktober 2004Anna Schaffner
Der Standard

Von wegen sparsame Schotten

Schottlands neues Parlament wird heute eröffnet. Die Kosten sind explodiert, aber es hat sich gelohnt. Aus Edinburgh berichtet Anna Schaffner

Schottlands neues Parlament wird heute eröffnet. Die Kosten sind explodiert, aber es hat sich gelohnt. Aus Edinburgh berichtet Anna Schaffner

Seltene Sonne lässt die silbrigen Stahlplatten von Holyrood leuchten. Möwen kreisen über dem Komplex. Vielleicht ziehen die Dachstrukturen sie an, die an umgedrehte Schiffsrümpfe erinnern. Gekentert und untergegangen wäre auch fast das gesamte Projekt. Zwar sind die meisten Schotten mittlerweile der Meinung, dass ihnen ihr neues Parlamentsgebäude gefällt. Doch wenn heute im Beisein Ihrer Majestät, der Königin, der Bau eröffnet wird, gibt es nicht nur ein äußerst gelungenes Werk gegenwärtiger Architektur zu feiern. Zu viel ist in den vergangenen Jahren falsch gelaufen. Der Zeitplan wurde um drei Jahre überschritten. Die Kosten explodieren von anfangs fehlkalkulierten 40 Millionen auf aberwitzige 430 Millionen britische Pfund, was 624,5 Millionen Euro entspricht. Selbst der Standort ist umstritten: Die Lage im Herzen Edinburghs gilt als Kopfgeburt der Regierung in London, der ein Parlament am allseits sichtbaren Calton Hill zu symbolträchtig war. Zu allem Übel verstarb auch noch der erst 45-jährige katalanische Architekt Enric Miralles ebenso plötzlich wie der Vater der schottischen Teilautonomie, Donald Dewar. Was bleibt, ist ein medialer Aufruhr, Rücktrittsforderungen, eine aufklärende Kommission, die keine spezifischen Schuldigen ausmachen möchte, und ein besonderes Gebäude.

Miralles' Konzept wird getragen von mehr oder weniger sichtbar im Bau angelegten Verweisen auf die schottische Vergangenheit, kombiniert mit Motiven aus des Architekten eigenem Fundus. In seiner Studienzeit besuchte Miralles die Küsten Großbritanniens. Dabei sind Fotos entstanden, die ihn vor Schiffsrümpfen am Strand zeigen. Er hat sie seinen Auftraggebern in Edinburgh immer wieder vorgelegt, um seiner verschlungen-fließenden Formenwelt ein Fundament zu verleihen.

Enric Miralles war Teil einer jungen Szene, die seit Mitte der Achtzigerjahre dafür sorgte, dass die spanische Architektur weltweit beachtet wurde. Entwürfe wie die berühmte Friedhofsanlage Igualada entstanden zuerst gemeinsam mit Carme Pinós, später dann arbeitete Miralles mit Benedetta Tagliabue zusammen, die das Büro nach Miralles' Tod im Jahr 2000 weiterführte. In Österreich war sie zuletzt durch die Beteiligung an dem Museumswettbewerb für die Sammlung Liaunig präsent (DER STANDARD, 19. 2. 2004).

Das Parlament in Edinburgh gleicht einer Eruption organischer Formen. Wie nach einem Vulkanausbruch sind die einzelnen Teile über das Gelände verstreut. Das dichte Arrangement aus Beton, Holz und Glas ist alles andere als eine Metapher für den Begriff der Transparenz, der im Zusammenhang mit „politischer Architektur“ gerne strapaziert wird. Die verschachtelten Baukörper wirken im Gegenteil so labyrinthisch wie das verstrickte System schottischer Bürokratie. In diesem Sinne reflektiert das Gebäude das Land, auch wenn es auf den ersten Blick vor allem ein „echter Miralles“ zu sein scheint. Schottland selbst war für den Architekten das Material, aus dem er das Gebäude geformt hat - schnörkellos, ohne rechte Richtung und doch selbstbewusst. Er habe mit der Idee gearbeitet, dass individuelle Identifikation mit der Nation kollektive Gefühle hervorbringt, meinte Miralles kurz vor seinem Tod.

Kollektiv ist zumindest das Bedürfnis, das neue Parlament zu besichtigen, dessen Pforten nun offen stehen. Auch der Innenraum ist von expressiver Wucht. Miralles wollte nichts Beiläufiges und Anonymes akzeptieren. Jedes Pult, jeder Türgriff tragen seine Handschrift. Er weiß zu variieren: expressionistische Kanten, dunkle Winkel, dann wieder sanfter Schwung und lichte Rundungen. Der Gedrungenheit der Eingangshalle entflieht man über verschachtelte Gänge und Stiegen und gelangt zu den Fensterfronten, die den Blick auf die rauen, windzerzausten Felsen von Arthur's Seat, Edinburghs Hausberg, preisgeben - oder ihn auf das Gebäude gegenüber richten, das aufs Innigste mit dem Trauma schottischer Selbstaufgabe verbunden ist.

Queensbury House ist der Fremdkörper im parlamentarischen Ensemble, ein Bremsklotz auf dem Weg zur neuen schottischen Identität. Denkmalgeschützt dominiert es den nördlichen Part der heterogenen Baukörper und verweist auf eine tiefe Wunde. Das ehrwürdige Gebäude stört den kühnen Aufbruch in eine eigene Zukunft und weckt aufs Neue die Erinnerung an den geliebten Feind im Süden. 1707 wurde hier der Unionsvertrag unterzeichnet, der Schottland immer wieder den Machenschaften Londons auslieferte. Aufgebrachte Menschenmengen warteten damals vor den Toren, um ihren Repräsentanten an die Gurgel zu gehen. Die reich entlohnten Unterzeichner freilich flohen durch den Hinterausgang. Dort tummeln sich nun die Touristen und diskutieren die bambusbezäunten Erker in Sitzmöbelform, die aus dem Beton von Miralles' Neubau hervorspringen. Jedes Abgeordnetenbüro hat einen solchen Annex bekommen, der den Volksvertretern als luftiges Meditationsstübchen dienen soll. Wie Schwalbennester hängen die Leseplätze an der Außenmauer und formen ein bizarres Muster.

Im Plenarsaal treiben die Wolken Schattenspiele über die 139 Pulte, die von einer filigranen Konstruktion aus Holz und Stahl überspannt werden. In den gewaltigen Verstrebungen nisten Scheinwerfer und Kameras. Was hier passiert, wird der Bürger nicht nur im Fernsehen, sondern auch auf der Webseite holyrood.tv verfolgen können. Dass auf Schottlands politischer Bühne über zumeist marginale Themen diskutiert wird, ist wohl der einzige Makel des Gebäudes. Die Finanzen, die Truppen im Irak oder die britische Positionierung im Palästinakonflikt wird auch weiterhin in London entschieden. In Edinburgh beschränkt man sich auf Themen wie das Verbot der Fuchsjagd oder die Reform der von feudalistischem Großgrundbesitz geprägten Eigentumsverhältnisse. Aber auch die undurchsichtigen Kostensteigerungen des Baus werden weiter zu diskutieren sein, was in diesem Rahmen doch eine besondere Freude ist.

07. Oktober 2004Georges Waser
Neue Zürcher Zeitung

Exzentrisches Monument

(SUBTITLE) Die neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg

Jüngst konnten die von Enric Miralles entworfenen und von Benedetta Tagliabue realisierten neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg von ihren Baugerüsten befreit werden. Königin Elizabeth II. wird das exzentrische Bauwerk, in welchem vor einem Monat erstmals die Parlamentsmitglieder debattierten, am 9. Oktober einweihen.

Jüngst konnten die von Enric Miralles entworfenen und von Benedetta Tagliabue realisierten neuen schottischen Parlamentsgebäude in Edinburg von ihren Baugerüsten befreit werden. Königin Elizabeth II. wird das exzentrische Bauwerk, in welchem vor einem Monat erstmals die Parlamentsmitglieder debattierten, am 9. Oktober einweihen.

Im Jahr 452 bauten die Pikten in Edinburg die erste Festung - und als von dieser eine Siedlung hügelabwärts auszugreifen und eine zweite Siedlung sich von der Holyrood Abbey nach oben gegen das Schloss hin zu schieben begann, entstand im frühen 12. Jahrhundert die mittelalterliche Old Town. Die im Spätmittelalter zunehmende Platznot führte zunächst zu turmhohen, eng aneinander stehenden Häusern im abfallenden Gelände längs der High Street oder Royal Mile und schliesslich - im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert - zum Bau der neoklassizistischen New Town. Kein Wunder, sah der hier geborene Schriftsteller Robert Louis Stevenson die Stadt als einen Inbegriff der Gegensätze, einen «Traum von Fachwerk und lebendigem Fels». Heute gehört der Stadtteil um die Royal Mile zum Unesco-Weltkulturerbe, und so erstaunt es denn nicht, dass die Schotten, als 1997 ihre politische Autonomie Tatsache geworden war, dem nationalen Selbstbewusstsein gerade hier mit den Parliament Buildings ein Monument setzen wollten. Den Auftrag zum Bau erhielten Enric Miralles.

Mit der Nominierung Miralles' hatte in Schottland auch schon die Kontroverse begonnen, war doch der Spanier erst nachträglich in die Endrunde des Architekturwettbewerbs aufgenommen worden - und zwar, weil Miralles' poetische Vision eines Projekts, zu dem der bergige «Sitz des Artus» den Hintergrund abgab, beim Preisgericht Anklang fand. Dass aber Selbstverwaltung nicht umsonst kommt, mussten bald die Jury und die Politiker erkennen: Waren die Kosten für die Parlamentsgebäude in einem Diskussionspapier vom 24. Juli 1997 noch mit «zwischen 10 und 40 Millionen Pfund» veranschlagt worden, betragen sie jetzt 431 Millionen Pfund. Dass man sich in Edinburg deswegen gelegentlich noch zankt - nicht zuletzt, weil als Parlamentsgebäude die grandiose alte Royal High School zu haben gewesen wäre -, ist verständlich. Allerdings sei festgehalten, dass die Parlamentsgebäude in Schottland der wichtigste Neubau seit rund 200 Jahren sind. Genauer noch: Vergleichbare Ambitionen beflügelten bisher wohl einzig den Bau der gesamten Edinburger New Town.
Exzentrische Aussichten

«En masse» verkörpert das Scottish Parliament 25 000 Kubikmeter Beton, 6000 Quadratmeter Granit für die Aussen- und 2500 Quadratmeter für die Innenmauern sowie einige tausend Tonnen Stahl. Eine «respektvolle» Architektur hatten die schottischen Politiker von Enric Miralles verlangt - und wer vor den neuen Bauten steht, begreift, wie der Architekt diesem Wunsch entsprach. Durch ein «Zurechtbiegen» der einzelnen Gebäude erwirkte er, dass aus dem Komplex ein organischer Bestandteil der unmittelbar zum Berg anwachsenden Landschaft wurde. Zehn Gebäude, das höchste davon mit sechs Stockwerken, schliessen das im 17. Jahrhundert als Adelsresidenz im schottischen «baronial style» entstandene Queensberry House mit ein. Dieses war übrigens einer der Gründe für die Verzögerung, hatte doch seinen desolaten Zustand lange niemand vollständig erkannt. Mit dem Queensberry House lebt in den neuen schottischen Parlamentsgebäuden aber auch die Geschichte weiter. Hier war 1707 in derselben Nacht, in der die Act of Union zwischen England und Schottland unterzeichnet wurde, der wahnsinnige Sohn des Herzogs von Queensberry in die Küche entwichen - wo er einen Küchenjungen ins Feuer warf und diesen danach zu verzehren begann. Die Feuerstelle ist immer noch zu sehen.

Laut Benedetta Tagliabue, die nach dem frühen Tod ihres Mannes Enric Miralles im Juli vor vier Jahren dessen Arbeit fortführte, war das für die neuen Bauten zur Verfügung stehende Grundstück zu klein und musste deshalb dem Garten des Queensberry House Land abgerungen werden - «dadurch hat alles an Zusammenhang gewonnen». Was bei einem Rundgang auffällt, ist denn auch, wie die einzelnen Gebäude wellenähnlich ineinander übergehen. In den Korridoren bieten sich beim Blick durch grossflächiges Fensterglas exzentrische Aussichten: da ein Gewebe aus Stahl und Aluminium, dort Gebäudestützen aus Beton, wie die Mastbäume eines Schiffes in den wolkigen schottischen Himmel ragend. Der Kern des Komplexes ist gleichzeitig der Kern der schottischen Demokratie. Hier, in der Debating Chamber, tagt das Parlament. «Das Grundprinzip hinter dem schottischen Parlament», sagt ein Abgeordneter, «war, nicht wie Westminster zu werden.» Mit anderen Worten: Man wolle diskutieren können und nicht wie in einem Gentlemen's Club zusammensitzen und sich bespitzeln - deshalb sei die Kammer hufeisenförmig angelegt. Jedenfalls kann man atmen in diesem theaterähnlichen Raum, in dem viel natürliches Licht und Holz den Look bestimmen. Wie in anderen Räumen wurde auch in der Debattierkammer ausschliesslich Eichen- und Platanenholz verwendet.
Kostspielige Design-Elemente

Sei es in den sechs Committee Rooms, ein jeder mit einem grossen, in der Form vage an ein Ei erinnernden Tisch im Zentrum, sei es anderswo: Aufwendige Details springen einem buchstäblich auf Schritt und Tritt ins Auge. Meist faszinieren sie, wie die hier und da in eine Decke eingemeisselten Motive, gelegentlich aber empfindet man sie als überschwänglich. So zieren nicht nur jedes Pult zahlreiche Design-Elemente: Sogar jedem Mikrofon wurde die Form des Halms einer Pflanze gegeben. Gespart wurde übrigens auch nicht im Block, in dem jedes Parlamentsmitglied seinen Arbeitsraum mit einem integrierten Abteil für einen Assistenten hat.

Diese Räume erhielten mit sogenannten «Think Pods» eine Zutat. Es sind Erker, deren unterschiedliche Form nur der im Freien Stehende richtig aufnimmt. Wie Mönchsklausen muten sie an, die «Think Pods» - und vorgesehen sind sie eben auch für Parlamentsmitglieder, die in einer stillen Ecke nachdenken wollen. Diese Details sind es auch, die mithalfen, dass der Preis für die Parlamentsgebäude auf astronomische 431 Millionen Pfund stieg. Man denke nur, allein der vom Designer David Colwell entworfene, 36 Fuss lange Empfangstisch in der öffentlichen Eingangshalle verschlang 88 000 Pfund.

Doch steht man nach dem Besuch wieder in der Royal Mile, kommt einem der Gedanke, dass wohl vielen Schotten für einmal ein Statement wichtiger als das Sparen war. Schliesslich stehen ihre neuen Parlamentsgebäude neben dem Holyroodhouse Palace - was heisst: neben der offiziellen schottischen Residenz der englischen Königin. Also geziemte sich ein ansehnlicher Bau. Ähnlich sieht es Frank McAveety, der schottische Kulturminister. Laut ihm werden die Parlamentsgebäude ein massiver Magnet für Touristen sein. Weiter argumentiert McAveety, dass man dem Ganzen eine Lebensdauer von hundert Jahren gibt; «also kosten uns die Gebäude rund 4 Millionen Pfund im Jahr, was ja nicht übermässig teuer ist». Als Fazit hielt ein Kolumnist der Tageszeitung «The Herald» fest: Die schottischen Parlamentsgebäude seien bereit - es bleibe die Frage, ob dies für die schottischen Politiker auch gelte.

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