Pläne

Details

Adresse
Bahnhofviertel 7, 8850 Murau, Österreich
Mitarbeit Architektur
Thomas Stepany, Rüdiger Ingartner, Günter Unterfrauner, Bettina Bauer, Constance Weiser, Jörn Aram Bihain, Wladimir Wlado, Elaina Ganim, Markus Lentsch
Bauherrschaft
Land Steiermark
Tragwerksplanung
Arnulf Ibler, Adolf Verderber
Weitere Konsulent:innen
Geotechnik: Peter Lechner, Graz
Bauphysik und Wärmehaushalt: Peter Kautsch, Wibke Tritthart, Christian Gummerer, Wolfgang Streicher, IFZ Graz
Projektleitung: Thomas Baumgartner, Günter Koch, Günter Koberg (Amt der Stmk. Landesregierung)
Bauleitung: Gerhard Steiger, Judenburg
Maßnahme
Neubau
Planung
1998 - 2000
Ausführung
1999 - 2002

Preise und Auszeichnungen

Publikationen

Presseschau

06. Juni 2003Der Standard

Architektur für Demokratie

(SUBTITLE) Rondo spezial Alu

Die Architekten Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer haben der Bezirkshauptmannschaft Murau eine Alu-Schale verliehen, die dem Bürger ins Auge springt und Offenheit und den demokratischen Gedanken verwirklichen will

Die Architekten Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer haben der Bezirkshauptmannschaft Murau eine Alu-Schale verliehen, die dem Bürger ins Auge springt und Offenheit und den demokratischen Gedanken verwirklichen will

Der Architekt hätte eine Bitte: „Interessant für uns wäre es nun, den Produktekatalog für Spezialsituationen zu stärken und zu erweitern“, schreibt er. Speziell im Bereich von Eckstößen, Verschneidungen etc. gelte es, den momentanen Stand einer entmaterialisierten Glasarchitektur anzupassen. So weit zur möglichen Zukunft. Doch vor allem äußert Wolfgang Tschapeller, der gemeinsam mit seinem Kollegen Friedrich W. Schöffauer im vergangenen Jahr für den fulminanten Bau der Bezirkshauptmannschaft Murau im Rahmen des österreichischen Aluminium-Architektur-Preises besonders hervorgehoben wurde, Überraschung. Was den Architekten, der sich im Rahmen dieses Projektes intensiv mit Aluminium auseinander setzte, überraschte? Es waren weniger die bekannten Vorzüge des Materials - überragende Lebensdauer und hohe thermische Qualität -, sondern vielmehr der Umstand, dass er sich zwar einem Standardfassadensystem gegenüber sah, das sich jedoch erstaunlich gut bei allen möglichen Spezialfällen anwenden ließ. Unter Ausnutzung des reichhaltigen Produktekatalogs konnten so einfache, überraschend schlanke und technisch hochwertige Lösungen für speziellste Situationen erarbeitet werden - und das, obwohl sich die Architekten beim Projekt BH Murau einer komplexen Glashaut mit schwierigen Überschneidungen und Eckausbildungen und hohen thermischen und dichtetechnischen Anforderungen konfrontiert sahen.

Doch Wolfgang Tschapeller überraschte im Zuge des Bauens noch ein weiterer Alu-Aspekt. Einer, der gleichfalls das Potenzial von Aluminium auslotet und dabei um das Thema Materialität kreist. „Aluminium entmaterialisiert sich bei auftreffendem Licht“, weiß Tschapeller. „Doch zugleich nimmt die Oberfläche des Aluminiums Qualitäten der Umgebung auf und bildet sie sehr zart ab.“ Es imitiert nicht, sondern beweist diese Fähigkeit in Anflügen, über Farbtönungen etwa, und mag auf den ersten Blick hin durchaus für den dahinter liegenden Himmel gehalten werden. Bemerkenswert ist freilich auch die Wandelbarkeit im Tagesverlauf: Bei Tageshelle löst sich das Aluminiumgitter der Pfosten-Riegelfassade auf, bei Nacht, wenn das

Licht von innen kommt, sozusagen von hinten auf das Profil fällt, zeichnet das Gitter in voller Schwärze und Massivität.

Ein exponierter Bauplatz, wie im Falle der BH Murau, war dabei wohl der geeignete Platz, um solche Vorzüge auch in der architektonischen Praxis zu erfahren. Doch die Lage an der Kante eines steil zum Murufer abfallenden, scheinbar naturräumlichen Uferrückens täuscht zunächst über die tatsächlichen Gegebenheiten hinweg. Tatsächlich handelt es sich hier um einen künstlich aufgeschütteten Hang, der überdies von der Bundesstraßenbrücke und mit einem Steg als Verbindung zwischen der gegenüberliegenden Altstadt und dem Bahnhof überlagert wurde.

Geschickt griffen die Architekten diese Bezüge auf und setzten sie in drei unterschiedlich große Baukörper über, die in räumlicher Interaktion mit dem vorhandenen Mursteg ein komplexes Ensemble bilden. Glaswände werden nun von einem Aluminiumskelett - einem standardmäßigen Pfosten- und Riegelskelett - getragen. Thermisch verformte Acrylglaselemente in verschiedenen Farben und Transparenzgraden bilden die äußere Hülle. In Summe handelt sich bei der BH Murau aber vor allem um einen städtebaulichen Kunstgriff, mit dem das relativ große Volumen der Bezirkshauptmannschaft so geschickt gegliedert und in die Landschaft eingefügt wird, dass es einen Ort neu interpretiert. Ähnlich sieht das auch die Bauherrenschaft, die dieser selbstbewussten Architektur, die sich gleichzeitig vielschichtig in Vorhandenes einfügt, nur das Beste nachzusagen weiß.

Widerstände in der Bevölkerung hatte es dabei durchaus gegeben, aber auch den Lohn so mancher neuen Erkenntnis: „Die neue Bezirkshauptmannschaft signalisiert mit ihrer Architektur Transparenz und Offenheit, somit Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit“, sagt dazu der lokale Bezirkshauptmann Dr. Wolfgang Thierrichter. Das spiegelt sich auch in der Schaffung eines Bürgerbüros sowie eines Anlagenreferats wider, in dem das One-Stop-Shop-Prinzip verwirklicht werden konnte.

Dass sich Aluminium als gerne präferierte Materialoption einer Architektur auszeichnet, die im Rahmen von Großprojekten vielfältige Interaktionen mit der Umgebung eingehen will, beweist heute eine Reihe von Objekten im öffentlichen Raum, z. B. in den Städten Hongkong und Glasgow. Erfolgreich griff auch das Büro Sadar Vuga Arhiteki auf die Möglichkeiten von Aluminium zurück, als es darum ging, im Verein mit Glas die komplexe, ja regelrecht hybride Architektur des geplanten Baues der Laibacher Kammer für Handel und Kommerz zu realisieren. Hier sorgte eine stark strukturierte „tiefe Fassade“ - so die Architekten - für eine spektakulär dreidimensionale Präsenz, die sich wohltuend gegen abweisende Corporate-Flächigkeit und Geschlossenheit abhebt.

Der ständige Wechsel von geschützten und offenen Zonen, von Helligkeit und Schatten, von Bewegung und ruhender Tiefe simuliert hier - ganz im Sinne der Corporate Identity des Auftraggebers - die bewegten ökonomischen Realitäten einer globalisierten Weltordnung: stete Veränderung, halböffentliche Zonierung, demokratiefreundliche Architektur - Aluminium taugt hier als Trägermaterial einer ständig fließenden Gegenwart.

22. Februar 2003Franziska Leeb
Der Standard

Moduliertes Gelände für modernes Bürgerservice

Die Bezirkshauptmann- schaft in Murau von Wolfgang Tschapeller und Friedrich W. Schöffauer ist ein architektonisches Unikat, in dem künstlerische Idee, funktionelle Notwendigkeiten und örtliche Gegebenheiten zu einer fesselnden Einheit verschmelzen.

Die Bezirkshauptmann- schaft in Murau von Wolfgang Tschapeller und Friedrich W. Schöffauer ist ein architektonisches Unikat, in dem künstlerische Idee, funktionelle Notwendigkeiten und örtliche Gegebenheiten zu einer fesselnden Einheit verschmelzen.

Mittelalterliche Baudenkmäler und die Lage an der Mur, eingebettet in die waldreiche Berglandschaft der Tauern und Nockberge, machen die steirische Bezirkshauptstadt Murau zu einem beliebten Ferienziel. Seit der Landesausstellung 1995 mit dem Titel „Holzzeit“ positioniert sich die Gegend erfolgreich als Holzregion und hat sich mit einigen interessanten Holzbauten auch einen Platz in der jüngeren Architekturgeschichte erobert. Gern wird in Gegenden wie diesen das landschaftsgerechte Bauen thematisiert, und zwar so gut wie immer aus einem Blickpunkt, der den Dualismus von (intakter) Landschaft und (künstlichem) Gebäude fokussiert. Malerische Landschaften können aber trügerisch sein, die ideale Landschaft ist Fiktion, betont Wolfgang Tschapeller. Seit ihrem leider unrealisiert gebliebenen Entwurf für das Trigon-Museum in Graz beschäftigen sich Tschapeller und Friedrich W. Schöffauer damit, die Polarität zwischen Gelände und Gebäude aufzuheben und die Architektur als Modulation der Landschaft zu verstehen.

Der Bauplatz für die neue Bezirkshauptmannschaft liegt auf einem zur Mur steil abfallenden Hang auf dem der Stadt gegenüberliegenden Flussufer. Seit 1995 mündet hier der von den Schweizer Architekten Marcel Meili und Markus Peter sowie dem Tragwerksplaner Jürg Conzett geplante Mursteg als direkte Verbindung zwischen den östlichen Stadtteilen mit dem Bahnhof Murau-Stolzalpe. Auch wenn er heute ganz natürlich anmutet, der gesamte Uferrücken des Bauplatzes wird von Aufschüttungen gebildet, ist also künstlich konstruiertes Gelände. Neben dem Grund selbst und dem Mursteg determiniert noch ein drittes konstruiertes Element den Bauplatz, die Betonkonstruktion der so genannten „Straßenhanghalbbrücke“ der Bundesstraße, die an der Hangkante das Areal säumt. In diese Gegebenheiten mit der Errichtung einer neuen Funktionseinheit einzugreifen bedeutet daher im „weitesten Sinn einen Umbau“, sagt Tschapeller, da ja bereits ein konstruierter Untergrund vorhanden ist. Die Architekten entwickelten die Gebäudefigur anhand eines Geländemodells aus Kartons, das durch vier auf den Mursteg ausgerichteten Schnitten zerteilt wurde. Aus den entstehenden Spalten herausgelöstes Material wird über Niveau entlang der Grabenkanten als bauliches Volumen wieder aufgeschichtet. Die Masse am Grundstück wird somit nur umgelagert, bleibt also konstant.

Diese Herangehensweise mutet höchst theoretisch und kopflastig an. Besucht man heute das fertig gestellte Bauwerk, erstaunt sowohl die Schlüssigkeit dieser Methode als auch das durch und durch praxistaugliche Resultat. Das umfangreiche Raumprogramm wurde auf drei Häuser aufgeteilt, die sich um den Mursteg gruppieren und an diesen mittels einer Brücke angebunden sind. Von den sieben Geschoßen des Haupthauses liegen drei unter dem Straßenniveau entlang der Flanken des ausgehobenen Grabens und ankern als abgetreppter Sockelbau fest im Gelände. Vier erheben sich darüber in einem kompakten, kubisch-kristallinen Körper. Schon von der Eingangsebene aus ist das gesamte Volumen des aus einem Beton-Stahl-Skelett konstruierten Gebäudes erfassbar. Denn zwischen Haupttrakt und Gelände schmiegt sich ein 22 Meter hoher verglaster Luftraum, in den die Treppen, Gänge und der Lift in einer Stahlkonstruktion angeordnet sind.

Das erleichtert zusammen mit einem übersichtlichen Leitsystem nicht nur die Orientierung im Haus, sondern ermöglicht dem Besucher auch die Verortung im größeren Zusammenhang, da die Landschaft, der Stadtraum und die unmittelbar umgebende Geländeformation stets wahrnehmbar sind. Weiters dient der geschoßübergreifende Spalt auch der Klimaregulierung zwischen den kühleren Untergeschoßen und den zur Gänze oberirdisch gelegenen Ebenen.

Im Zusammenspiel von filigran wirkendem Gefüge der Stahlkonstruktion, Licht, Schatten und hier agierenden Personen entsteht ein vielschichtig bewegtes Konglomerat an sich überlagernden Eindrücken. Eine Videoinstallation der britischen Künstlerin Imogen Stidworthy zeichnet mittels sensorgesteuerter Kamera diese Bewegungen auf und zeigt Extrakte daraus an Monitoren nächst dem Eingang, wo auch sämtliche „amtlichen“ Informationen konzentriert zu erfassen sind.

Die zwei kleineren Bauteile, die mittels Mursteg und einer diesen verlängernden zweigeschoßigen Brücke in einem komplexen, die interne und externe Erschließung bündelnden Wegesystem an das Haupthaus angebunden sind, bergen das Forstreferat bzw. das Anlagenreferat und den Sitzungssaal. Der Materialmix aus Beton, Glas, Kunststoff, Stahl, Holz und Aluminium wirkt hier nicht wie die Zurschaustellung von Musterkollektionen aus dem Baumarkt.

Jede Komponente ist so eingesetzt, wie sie ihre Funktion am besten erfüllt. Und auch die Farbpalette ist reichhaltig. Das Haupthaus akzentuiert eine Acrylglasfassade in Blauviolett, die zwei kleineren Bauten sind in Orange und Grün gehüllt. In den Büros dienen farbige Rollos zur Beschattung und Böden und Wände im Bereich der Sanitäts- und Sozialräume sind in Blassgrün gehalten. Es handelt sich dabei um kein inhaltsschweres Farbkonzept, sondern um leichter Hand sicher gesetzte Akzente, die zu einem guten Teil mit der Farbwelt eines Baumenschen zu tun haben. Das Hellgrün ist von der Polystyrol-Trittschalldämmung hergeleitet, das Grün des Forstreferates nicht vom Wald, sondern ebenso wie das Orange nebenan von der Farbe der Zeichenlineale, und das Stahlskelett erhielt eine Deckschicht in gleicher Farbe wie die Grundierung.

Das ambitionierte baukünstlerische Konzept ließ dennoch viel Platz für die Vorlieben der Nutzer, die vom Engagement und der Kooperation der Architekten sehr angetan sind. Geschoßweise durften sie sich die Art der verwendeten Hölzer aussuchen, und auch innerhalb der einzelnen Büros blieb Raum für individuelle Gestaltung und die Integration vorhandener Möbel. Nettigkeiten wie eine Spielecke und das große Aquarium im untersten Geschoß wirken nicht wie nachträgliche Bemühungen um einen Hauch Wärme, sondern sind selbstverständliche Teile eines facettenreichen Ganzen. Natürlich sind es die Architekten, die die Strukturen vorgaben. Wolfgang Tschapeller erachtete es allerdings ganz richtig als wesentlich, nicht gegen die Nutzer, sondern mit ihnen zu arbeiten. Er hätte sogar noch mehr Freiraum gelassen, wenn dies gewünscht gewesen wäre.

Die Murauer können sich mit dem extravaganten Stück neuer Architektur voll identifizieren. Das beweist die Tatsache, dass die neue Bezirkshauptmannschaft in die Bildergalerie auf der Homepage der Stadt gleichwertig neben historischen Ansichten der Stadt präsentiert wird. In anderen Ferienregionen entscheidet man sich hingegen gern dafür, das Neue vorsichtshalber zu verbergen, hier wird stolz darauf hingewiesen. Die Schöpfer des anfangs erwähnten Murstegs sahen einst ihr Werk durch den Bau der neuen Bezirkshauptmannschaft bedroht und starteten eine europaweite Protestaktion. Das Projekt von Tschapeller und Schöffauer wurde zum Glück dennoch wie geplant umgesetzt. Sie nutzten das Programm der Brücke und integrierten sie genauso wie alle anderen vorgefundenen Bedingungen. Und umgekehrt betrachtet, hat es der Steg nicht nur ausgehalten, sondern er wurde in seinem Stellenwert sogar aufgewertet. Die BH Murau ist nicht nur als singuläres Objekt betrachtet ein starkes Stück Architektur. Mit einem baukünstlerischen Akt, der wohl ein Kraftakt gewesen sein muss, wurde ein Ort neu interpretiert und inhaltlich angereichert. Markante Bauten der Stadt wie das Schloss oder die Kirche erhielten ein zeitgenössisches Gegenüber am anderen Murufer, das in der Art, wie es vielschichtig den Hang bezwingt, durchaus Parallelen zur Struktur des alten Stadtkerns erkennen lässt.

Der siegreiche Wettbewerbsbeitrag wurde konsequent umgesetzt. Bauherr (das Land Steiermark), Nutzer und Planer wussten, was sie wollten, und konnten dies auch kommunizieren. Ein mutmachendes Beispiel für die zahlreichen Gemeinden, in denen aus Angst vor neuer Architektur öffentliche Bauvorhaben leider nur allzu oft auf ein scheinbar konsensfähiges Mittelmaß zurechtgestutzt werden.

23. Juni 2001Walter Chramosta
Spectrum

An der Rotglut der Idee

Erst wenn geschmiedetes Eisen erkaltet ist, wird esprüfend in die Hand genommen. Freilich lohnt es, dem Schmied bei der Arbeit zuzusehen, um das Werk besser zu verstehen. Auch manche Architektur ist als heißes Eisen vielsagend, aber die Kritik zieht Ausgekühltes vor. Ein Baustellenbesuch im steirischen Murau.

Erst wenn geschmiedetes Eisen erkaltet ist, wird esprüfend in die Hand genommen. Freilich lohnt es, dem Schmied bei der Arbeit zuzusehen, um das Werk besser zu verstehen. Auch manche Architektur ist als heißes Eisen vielsagend, aber die Kritik zieht Ausgekühltes vor. Ein Baustellenbesuch im steirischen Murau.

Unikatarchitektur hat, anders als das serielle Industrieprodukt, eine Eigenart: Ihre Idee vergeht fast regelmäßig im fertiggestellten Werk. Der Bau löscht als Kompromißleistung die Idealvorstellung des Architekten - ohne Chance auf Rehabilitierung in einem gleichgelagerten Versuch - und ersetzt ihn durch eine in vielem unkalkulierte Realwirkung. Das abgeschlossene architektonische Konstrukt entläßt den Entwurf in eine für Kritik und Wissenschaft interessante Parallelexistenz, in der die gebaute Architektur die vorgezeichnete häufig unterbietet, manchmal bestätigt oder selten übertrifft. Allein betrachtet kann der fertige, aber konzeptiv als Torso errichtete Bau über die Intention des Architekten in die Irre führen und mehr über die Verfassung des Bauherrn und des Bauhandwerks berichten. Der Rohbau erlaubt dagegen einen unmittelbareren Zugang zur architektonischen Absicht, er ist Ort einer analytischen Architekturbetrachtung. Nicht grundlos gehört der freizeitliche Marsch über fremde Baustellen zur Fortbildung des praktizierenden Architekten, weil sich frühzeitig untrügliche Belege über den Stand der Technik gewinnen lassen und sich im Halbfertigprodukt die Haltung des Architekten oft radikaler abzeichnet als im Endprodukt. Nichtsdestotrotz ist der Baustellenbericht keine etablierte Form der Architekturpublizistik, das Desideratum ist die Erstdokumentation neuer Bauten. Der groteske Formen annehmende Wettlauf der Zeitschriften um das erste Bild führt oft auf fragwürdige photographische Belege, eigentlich zeigen die meisten dieser finalen Schnelligkeitsbeweise keine Endprodukte. Nebenher sind die tatsächlichen Bauzustände aus dem architekturkritischen Blickfeld geraten. Wenn einer behandelt wird, dann als marginaler Appendix am Premierenrummel oder unter rein ingenieurwissenschaftlichen Prämissen. Provisorische Sachverhalte werden von den Medien für zu wenig ästhetisiert, zu wenig handschriftlich markiert und marktgängig gehalten.

Der Neubau für die Bezirkshauptmannschaft Murau nach dem siegreichen Wettbewerbsprojekt der Wiener Architekten Wolfgang Tschapeller und Friedrich Schöffauer rechtfertigt als bedeutender öffentlicher Bau grundsätzlich interessierte Blicke in jeder Phase. Da der Entwurf den seinerzeit noch als dauerhaft gefestigt anmutenden Bahnen der steirischen Baukultur entspringt und jetzt wie ein einsamer Nachzügler einer gloriosen Ära des Architekturgeschehens dasteht, ist die Art seiner Umsetzung doppelt bedeutsam. Das beste Argument für die Betrachtung dieser Baustelle ist die besondere Wechselwirkung zwischen beschnittenem Berg und schnittigem Bau.

Die Baustelle zeigt jetzt komplette Primärkonstruktionen wie Hangsicherungen, geschoßtragende Stahlskelette mit Betondecken, die Murstegverlängerung und weitgehend abgeschlossene Fassadenarbeit. Der Innenausbau ist teils im Gang, teils ist der Rohbau noch nackt. Die Wunden in der Landschaft beginnen zu heilen, auch wenn der Graben, zu dem sich die Bürobereiche nun öffnen, als „Verletzung“ beabsichtigt ist und freigehalten wird. Der Lokalaugenschein stellt klar, daß die drei Baukörper der Bezirkshauptmannschaft mit dem Mursteg eine innige räumliche Interaktion eingehen, die hochgesteckte Erwartungen wohl noch übertrifft. Mursteg und Neubau sind in einer architektonischen Schicksalsgemeinschaft verbunden und können durchaus als Ensemble wahrgenommen werden. Die Bezirkshauptmannschaft Murau wird eine multireferentielle, originäre Schöpfung, die einen radikal neuen Ort erzeugt.
Der Neubau liegt strategisch richtig nahe dem Bahnhof der Murtalbahn am Weg zum Stadtzentrum, teils im zum Fluß steil absteigenden Hang. Tschapeller/Schöffauer haben sich als fundamentale Randbedingung zurechtgelegt, dem Gelände Substanz zu entnehmen und diese im Rahmen einer volumenskonstanten Dislozierung als Baumassen wieder aufzuführen. Die durch Stützmauern gut nachvollziehbare Landschaftsverformung ist eine logische Maßnahme auf einem Berg, der sich als nicht autochthon erwiesen hat, nämlich aus einer Deponie besteht. Die Sanierung dieser Altlast war politisch angenehm korrekt, um das in spitzem Winkel zu Mur angelegte Tal zu motivieren, in das der größte Bauteil flankierend eingefügt ist. Das stärkere und am Ort bestätigbare Argument für die Perforation des Berges ist das tiefgehende Spiel mit Positiv und Negativ, mit der Massivität des Felsens und der Leichtigkeit der Stahlkonstruktionen, mit Licht und Schatten: Es entsteht ein künstlicher Berg, Murau erhält neben Schloß und Kirche eine weitere artifizielle Stadtkrone. Die Umlagerung der Körper ist mit einer Veränderung der Dichten, ihrer Aggregatzustände verbunden: Aus abgetragenen Lockermassen formiert sich nach der architektonischen Metamorphose als größter Bauteil eine turmartige Nutz- und Luststruktur mit hochdichten Tragelementen und weitläufig gespannten Räumen auf. Das dem Berg abgerungene Volumen wird nicht leichtfertig aufgefüllt, sondern tendenziell freigelassen: Vor allem der sieben Geschoße zusammenfassende, von der gestützten Felswand begrenzte Fiktionalraum ohne eindeutige Funktion außer der Vertikalerschließung sucht als maximiertes Innenraumkontinuum seinesgleichen. Wolfgang Tschapeller: „Etwas leer halten bedeutet eine Anstrengung, etwas aufzufüllen ist eine geringere Anstrengung.“ Das 22 Meter hohe Foyer berichtet vor allem in seinem Bauzustand mit den nur von Torkret-Beton überzogenen Felsen, mit den unregelmäßig gesetzten Bohrpfählen, mit den variantenreich eingehängten Stiegenläufen, den vielfältigen Ober- und Seitenlichteinfällen, mit Ein- und Ausblicken von einer konsequenten Anstrengung der Architekten. Dieser Ertrag wird so im geglätteten Endausbau nicht zu erhalten sein: nun eine wahrhaft piraneske Raumerfahrung, die Rotglut einer noch roh dastehenden architektonischen Absicht. Solch eine Wechselwirkung zwischen Himmel und Erdscheibe, zwischen Sonnenlicht und Schatten, zwischen Zonen der Bewegung und Ruhe, zwischen der latent spürbaren Schwere des Hanges und der Stahl-Beton-Glas-Konstruktion des Hochbaus ist eine Sonderheit. Die reiche, sich dem Betrachter nicht im einzelnen, sondern als Ganzes eröffnende Bauelementik erscheint als Teil eines schwierigen Spiels: Die Figuren dieses Brettspiels auf sieben Ebenen sind die tatsächlich vorgefundenen oder die selbst mühsam entworfenen Zwänge, die Pragmatismen und die funktionalen Willkürfestlegungen der Nutzung, die finanziellen Ressourcen der Bauherrschaft, die Hemmnisse (Statik . . .) und Katalysatoren (Bauphysik, Bauleitung des Landes . . .) der personellen Konstellation und so weiter. Die Regeln dieses Spiels wurzeln in der Weltanschauung der Architekten, die aktuellen Züge in letzten Einsichten. Der Spielerfolg besteht letztlich in der Eleganz, eine poetische Gesamtkonstellation zwischen Figuren und Figurengruppen zu erreichen, gewissermaßen das selbst zur Unübersichtlichkeit gesteigerte Problem in paradoxer Einfachheit matt zu setzen. In Murau steht ein erfolgreiches Spielende knapp bevor. Es macht Freude, den Spielern bei ihrer konzentrierten, sogar vergnügten Anstrengung beizuwohnen: Die letzten Züge erfolgen nicht in Konkurrenz zu den hohen Ansprüchen dieser Architektur, sondern in seltener Kongruenz. Das Eisen ist folglich noch sehr heiß.

9 | 8 | 7 | 5 | 6 | 4 | 3 | 2 | 1