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02. September 2025Harald A. Jahn
Spectrum

Orbáns Paläste

In Budapest wird das „Hauszmann-Programm“ zum Wiederaufbau zerstörter Bauwerke auf dem Burghügel umgesetzt. Während die Gründerzeitbauten in der Stadt verfallen, sind die neuen Palais eine teure nationale Selbstverwirklichung.

In Budapest wird das „Hauszmann-Programm“ zum Wiederaufbau zerstörter Bauwerke auf dem Burghügel umgesetzt. Während die Gründerzeitbauten in der Stadt verfallen, sind die neuen Palais eine teure nationale Selbstverwirklichung.

Das Donaupanorama von Budapest ist weltberühmt: Auf dem Burghü­gel thront der symmetrische Burgpalast mit seiner mittigen Kuppel, rechts ragt der Turm der Matthiaskirche in den Himmel. Zwischen den Repräsentationsbauten liegt die barocke Bürgerstadt mit ihren ein- bis zweistöckigen Wohnhäusern. Die strategisch ideale Lage über der Donau war seit dem 13. Jahrhundert logischer Siedlungs- und Verteidigungsort und Sitz der ungarischen Könige, über die Jahrhunderte wurde das Areal mehrmals Ziel schwerer Angriffe.

Die Prachtbauten auf dem Hügel waren immer auch Projektionsfläche für das Dauerthema ungarische Identität; schon zur k. u. k. Zeit versuchten Architekten, eine eigene Nationalarchitektur zu entwickeln. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Komplex aus Regierungsgebäuden stark beschädigt oder ganz zerstört und in kommunistischer Zeit vereinfacht wieder aufgebaut. Nun wurde der Palast Sitz von Kultureinrichtungen, mit teilweise unbefriedigenden Raumlösungen: Für die Museen sind die Palasträume mit ihren vielen Fenstern wenig geeignet. Die 2010 gebildete Orbán-Regierung beschloss, den Regierungssitz wieder auf den Burghügel zu verlegen und die Museumssituation neu zu ordnen – natürlich auch nach nationalen Gesichtspunkten. 2014 kündigte Orbán das „Nationale Hauszmann-Programm“ an, ein Konzept zum Wiederaufbau der zerstörten Bauwerke auf dem Burghügel und zur Revitalisierung der Bürgerstadt.

Bereits fertiggestellt ist das ehemalige Hauptquartier des Roten Kreuzes, ein eigentlich unpassendes Gründerzeithaus; schon das Originalgebäude ist ein Fremdkörper in der barocken Bebauung gewesen. Gegenüber schälte sich unlängst die neue Kuppel des ehemaligen Kriegsministeriums aus den Gerüsten – hier war nur noch das Erdgeschoß vorhanden –, und nun ist der Wiederaufbau des Palais von Erzherzog Joseph im Rohbau fertig. Umgerechnet 108 Millionen Euro soll das Projekt bis jetzt verschlungen haben.

Zeitgeschichte der Belle Époque

Das im Krieg beschädigte Palais hätte gerettet werden können, wurde aber 1968 abgerissen. Wieso gerade die Festlegung auf einen theoretischen zeitlichen Kanon, auf die Zeitgeschichte der Belle Époque? Die Jahrhundertwende gilt, ähnlich wie in Wien, als die Glanzzeit der Stadt und markiert einen Höhepunkt im nationalen Selbstbewusstsein. Mit dem Ausgleich 1867 wurde Ungarn weitgehend selbstständig, Budapest war um die Jahrhundertwende die am schnellsten wachsende Stadt Europas. Angesichts der Schieflage des Budgets sind die neuen Paläste eine teure nationale Selbstverwirklichung.

Nicht nur die zahllosen Gründerzeit-Wohnbauten der Stadt verfallen, auch bei den historischen Schätzen wie dem Kunstgewerbemuseum, einem Hauptwerk von Ödön Lechner, kommt die Renovierung seit zehn Jahren nicht voran. Mehr noch: Die Fidesz-Regierung ist mit der Mitte-links-Stadtregierung von Gergely Karácsony im Dauerstreit; nicht nur, dass notwendige Budgetmittel für längst überfällige Projekte zurückgehalten werden, versucht János Lázár, Orbáns Infrastrukturminister, einige Deals durchzuziehen, die für die Stadt negative Folgen hätten. Die Grundstücke der staatlichen Eisenbahn in der Umgebung wichtiger Bahnhöfe gehören zu den wertvollsten Ungarns, sind aber größtenteils ungenutzt. Es sind „Brownfields“, ehemalige Gleisfelder und Industriebrachen, aber auch die Bahnhöfe selbst. Ein solches Spekulationsprojekt mit arabischem Kapital auf der Fläche des Güterbahnhofs Rákosrendező nördlich des Stadtwäldchens, genannt „Mini-Dubai“, konn­te vorläufig abgewendet werden – zu groß war der Aufschrei angesichts drohender Hunderte Meter hoher Wolkenkratzer sowie zu intransparenten Vorgehens.

Inzwischen hat Lázár begonnen, die Baurechte an bahnnahen Grundstücken im Rahmen von „strategischen Partnerschaften“ an private Investoren zu übertragen. Die Privatunternehmen erhalten die Flächen kostenlos auf 99 Jahre, müssen aber keine Entwicklungsgarantien abgeben: Die Erklärungen enthalten keine Vorschriften für Stadt- oder Bahnentwicklung, die Ausschreibung wurde weder mit der Stadtregierung noch mit den angrenzenden Bezirken abgesprochen. Ergebnis dieser unkontrollierbaren Deals könnten Überbauungen wie am Wiener Franz-Josefs-Bahnhof sein. Die Budapester Stadtpolitik hätte lieber ein anderes Wiener Projekt als Vorbild: die Hauptbahnhofplanung als ein sorgfältig vorbereitetes Programm, bei dem Stadtentwicklung und Bahnausbau von der ÖBB und der Stadt Wien gesteuert wurden und Bauträger auf Grundlage eines soliden Masterplans arbeiteten – mit einem gesunden Mix aus geförderten und frei finanzierten Wohnungen.

Ödön Lechners Postsparkassa

Das vom Lázár-Ministerium erklärte Ziel sind eine rasche Stadterneuerung und Wohnungsbauentwicklung – bei unklaren Planungsbedingungen und rechtlichen Regeln, was Befürchtungen hinsichtlich undurchsichtiger Geschäfte weckt, von denen nur ein kleiner Kreis von Insidern profitiert. Der derzeitige Top-down-Ansatz unter der Führung von Investoren erscheint ohne strenge öffentliche Beteiligung, Aufsicht oder strategische Vision riskant. Während auf dem Burghügel neue Paläste entstehen, ist nun eine lange Liste von echten historischen Gebäuden aufgetaucht, die zum Verkauf stehen, darunter so ikonische Meisterwerke wie Ödön Lechners Postsparkassa. Wenn die Fidesz-Regierung mit ihren Plänen durchkommt, könnte die berühmte Halle des Nyugati-Bahnhofs – vom Büro Eiffel konstruiert – künftig zu einem Veranstaltungszentrum mutieren, Bahnreisen würden weitab des Zentrums enden. In Sichtweite des Burghügels könnte sich plumpe Investorenarchitektur breitmachen: Die Fläche des derzeit heruntergekommenen Déli-Bahnhofs ist wohl die wertvollste der ganzen Stadt. Der (Vorort-)Bahnverkehr könnte nach Kelenföld zurückgezogen werden, eine Verschlechterung für die Pendler; dann werden wahrscheinlich bald neu erbaute Hochhäuser die neuen Kuppeln von Orbáns Palästen überragen. Und während Lázár als Verkehrsminister die Filetstücke „seiner“ Eisenbahn verscherbelt, bricht er in seiner eigentlichen Kernkompetenz Versprechen: Dringend notwendige Investitionen in neues Zugsmaterial werden verschleppt, Pläne zum Bahnausbau storniert, Sanierungen auf ein Mindestmaß reduziert – die Fidesz-Regierung setzt auf Autobahnen.

Spectrum, Di., 2025.09.02

30. Juli 2025Harald A. Jahn
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Bauwerke der faschistischen Ära: Roms Kolosseum zum Quadrat

Die Faschisten wussten um die Wirkmacht von Architektur, ein Glanzpunkt sollte die Weltausstellung 1942 werden – zu der es aber nie kam. In einem damals eigens errichteten Gebäude sitzt heute eine Modefirma: im Palazzo della Civiltà Italian.

Die Faschisten wussten um die Wirkmacht von Architektur, ein Glanzpunkt sollte die Weltausstellung 1942 werden – zu der es aber nie kam. In einem damals eigens errichteten Gebäude sitzt heute eine Modefirma: im Palazzo della Civiltà Italian.

Vor exakt hundert Jahren, 1925, begann in Italien die Einparteiendiktatur, Vorbild für Hitlerdeutschland, aber auch für Österreichs Ständestaat. Während dieser bei den Versuchen, historische Legitimität zu konstruieren, Berufsstände und die Kirche heranzog, schöpfte Benito Mussolini „aus dem Vollen“: Ein drittes Rom sollte entstehen, nach dem imperialen Rom der Antike und dem Rom der Päpste sollte es nun das Rom des Faschismus werden.

Die Architektur war das Fundament, auf dem die neue „politische Religion“ gebaut werden sollte. Wie beim Bau der Kathedralen sollte damit die Volksgemeinschaft überhaupt erst geschaffen werden. Während die Architektur des Dritten Reichs aber vor allem schwerfällig wirkt, schufen die Rationalisten in Italien modernistische, reduzierte Varianten des antiken Erbes. Und während die Nazis gegen die Neue Sachlichkeit polemisierten, baute Giuseppe Terragni 1936 mit der „Casa del Fascio“ in Como ein Meisterwerk: vier unterschiedliche asymmetrische Stahlbeton-Rasterfassaden, transparent und luftig. Heute werden die verbliebenen grauen Nazibauten in Deutschland als ungeliebte Altlast empfunden, in Italien dagegen die Bauwerke der faschistischen Ära gefeiert.

Auftakt für den Abessinienkrieg

Früher als Hitler hat Mussolini nicht nur die Wirkmacht der Architektur, sondern auch die des Städtebaus erkannt. Er ließ das Forum Romanum von späteren, „parasitären Bauten“ befreien und neue Straßenachsen anlegen; zugleich wurden einige im Weg stehende antike Baudenkmäler entsorgt. Der Glanz des römischen Imperiums sollte aus den Jahrhunderten des Verfalls herausgeschält werden, in ganz Italien wurde abgerissen wie noch nie, die Städte wurden umgebaut: glatt, modern, autogerecht, monumental.

Einen Höhepunkt sollte der faschistische Urbanismus mit einer Weltausstellung im Süden von Rom finden. Ab 1938 wurde an der Esposizione 1942 gearbeitet, als Bezeichnung ist heute EUR (Esposizione Universale di Roma) gebräuchlich. Der Grundriss beruft sich auf antike Stadtgründungen, mit Hauptachsen in annähernder Nord-Süd- sowie Ost-West-Orientierung. Entworfen wurde das urbanistische Gesamtkonzept von Marcello Piacentini, dem wichtigsten Architekten Mussolinis. Anders als bei früheren Weltausstellungen sollten die Gebäude dauerhaft genutzt werden, die Planung vergab man nach Wettbewerben an Stararchitekten.

In der ersten Bauphase begannen die Arbeiten am Kongresspalast, am Staatsarchiv, an der Basilika St. Peter und Paul, am Museum der römischen Zivilisation und am symbolischen Hauptgebäude, dem Palazzo della Civiltà Italiana. Dieser Palast der italienischen Zivilisation ist das spektakulärste Objekt des Viertels: das „quadratische Kolosseum“, von Piacentini als ikonisches Symbol des Faschismus entworfen. Die Anzahl der Bögen (sechs Geschoße, neun Achsen) entspricht den Buchstaben im Namen Benito Mussolini; das letzte Geschoß hat keine Öffnungen, um Platz für ein eingemeißeltes Zitat aus einer Rede zu zeigen, die den Auftakt für den Abessinienkrieg markierte: „Ein Volk der Dichter, der Künstler, der Helden, der Heiligen, der Denker, der Wissenschaftler, der Seeleute, der Wanderer“. Verkleidet ist der Palast mit Travertin, ein bewusster Bezug auf das traditionelle Baumaterial der Tempel im antiken Rom.

Die Weltausstellung wurde nach dem Kriegseintritt Italiens allerdings abgesagt, ab 1943 ruhten die Bauarbeiten, ein Areal unfertiger Bauruinen blieb zurück. Erst in den 1950er-Jahren wurden die Arbeiten wieder aufgenommen – konsequenterweise erneut unter der Leitung von Piacentini. Mit den Olympischen Spielen von 1960 wurde das Stadtviertel populär. Seither wuchs es zum Finanz- und Wirtschaftszentrum der Hauptstadt, neue Hochhäuser kamen hinzu, und hier entstand zuletzt das größte römische Gebäude seit Jahrzehnten: Das vom Studio Fuksas entworfene Konferenzzentrum „The Cloud“ übernimmt die Dimensionen und Proportionen von EUR, eine gigantische Freitreppe führt unter das Straßenniveau und mündet in einem fast 50 Meter hohen Glaskubus, in dem eine transluzide Wolke schwebt.

Schwächen der Reißbrettarchitektur

Heute hat das EUR-Viertel einen guten Ruf, um den künstlichen See sind Wohnbauten entstanden, die Nachbarschaft wirkt lebendig, die Erdgeschoßzonen sind belebt. Der Kontrast zum faschistischen Stadtplanungsideal einige Blocks weiter nördlich offenbart die Schwächen der Reißbrettarchitektur: Die Geometrie der Plätze ist beeindruckend, aber erbarmungslos. Die Freiräume dienen hauptsächlich als Parkplatz, für den Fußgänger wird die Wiederholung der immer gleichen detailarmen Architekturmotive rasch eintönig. Dabei hat die Bevölkerung, im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum, ein anderes Verhältnis zur faschistischen Vergangenheit. Eine Hitlerbüste im öffentlichen Raum wäre in Berlin undenkbar, am Flachrelief des Palazzo degli Uffici stößt sich niemand: Hier wird die Geschichte Roms von der Gründung bis zum Faschismus dargestellt, ein reitender Mussolini wird von Arbeitern bejubelt. Vor dem Gebäude grüßt die Bronzestatue „Il Genio dell’Fascismo“, mit einigen Bronzebändern notdürftig zum „Il Genio dello Sport“ umdekoriert.

Spricht man mit den Menschen im Viertel, stößt man auf gelassenes Desinteresse. „Das ist eben die Vergangenheit, das römische Imperium, und die Päpste waren auch nicht zimperlich. Wir haben damit kein Problem. Hin und wieder kommt es zu Kontroversen, die im Keim ersticken, aber im Grunde wissen wir, dass es Teil unserer Geschichte ist, auch wenn sie nicht gerade erfreulich ist“ – das ist der Grundtenor, den man im Caffè an der Viale Europa hört. Derweilen flirren die Bögen des Palazzo della Civiltà Italiana wie in einem Bild von Giorgio de Chirico; heute ist das „quadratische Kolosseum“ ganz banal an die Modefirma Fendi vermietet. Vom Markennamen angelockt, versucht eine einsame Influencerin, etwas für ihren Insta-Kanal zu finden, ein Arbeiter in grellbunter Funktionskleidung zupft Unkraut von der Freitreppe. Durch ein offenes Fenster ist ein Blick ins Erdgeschoß möglich, hinter den pathetischen Bögen stehen Flipcharts und billige Büromöbel: Hinter den Fassaden ist die Welt der Mode wenig glamourös, und Mussolinis Architektur, seinerzeit Kulisse für die Eroberung der Welt, wirkt plötzlich erstaunlich banal.

Spectrum, Mi., 2025.07.30

14. April 2025Harald A. Jahn
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Städteplanung: Wien trägt Jogginghose statt Nadelstreif

Anders als in französischen Städten gilt in Wien der Aufenthalt im Freien als verdächtig – dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar. So wird die Stadt hässlich.

Anders als in französischen Städten gilt in Wien der Aufenthalt im Freien als verdächtig – dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar. So wird die Stadt hässlich.

Stadt war immer Kommunikation: Frü­her fand das Leben in den Straßen statt, öffentliche Räume waren Ergänzung der privaten Wohnhäuser. Die Notwendigkeit, sich mit der Umgebung zu arrangieren, förderte viele Jahrhunderte lang die soziale Kompetenz. Die Stadt wurde als Einheit genutzt: Besinnung und Privatheit in den Häusern, Kommunikation, Handel, Interaktion im öffentlichen Raum. Das Wort „Urbanität“ steht für diese Lebensweise, für das feinfühlige und flexible Verhalten in der Stadt, das durch das gedrängte Miteinander nötig wurde.

Gleichzeitig entwickelte sich die urbane Gesellschaft durch den Zugang zu Information. Man bewegt sich durch komplexe Räume – intuitiv lesbar, schaffen sie das passende Umfeld für die Funktion und schaffen Identität: Man „kennt sich aus“. Die Städte unterscheiden sich in spezifischen Details, an denen man sie auf den ersten Blick erkennt: Neben der Bauweise der Wohnhäuser sind es spezifische Ikonen – die roten Telefonzellen in London, die Metrostationen in Paris –, dazu kommen Details, die die Bewoh­ner mit ihrer Stadt verbinden. In Wien können das die flachen Stufen der Stadtbahnstationen sein, die Würfeluhren, das Straßenpflaster, die Würstelstände: All das prägt den Charakter der Stadt in einer Welt, die immer gleichförmiger wird.

Fußgängerzonen entstanden aus „Notwehr“

Der große Umbruch kam mit dem Auto: Es hat die Menschen aus dem Straßenraum vertrieben, das Fernsehen wurde zum Ersatz für echtes Stadtleben. Städte verändern sich mit der Gesellschaft; der Umbau zur „autogerechten Stadt“ war die größte Veränderung, neue Strukturen zum „Fortkommen“ eliminierten die Orte des „Dableibens“ in den Städ­ten, die früher für das Erleben und das Tempo der Fußgänger konzipiert waren. Sogar Prachtboulevards wie die Wiener Ringstraße wurden zu linear gestalteten Transitschneisen, ergänzt um Werbetafeln, Schaltkästen, Verkehrsampeln, angepasst an die höheren Geschwindigkeiten. Gleichsam aus „Notwehr“ entstanden Fußgängerzonen, die in allen Städten ähnlichen Gestaltungsprinzipien folg­ten; damit wurden die Zentren verwechselbar, verloren die Städte ihre Identität. Ein österreichischer Architekt kämpfte gegen diese Ortlosigkeit an: In den USA war dieser Prozess schon weiter fortgeschritten, in den gesichtslosen Vorstädten wollte der nach Amerika vertriebene Architekt Victor Gruen in den 1950er-Jahren Shoppingmalls mit Plätzen nach dem Muster europäischer Metropolen aufwerten.

In diesen dauerte es aber noch länger, bis öffentliche Räume als Aufenthaltsraum wiederentdeckt wurden. In Frankreich sind die Bürger seit der Revolution 1789 gewöhnt, gesellschaftliche Fragen auf der Straße zu verhandeln; hier begann auch die Requalifikation der Stadträume früher. Gesamtheitlich gedachte Stadtumbauten wurden als Chance zur Reurbanisierung vernachlässigter Innenstädte gesehen, dazu renommierte Architekten und Landschaftsplaner beauftragt. Nun wurden Fahrbahnen eliminiert, Promenaden angelegt, frühere Verkehrsflächen zu wunderschö­nen Aufenthaltsorten. Inzwischen ist es Standard geworden, Stadträume in höchster Qualität neu zu gestalten.

„Es ist einfach der Respekt vor den Bürgern“, sagt Pierrick Aubert, Studioleiter für Transport und öffentliche Räume bei Richez Associés, dem bekanntesten Architekturbüro Frankreichs in diesem Fachbereich. „Mit jedem neuen Projekt bringen wir Schönheit und Wertschätzung in die Stadt – das spüren die Menschen. Auch in sozial schwierigen Gegenden beobachteten wir nach den Neugestaltungen, dass weniger Wände beschmiert werden. Die Bewohner fühlen sich wahrgenommen und reagieren darauf.“ In Orléans hat das Büro zentrale Plätze umgebaut, diskret und stimmig. Die Erneuerung war umfassend: Kein Stein blieb auf dem anderen, die Straßenoberfläche wurde zur dritten Fassade zwischen den angrenzenden Häusern, jedes Detail sorgsam entworfen. Berücksichtigt wird die „DNA der Stadt“, Material und Formen nehmen Bezug auf die lokale Geschichte; inzwischen sind Neugestaltungen ohne Mitarbeit von Architekturbüros fast undenkbar.

Sprung nach Wien. Hier löst der Wunsch nach einer „klimafitten Stadt“ Umbauten aus, Schönheit steht aber nicht auf der Agenda. Das war nicht immer so: Noch in den 1980er-Jahren wurden bekannte Architekten mit dem Design beauftragt. Hans Hollein gestaltete den Kohlmarkt, Boris Podrecca die Meidlinger Fußgängerzone und ein stimmiges Programm von Stadtleuchten. Von Luigi Blaus Stadtmöbel-Serie blieb nur das Tramway-Wartehäuschen als neue Wiener Ikone. Verständnis für die so wichtige Kontinuität gibt es heute nicht mehr: Die historischen Kandelaber sind verschwunden, die Würfeluhr konnte nur knapp gerettet werden, sogar das für Wien typische Haltestellensymbol der Straßenbahn wird durch aussagelose Pfosten ersetzt. Auch die neu gestalteten Parks und Plätze sehen ähnlich nichtssagend aus, überall beherrschen unmaßstäbliche Strukturen das Bild, die Bodenbeläge sind glatt und abweisend.

Überzogene Normen

Verantwortlich dafür sind überzogene Normen, auf die sich die Verwaltung beruft: Die Stadt wird praktisch, aber hässlich, ein schlichtes Nicht-Design wird bei allen Projekten durchgezogen. Formlose Betonblöcke umgeben banal bepflanzte Staudenbeete, charmante Orte entstehen nicht. Während sich andere Städte in feinsten Nadelstreif kleiden, trägt Wien Jogginghose – formlos, schmucklos, lieblos. Der tatsächliche Grund sitzt tief: Anders als französische Städte ist Wien immer noch von Metternich’scher Lust an Kontrolle geprägt, der Aufenthalt im Freien gilt als verdächtig, die Stadt hat Angst vor „herumlungernden“ Personen. Dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar, ein Schilderwald erklärt dem unmündigen Bürger, wie er sich zu verhalten hat.

Inzwischen arbeitet das Büro Richez an der Neugestaltung der Ringstraße – aber nicht in Wien, sondern in Orléans. Auch dort ersetzte eine Prachtstraße die Stadtbefestigung, und auch dort wurde sie durch den Autoverkehr verwüstet: Mit ihren Parkplätzen und Unterführungen ist sie dem Wiener Gürtel ähnlich. Nun erhält sie ihre Schönheit zurück, mit Aufenthaltsräumen in höchster Qualität, gesamtheitlich entworfen und abgestimmt auf die historische Bedeutung der Umgebung. Die Strukturen zum „Fortkommen“ verschwinden, die Straße lädt künftig wieder ein, die Stadt in all ihrer Sinnlichkeit und Eleganz zu erleben.

Spectrum, Mo., 2025.04.14

26. Januar 2025Harald A. Jahn
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Wohngebäude wie in „Squid Game“: Wenn die soziale Utopie scheitert

Fiktion und Wirklichkeit: Die Streaming-Serie „Squid Game“ bedient sich visuell ansprechender Settings, wie sie bereits vor längerer Zeit real errichtet wurden. Vor gesellschaftlichen Problemen feien diese schönen Bauten aber auch nicht immer.

Fiktion und Wirklichkeit: Die Streaming-Serie „Squid Game“ bedient sich visuell ansprechender Settings, wie sie bereits vor längerer Zeit real errichtet wurden. Vor gesellschaftlichen Problemen feien diese schönen Bauten aber auch nicht immer.

Ein Kinderreim wurde zur Hymne der bisher erfolgreichsten Streaming-Serie: „Squid Game“. Gedreht in Südkorea, spielt die Show mit dem Kontrast lieblicher Sets und brutaler Handlung; eine Gruppe schwer verschuldeter Kandidaten muss koreanische Kinderspiele aus den 1970er-Jahren absolvieren – und realisiert erst währenddessen, dass ein Scheitern tödlich ist, während den Siegern eine riesige Gewinnsumme winkt. Bewacht von anonymisierten „Soldaten“, bewegen sich die Spieler durch farbenfrohe Sets der Designerin Chae Kyo­ung-Sun, die dafür tief in die Wunderkiste kunstgeschichtlicher Referenzen an die fernöstliche und europäische Kultur greift: Koreanische Kinderbücher aus den 1970er-Jahren und unbeschwerte Spiele in den sonnendurchfluteten Gassen von Seoul vermischen sich mit Zitaten aus europäischer Kunst und Architek­tur.

In der Serie treten die Kandidaten, die rasch dezimiert werden, auf Spielfeldern an, die wie überdimensionale Spielplätze oder Zirkuszelte aussehen, poppig-bunt und fröhlich. Kyoung-Sun vermied die üblichen Elemente von Survival Games bewusst, kontrastiert den Egoismus der siegeswilligen, immer brutaler werdenden Teilnehmer mit fast lächerlichen, ins riesige vergrößerten Spielgeräten wie Schaukeln, Rutschen oder kitschigen Puppen.

Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus

Die Farbwelt der Serie ist präzise kalkuliert: Gekleidet sind die Spieler in türkise Trainingsanzüge, die meistgetragene Farbe für Freizeitkleidung in Korea und damit so banal wie nur möglich; verfehlen sie das Etappenziel, werden sie disqualifiziert, sprich: von Soldaten in pinkfarbenen Overalls erschossen. Das fröhliche Pink wird damit zur Farbe der Angst. In den Nächten zwischen den Spielrunden wohnen sie in einem Schlafsaal, der an ein Hochregallager erinnert, die Designerin spielt damit auf die anonymisierte Gesellschaft des Landes an, in dem ständig überlastete Arbeitnehmer wie Roboter ihre Pflichten erfüllen, um dann in ihre wie geklont wirkenden „Appats“ zurückzukehren.

Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus: Hier ließ sich die Designerin vom Bild „Relativität“ von M. C. Escher inspirieren. Die Gravitation scheint aufgehoben, Treppen verlaufen in allen Raumdiagonalen, jede hat ihr eigenes Schwerkraftzentrum. In der Serie bewegen sich die Spieler und Soldaten im Gänsemarsch über die pastellbunten Pfade durch den labyrinthischen Raum, kreuz und quer, hoch und nieder. Dieses Atrium ist direkte Referenz an ein berühmtes Gebäude des katalanischen Architekten Ricardo Bofill: „La Muralla Roja“, ein Apartmentkomplex in Calpe nahe Alicante an der Südküste von Spanien.

Die frühen Gebäude des 2022 verstorbenen Architekten sind skulpturale gesellschaftliche Utopien der 1960er-/1970er-Jahre und basieren stilistisch auf der Verbindung von spanischer und arabischer Architektur. Sie tragen Namen wie „Kafkas Schloss“, „Xanadu“ oder eben „die Rote Mauer“: Hier werden Apartments auf- und aneinander gestapelt, die sie erschließenden Innenhöfe sind intim, kleine Treppen führen zu den Wohneinheiten, überall entstehen überraschende Durchblicke. Der in den 1970er-Jahren übliche Ansatz, in Modulen zu denken, wurde von kaum einem anderen Architekten so konsequent, aber auch so überzeugend umgesetzt. Vielen anderswo verwirklichten ähnlichen Konzepten dieser Brutalismus-Epoche fehlen die „Weichmacher“: Bofills menschliche Dimensionen, die Farben, die Leichtigkeit.

Sein größtes Wohnhaus dieser Epoche ist „Walden 7“ an der Peripherie von Barcelona, gleich neben der ehemaligen Zementfabrik, in der Bofill sein Büro „Taller de Arquitectura“ angesiedelt hat. Von außen wirkt das Haus wie ein Bienenstock, braun und etwas abweisend. Innen wird es aber zur harmonischen senkrechten Dorfgemeinschaft, natürliche Ziegelwände und ein sattes Türkis ergeben zusammen mit den gerundeten Brüstungen und Erkern ein weiches, natürliches Raumerlebnis. Auch hier verbinden etliche Brücken die kleinen Vorplätze der Wohneinheiten, die Struktur wirkt wie natürlich gewachsen, ähnlich den Gassenlabyrinthen von Marokko. Zentrum sind auch hier Atriumhöfe, von denen aus die Apartments erschlossen werden; etwas nachteilig ist vielleicht die Dunkelheit der unteren Geschoße, dafür sorgen gebäudehohe Durchbrüche für kühlenden Wind am oft heißen Stadtrand der Küstenmetropole.

„Villes Nouvelles“: monströse Wohnbauten mit Fertigteilfassaden

Später verloren Bofills Bauten ihre verspielte Unschuld – und wurden selbst zu Filmkulissen. Seine Arbeit verlagerte sich nach Frankreich: In Montpellier entstand mit „Antigone“ ein postmodernes Stadtviertel entlang einer neuen Achse zum Fluss Lez; der Name spielt nicht nur auf die inzwischen neoklassizistisch geprägte Architektur an, sondern ist auch Antwort auf ein Einkaufszentrum namens Polygone, das wie ein Korken zwischen dem historischen Zentrum und dem Weg zum Fluss sitzt.

Die Platzräume von „Antigone“ wirken trotz ihres Pathos durch die Begrünung und die Geschäfte lebendig, die Projekte in Paris hatten dagegen bald einen schlechten Ruf: Um die Kernstadt entstanden die „Villes Nouvelles“, und in diesen oft ortlosen Neubauquartieren wollte Bofill mit ikonischen Großbauten Identifikationsorte schaffen. Das ging nicht immer gut. Während seine Ferienwohnhäuser unter der spanischen Sonne pastellgrell in der Sonne strahlen, stehen im Großraum Paris einige verwechselbare und monströse Wohnbauten mit immer ähnlichen Fertigteil-Fassadenelemen­ten.

„Versailles fürs Volk“

Die größten und bekanntesten sind die „Espaces d’Abraxas“: Geplant als „Versailles fürs Volk“, zogen die anfangs begeisterten Middle-Class-Bewohner und Künstler aber bald ernüchtert aus, wegen Sozialproblemen stand der Komplex sogar knapp vor dem Abriss. Hier hat die große Geste über den Anspruch menschlicher Architektur gesiegt, mangelnde Instandhaltung brachte Verwahrlosung, auf den Treppchen und Erschließungsbrücken wurde gedealt. Heute sind die Banlieues stigmatisiert; Bofills Bauwerke brachten keine Besserung für die Vorstädte.

Die drei Bauten von Abraxas sollten zusammen einen Theaterraum bilden; die auf dieser Bühne inszenierte städtische Utopie wurde ein Misserfolg, wie der Architekt später zugab, die soziale Durchmischung gelang nicht. Schauspieler sind trotzdem häufig zu Gast. Bofills fröhlich-bunte Mauern der 1970er-Jahre boten den willkommenen Kontrast zur blutigen Handlung von „Squid Game“; Abraxas war dagegen schon mehrfach direkte und dystopische Kulisse für cineastische Albträume: Terry Gilliams Groteske „Brazil“ wurde ebenso hier gedreht wie „Die Tribute von Panem“. Auch Bofill sah die soziale Utopie hier als gescheitert an.

Spectrum, So., 2025.01.26

04. Dezember 2024Harald A. Jahn
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Brüsseler Justizpalast: Sogar die Gerüste sind baufällig

Der Justizpalast in Brüssel ist das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt, doch er verfällt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein.

Der Justizpalast in Brüssel ist das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt, doch er verfällt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein.

Es ist ein wahres Ungetüm, das da auf dem Hochplateau des Galgenberges in den Himmel ragt: Der Brüsseler Justizpalast ist das größte Gebäude des Historismus, finanziert durch die brutale Ausbeutung der Kolonie Belgisch-Kongo, gebaut von Joseph Poelaert, einem Architekten, der zuvor, so sagt man, nur eine einzige Säule entworfen hat.

Eine ganze Serie von Kulissenfassaden wuchert um das Hauptportal, es ist ein Auftakt in Fortissimo. In der riesigen Halle dahinter ist es still, die Dimensionen schüchtern ein, kippen aber auch in absurde Lächerlichkeit. Der 100 Meter hohe Raum wird dominiert von einem Säulenwald, große Trep­pen führen nur in den ersten Stock, der Grundriss ist seltsam undurchschaubar. Kafkas „Prozess“ drängt sich unweigerlich auf, wenn man den „Salle des pas perdus“, den Saal der verlorenen Schritte, durchquert.

Ausblicke aus trüben Fenstern auf graue Innenhöfe

In der halbdunklen Wandelhalle machen Inseln aus warmem Licht erst den Maßstab deutlich. Auf einer der Bänke sitzt ein Student und lernt, Dutzende Meter weiter spricht ein Anwalt mit seinem Klienten, Stimmen verlieren sich in der Weite. Nach den Prunkstiegen führen dann unauffällige Türen zu engen Treppenhäusern, weit oben enden sie oft in dunklen Zwischengeschoßen, in denen Eisenleitern zu Dachluken führen.

In den Büroetagen herrscht der Geist der 1970er-Jahre, manche Büros sind ungenutzt, Akten stapeln sich, in einer verstaubten Bibliothek stehen Vitrinen mit historischen Gesetzbüchern. Die trüben Fenster bieten immer wieder Ausblicke auf graue Innenhöfe und die teilvergoldete Kuppel: Zahllose Gerüste umspinnen die Fassaden, sie sind seit Mitte der 1980er-Jahre zarter Gegensatz zum robusten Baukörper.

Der Justizpalast verfällt seit Jahrzehnten, die Gerüste gehören mittlerweile untrennbar zur Silhouette, inzwischen sind auch sie baufällig. Wie so oft in Belgien versackten die Renovierungen im Dschungel der Bürokratie, in der Trägheit der Behörden, in Finanzproblemen; für viele ist die Monsterbaustelle Symbol für den dysfunktionalen Staat, der manchmal als der „erfolgreichste Failed State der Welt“ bezeichnet wird.

Technische Geografie des Gebäudes wird kartiert

Bis heute ist der Palast das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein und das Gerüst verschwinden. Noch komplexer sind allerdings die Arbeiten im Inneren; dass Poelaert keine vollständigen Pläne zurückgelassen hat, macht die Sache nicht einfacher, über die Leitungsführungen ist nichts bekannt, und auch die nachträglichen Zubauten wurden nur unzureichend dokumentiert. Nun wird die technische Geografie des Gebäudes komplett kartiert.

Aber wie soll die künftige Nutzung aussehen? Anders als in vergleichbaren Gebäuden soll sich die Widmung nicht ändern, das Recht weiterhin hier residieren. Die Anforderungen haben sich aber geändert, die Justiz möchte bürgernäher und transparenter werden – wie kann das mit der alten Infrastruktur gelingen? Die 2011 von der Anwaltskammer gegründete Fondation Poelaert sucht nach Antworten. Im Vorstand sitzen nicht nur Justizangehörige, sondern auch Bürger der Stadt.

Die „Cités Obscures“

Einer davon ist François Schuiten. Er stammt aus einer Architektenfamilie und ist der wohl berühmteste Künstler der belgisch-französischen Comicszene, derzeit werden seine Arbeiten im Pariser Centre Pompidou gezeigt. Seine Graphic-Novel-Serie „Die geheimnisvollen Städte“ behandelt soziale und urbane Themen, sie entsteht gemeinsam mit dem Autor Benoît Peeters und wurzelt direkt in der seltsamen Stadtgeschichte Brüssels.

„Les Cités Obscures“ erzählen dystopische Geschichten, in der Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Scheinbar berühren sich die Welten manchmal, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche weitere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.

„Zeichnen hilft beim Heilen“

Während in der Folge „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta ein idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ (sic!) die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. Dabei ist der Justizpalast immer wieder wichtiger Schauplatz. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.

Als Designer ist er nicht nur an der Ideenfindung zur Nutzung des Justizpalasts beteiligt; ­die französische Armee hat ihn und andere ­Science-Fiction-Autoren eingeladen, Bedrohungen zu finden, die außerhalb der Vorstellungswelt klassischer Militärstrategen sind. „Tatsächlich – ich darf im Detail nicht darüber sprechen – gab es bereits Änderungen bei der Konstruktion eines neuen Flugzeugträgers, die direkt auf unseren Ideen basieren“, erzählt Schuiten. „Beim Justizpalast besteht die Herausforderung darin, die Rolle der Justiz in den veränderten Bedingungen unserer Zeit neu zu definieren: Wie können Transparenz, Digitalisierung und Datenschutz architektonisch abgebildet werden, bei gleichzeitiger Funktionsausweitung des riesigen Baudenkmals?“

Reale und utopische Welten

Spätestens im Jahr 2030, zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Belgiens, soll der Palast als Leuchtturm der Demokratie wieder über die Stadt strahlen; derzeit wachsen Bäume aus den Simsen. Noch kann man sich an diesem eigenartigen Ort vorstellen, ein Portal in die Welt von Kafka oder der geheimnisvollen Städte zu finden; nach der Sanierung wird es wohl verschlossen sein.

Vorher wird aber noch ein Abgesandter der „Cités Obscures“ hier manifest werden: Ein großes Kunstwerk, halb Nautilus, halb Oktopus, taucht am 30. November 2024 aus dem Boden vor dem Justizpalast auf. Das Hybridwesen ist Hauptdarsteller im letzten Band von François Schuitens Serie, der Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „dunklen Kontinent“ verknüpft und Teil eines Projekts für die französische Stadt Amiens ist: „Auf den Spuren von Jules Verne“ – hier hat er gelebt, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen.

Zuvor wird sie sich jedoch für einige Mo­nate vor dem Justizpalast niederlassen – als Verbindung realer und utopischer Welten in der bel­gischen Hauptstadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwergetan hat.

Spectrum, Mi., 2024.12.04

11. Oktober 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Pergola: Über die umstrittene Halle am Naschmarkt

Ein umstrittener Bau, dessen Spatenstich vor einer Woche erfolgte: Bei der Pressekonferenz wurde die geplante Nasch­markt-Halle von der Stadt nun als „Pergola“ vorgestellt. Was ändert das an der problematischen Situation?

Ein umstrittener Bau, dessen Spatenstich vor einer Woche erfolgte: Bei der Pressekonferenz wurde die geplante Nasch­markt-Halle von der Stadt nun als „Pergola“ vorgestellt. Was ändert das an der problematischen Situation?

Es ist eine Lücke in der Stadt: ein Prachtboulevard, den man versäumt hat anzulegen, mit einer Abbruchkante in einen schroffen Canyon, der nur bei Hochwasser wahrgenommen wird. Hier, im Bereich Kettenbrückengasse, endet der Naschmarkt mit einem Freiraum, der nur am Wochenende wirklich genützt wird, samstäglich durch einen Bauernmarkt vor den Otto-Wagner-Häusern und den Flohmarkt auf dem Plateau neben der U-Bahnstation.

Während sich die Kulisse von höchster Qualität präsentiert – Otto-Wagner-Häuser, Stadtbahnstation, Marktamt, Biedermeierhäuser aufseiten des fünften Bezirks –, bleibt die Bühne ungestaltet, vollgeramscht mit den in Wien üblichen Requisiten wie Stromkästen, Verkehrsschilderwald, Werbesäulen. Das ist leider typisch für die Stadt und ihren nachlässigen Umgang mit öffentlichem Raum.

Das Flohmarkt­areal ist sechs Tage die Woche eine Leerfläche, auf dem Platz standen früher die Pavillons des Großmarkts, der Anfang der 1970er-Jahre nach Inzersdorf abgesiedelt wurde. Solche Flächen werden gern dem Autoverkehr überlassen, der wie ein Gas ist, das sich in jeden Winkel der Stadt ausdehnt, wenn man es lässt. Hier glüht der Asphalt ebenso wie das Blech der Fahrzeuge – und die Sommer werden stetig heißer.

Potenzial der Flohmarktfläche

Immer wieder weckte die breite Wientalschneise Begehrlichkeiten der Stadtplanung. Ende der 1960er-Jahre war eine Stadtautobahn ernsthaft im Gespräch, die überdimensionierten Verkehrsbänder auf dem Karlsplatz sind Spuren dieser Pläne. In den 1980er-Jahren beschäftigte sich die Gürtelkommission erneut mit dem Thema. Im Abschlussbericht wurde vorgeschlagen, das Wienfluss-Gerinne teilweise zu überplatten und die Autofahrbahnen in die Mitte zu verlegen.

2011 gab es wieder einen Anlauf zur Neudefinition, nun sprach der Expertenbericht zum „Zielgebiet Wiental“ bereits von einem gentrifizierten Stadtteil – heute glitzern Dachgeschoßausbauten auf Häusern, die früher noch Motive für Franz Zadrazils Gemälde des grauen Nachkriegswien waren. In diesem Bericht wurde zudem erstmals auf das Potenzial der Flohmarktfläche hingewiesen und die Idee einer Gestaltung mit höherer Aufenthaltsqualität formuliert – dann verschwand auch diese Arbeit in den Schubladen.

Wunsch der Anrainer: ein Park

In den folgenden Jahren passierte wenig, bis von den Anrainern der Wunsch kam, die Flohmarktfläche zum Park auszugestalten, was die Stadt Wien anscheinend überhaupt erst auf die Situation aufmerksam werden ließ. Zuerst kam die Ablehnung („Auf dem Wienflussgewölbe ist keine Bepflanzung möglich“, was durch den Bestand beispielsweise auf dem Karlsplatz widerlegt wird).

Stadträtin Ulli Sima preschte mit der wenig durchdachten Idee einer Markthalle vor und ließ übereilt Renderings anfertigen, die eine unmaßstäbliche Großstruktur zeigten – damit brannte sich das Bild eines Monsterbauwerks in die Köpfe der Anrainer. Sima nannte als Vorbild unter anderem die Münchner Schrannenhalle neben dem Viktualienmarkt, in der die italienische Handelskette Eataly logiert – damals war übrigens noch René Benkos Signa-Gruppe an Eataly beteiligt, eine Expansion nach Wien geplant.

Nach den Protesten gegen die Hallenpläne gab es einen Rückzieher und abschwächendes Wording. 2022 tauchte dann der Masterplan „Zwischen den Wienzeilen“ auf, der das Projektgebiet auf drei Filetstücke aufteilte: Begrünung im Westen, Flohmarktplatz in der Mitte bei der U-Bahn, „neues Naschmarkt-Entree“ ums Marktamt. Gleichzeitig rollte die „Particitainment“-Welle: Die Scheinbeteiligung hat in Wien System.

Eine Fläche von 1040 Quadratmetern

Auf den Masterplan folgte ein Wettbewerb, gewünscht war eine Halle bis 1000 Quadratmeter, maximal acht Meter hoch – trotz sämtlicher Anrainerproteste. Die Ergebnisse wurden weitgehend unter Verschluss gehalten und nur wenige Tage in der Planungswerkstatt präsentiert, im Internet gar nicht. Platz eins punktete natürlich mit der Halle, Platz zwei und drei erlagen aber nicht der ­Verlockung, 1000 Quadratmeter bebauen zu dürfen.

Anfang 2024 gab es eine Veranstaltung der Bürgerinitiative, bei der unter Anwesenheit von zwei Juroren der Wettbewerb besprochen und die ersten drei Plätze gezeigt wurden. Die Halle des Siegerprojekts hat 1040 Quadratmeter, dazu wird ein fehlender Naschmarkt-Pavillon ergänzt. Das Dach ist begehbar, in der Halle gibt es einige Stände, wobei man der ­Beschreibung („Schauküche“, „große Tafel“) durchaus Gastronomienutzung entnehmen kann. Der Bauernmarkt soll künftig auf den Restflächen seitlich der Halle stattfinden.

Kein urbanistisches Gesamtkonzept

Strukturell ist die Halle ein Fremdkörper, eher Korken als Entree, sie steht den Naschmakt-Flaneuren ebenso im Weg wie den vom Wienerwald kommenden Kaltluftströmen. Platz zwei und drei wirken plausibler, sie ziehen die bestehenden Stände im Prinzip weiter, die Anordnung der Elemente im Bereich Flohmarkt/Park nimmt die Zeilenstruktur und die Richtung des Flusses auf.

Zu kritisieren ist neben dem Beharren auf einer Halle vor allem, dass kein urbanistisches Gesamtkonzept vorliegt. Laut Jury gibt es eine Menge Auflagen zur Änderung bei Platz eins, einige Wettbewerbsteilnehmer kritisierten, dass es vereinfacht nur darum ging, „ein paar Bauernmarktstandln“ zu entwerfen, und dass jede übergeordnete Idee seitens der Stadt fehlt. Erwähnt wurde außerdem, dass der erste Bezirk touristisch überlastet sei, das Zentrum daher „größer werden muss“ – dieselbe Idee steckt übrigens auch hinter dem Bau der U-Bahn U2/5, die den Ring um die Stadt in Richtung Westen verschiebt. Alles deutet also darauf hin, dass es sich um ein touristisches Projekt handelt und der Naschmarkt noch weiter kommerzialisiert werden soll.

Ein großes Manko der aktuellen Stadtplanung ist der derzeit übliche Aktionismus – in größeren städtebaulichen oder architektonischen Zusammenhängen wird nicht gedacht. Und zur Transparenz der Vorgänge? Fast alle Gerichtsverhandlungen sind öffentlich – städtebauliche Wettbewerbe nicht, die Jury tagt geheim. Das Siegerbüro Mostlikely Architecture (gemein­sam mit DD Landschaftsplanung und Buero de Martin) hat von der Stadt Sprechverbot erhalten, die beiden nachgereihten Büros halten sich bedeckt, „um den Prozess nicht zu stören“.

„Konzeptsuche für die Innenräume läuft noch“

Nicht geheim halten ließ sich allerdings, dass die Stadtregierung die Halle im Juni beschlossen und nun im Vergabeportal ausgeschrieben hat, was in den sozialen Medien und bei den Anrainern Aufregung ausgelöst hat. Die Stadt reagierte vorige Woche mit einer Pressekonferenz vor Ort – und abermals mit einer neu­en Bezeichnung für die umstrittene Halle: Nun ist es eine „zarte Pergola“. An den Planungen wurde dagegen nichts geändert, obwohl laut Stadträtin Ulli Sima „die Konzeptsuche für die Innenräume noch läuft“.

Umso dringender scheint der Stadt die Realisierung – auf die eigentlich gewünschte Umgestaltung des „Hitzepols Flohmarktparkplatz“ muss man dagegen noch bis mindestens 2026 warten, genaue Pläne des Gesamtprojekts wurden bis heute nicht veröffentlicht.

Spectrum, Fr., 2024.10.11

19. Juli 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Pariser Untergrund: Die Geheimnisse der aufgelassenen Métrostationen

Die 125 Jahre alte Pariser Métro birgt so manches Geheimnis: Oft liegen nur wenige Meter unter den lebendigen Boulevards oder neben überfüllten Bahnsteigen Orte, die über Jahrzehnte kaum betreten wurden.

Die 125 Jahre alte Pariser Métro birgt so manches Geheimnis: Oft liegen nur wenige Meter unter den lebendigen Boulevards oder neben überfüllten Bahnsteigen Orte, die über Jahrzehnte kaum betreten wurden.

Paris arbeitet sich tief in den Boden: Neue Métro- und Schnellbahnlinien wurden rechtzeitig für die Olympischen Spiele 2024 fertig, mit dem gigantischen Projekt Grand Paris Express entstehen in den nächsten Jahren 200 Kilometer neuer Métrostrecken durch die Vororte – sie sollen den Ballungsraum mit seinen fast 12,5 Mio. Einwohnern dezentral vernetzen. Viele neue Forschungs- und Wirtschaftscluster liegen außerhalb der Kernstadt, ebenso die Villes Nouvelles, die Schlafstädte der 1970er-Jahre. Mit jeder neu eröffneten Strecke werden die transportierten Menschenmassen größer, um die Stationen des Grand Paris Express sollen die Vorstädte nachverdichtet werden. Seit der Vereinfachung und Entbürokratisierung der Bauordung ist der Wohnbau dort bereits angesprungen, Zehntausende neue Wohnungen jährlich entlasten den angespannten Wohnungsmarkt im Großraum.

Zurück zur bald 125 Jahre alten Métro: In der Station Haxo ist es völlig still, kein Zug bewegt sich, kein Fahrgast steht auf dem trüb beleuchteten Bahnsteig. Die Haltestelle sucht man auf dem Netzplan vergebens, sie gehört zu den seltsamen Kuriositäten der Pariser U-Bahn. Ebenso wie Porte Molitor wurde sie zwar unterirdisch fertiggestellt, wegen Planungsänderungen liegt sie wie ihr Pendant aber an einer nicht befahrenen Strecke. Erreichbar sind beide nur mit den Sonderzügen, die in diesen Tunneln abgestellt werden. Ein dunkles Erdloch gähnt an der Stelle, an der sonst die Treppe ins Sperrengeschoß führt; die Aufgänge zur Straße wurden nie gebaut, trotzdem ist die Haltestelle wie üblich weiß verfliest.

Minütlich durch das Adernsystem der Stadt

Ebenso dauerhaft verborgen liegen viele alte Verbindungsgleise, heute Ziel der Urban Explorer und Graffitisprayer; eine obsolet gewordene Gleisschleife unter dem Parc Monceau war lang ein besonderer Anziehungspunkt – hier stellte der Verein Ademas, der sich um den Erhalt historischer Métrowagen kümmert, seine Schätze ab.

Auch der Tunnel ist eine Zeitkapsel: Man passiert eine Gasschleuse aus der Kriegszeit, die Schleife wurde damals zu einem Luftschutzbunker umgebaut, später als Schulungszentrum genützt. Eine staubige Leiter führt zu einem großen Gewölbe oberhalb des Tunnels, Standort eines unterirdischen Umspannwerks, heute sind die Trafos entfernt, die Wände schwarz von Staub. Ein Ventilator brummt im Hintergrund, ein Kranhaken hängt an uraltem Räderwerk – ein Bild wie aus einem dystopischen Film, nur in der Ferne ist das Grollen der Züge zu hören, die im Minutentakt durch das Adernsystem der Stadt pulsieren.

Die erste Linie wurde 1900 zur Weltausstellung eröffnet; die floral gestalteten Eingänge von Hector Guimard wurden zum Symbol der Stadt, obwohl es nun nur noch 88 davon gibt. Von den eingehausten Abgängen, deren ausladendes Glasdach an eine Libelle erinnert, ist nur ein einziger verblieben. Er ist ein passender Startpunkt zu einer Reise in die Welt unter der Lichterstadt und führt in die Endstation der Linie 2, Porte Dauphine. Für den aufmerksamen Passagier beginnt hier eine Fahrt mit kurzen Einblicken in die unzugänglichen Strukturen: Bei der Haltestelle Victor Hugo durchfährt der Zug eine aufgelassene Station, deren verlassene Bahnsteige ohne Aufschriften seit vielen Jahrzehnten keinen Passagier mehr begrüßt haben, bevor er sich durch das Tunnellabyrinth unter dem Place de l’Étoile schlängelt.

Getreues Abbild der Straßen

Es gibt eine ganze Handvoll solcher Haltestellen, die an befahrenen Strecken liegen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Betrieb genommen wurden, da die Frequenz zu gering war. Manche werden heute als Lager genützt; die größte derartige Station, Saint-Martin an den Linien 8 und 9, hat zeitweise betreute Schlafplätze für Clochards beherbergt.

Zur Bauzeit hatten die Ingenieure mit einem viel älteren Tunnelsystem zu kämpfen, das unter der Métro liegt: Das uralte Netz der unterirdischen Steinbrüche ist teilweise ein getreues Abbild der Straßen darüber, Schilder aus Stein oder blauem Email bezeichnen die Adressen über dem Boden. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Baumaterial für die Häuser der Stadt tief unter ihren Kellern beschafft, oft ohne sich um die Statik zu kümmern – bis der Abbau ab den 1780er-Jahren eingestellt wurde: Die Häuser über den Steinbrüchen neigten dazu, an ihren Ursprungsort zurückzukehren, ganze Straßenzüge stürzten ein oder versanken im Boden.

Ein kleiner Teil des Hunderte Kilometer langen Gangsystems kann heute besucht werden: Eine Steintafel mit den Worten „Halt! Hier beginnt das Reich des Todes“ begrüßt Touristen am Eingang zu den Katakomben, sie sind seit dem 18. Jahrhundert die berühmteste Nachnutzung der Stollen. Daneben arbeiteten Gewerbebetriebe wie Brauereien oder Champignonzüchter in den Bergwerken. Im Zweiten Weltkrieg bauten nicht nur die Vichy-Regierung und die Résistance hier geheime Unterstände, auch die deutschen Besatzer richteten sich in Räumen ein, die um 1215 in der Gegend des Jardin de Luxembourg in den Stein getrieben worden waren. Heute streunen illegale „Kataphiles“ durch die Dunkelheit, erforschen vergessene Seitenschächte oder feiern Partys und liefern damit den Behörden – den „Kataflics“, der Bergbaupolizei – ein Katz-und-Maus-Spiel.

Bei Bauvorhaben oder Hauskäufen muss mit einem speziellen Atlas die Stabilität des Bodens nachgewiesen werden; die Ingenieure der Métro, die an etlichen Stellen das Steinbruchsystem durchfährt, musste die Station Danube praktisch als unterirdische Brücke in einer riesigen Kaverne anlegen – als Fahrgast sieht man in der Station nichts davon.

Zirpen von Grillen im Untergrund

Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Métro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“. Heute ist der Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko passender: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel.“ In den jüngsten Jahrzehnten wurde die Métro laufend modernisiert, trotzdem hat sie manche ihrer Eigenheiten behalten: die weiß verfliesten labyrinthischen Gänge, die oft im Einbahnsystem geführt werden, oder den holzig-öligen Geruch auf einigen Strecken.

Eine akustische Kuriosität ist aber verschwunden: Lang hörte man in den ruhigeren Abendstunden das Zirpen von Grillen, die im Gleisschotter lebten. Sie verschwanden mit dem Rauchverbot, ihre Nahrungsquelle war der Tabak der Zigarettenstummel. Die Designer der RATP (Régie autonome des transports Parisiens) haben ihnen ein Denkmal gesetzt: An Bahnsteigen mit größerem Abstand zum Wagen hört man keine Entsprechung zum Londoner „Mind the gap“ – aus den Lautsprechern unter der Bahnsteigkante tönt subtiles Grillenzirpen.

Spectrum, Fr., 2024.07.19

28. Juni 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Pariser Bäume statt Wiener Kiesbeete

Kühlende Maßnahmen wie dichte Bepflanzung werden in Städten immer wichtiger – aber schwer umsetzbar: In Wien will man es allen recht machen und hat Angst vor der wuchernden Natur.

Kühlende Maßnahmen wie dichte Bepflanzung werden in Städten immer wichtiger – aber schwer umsetzbar: In Wien will man es allen recht machen und hat Angst vor der wuchernden Natur.

Dieser Zaun schützt Jungpflanzen“, steht auf einem Schild an einem Kiesbeet in der Neubaugasse. Einige Kletterpflanzen arbeiten sich an einer Nirosta-Konstruktion nach oben, daneben sprüht ein Nebelbrunnen Schwaden über den Gehsteig. Das Schild hängt seit drei Jahren am Holzzaun, die niederen Gräser dahinter überzeugen nicht so recht.

Sprung nach Paris: Dort werden Projekte zur konsequenten Begrünung enger Stadtstraßen verfolgt. Oft sind die bepflanzten Bereiche nur 50 cm breit, trotzdem ist eine dichte Kulisse von Kleingehölzen entstanden. Ein Bild, das selbstverständlich sein sollte, und doch sehen auch die fortschrittlichsten Städte Europas noch nicht lange so aus. Erst seit etwa zehn Jahren hat die Pariser Stadtregierung den Kampf gegen den Klimawandel als wichtiges Ziel definiert, im Juli 2019 wurde sie von der Natur bestätigt: Bis auf 42 Grad stieg das Thermometer.

Individuen, die Freiräume besetzen, erregen Misstrauen

Auch in Wien wurde vor einigen Jahren die Dringlichkeit der Situation deutlich: Eine Serie von immer neuen Rekordsommern hat begonnen, der Klimawandel wurde zum allgemeinen Thema. Trotzdem findet man in Wien kaum neue Grünräume, die man als Oasen bezeichnen könnte: Umgestaltete „klimafitte“ Straßen sind weiterhin nur Steinflächen mit vereinzelten Bäumchen. Sie stehen in Kiesbeeten, die niedrigen Wildblumen und Gräser sind hinter den Staketenzäunen kaum zu sehen – sich unter einem Baum in den Schatten zu setzen ist so nicht möglich. Darüber hinaus ist das die einzige Art der Begrünung, ob auf vorstädtischen Verkehrsinseln, in dicht bewohnten Stadtbezirken oder auf wertvollen historischen Plätzen wie dem Neuen Markt oder bald dem Michaelerplatz. Wann ist eigentlich die Gartenkunst im urbanen Stadtbild verloren gegangen?

Es ist vor allem die Vorschriftenflut, auf die sich die zuständigen Stellen berufen, aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung des öffentlichen Raums in Frankreich und Österreich. Seit der Revolution von 1789 ist die Straße in Paris der Ort, an dem die Gesellschaft ihre Werte verhandelt. Hierzulande hat die Politik seit Metternich große Angst vor ungeregelten Nutzungen. Individuen, die Freiräume besetzen, erregen Misstrauen; nichts soll das gewohnte, ordentliche Stadtbild stören. Die Folge ist nicht nur „defensive Architektur“, sondern auch in Zaum gehaltene, allzu übersichtliche Grünräume, die obendrein möglichst wenig Kosten verursachen sollen.

Das Verwachsen wird vermieden

An der Ringstraße pflanzte man einst alle sechs Meter einen Baum, um möglichst schnell schattige Spazierwege zu erhalten – die Damen der Gesellschaft sollten wenig Sonne abbekom­men. Bei späteren Pflanzungen wurden die Abstände weiter, die letzten größeren Alleen wie die Mariahilfer Straße erhielten etwa alle zehn Meter einen Baum: Die Baumkronen berühren sich, ein durchgehendes Blätterdach entsteht. Heute vermeidet man das Verwachsen. Bäume gelten am „leistungsfähigsten“, wenn sie sich ungehindert ausbreiten können, auf Parkplätze wird viel Rücksicht genommen, auch allzu starke Beschattung für Anrainer der unteren Geschoße soll vermieden werden: Man möchte es allen recht machen. Dazu kommen viele äußere Zwänge, von bestehenden Erdleitungen bis zu Forderungen der Feuerwehr, die mit der Leiter ungehindert zu den Fenstern kommen will. Für die Brandbekämpfer lauern überall Gefahren, was dazu führt, dass Kletterpflanzen nur eine gewisse Höhe erreichen sollen – hier wird die Ausbreitung von Bränden durch Fassadenbegrünung befürchtet. Doch sterben inzwischen mehr Menschen durch die Hitze als durch Zimmerbrände, was kaum eine Schlagzeile wert ist.

Aber auch in Bodennähe werden die Sicherheitsansprüche inzwischen absurd: Dichte Bepflanzung wird vermieden, um keine „Angsträume“ entstehen zu lassen – in einer der sichersten Städte der Welt werden idyllische Parks ebenso wie voluminöses Straßengrün abgeholzt, um freie Durchblicke zu ermöglichen. Damit sinkt aber die Aufenthaltsqualität ebenso wie die Beschattungswirkung und die Verdunstung; „gendergerechte Planung“ wird missbraucht, um den öffentlichen Raum ungemütlich zu machen. Allerdings haben Untersuchungen in den USA und in Leipzig ergeben, dass es in begrünter Umgebung tendenziell nicht nur weniger Straftaten, sondern auch ­weniger Depressionserkrankungen gibt: Schönere, menschlichere Umgebung steigert das Wohlbefinden ebenso wie die Sicherheit.

Rosa Tamarisken und Schwammsteine

Zurück zu den knapp 100.000 Wiener Bäumen: Seit die Politik sie als „Klimahelden“ erkannt hat, wird jede Neupflanzung stolz gefeiert – durchaus zu Recht, trotzdem geraten die Relationen manchmal aus dem Fokus. Auch wenn jeder einzelne Baum ein Gewinn ist, macht es die Masse aus. Während im Zentrum fast jede neue Begrünung medienwirksam präsentiert wird, fallen bei Verkehrs- und Stadterweiterungsprojekten Tausende alte Bäume, um durch Nachpflanzungen ersetzt zu werden, die erst in Jahrzehnten nennenswerte Größen erreichen. Gerade dieser alte Baumbestand mit seiner großen Blattfläche ist wertvoll, Jungbäume benötigen immer mehr Pflege, um über die ersten Jahrzehnte zu kommen. Die Fachleute der verantwortlichen Magistratsabteilung 42 werden dabei immer kreativer, um Bäume zu finden, die den Extrembedingungen in der Stadt standhalten.

So überraschen im Frühling an manchen Straßenbahnhaltestellen der Ringstraße rosafarbene Tamarisken: So zart die Triebe sind, so robust sind die Bäume, die ursprünglich an den Brandungen des Mittelmeers wuchsen und damit sehr tolerant gegenüber dem Salzeintrag durch das Streugut sind. Auch mit moderner Technik versucht man, dem Salz zu begegnen; derzeit sind mit Sensoren voll gepackte „Schwammsteine“ in Erprobung, die die salzhaltige Lauge abweisen, nach dem ersten Schwall das weniger kontaminierte Was­ser aber in die Baumscheibe leiten sollen.

All das mag aufwendig sein, im Vergleich zu den derzeitigen Ausgaben für Straßenverkehrsstrukturen ist es aber zu wenig. Verwendet man die Ressourcen, um zum „Hierbleiben“ einzuladen, oder opfert man sie, um Straßen fürs schnelle „Fortkommen“ aufzurüsten? Das ist die Frage, die sich heutige Metropolen stellen müssen. Städte waren immer Orte des Aufenthalts, nicht des Transits. Das Umfeld so zu gestalten, dass die Bürger auch im Sommer nicht fliehen müssen: Das ist die Aufgabe der Stadt der Zukunft.

Spectrum, Fr., 2024.06.28

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Presseschau 12

02. September 2025Harald A. Jahn
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Orbáns Paläste

In Budapest wird das „Hauszmann-Programm“ zum Wiederaufbau zerstörter Bauwerke auf dem Burghügel umgesetzt. Während die Gründerzeitbauten in der Stadt verfallen, sind die neuen Palais eine teure nationale Selbstverwirklichung.

In Budapest wird das „Hauszmann-Programm“ zum Wiederaufbau zerstörter Bauwerke auf dem Burghügel umgesetzt. Während die Gründerzeitbauten in der Stadt verfallen, sind die neuen Palais eine teure nationale Selbstverwirklichung.

Das Donaupanorama von Budapest ist weltberühmt: Auf dem Burghü­gel thront der symmetrische Burgpalast mit seiner mittigen Kuppel, rechts ragt der Turm der Matthiaskirche in den Himmel. Zwischen den Repräsentationsbauten liegt die barocke Bürgerstadt mit ihren ein- bis zweistöckigen Wohnhäusern. Die strategisch ideale Lage über der Donau war seit dem 13. Jahrhundert logischer Siedlungs- und Verteidigungsort und Sitz der ungarischen Könige, über die Jahrhunderte wurde das Areal mehrmals Ziel schwerer Angriffe.

Die Prachtbauten auf dem Hügel waren immer auch Projektionsfläche für das Dauerthema ungarische Identität; schon zur k. u. k. Zeit versuchten Architekten, eine eigene Nationalarchitektur zu entwickeln. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Komplex aus Regierungsgebäuden stark beschädigt oder ganz zerstört und in kommunistischer Zeit vereinfacht wieder aufgebaut. Nun wurde der Palast Sitz von Kultureinrichtungen, mit teilweise unbefriedigenden Raumlösungen: Für die Museen sind die Palasträume mit ihren vielen Fenstern wenig geeignet. Die 2010 gebildete Orbán-Regierung beschloss, den Regierungssitz wieder auf den Burghügel zu verlegen und die Museumssituation neu zu ordnen – natürlich auch nach nationalen Gesichtspunkten. 2014 kündigte Orbán das „Nationale Hauszmann-Programm“ an, ein Konzept zum Wiederaufbau der zerstörten Bauwerke auf dem Burghügel und zur Revitalisierung der Bürgerstadt.

Bereits fertiggestellt ist das ehemalige Hauptquartier des Roten Kreuzes, ein eigentlich unpassendes Gründerzeithaus; schon das Originalgebäude ist ein Fremdkörper in der barocken Bebauung gewesen. Gegenüber schälte sich unlängst die neue Kuppel des ehemaligen Kriegsministeriums aus den Gerüsten – hier war nur noch das Erdgeschoß vorhanden –, und nun ist der Wiederaufbau des Palais von Erzherzog Joseph im Rohbau fertig. Umgerechnet 108 Millionen Euro soll das Projekt bis jetzt verschlungen haben.

Zeitgeschichte der Belle Époque

Das im Krieg beschädigte Palais hätte gerettet werden können, wurde aber 1968 abgerissen. Wieso gerade die Festlegung auf einen theoretischen zeitlichen Kanon, auf die Zeitgeschichte der Belle Époque? Die Jahrhundertwende gilt, ähnlich wie in Wien, als die Glanzzeit der Stadt und markiert einen Höhepunkt im nationalen Selbstbewusstsein. Mit dem Ausgleich 1867 wurde Ungarn weitgehend selbstständig, Budapest war um die Jahrhundertwende die am schnellsten wachsende Stadt Europas. Angesichts der Schieflage des Budgets sind die neuen Paläste eine teure nationale Selbstverwirklichung.

Nicht nur die zahllosen Gründerzeit-Wohnbauten der Stadt verfallen, auch bei den historischen Schätzen wie dem Kunstgewerbemuseum, einem Hauptwerk von Ödön Lechner, kommt die Renovierung seit zehn Jahren nicht voran. Mehr noch: Die Fidesz-Regierung ist mit der Mitte-links-Stadtregierung von Gergely Karácsony im Dauerstreit; nicht nur, dass notwendige Budgetmittel für längst überfällige Projekte zurückgehalten werden, versucht János Lázár, Orbáns Infrastrukturminister, einige Deals durchzuziehen, die für die Stadt negative Folgen hätten. Die Grundstücke der staatlichen Eisenbahn in der Umgebung wichtiger Bahnhöfe gehören zu den wertvollsten Ungarns, sind aber größtenteils ungenutzt. Es sind „Brownfields“, ehemalige Gleisfelder und Industriebrachen, aber auch die Bahnhöfe selbst. Ein solches Spekulationsprojekt mit arabischem Kapital auf der Fläche des Güterbahnhofs Rákosrendező nördlich des Stadtwäldchens, genannt „Mini-Dubai“, konn­te vorläufig abgewendet werden – zu groß war der Aufschrei angesichts drohender Hunderte Meter hoher Wolkenkratzer sowie zu intransparenten Vorgehens.

Inzwischen hat Lázár begonnen, die Baurechte an bahnnahen Grundstücken im Rahmen von „strategischen Partnerschaften“ an private Investoren zu übertragen. Die Privatunternehmen erhalten die Flächen kostenlos auf 99 Jahre, müssen aber keine Entwicklungsgarantien abgeben: Die Erklärungen enthalten keine Vorschriften für Stadt- oder Bahnentwicklung, die Ausschreibung wurde weder mit der Stadtregierung noch mit den angrenzenden Bezirken abgesprochen. Ergebnis dieser unkontrollierbaren Deals könnten Überbauungen wie am Wiener Franz-Josefs-Bahnhof sein. Die Budapester Stadtpolitik hätte lieber ein anderes Wiener Projekt als Vorbild: die Hauptbahnhofplanung als ein sorgfältig vorbereitetes Programm, bei dem Stadtentwicklung und Bahnausbau von der ÖBB und der Stadt Wien gesteuert wurden und Bauträger auf Grundlage eines soliden Masterplans arbeiteten – mit einem gesunden Mix aus geförderten und frei finanzierten Wohnungen.

Ödön Lechners Postsparkassa

Das vom Lázár-Ministerium erklärte Ziel sind eine rasche Stadterneuerung und Wohnungsbauentwicklung – bei unklaren Planungsbedingungen und rechtlichen Regeln, was Befürchtungen hinsichtlich undurchsichtiger Geschäfte weckt, von denen nur ein kleiner Kreis von Insidern profitiert. Der derzeitige Top-down-Ansatz unter der Führung von Investoren erscheint ohne strenge öffentliche Beteiligung, Aufsicht oder strategische Vision riskant. Während auf dem Burghügel neue Paläste entstehen, ist nun eine lange Liste von echten historischen Gebäuden aufgetaucht, die zum Verkauf stehen, darunter so ikonische Meisterwerke wie Ödön Lechners Postsparkassa. Wenn die Fidesz-Regierung mit ihren Plänen durchkommt, könnte die berühmte Halle des Nyugati-Bahnhofs – vom Büro Eiffel konstruiert – künftig zu einem Veranstaltungszentrum mutieren, Bahnreisen würden weitab des Zentrums enden. In Sichtweite des Burghügels könnte sich plumpe Investorenarchitektur breitmachen: Die Fläche des derzeit heruntergekommenen Déli-Bahnhofs ist wohl die wertvollste der ganzen Stadt. Der (Vorort-)Bahnverkehr könnte nach Kelenföld zurückgezogen werden, eine Verschlechterung für die Pendler; dann werden wahrscheinlich bald neu erbaute Hochhäuser die neuen Kuppeln von Orbáns Palästen überragen. Und während Lázár als Verkehrsminister die Filetstücke „seiner“ Eisenbahn verscherbelt, bricht er in seiner eigentlichen Kernkompetenz Versprechen: Dringend notwendige Investitionen in neues Zugsmaterial werden verschleppt, Pläne zum Bahnausbau storniert, Sanierungen auf ein Mindestmaß reduziert – die Fidesz-Regierung setzt auf Autobahnen.

Spectrum, Di., 2025.09.02

30. Juli 2025Harald A. Jahn
Spectrum

Bauwerke der faschistischen Ära: Roms Kolosseum zum Quadrat

Die Faschisten wussten um die Wirkmacht von Architektur, ein Glanzpunkt sollte die Weltausstellung 1942 werden – zu der es aber nie kam. In einem damals eigens errichteten Gebäude sitzt heute eine Modefirma: im Palazzo della Civiltà Italian.

Die Faschisten wussten um die Wirkmacht von Architektur, ein Glanzpunkt sollte die Weltausstellung 1942 werden – zu der es aber nie kam. In einem damals eigens errichteten Gebäude sitzt heute eine Modefirma: im Palazzo della Civiltà Italian.

Vor exakt hundert Jahren, 1925, begann in Italien die Einparteiendiktatur, Vorbild für Hitlerdeutschland, aber auch für Österreichs Ständestaat. Während dieser bei den Versuchen, historische Legitimität zu konstruieren, Berufsstände und die Kirche heranzog, schöpfte Benito Mussolini „aus dem Vollen“: Ein drittes Rom sollte entstehen, nach dem imperialen Rom der Antike und dem Rom der Päpste sollte es nun das Rom des Faschismus werden.

Die Architektur war das Fundament, auf dem die neue „politische Religion“ gebaut werden sollte. Wie beim Bau der Kathedralen sollte damit die Volksgemeinschaft überhaupt erst geschaffen werden. Während die Architektur des Dritten Reichs aber vor allem schwerfällig wirkt, schufen die Rationalisten in Italien modernistische, reduzierte Varianten des antiken Erbes. Und während die Nazis gegen die Neue Sachlichkeit polemisierten, baute Giuseppe Terragni 1936 mit der „Casa del Fascio“ in Como ein Meisterwerk: vier unterschiedliche asymmetrische Stahlbeton-Rasterfassaden, transparent und luftig. Heute werden die verbliebenen grauen Nazibauten in Deutschland als ungeliebte Altlast empfunden, in Italien dagegen die Bauwerke der faschistischen Ära gefeiert.

Auftakt für den Abessinienkrieg

Früher als Hitler hat Mussolini nicht nur die Wirkmacht der Architektur, sondern auch die des Städtebaus erkannt. Er ließ das Forum Romanum von späteren, „parasitären Bauten“ befreien und neue Straßenachsen anlegen; zugleich wurden einige im Weg stehende antike Baudenkmäler entsorgt. Der Glanz des römischen Imperiums sollte aus den Jahrhunderten des Verfalls herausgeschält werden, in ganz Italien wurde abgerissen wie noch nie, die Städte wurden umgebaut: glatt, modern, autogerecht, monumental.

Einen Höhepunkt sollte der faschistische Urbanismus mit einer Weltausstellung im Süden von Rom finden. Ab 1938 wurde an der Esposizione 1942 gearbeitet, als Bezeichnung ist heute EUR (Esposizione Universale di Roma) gebräuchlich. Der Grundriss beruft sich auf antike Stadtgründungen, mit Hauptachsen in annähernder Nord-Süd- sowie Ost-West-Orientierung. Entworfen wurde das urbanistische Gesamtkonzept von Marcello Piacentini, dem wichtigsten Architekten Mussolinis. Anders als bei früheren Weltausstellungen sollten die Gebäude dauerhaft genutzt werden, die Planung vergab man nach Wettbewerben an Stararchitekten.

In der ersten Bauphase begannen die Arbeiten am Kongresspalast, am Staatsarchiv, an der Basilika St. Peter und Paul, am Museum der römischen Zivilisation und am symbolischen Hauptgebäude, dem Palazzo della Civiltà Italiana. Dieser Palast der italienischen Zivilisation ist das spektakulärste Objekt des Viertels: das „quadratische Kolosseum“, von Piacentini als ikonisches Symbol des Faschismus entworfen. Die Anzahl der Bögen (sechs Geschoße, neun Achsen) entspricht den Buchstaben im Namen Benito Mussolini; das letzte Geschoß hat keine Öffnungen, um Platz für ein eingemeißeltes Zitat aus einer Rede zu zeigen, die den Auftakt für den Abessinienkrieg markierte: „Ein Volk der Dichter, der Künstler, der Helden, der Heiligen, der Denker, der Wissenschaftler, der Seeleute, der Wanderer“. Verkleidet ist der Palast mit Travertin, ein bewusster Bezug auf das traditionelle Baumaterial der Tempel im antiken Rom.

Die Weltausstellung wurde nach dem Kriegseintritt Italiens allerdings abgesagt, ab 1943 ruhten die Bauarbeiten, ein Areal unfertiger Bauruinen blieb zurück. Erst in den 1950er-Jahren wurden die Arbeiten wieder aufgenommen – konsequenterweise erneut unter der Leitung von Piacentini. Mit den Olympischen Spielen von 1960 wurde das Stadtviertel populär. Seither wuchs es zum Finanz- und Wirtschaftszentrum der Hauptstadt, neue Hochhäuser kamen hinzu, und hier entstand zuletzt das größte römische Gebäude seit Jahrzehnten: Das vom Studio Fuksas entworfene Konferenzzentrum „The Cloud“ übernimmt die Dimensionen und Proportionen von EUR, eine gigantische Freitreppe führt unter das Straßenniveau und mündet in einem fast 50 Meter hohen Glaskubus, in dem eine transluzide Wolke schwebt.

Schwächen der Reißbrettarchitektur

Heute hat das EUR-Viertel einen guten Ruf, um den künstlichen See sind Wohnbauten entstanden, die Nachbarschaft wirkt lebendig, die Erdgeschoßzonen sind belebt. Der Kontrast zum faschistischen Stadtplanungsideal einige Blocks weiter nördlich offenbart die Schwächen der Reißbrettarchitektur: Die Geometrie der Plätze ist beeindruckend, aber erbarmungslos. Die Freiräume dienen hauptsächlich als Parkplatz, für den Fußgänger wird die Wiederholung der immer gleichen detailarmen Architekturmotive rasch eintönig. Dabei hat die Bevölkerung, im Gegensatz zum deutschsprachigen Raum, ein anderes Verhältnis zur faschistischen Vergangenheit. Eine Hitlerbüste im öffentlichen Raum wäre in Berlin undenkbar, am Flachrelief des Palazzo degli Uffici stößt sich niemand: Hier wird die Geschichte Roms von der Gründung bis zum Faschismus dargestellt, ein reitender Mussolini wird von Arbeitern bejubelt. Vor dem Gebäude grüßt die Bronzestatue „Il Genio dell’Fascismo“, mit einigen Bronzebändern notdürftig zum „Il Genio dello Sport“ umdekoriert.

Spricht man mit den Menschen im Viertel, stößt man auf gelassenes Desinteresse. „Das ist eben die Vergangenheit, das römische Imperium, und die Päpste waren auch nicht zimperlich. Wir haben damit kein Problem. Hin und wieder kommt es zu Kontroversen, die im Keim ersticken, aber im Grunde wissen wir, dass es Teil unserer Geschichte ist, auch wenn sie nicht gerade erfreulich ist“ – das ist der Grundtenor, den man im Caffè an der Viale Europa hört. Derweilen flirren die Bögen des Palazzo della Civiltà Italiana wie in einem Bild von Giorgio de Chirico; heute ist das „quadratische Kolosseum“ ganz banal an die Modefirma Fendi vermietet. Vom Markennamen angelockt, versucht eine einsame Influencerin, etwas für ihren Insta-Kanal zu finden, ein Arbeiter in grellbunter Funktionskleidung zupft Unkraut von der Freitreppe. Durch ein offenes Fenster ist ein Blick ins Erdgeschoß möglich, hinter den pathetischen Bögen stehen Flipcharts und billige Büromöbel: Hinter den Fassaden ist die Welt der Mode wenig glamourös, und Mussolinis Architektur, seinerzeit Kulisse für die Eroberung der Welt, wirkt plötzlich erstaunlich banal.

Spectrum, Mi., 2025.07.30

14. April 2025Harald A. Jahn
Spectrum

Städteplanung: Wien trägt Jogginghose statt Nadelstreif

Anders als in französischen Städten gilt in Wien der Aufenthalt im Freien als verdächtig – dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar. So wird die Stadt hässlich.

Anders als in französischen Städten gilt in Wien der Aufenthalt im Freien als verdächtig – dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar. So wird die Stadt hässlich.

Stadt war immer Kommunikation: Frü­her fand das Leben in den Straßen statt, öffentliche Räume waren Ergänzung der privaten Wohnhäuser. Die Notwendigkeit, sich mit der Umgebung zu arrangieren, förderte viele Jahrhunderte lang die soziale Kompetenz. Die Stadt wurde als Einheit genutzt: Besinnung und Privatheit in den Häusern, Kommunikation, Handel, Interaktion im öffentlichen Raum. Das Wort „Urbanität“ steht für diese Lebensweise, für das feinfühlige und flexible Verhalten in der Stadt, das durch das gedrängte Miteinander nötig wurde.

Gleichzeitig entwickelte sich die urbane Gesellschaft durch den Zugang zu Information. Man bewegt sich durch komplexe Räume – intuitiv lesbar, schaffen sie das passende Umfeld für die Funktion und schaffen Identität: Man „kennt sich aus“. Die Städte unterscheiden sich in spezifischen Details, an denen man sie auf den ersten Blick erkennt: Neben der Bauweise der Wohnhäuser sind es spezifische Ikonen – die roten Telefonzellen in London, die Metrostationen in Paris –, dazu kommen Details, die die Bewoh­ner mit ihrer Stadt verbinden. In Wien können das die flachen Stufen der Stadtbahnstationen sein, die Würfeluhren, das Straßenpflaster, die Würstelstände: All das prägt den Charakter der Stadt in einer Welt, die immer gleichförmiger wird.

Fußgängerzonen entstanden aus „Notwehr“

Der große Umbruch kam mit dem Auto: Es hat die Menschen aus dem Straßenraum vertrieben, das Fernsehen wurde zum Ersatz für echtes Stadtleben. Städte verändern sich mit der Gesellschaft; der Umbau zur „autogerechten Stadt“ war die größte Veränderung, neue Strukturen zum „Fortkommen“ eliminierten die Orte des „Dableibens“ in den Städ­ten, die früher für das Erleben und das Tempo der Fußgänger konzipiert waren. Sogar Prachtboulevards wie die Wiener Ringstraße wurden zu linear gestalteten Transitschneisen, ergänzt um Werbetafeln, Schaltkästen, Verkehrsampeln, angepasst an die höheren Geschwindigkeiten. Gleichsam aus „Notwehr“ entstanden Fußgängerzonen, die in allen Städten ähnlichen Gestaltungsprinzipien folg­ten; damit wurden die Zentren verwechselbar, verloren die Städte ihre Identität. Ein österreichischer Architekt kämpfte gegen diese Ortlosigkeit an: In den USA war dieser Prozess schon weiter fortgeschritten, in den gesichtslosen Vorstädten wollte der nach Amerika vertriebene Architekt Victor Gruen in den 1950er-Jahren Shoppingmalls mit Plätzen nach dem Muster europäischer Metropolen aufwerten.

In diesen dauerte es aber noch länger, bis öffentliche Räume als Aufenthaltsraum wiederentdeckt wurden. In Frankreich sind die Bürger seit der Revolution 1789 gewöhnt, gesellschaftliche Fragen auf der Straße zu verhandeln; hier begann auch die Requalifikation der Stadträume früher. Gesamtheitlich gedachte Stadtumbauten wurden als Chance zur Reurbanisierung vernachlässigter Innenstädte gesehen, dazu renommierte Architekten und Landschaftsplaner beauftragt. Nun wurden Fahrbahnen eliminiert, Promenaden angelegt, frühere Verkehrsflächen zu wunderschö­nen Aufenthaltsorten. Inzwischen ist es Standard geworden, Stadträume in höchster Qualität neu zu gestalten.

„Es ist einfach der Respekt vor den Bürgern“, sagt Pierrick Aubert, Studioleiter für Transport und öffentliche Räume bei Richez Associés, dem bekanntesten Architekturbüro Frankreichs in diesem Fachbereich. „Mit jedem neuen Projekt bringen wir Schönheit und Wertschätzung in die Stadt – das spüren die Menschen. Auch in sozial schwierigen Gegenden beobachteten wir nach den Neugestaltungen, dass weniger Wände beschmiert werden. Die Bewohner fühlen sich wahrgenommen und reagieren darauf.“ In Orléans hat das Büro zentrale Plätze umgebaut, diskret und stimmig. Die Erneuerung war umfassend: Kein Stein blieb auf dem anderen, die Straßenoberfläche wurde zur dritten Fassade zwischen den angrenzenden Häusern, jedes Detail sorgsam entworfen. Berücksichtigt wird die „DNA der Stadt“, Material und Formen nehmen Bezug auf die lokale Geschichte; inzwischen sind Neugestaltungen ohne Mitarbeit von Architekturbüros fast undenkbar.

Sprung nach Wien. Hier löst der Wunsch nach einer „klimafitten Stadt“ Umbauten aus, Schönheit steht aber nicht auf der Agenda. Das war nicht immer so: Noch in den 1980er-Jahren wurden bekannte Architekten mit dem Design beauftragt. Hans Hollein gestaltete den Kohlmarkt, Boris Podrecca die Meidlinger Fußgängerzone und ein stimmiges Programm von Stadtleuchten. Von Luigi Blaus Stadtmöbel-Serie blieb nur das Tramway-Wartehäuschen als neue Wiener Ikone. Verständnis für die so wichtige Kontinuität gibt es heute nicht mehr: Die historischen Kandelaber sind verschwunden, die Würfeluhr konnte nur knapp gerettet werden, sogar das für Wien typische Haltestellensymbol der Straßenbahn wird durch aussagelose Pfosten ersetzt. Auch die neu gestalteten Parks und Plätze sehen ähnlich nichtssagend aus, überall beherrschen unmaßstäbliche Strukturen das Bild, die Bodenbeläge sind glatt und abweisend.

Überzogene Normen

Verantwortlich dafür sind überzogene Normen, auf die sich die Verwaltung beruft: Die Stadt wird praktisch, aber hässlich, ein schlichtes Nicht-Design wird bei allen Projekten durchgezogen. Formlose Betonblöcke umgeben banal bepflanzte Staudenbeete, charmante Orte entstehen nicht. Während sich andere Städte in feinsten Nadelstreif kleiden, trägt Wien Jogginghose – formlos, schmucklos, lieblos. Der tatsächliche Grund sitzt tief: Anders als französische Städte ist Wien immer noch von Metternich’scher Lust an Kontrolle geprägt, der Aufenthalt im Freien gilt als verdächtig, die Stadt hat Angst vor „herumlungernden“ Personen. Dieses Unwohlsein der Verwaltung ist bei jeder Neuplanung spürbar, ein Schilderwald erklärt dem unmündigen Bürger, wie er sich zu verhalten hat.

Inzwischen arbeitet das Büro Richez an der Neugestaltung der Ringstraße – aber nicht in Wien, sondern in Orléans. Auch dort ersetzte eine Prachtstraße die Stadtbefestigung, und auch dort wurde sie durch den Autoverkehr verwüstet: Mit ihren Parkplätzen und Unterführungen ist sie dem Wiener Gürtel ähnlich. Nun erhält sie ihre Schönheit zurück, mit Aufenthaltsräumen in höchster Qualität, gesamtheitlich entworfen und abgestimmt auf die historische Bedeutung der Umgebung. Die Strukturen zum „Fortkommen“ verschwinden, die Straße lädt künftig wieder ein, die Stadt in all ihrer Sinnlichkeit und Eleganz zu erleben.

Spectrum, Mo., 2025.04.14

26. Januar 2025Harald A. Jahn
Spectrum

Wohngebäude wie in „Squid Game“: Wenn die soziale Utopie scheitert

Fiktion und Wirklichkeit: Die Streaming-Serie „Squid Game“ bedient sich visuell ansprechender Settings, wie sie bereits vor längerer Zeit real errichtet wurden. Vor gesellschaftlichen Problemen feien diese schönen Bauten aber auch nicht immer.

Fiktion und Wirklichkeit: Die Streaming-Serie „Squid Game“ bedient sich visuell ansprechender Settings, wie sie bereits vor längerer Zeit real errichtet wurden. Vor gesellschaftlichen Problemen feien diese schönen Bauten aber auch nicht immer.

Ein Kinderreim wurde zur Hymne der bisher erfolgreichsten Streaming-Serie: „Squid Game“. Gedreht in Südkorea, spielt die Show mit dem Kontrast lieblicher Sets und brutaler Handlung; eine Gruppe schwer verschuldeter Kandidaten muss koreanische Kinderspiele aus den 1970er-Jahren absolvieren – und realisiert erst währenddessen, dass ein Scheitern tödlich ist, während den Siegern eine riesige Gewinnsumme winkt. Bewacht von anonymisierten „Soldaten“, bewegen sich die Spieler durch farbenfrohe Sets der Designerin Chae Kyo­ung-Sun, die dafür tief in die Wunderkiste kunstgeschichtlicher Referenzen an die fernöstliche und europäische Kultur greift: Koreanische Kinderbücher aus den 1970er-Jahren und unbeschwerte Spiele in den sonnendurchfluteten Gassen von Seoul vermischen sich mit Zitaten aus europäischer Kunst und Architek­tur.

In der Serie treten die Kandidaten, die rasch dezimiert werden, auf Spielfeldern an, die wie überdimensionale Spielplätze oder Zirkuszelte aussehen, poppig-bunt und fröhlich. Kyoung-Sun vermied die üblichen Elemente von Survival Games bewusst, kontrastiert den Egoismus der siegeswilligen, immer brutaler werdenden Teilnehmer mit fast lächerlichen, ins riesige vergrößerten Spielgeräten wie Schaukeln, Rutschen oder kitschigen Puppen.

Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus

Die Farbwelt der Serie ist präzise kalkuliert: Gekleidet sind die Spieler in türkise Trainingsanzüge, die meistgetragene Farbe für Freizeitkleidung in Korea und damit so banal wie nur möglich; verfehlen sie das Etappenziel, werden sie disqualifiziert, sprich: von Soldaten in pinkfarbenen Overalls erschossen. Das fröhliche Pink wird damit zur Farbe der Angst. In den Nächten zwischen den Spielrunden wohnen sie in einem Schlafsaal, der an ein Hochregallager erinnert, die Designerin spielt damit auf die anonymisierte Gesellschaft des Landes an, in dem ständig überlastete Arbeitnehmer wie Roboter ihre Pflichten erfüllen, um dann in ihre wie geklont wirkenden „Appats“ zurückzukehren.

Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus: Hier ließ sich die Designerin vom Bild „Relativität“ von M. C. Escher inspirieren. Die Gravitation scheint aufgehoben, Treppen verlaufen in allen Raumdiagonalen, jede hat ihr eigenes Schwerkraftzentrum. In der Serie bewegen sich die Spieler und Soldaten im Gänsemarsch über die pastellbunten Pfade durch den labyrinthischen Raum, kreuz und quer, hoch und nieder. Dieses Atrium ist direkte Referenz an ein berühmtes Gebäude des katalanischen Architekten Ricardo Bofill: „La Muralla Roja“, ein Apartmentkomplex in Calpe nahe Alicante an der Südküste von Spanien.

Die frühen Gebäude des 2022 verstorbenen Architekten sind skulpturale gesellschaftliche Utopien der 1960er-/1970er-Jahre und basieren stilistisch auf der Verbindung von spanischer und arabischer Architektur. Sie tragen Namen wie „Kafkas Schloss“, „Xanadu“ oder eben „die Rote Mauer“: Hier werden Apartments auf- und aneinander gestapelt, die sie erschließenden Innenhöfe sind intim, kleine Treppen führen zu den Wohneinheiten, überall entstehen überraschende Durchblicke. Der in den 1970er-Jahren übliche Ansatz, in Modulen zu denken, wurde von kaum einem anderen Architekten so konsequent, aber auch so überzeugend umgesetzt. Vielen anderswo verwirklichten ähnlichen Konzepten dieser Brutalismus-Epoche fehlen die „Weichmacher“: Bofills menschliche Dimensionen, die Farben, die Leichtigkeit.

Sein größtes Wohnhaus dieser Epoche ist „Walden 7“ an der Peripherie von Barcelona, gleich neben der ehemaligen Zementfabrik, in der Bofill sein Büro „Taller de Arquitectura“ angesiedelt hat. Von außen wirkt das Haus wie ein Bienenstock, braun und etwas abweisend. Innen wird es aber zur harmonischen senkrechten Dorfgemeinschaft, natürliche Ziegelwände und ein sattes Türkis ergeben zusammen mit den gerundeten Brüstungen und Erkern ein weiches, natürliches Raumerlebnis. Auch hier verbinden etliche Brücken die kleinen Vorplätze der Wohneinheiten, die Struktur wirkt wie natürlich gewachsen, ähnlich den Gassenlabyrinthen von Marokko. Zentrum sind auch hier Atriumhöfe, von denen aus die Apartments erschlossen werden; etwas nachteilig ist vielleicht die Dunkelheit der unteren Geschoße, dafür sorgen gebäudehohe Durchbrüche für kühlenden Wind am oft heißen Stadtrand der Küstenmetropole.

„Villes Nouvelles“: monströse Wohnbauten mit Fertigteilfassaden

Später verloren Bofills Bauten ihre verspielte Unschuld – und wurden selbst zu Filmkulissen. Seine Arbeit verlagerte sich nach Frankreich: In Montpellier entstand mit „Antigone“ ein postmodernes Stadtviertel entlang einer neuen Achse zum Fluss Lez; der Name spielt nicht nur auf die inzwischen neoklassizistisch geprägte Architektur an, sondern ist auch Antwort auf ein Einkaufszentrum namens Polygone, das wie ein Korken zwischen dem historischen Zentrum und dem Weg zum Fluss sitzt.

Die Platzräume von „Antigone“ wirken trotz ihres Pathos durch die Begrünung und die Geschäfte lebendig, die Projekte in Paris hatten dagegen bald einen schlechten Ruf: Um die Kernstadt entstanden die „Villes Nouvelles“, und in diesen oft ortlosen Neubauquartieren wollte Bofill mit ikonischen Großbauten Identifikationsorte schaffen. Das ging nicht immer gut. Während seine Ferienwohnhäuser unter der spanischen Sonne pastellgrell in der Sonne strahlen, stehen im Großraum Paris einige verwechselbare und monströse Wohnbauten mit immer ähnlichen Fertigteil-Fassadenelemen­ten.

„Versailles fürs Volk“

Die größten und bekanntesten sind die „Espaces d’Abraxas“: Geplant als „Versailles fürs Volk“, zogen die anfangs begeisterten Middle-Class-Bewohner und Künstler aber bald ernüchtert aus, wegen Sozialproblemen stand der Komplex sogar knapp vor dem Abriss. Hier hat die große Geste über den Anspruch menschlicher Architektur gesiegt, mangelnde Instandhaltung brachte Verwahrlosung, auf den Treppchen und Erschließungsbrücken wurde gedealt. Heute sind die Banlieues stigmatisiert; Bofills Bauwerke brachten keine Besserung für die Vorstädte.

Die drei Bauten von Abraxas sollten zusammen einen Theaterraum bilden; die auf dieser Bühne inszenierte städtische Utopie wurde ein Misserfolg, wie der Architekt später zugab, die soziale Durchmischung gelang nicht. Schauspieler sind trotzdem häufig zu Gast. Bofills fröhlich-bunte Mauern der 1970er-Jahre boten den willkommenen Kontrast zur blutigen Handlung von „Squid Game“; Abraxas war dagegen schon mehrfach direkte und dystopische Kulisse für cineastische Albträume: Terry Gilliams Groteske „Brazil“ wurde ebenso hier gedreht wie „Die Tribute von Panem“. Auch Bofill sah die soziale Utopie hier als gescheitert an.

Spectrum, So., 2025.01.26

04. Dezember 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Brüsseler Justizpalast: Sogar die Gerüste sind baufällig

Der Justizpalast in Brüssel ist das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt, doch er verfällt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein.

Der Justizpalast in Brüssel ist das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt, doch er verfällt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein.

Es ist ein wahres Ungetüm, das da auf dem Hochplateau des Galgenberges in den Himmel ragt: Der Brüsseler Justizpalast ist das größte Gebäude des Historismus, finanziert durch die brutale Ausbeutung der Kolonie Belgisch-Kongo, gebaut von Joseph Poelaert, einem Architekten, der zuvor, so sagt man, nur eine einzige Säule entworfen hat.

Eine ganze Serie von Kulissenfassaden wuchert um das Hauptportal, es ist ein Auftakt in Fortissimo. In der riesigen Halle dahinter ist es still, die Dimensionen schüchtern ein, kippen aber auch in absurde Lächerlichkeit. Der 100 Meter hohe Raum wird dominiert von einem Säulenwald, große Trep­pen führen nur in den ersten Stock, der Grundriss ist seltsam undurchschaubar. Kafkas „Prozess“ drängt sich unweigerlich auf, wenn man den „Salle des pas perdus“, den Saal der verlorenen Schritte, durchquert.

Ausblicke aus trüben Fenstern auf graue Innenhöfe

In der halbdunklen Wandelhalle machen Inseln aus warmem Licht erst den Maßstab deutlich. Auf einer der Bänke sitzt ein Student und lernt, Dutzende Meter weiter spricht ein Anwalt mit seinem Klienten, Stimmen verlieren sich in der Weite. Nach den Prunkstiegen führen dann unauffällige Türen zu engen Treppenhäusern, weit oben enden sie oft in dunklen Zwischengeschoßen, in denen Eisenleitern zu Dachluken führen.

In den Büroetagen herrscht der Geist der 1970er-Jahre, manche Büros sind ungenutzt, Akten stapeln sich, in einer verstaubten Bibliothek stehen Vitrinen mit historischen Gesetzbüchern. Die trüben Fenster bieten immer wieder Ausblicke auf graue Innenhöfe und die teilvergoldete Kuppel: Zahllose Gerüste umspinnen die Fassaden, sie sind seit Mitte der 1980er-Jahre zarter Gegensatz zum robusten Baukörper.

Der Justizpalast verfällt seit Jahrzehnten, die Gerüste gehören mittlerweile untrennbar zur Silhouette, inzwischen sind auch sie baufällig. Wie so oft in Belgien versackten die Renovierungen im Dschungel der Bürokratie, in der Trägheit der Behörden, in Finanzproblemen; für viele ist die Monsterbaustelle Symbol für den dysfunktionalen Staat, der manchmal als der „erfolgreichste Failed State der Welt“ bezeichnet wird.

Technische Geografie des Gebäudes wird kartiert

Bis heute ist der Palast das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein und das Gerüst verschwinden. Noch komplexer sind allerdings die Arbeiten im Inneren; dass Poelaert keine vollständigen Pläne zurückgelassen hat, macht die Sache nicht einfacher, über die Leitungsführungen ist nichts bekannt, und auch die nachträglichen Zubauten wurden nur unzureichend dokumentiert. Nun wird die technische Geografie des Gebäudes komplett kartiert.

Aber wie soll die künftige Nutzung aussehen? Anders als in vergleichbaren Gebäuden soll sich die Widmung nicht ändern, das Recht weiterhin hier residieren. Die Anforderungen haben sich aber geändert, die Justiz möchte bürgernäher und transparenter werden – wie kann das mit der alten Infrastruktur gelingen? Die 2011 von der Anwaltskammer gegründete Fondation Poelaert sucht nach Antworten. Im Vorstand sitzen nicht nur Justizangehörige, sondern auch Bürger der Stadt.

Die „Cités Obscures“

Einer davon ist François Schuiten. Er stammt aus einer Architektenfamilie und ist der wohl berühmteste Künstler der belgisch-französischen Comicszene, derzeit werden seine Arbeiten im Pariser Centre Pompidou gezeigt. Seine Graphic-Novel-Serie „Die geheimnisvollen Städte“ behandelt soziale und urbane Themen, sie entsteht gemeinsam mit dem Autor Benoît Peeters und wurzelt direkt in der seltsamen Stadtgeschichte Brüssels.

„Les Cités Obscures“ erzählen dystopische Geschichten, in der Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Scheinbar berühren sich die Welten manchmal, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche weitere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.

„Zeichnen hilft beim Heilen“

Während in der Folge „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta ein idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ (sic!) die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. Dabei ist der Justizpalast immer wieder wichtiger Schauplatz. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.

Als Designer ist er nicht nur an der Ideenfindung zur Nutzung des Justizpalasts beteiligt; ­die französische Armee hat ihn und andere ­Science-Fiction-Autoren eingeladen, Bedrohungen zu finden, die außerhalb der Vorstellungswelt klassischer Militärstrategen sind. „Tatsächlich – ich darf im Detail nicht darüber sprechen – gab es bereits Änderungen bei der Konstruktion eines neuen Flugzeugträgers, die direkt auf unseren Ideen basieren“, erzählt Schuiten. „Beim Justizpalast besteht die Herausforderung darin, die Rolle der Justiz in den veränderten Bedingungen unserer Zeit neu zu definieren: Wie können Transparenz, Digitalisierung und Datenschutz architektonisch abgebildet werden, bei gleichzeitiger Funktionsausweitung des riesigen Baudenkmals?“

Reale und utopische Welten

Spätestens im Jahr 2030, zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Belgiens, soll der Palast als Leuchtturm der Demokratie wieder über die Stadt strahlen; derzeit wachsen Bäume aus den Simsen. Noch kann man sich an diesem eigenartigen Ort vorstellen, ein Portal in die Welt von Kafka oder der geheimnisvollen Städte zu finden; nach der Sanierung wird es wohl verschlossen sein.

Vorher wird aber noch ein Abgesandter der „Cités Obscures“ hier manifest werden: Ein großes Kunstwerk, halb Nautilus, halb Oktopus, taucht am 30. November 2024 aus dem Boden vor dem Justizpalast auf. Das Hybridwesen ist Hauptdarsteller im letzten Band von François Schuitens Serie, der Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „dunklen Kontinent“ verknüpft und Teil eines Projekts für die französische Stadt Amiens ist: „Auf den Spuren von Jules Verne“ – hier hat er gelebt, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen.

Zuvor wird sie sich jedoch für einige Mo­nate vor dem Justizpalast niederlassen – als Verbindung realer und utopischer Welten in der bel­gischen Hauptstadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwergetan hat.

Spectrum, Mi., 2024.12.04

11. Oktober 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Pergola: Über die umstrittene Halle am Naschmarkt

Ein umstrittener Bau, dessen Spatenstich vor einer Woche erfolgte: Bei der Pressekonferenz wurde die geplante Nasch­markt-Halle von der Stadt nun als „Pergola“ vorgestellt. Was ändert das an der problematischen Situation?

Ein umstrittener Bau, dessen Spatenstich vor einer Woche erfolgte: Bei der Pressekonferenz wurde die geplante Nasch­markt-Halle von der Stadt nun als „Pergola“ vorgestellt. Was ändert das an der problematischen Situation?

Es ist eine Lücke in der Stadt: ein Prachtboulevard, den man versäumt hat anzulegen, mit einer Abbruchkante in einen schroffen Canyon, der nur bei Hochwasser wahrgenommen wird. Hier, im Bereich Kettenbrückengasse, endet der Naschmarkt mit einem Freiraum, der nur am Wochenende wirklich genützt wird, samstäglich durch einen Bauernmarkt vor den Otto-Wagner-Häusern und den Flohmarkt auf dem Plateau neben der U-Bahnstation.

Während sich die Kulisse von höchster Qualität präsentiert – Otto-Wagner-Häuser, Stadtbahnstation, Marktamt, Biedermeierhäuser aufseiten des fünften Bezirks –, bleibt die Bühne ungestaltet, vollgeramscht mit den in Wien üblichen Requisiten wie Stromkästen, Verkehrsschilderwald, Werbesäulen. Das ist leider typisch für die Stadt und ihren nachlässigen Umgang mit öffentlichem Raum.

Das Flohmarkt­areal ist sechs Tage die Woche eine Leerfläche, auf dem Platz standen früher die Pavillons des Großmarkts, der Anfang der 1970er-Jahre nach Inzersdorf abgesiedelt wurde. Solche Flächen werden gern dem Autoverkehr überlassen, der wie ein Gas ist, das sich in jeden Winkel der Stadt ausdehnt, wenn man es lässt. Hier glüht der Asphalt ebenso wie das Blech der Fahrzeuge – und die Sommer werden stetig heißer.

Potenzial der Flohmarktfläche

Immer wieder weckte die breite Wientalschneise Begehrlichkeiten der Stadtplanung. Ende der 1960er-Jahre war eine Stadtautobahn ernsthaft im Gespräch, die überdimensionierten Verkehrsbänder auf dem Karlsplatz sind Spuren dieser Pläne. In den 1980er-Jahren beschäftigte sich die Gürtelkommission erneut mit dem Thema. Im Abschlussbericht wurde vorgeschlagen, das Wienfluss-Gerinne teilweise zu überplatten und die Autofahrbahnen in die Mitte zu verlegen.

2011 gab es wieder einen Anlauf zur Neudefinition, nun sprach der Expertenbericht zum „Zielgebiet Wiental“ bereits von einem gentrifizierten Stadtteil – heute glitzern Dachgeschoßausbauten auf Häusern, die früher noch Motive für Franz Zadrazils Gemälde des grauen Nachkriegswien waren. In diesem Bericht wurde zudem erstmals auf das Potenzial der Flohmarktfläche hingewiesen und die Idee einer Gestaltung mit höherer Aufenthaltsqualität formuliert – dann verschwand auch diese Arbeit in den Schubladen.

Wunsch der Anrainer: ein Park

In den folgenden Jahren passierte wenig, bis von den Anrainern der Wunsch kam, die Flohmarktfläche zum Park auszugestalten, was die Stadt Wien anscheinend überhaupt erst auf die Situation aufmerksam werden ließ. Zuerst kam die Ablehnung („Auf dem Wienflussgewölbe ist keine Bepflanzung möglich“, was durch den Bestand beispielsweise auf dem Karlsplatz widerlegt wird).

Stadträtin Ulli Sima preschte mit der wenig durchdachten Idee einer Markthalle vor und ließ übereilt Renderings anfertigen, die eine unmaßstäbliche Großstruktur zeigten – damit brannte sich das Bild eines Monsterbauwerks in die Köpfe der Anrainer. Sima nannte als Vorbild unter anderem die Münchner Schrannenhalle neben dem Viktualienmarkt, in der die italienische Handelskette Eataly logiert – damals war übrigens noch René Benkos Signa-Gruppe an Eataly beteiligt, eine Expansion nach Wien geplant.

Nach den Protesten gegen die Hallenpläne gab es einen Rückzieher und abschwächendes Wording. 2022 tauchte dann der Masterplan „Zwischen den Wienzeilen“ auf, der das Projektgebiet auf drei Filetstücke aufteilte: Begrünung im Westen, Flohmarktplatz in der Mitte bei der U-Bahn, „neues Naschmarkt-Entree“ ums Marktamt. Gleichzeitig rollte die „Particitainment“-Welle: Die Scheinbeteiligung hat in Wien System.

Eine Fläche von 1040 Quadratmetern

Auf den Masterplan folgte ein Wettbewerb, gewünscht war eine Halle bis 1000 Quadratmeter, maximal acht Meter hoch – trotz sämtlicher Anrainerproteste. Die Ergebnisse wurden weitgehend unter Verschluss gehalten und nur wenige Tage in der Planungswerkstatt präsentiert, im Internet gar nicht. Platz eins punktete natürlich mit der Halle, Platz zwei und drei erlagen aber nicht der ­Verlockung, 1000 Quadratmeter bebauen zu dürfen.

Anfang 2024 gab es eine Veranstaltung der Bürgerinitiative, bei der unter Anwesenheit von zwei Juroren der Wettbewerb besprochen und die ersten drei Plätze gezeigt wurden. Die Halle des Siegerprojekts hat 1040 Quadratmeter, dazu wird ein fehlender Naschmarkt-Pavillon ergänzt. Das Dach ist begehbar, in der Halle gibt es einige Stände, wobei man der ­Beschreibung („Schauküche“, „große Tafel“) durchaus Gastronomienutzung entnehmen kann. Der Bauernmarkt soll künftig auf den Restflächen seitlich der Halle stattfinden.

Kein urbanistisches Gesamtkonzept

Strukturell ist die Halle ein Fremdkörper, eher Korken als Entree, sie steht den Naschmakt-Flaneuren ebenso im Weg wie den vom Wienerwald kommenden Kaltluftströmen. Platz zwei und drei wirken plausibler, sie ziehen die bestehenden Stände im Prinzip weiter, die Anordnung der Elemente im Bereich Flohmarkt/Park nimmt die Zeilenstruktur und die Richtung des Flusses auf.

Zu kritisieren ist neben dem Beharren auf einer Halle vor allem, dass kein urbanistisches Gesamtkonzept vorliegt. Laut Jury gibt es eine Menge Auflagen zur Änderung bei Platz eins, einige Wettbewerbsteilnehmer kritisierten, dass es vereinfacht nur darum ging, „ein paar Bauernmarktstandln“ zu entwerfen, und dass jede übergeordnete Idee seitens der Stadt fehlt. Erwähnt wurde außerdem, dass der erste Bezirk touristisch überlastet sei, das Zentrum daher „größer werden muss“ – dieselbe Idee steckt übrigens auch hinter dem Bau der U-Bahn U2/5, die den Ring um die Stadt in Richtung Westen verschiebt. Alles deutet also darauf hin, dass es sich um ein touristisches Projekt handelt und der Naschmarkt noch weiter kommerzialisiert werden soll.

Ein großes Manko der aktuellen Stadtplanung ist der derzeit übliche Aktionismus – in größeren städtebaulichen oder architektonischen Zusammenhängen wird nicht gedacht. Und zur Transparenz der Vorgänge? Fast alle Gerichtsverhandlungen sind öffentlich – städtebauliche Wettbewerbe nicht, die Jury tagt geheim. Das Siegerbüro Mostlikely Architecture (gemein­sam mit DD Landschaftsplanung und Buero de Martin) hat von der Stadt Sprechverbot erhalten, die beiden nachgereihten Büros halten sich bedeckt, „um den Prozess nicht zu stören“.

„Konzeptsuche für die Innenräume läuft noch“

Nicht geheim halten ließ sich allerdings, dass die Stadtregierung die Halle im Juni beschlossen und nun im Vergabeportal ausgeschrieben hat, was in den sozialen Medien und bei den Anrainern Aufregung ausgelöst hat. Die Stadt reagierte vorige Woche mit einer Pressekonferenz vor Ort – und abermals mit einer neu­en Bezeichnung für die umstrittene Halle: Nun ist es eine „zarte Pergola“. An den Planungen wurde dagegen nichts geändert, obwohl laut Stadträtin Ulli Sima „die Konzeptsuche für die Innenräume noch läuft“.

Umso dringender scheint der Stadt die Realisierung – auf die eigentlich gewünschte Umgestaltung des „Hitzepols Flohmarktparkplatz“ muss man dagegen noch bis mindestens 2026 warten, genaue Pläne des Gesamtprojekts wurden bis heute nicht veröffentlicht.

Spectrum, Fr., 2024.10.11

19. Juli 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Pariser Untergrund: Die Geheimnisse der aufgelassenen Métrostationen

Die 125 Jahre alte Pariser Métro birgt so manches Geheimnis: Oft liegen nur wenige Meter unter den lebendigen Boulevards oder neben überfüllten Bahnsteigen Orte, die über Jahrzehnte kaum betreten wurden.

Die 125 Jahre alte Pariser Métro birgt so manches Geheimnis: Oft liegen nur wenige Meter unter den lebendigen Boulevards oder neben überfüllten Bahnsteigen Orte, die über Jahrzehnte kaum betreten wurden.

Paris arbeitet sich tief in den Boden: Neue Métro- und Schnellbahnlinien wurden rechtzeitig für die Olympischen Spiele 2024 fertig, mit dem gigantischen Projekt Grand Paris Express entstehen in den nächsten Jahren 200 Kilometer neuer Métrostrecken durch die Vororte – sie sollen den Ballungsraum mit seinen fast 12,5 Mio. Einwohnern dezentral vernetzen. Viele neue Forschungs- und Wirtschaftscluster liegen außerhalb der Kernstadt, ebenso die Villes Nouvelles, die Schlafstädte der 1970er-Jahre. Mit jeder neu eröffneten Strecke werden die transportierten Menschenmassen größer, um die Stationen des Grand Paris Express sollen die Vorstädte nachverdichtet werden. Seit der Vereinfachung und Entbürokratisierung der Bauordung ist der Wohnbau dort bereits angesprungen, Zehntausende neue Wohnungen jährlich entlasten den angespannten Wohnungsmarkt im Großraum.

Zurück zur bald 125 Jahre alten Métro: In der Station Haxo ist es völlig still, kein Zug bewegt sich, kein Fahrgast steht auf dem trüb beleuchteten Bahnsteig. Die Haltestelle sucht man auf dem Netzplan vergebens, sie gehört zu den seltsamen Kuriositäten der Pariser U-Bahn. Ebenso wie Porte Molitor wurde sie zwar unterirdisch fertiggestellt, wegen Planungsänderungen liegt sie wie ihr Pendant aber an einer nicht befahrenen Strecke. Erreichbar sind beide nur mit den Sonderzügen, die in diesen Tunneln abgestellt werden. Ein dunkles Erdloch gähnt an der Stelle, an der sonst die Treppe ins Sperrengeschoß führt; die Aufgänge zur Straße wurden nie gebaut, trotzdem ist die Haltestelle wie üblich weiß verfliest.

Minütlich durch das Adernsystem der Stadt

Ebenso dauerhaft verborgen liegen viele alte Verbindungsgleise, heute Ziel der Urban Explorer und Graffitisprayer; eine obsolet gewordene Gleisschleife unter dem Parc Monceau war lang ein besonderer Anziehungspunkt – hier stellte der Verein Ademas, der sich um den Erhalt historischer Métrowagen kümmert, seine Schätze ab.

Auch der Tunnel ist eine Zeitkapsel: Man passiert eine Gasschleuse aus der Kriegszeit, die Schleife wurde damals zu einem Luftschutzbunker umgebaut, später als Schulungszentrum genützt. Eine staubige Leiter führt zu einem großen Gewölbe oberhalb des Tunnels, Standort eines unterirdischen Umspannwerks, heute sind die Trafos entfernt, die Wände schwarz von Staub. Ein Ventilator brummt im Hintergrund, ein Kranhaken hängt an uraltem Räderwerk – ein Bild wie aus einem dystopischen Film, nur in der Ferne ist das Grollen der Züge zu hören, die im Minutentakt durch das Adernsystem der Stadt pulsieren.

Die erste Linie wurde 1900 zur Weltausstellung eröffnet; die floral gestalteten Eingänge von Hector Guimard wurden zum Symbol der Stadt, obwohl es nun nur noch 88 davon gibt. Von den eingehausten Abgängen, deren ausladendes Glasdach an eine Libelle erinnert, ist nur ein einziger verblieben. Er ist ein passender Startpunkt zu einer Reise in die Welt unter der Lichterstadt und führt in die Endstation der Linie 2, Porte Dauphine. Für den aufmerksamen Passagier beginnt hier eine Fahrt mit kurzen Einblicken in die unzugänglichen Strukturen: Bei der Haltestelle Victor Hugo durchfährt der Zug eine aufgelassene Station, deren verlassene Bahnsteige ohne Aufschriften seit vielen Jahrzehnten keinen Passagier mehr begrüßt haben, bevor er sich durch das Tunnellabyrinth unter dem Place de l’Étoile schlängelt.

Getreues Abbild der Straßen

Es gibt eine ganze Handvoll solcher Haltestellen, die an befahrenen Strecken liegen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Betrieb genommen wurden, da die Frequenz zu gering war. Manche werden heute als Lager genützt; die größte derartige Station, Saint-Martin an den Linien 8 und 9, hat zeitweise betreute Schlafplätze für Clochards beherbergt.

Zur Bauzeit hatten die Ingenieure mit einem viel älteren Tunnelsystem zu kämpfen, das unter der Métro liegt: Das uralte Netz der unterirdischen Steinbrüche ist teilweise ein getreues Abbild der Straßen darüber, Schilder aus Stein oder blauem Email bezeichnen die Adressen über dem Boden. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Baumaterial für die Häuser der Stadt tief unter ihren Kellern beschafft, oft ohne sich um die Statik zu kümmern – bis der Abbau ab den 1780er-Jahren eingestellt wurde: Die Häuser über den Steinbrüchen neigten dazu, an ihren Ursprungsort zurückzukehren, ganze Straßenzüge stürzten ein oder versanken im Boden.

Ein kleiner Teil des Hunderte Kilometer langen Gangsystems kann heute besucht werden: Eine Steintafel mit den Worten „Halt! Hier beginnt das Reich des Todes“ begrüßt Touristen am Eingang zu den Katakomben, sie sind seit dem 18. Jahrhundert die berühmteste Nachnutzung der Stollen. Daneben arbeiteten Gewerbebetriebe wie Brauereien oder Champignonzüchter in den Bergwerken. Im Zweiten Weltkrieg bauten nicht nur die Vichy-Regierung und die Résistance hier geheime Unterstände, auch die deutschen Besatzer richteten sich in Räumen ein, die um 1215 in der Gegend des Jardin de Luxembourg in den Stein getrieben worden waren. Heute streunen illegale „Kataphiles“ durch die Dunkelheit, erforschen vergessene Seitenschächte oder feiern Partys und liefern damit den Behörden – den „Kataflics“, der Bergbaupolizei – ein Katz-und-Maus-Spiel.

Bei Bauvorhaben oder Hauskäufen muss mit einem speziellen Atlas die Stabilität des Bodens nachgewiesen werden; die Ingenieure der Métro, die an etlichen Stellen das Steinbruchsystem durchfährt, musste die Station Danube praktisch als unterirdische Brücke in einer riesigen Kaverne anlegen – als Fahrgast sieht man in der Station nichts davon.

Zirpen von Grillen im Untergrund

Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Métro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“. Heute ist der Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko passender: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel.“ In den jüngsten Jahrzehnten wurde die Métro laufend modernisiert, trotzdem hat sie manche ihrer Eigenheiten behalten: die weiß verfliesten labyrinthischen Gänge, die oft im Einbahnsystem geführt werden, oder den holzig-öligen Geruch auf einigen Strecken.

Eine akustische Kuriosität ist aber verschwunden: Lang hörte man in den ruhigeren Abendstunden das Zirpen von Grillen, die im Gleisschotter lebten. Sie verschwanden mit dem Rauchverbot, ihre Nahrungsquelle war der Tabak der Zigarettenstummel. Die Designer der RATP (Régie autonome des transports Parisiens) haben ihnen ein Denkmal gesetzt: An Bahnsteigen mit größerem Abstand zum Wagen hört man keine Entsprechung zum Londoner „Mind the gap“ – aus den Lautsprechern unter der Bahnsteigkante tönt subtiles Grillenzirpen.

Spectrum, Fr., 2024.07.19

28. Juni 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Pariser Bäume statt Wiener Kiesbeete

Kühlende Maßnahmen wie dichte Bepflanzung werden in Städten immer wichtiger – aber schwer umsetzbar: In Wien will man es allen recht machen und hat Angst vor der wuchernden Natur.

Kühlende Maßnahmen wie dichte Bepflanzung werden in Städten immer wichtiger – aber schwer umsetzbar: In Wien will man es allen recht machen und hat Angst vor der wuchernden Natur.

Dieser Zaun schützt Jungpflanzen“, steht auf einem Schild an einem Kiesbeet in der Neubaugasse. Einige Kletterpflanzen arbeiten sich an einer Nirosta-Konstruktion nach oben, daneben sprüht ein Nebelbrunnen Schwaden über den Gehsteig. Das Schild hängt seit drei Jahren am Holzzaun, die niederen Gräser dahinter überzeugen nicht so recht.

Sprung nach Paris: Dort werden Projekte zur konsequenten Begrünung enger Stadtstraßen verfolgt. Oft sind die bepflanzten Bereiche nur 50 cm breit, trotzdem ist eine dichte Kulisse von Kleingehölzen entstanden. Ein Bild, das selbstverständlich sein sollte, und doch sehen auch die fortschrittlichsten Städte Europas noch nicht lange so aus. Erst seit etwa zehn Jahren hat die Pariser Stadtregierung den Kampf gegen den Klimawandel als wichtiges Ziel definiert, im Juli 2019 wurde sie von der Natur bestätigt: Bis auf 42 Grad stieg das Thermometer.

Individuen, die Freiräume besetzen, erregen Misstrauen

Auch in Wien wurde vor einigen Jahren die Dringlichkeit der Situation deutlich: Eine Serie von immer neuen Rekordsommern hat begonnen, der Klimawandel wurde zum allgemeinen Thema. Trotzdem findet man in Wien kaum neue Grünräume, die man als Oasen bezeichnen könnte: Umgestaltete „klimafitte“ Straßen sind weiterhin nur Steinflächen mit vereinzelten Bäumchen. Sie stehen in Kiesbeeten, die niedrigen Wildblumen und Gräser sind hinter den Staketenzäunen kaum zu sehen – sich unter einem Baum in den Schatten zu setzen ist so nicht möglich. Darüber hinaus ist das die einzige Art der Begrünung, ob auf vorstädtischen Verkehrsinseln, in dicht bewohnten Stadtbezirken oder auf wertvollen historischen Plätzen wie dem Neuen Markt oder bald dem Michaelerplatz. Wann ist eigentlich die Gartenkunst im urbanen Stadtbild verloren gegangen?

Es ist vor allem die Vorschriftenflut, auf die sich die zuständigen Stellen berufen, aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung des öffentlichen Raums in Frankreich und Österreich. Seit der Revolution von 1789 ist die Straße in Paris der Ort, an dem die Gesellschaft ihre Werte verhandelt. Hierzulande hat die Politik seit Metternich große Angst vor ungeregelten Nutzungen. Individuen, die Freiräume besetzen, erregen Misstrauen; nichts soll das gewohnte, ordentliche Stadtbild stören. Die Folge ist nicht nur „defensive Architektur“, sondern auch in Zaum gehaltene, allzu übersichtliche Grünräume, die obendrein möglichst wenig Kosten verursachen sollen.

Das Verwachsen wird vermieden

An der Ringstraße pflanzte man einst alle sechs Meter einen Baum, um möglichst schnell schattige Spazierwege zu erhalten – die Damen der Gesellschaft sollten wenig Sonne abbekom­men. Bei späteren Pflanzungen wurden die Abstände weiter, die letzten größeren Alleen wie die Mariahilfer Straße erhielten etwa alle zehn Meter einen Baum: Die Baumkronen berühren sich, ein durchgehendes Blätterdach entsteht. Heute vermeidet man das Verwachsen. Bäume gelten am „leistungsfähigsten“, wenn sie sich ungehindert ausbreiten können, auf Parkplätze wird viel Rücksicht genommen, auch allzu starke Beschattung für Anrainer der unteren Geschoße soll vermieden werden: Man möchte es allen recht machen. Dazu kommen viele äußere Zwänge, von bestehenden Erdleitungen bis zu Forderungen der Feuerwehr, die mit der Leiter ungehindert zu den Fenstern kommen will. Für die Brandbekämpfer lauern überall Gefahren, was dazu führt, dass Kletterpflanzen nur eine gewisse Höhe erreichen sollen – hier wird die Ausbreitung von Bränden durch Fassadenbegrünung befürchtet. Doch sterben inzwischen mehr Menschen durch die Hitze als durch Zimmerbrände, was kaum eine Schlagzeile wert ist.

Aber auch in Bodennähe werden die Sicherheitsansprüche inzwischen absurd: Dichte Bepflanzung wird vermieden, um keine „Angsträume“ entstehen zu lassen – in einer der sichersten Städte der Welt werden idyllische Parks ebenso wie voluminöses Straßengrün abgeholzt, um freie Durchblicke zu ermöglichen. Damit sinkt aber die Aufenthaltsqualität ebenso wie die Beschattungswirkung und die Verdunstung; „gendergerechte Planung“ wird missbraucht, um den öffentlichen Raum ungemütlich zu machen. Allerdings haben Untersuchungen in den USA und in Leipzig ergeben, dass es in begrünter Umgebung tendenziell nicht nur weniger Straftaten, sondern auch ­weniger Depressionserkrankungen gibt: Schönere, menschlichere Umgebung steigert das Wohlbefinden ebenso wie die Sicherheit.

Rosa Tamarisken und Schwammsteine

Zurück zu den knapp 100.000 Wiener Bäumen: Seit die Politik sie als „Klimahelden“ erkannt hat, wird jede Neupflanzung stolz gefeiert – durchaus zu Recht, trotzdem geraten die Relationen manchmal aus dem Fokus. Auch wenn jeder einzelne Baum ein Gewinn ist, macht es die Masse aus. Während im Zentrum fast jede neue Begrünung medienwirksam präsentiert wird, fallen bei Verkehrs- und Stadterweiterungsprojekten Tausende alte Bäume, um durch Nachpflanzungen ersetzt zu werden, die erst in Jahrzehnten nennenswerte Größen erreichen. Gerade dieser alte Baumbestand mit seiner großen Blattfläche ist wertvoll, Jungbäume benötigen immer mehr Pflege, um über die ersten Jahrzehnte zu kommen. Die Fachleute der verantwortlichen Magistratsabteilung 42 werden dabei immer kreativer, um Bäume zu finden, die den Extrembedingungen in der Stadt standhalten.

So überraschen im Frühling an manchen Straßenbahnhaltestellen der Ringstraße rosafarbene Tamarisken: So zart die Triebe sind, so robust sind die Bäume, die ursprünglich an den Brandungen des Mittelmeers wuchsen und damit sehr tolerant gegenüber dem Salzeintrag durch das Streugut sind. Auch mit moderner Technik versucht man, dem Salz zu begegnen; derzeit sind mit Sensoren voll gepackte „Schwammsteine“ in Erprobung, die die salzhaltige Lauge abweisen, nach dem ersten Schwall das weniger kontaminierte Was­ser aber in die Baumscheibe leiten sollen.

All das mag aufwendig sein, im Vergleich zu den derzeitigen Ausgaben für Straßenverkehrsstrukturen ist es aber zu wenig. Verwendet man die Ressourcen, um zum „Hierbleiben“ einzuladen, oder opfert man sie, um Straßen fürs schnelle „Fortkommen“ aufzurüsten? Das ist die Frage, die sich heutige Metropolen stellen müssen. Städte waren immer Orte des Aufenthalts, nicht des Transits. Das Umfeld so zu gestalten, dass die Bürger auch im Sommer nicht fliehen müssen: Das ist die Aufgabe der Stadt der Zukunft.

Spectrum, Fr., 2024.06.28

23. Februar 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Dieses Projekt hält Wort: Malmös Neubauviertel am Hafen

Es ist dies ein Bonmot unter Stadtplanern: Das beste Stadtentwicklungsgebiet Kopenhagens ist in Malmö. Die beiden Städte am 15 Kilometer breiten Øresund...

Es ist dies ein Bonmot unter Stadtplanern: Das beste Stadtentwicklungsgebiet Kopenhagens ist in Malmö. Die beiden Städte am 15 Kilometer breiten Øresund...

Es ist dies ein Bonmot unter Stadtplanern: Das beste Stadtentwicklungsgebiet Kopenhagens ist in Malmö. Die beiden Städte am 15 Kilometer breiten Øresund sind durch die im Sommer 2000 eröffnete Brücke über die Meerenge deutlich aufeinander zugerückt, das schwedische Malmö wurde zum Einzugsgebiet der dänischen Hauptstadt.

Auf der Kopenhagener Seite quert die mit der Brücke verbundene Autobahn das Entwicklungsgebiet Ørestad, das eher schroff und gar nicht „hygge“ wirkt; in Malmö entstand dagegen ein Projekt, das alles hält, was die farbenfrohen Renderings von Neubauvierteln anderswo versprechen.

Malmö teilte das Schicksal vieler Arbeiter- und Hafenstädte: Eine lange Krise der Schwerindustrie vernichtete Zehntausende Arbeitsplätze und hinterließ Brachflächen in durchaus attraktiver Lage am Meer. Die Erholung begann Ende des 20. Jahrhunderts, mit der Øresundbrücke kam der Boom in die „kleine Großstadt“, die mit ihren Pflasterstraßen und Backsteinbauten ein wenig an Gent oder Antwerpen erinnert.

Der „Förstadts­kanalen“ um das Zentrum definiert die Grenze zwischen Stadt und Hafen. Hier steht auch der alte Kopfbahnhof, ebenfalls ein historischer Backsteinbau; früher war hier Endstation, heute geht es weiter zu der Brücke, die alles verändert hat.

Neue Landmarks

Jenseits der Gleistrasse Richtung Meer sieht es sofort völlig anders aus – der Platzbedarf der Industrie hat eine ganz andere Maßstäblichkeit entstehen lassen, weite Betonflächen prägen das Bild. Folgt man dem „Vorstadtkanal“ jedoch ein Stück weiter nach Westen, trifft man auf neue Landmarks: Das Hafenmeistergebäude von 1910 wurde um einen Zubau ergänzt, eine braune, stark gefaltete Blechstruktur der Architekturbüros Terroir und Kim Utzon umgreift den Altbau und soll als Scharnier Richtung Hafen fungieren.

Dreieckige Blech- und Glasflächen wechseln sich ab, dabei wirkt die dunkle Konstruktion angenehm harmonisch; der Verlockung, hier einen allzu harten Kontrast zum historischen Ziegelbau zu erzeugen, sind die Architekten nicht erlegen. Nun hat hier im „Tornhuset“ die World Maritime University ihren Sitz, und zusammen mit den drei in der Höhe gestaffelten Hochhaustürmen dahinter – sie gehören zum ebenfalls neuen Veranstaltungs-, Konzert- und Konferenzzentrum – wurde das Ensemble zum Instagram-tauglichen Symbol des neuen Malmö.

Hinter dem Blechscharnier führt eine baumlose und daher leider etwas ungastliche Straßenachse Richtung Hafen und zur neuen grünlich schimmernden Orkanen-Universität. Von der öffentlichen Uni-Bibliothek im fünften Stock geht der Blick weit über das Areal, über historische und neue Hallenbauten, und hinter einer inzwischen zum Medienzentrum verwandelten Backsteinhalle sticht ein Projekt im Wortsinn heraus: Der Turning Torso von Santiago Calatrava ist mit 190 Metern nicht nur der zweithöchste Wolkenkratzer Skandinaviens, sondern auch das weithin sichtbare neue Wahrzeichen der Stadt – symbolträchtig hat er den 2002 abgebauten gigantischen Kockumskran abgelöst.

Wohnen und Freizeit verdrängen auch hier die Schwerindustrie, heute steht der Kran in Südkorea. Der Trauer der Bevölkerung über diesen Verlust Rechnung tragend, hat die Hyundai-Werft den Kran am neuen Standort in Asien „Tränen von Malmö“ getauft.

Unverkitscht und viel Grün

Im Jahr 2001 begann auf dem früheren Gelände der Kockums-Werft dann mit einer internationalen Wohnbaumesse die große Entwicklung, die die Westhafeninsel inzwischen prägt. Dabei war der Beginn ebenso holprig wie die nicht fertiggestellten Straßen, die sich durch das Ausstellungsgelände zogen; noch während der Messe wurden die Musterhäuser bezogen, aber erst nach ihrem Ende konnte das Areal ohne Eintrittskarte betreten werden. Hier im Westhafen entstand mit „Bo01“ („Wohnen 01“) ein Stadtviertel, das zum Besten gehört, was zeitgenössische Stadtentwicklung zu bieten hat.

Ein Wasserlauf markiert das Entrée in ­diesen fast dörflich wirkenden Bereich mit seinem unregelmäßigen Straßennetz, das bewusst an malerische mittelalterliche Siedlungsstrukturen angelehnt wurde. Gelb gepflasterte Gassen ohne Gehsteige wechseln sich mit kleinen Platzaufweitungen, Weilern, Grüninseln ab, die Kleinteiligkeit der Strukturen ist der menschlichen Schaulust angepasst, überall verzahnt sich die Aufmerksamkeit des Flaneurs mit Kleinigkeiten am Straßenrand – ein schön geformter Steinbrunnen, dessen Wasser in eine offene Regenablaufrinne plätschert, gemütliche Sitzecken, eine dicht überwachsene Pergola über Fahrradabstellplätzen, ein Tümpel mit einer Bank zur Rast.

All das wirkt selbstverständlich und unverkitscht, die Vielfalt an Gebäudeformen bleibt durch den häufigen Einsatz von Backstein und das viele Grün harmonisch, jede Ecke bietet neue angenehme Eindrücke – und das Calatrava-Hochhaus ist als Orientierungspunkt fast immer über den niedrigen Wohnhäusern zu sehen.

Von diesem Turm führt eine etwas breitere Achse zum Meer, sie endet in einem zur Hälfte über die Küstenlinie hinausgeschobenen quadratischen Steinplatz und teilt die Promenade in einen nördlichen grünen und einen südlichen urbanen Bereich. Entlang der Wasserkante schützt eine ebenfalls unregelmäßig geformte Zeile mehrgeschoßiger Wohnbauten das Idyll vor den Westwetter­lagen, die Sturm und Regen von der See ­herantragen.

Nachhaltigen Bauen mit inno­vativen Umweltlösungen

Das Ufer ist Aushängeschild des Quartiers und neuer Treffpunkt der Malmöer; entworfen hat sie Thorbjörn Andersson, ein Star der schwedischen Landschaftsarchitektur. Während im Norden Rampen über die Steinböschung hinweg zum Wasser führen und eine große Liegewiese Badegäste anlockt, bildet im Süden eine lange Holzbank den Abschluss der Promenade zum Meer. Beide enden gemeinsam an einem Pier mit Miniaturleuchtturm und dahinter liegendem Jachthafenbecken, vom kleinen Platz drum herum sieht man von den Café-Gastgärten in der Ferne die Brücke, mit der alles begonnen hat.

Inzwischen wächst Västra Hamnen, der Westhafen, weiter, und auch wenn die neueren Bauten großvolumiger sind als die „Dorfhäuser“ der Bauausstellung, sollen die Prinzipien des nachhaltigen Bauens mit inno­vativen Umweltlösungen weiterhin gelten und weiterentwickelt werden – vom Regenwassermanagement über die lokale Energieerzeugung bis hin zum Abfallmanagement.

Malmö mit seinen billigeren Lebenshaltungskosten ist zum Magnet für Bürger aus Kopenhagen geworden, und wahrscheinlich wird die Øresundbron nicht die einzige Verbindung bleiben: Nach der Fertigstellung des Fehmarnbelttunnels zwischen Deutschland und Dänemark wird der Frachtverkehr über den Øresund zunehmen, die Kopenhagener Metro soll die Brücke vom Personenverkehr entlasten und bis hierher verlängert werden – mit einer Fahrzeit von nur 20 Minuten wird Malmö dann praktisch zum Stadtteil von ­Kopenhagen.

Spectrum, Fr., 2024.02.23

12. Januar 2024Harald A. Jahn
Spectrum

Alte Jeans werden zu Lianen – Umbau im Zoom Kindermuseum

Für die neue Ausstellung im Zoom Kindermuseum wurden die historischen Räume durch Um- und Einbauten verändert. Die Materialen wirken wie zufällig ausgewählt, doch dahinter steckt ein Konzept.

Für die neue Ausstellung im Zoom Kindermuseum wurden die historischen Räume durch Um- und Einbauten verändert. Die Materialen wirken wie zufällig ausgewählt, doch dahinter steckt ein Konzept.

Das Architekturkollektiv AKT wurde durch den Biennalebeitrag in Venedig 2023 bekannt, bei dem es mit Hermann Czech die ex­klusive Nutzung des österreichischen Pavillons durch die Besucher infrage stellte und einen Teil für Treffen der Anrainer-Community des umgebenden Stadtteils St’Elena öffnen wollten. Das Kollektiv von 22 Architekturschaffenden fand 2019 zusammen; in den Projekten geht es immer um das Aushandeln von Räumen durch die Menschen, um gebaute Architektur, geschaffen für die Interaktion.

Typisch dafür war etwa ein Bühnenbild für das Stück „1922–2022 Frauenleben in Niederösterreich“ im Landestheater St. Pölten. Hier ließ das Kollektiv die Schauspielerinnen mit grauen Kisten agieren, die immer neu angeordnet oder gestapelt wurden: Das Verhältnis der Schauspielerinnen untereinander und zum Publikum wurde damit kontinuierlich verändert. Auch für die eben beendete Ausstellung im Belvedere 21, „Über das Neue. Wiener Szenen und darüber hinaus“, konstruierte AKT ein System von beweglichen, drehbaren Wänden auf Rädern, die bei der Hängung zum Diskurs zwangen – wie viel Platz hat ein Werk, wie interagiert es mit der benachbarten Position?

Ausschließen der Außenwelt

Häufig initiiert die Gruppe aber auch selbst Projekte, in denen sie die heutige Architekturpraxis hinterfragt, greift in Bestandsgebäude ein, erzeugt dort neue Räume, erforscht das Verhältnis von Gesellschaft und Raum: Das Ausschließen der Außenwelt war der Beginn der Architektur, durch Erschließung und Begegnung wird sie zu einem sozialen System. AKT sieht Architektur als Prozess zwischen Menschen, als Eingriff in gesellschaftliche Beziehungen.

Das Zoom Kindermuseum im Museumsquartier ist ein gemeinnütziger Verein, ­eingemietet auf 1600 Quadratmetern im Fürstenhof nahe der Mariahilfer Straße. Außergewöhnlich ist vielleicht die Herangehensweise bei der Gestaltung der Wechselausstellungen: Kurator Christian Ganzer lädt Künstler, Bühnenbildner oder Architekturschaffende ein, die Inhalte zu erarbeiten. Diese waren in den vergangenen 30 Jahren sehr unterschiedlich, Geld, Seifenblasen oder Mozart, bis hin zu sperrigen Themen wie Flucht oder Tod.

Lust auf die Zukunft machen

Nun geht es um die Zukunft, und mit AKT fand Ganzer ein kongeniales Kollektiv, das das Thema künstlerisch-spielerisch erarbeitete. Mit der neuen Mitmachausstellung soll Kindern Lust auf die Zukunft gemacht werden, sie sollen Vertrauen in ihre Kompetenzen gewinnen und für ein kritisches, konstruktives und gemeinsames Agieren sensibilisiert werden.

Die Vorbereitung der Ausstellung „Willkommen in der Zukunft“ lief über ein Jahr. Am Beginn stand die Auseinandersetzung mit dem Begriff: Wie erleben Kinder Zeit? Wie entsteht zum ersten Mal die Erkenntnis, dass Dinge in der Zukunft noch unerreichbar sind? Möglicherweise sind es die Adventkalender, die die Bewegung durch die Zeit erstmals erlebbar machen; die Bewegung durch den Raum ist ja eine der ersten Erfahrungen außerhalb der eigenen körperlichen Bedürfnisse.
Acht Türen, die in verschiedene Korridore führen

Aber auch die Zukunft ändert sich. ­Für Kinder der 1970er-Jahre war das Jahr 2000 die Verheißung einer utopisch-technischen Welt, mit fliegenden Autos und Raumschiffen; für die Kinder von heute ist das Bild wohl weniger eindeutig und eher geprägt von Disruptionen. Gemeinsam mit AKT wollte man allerdings keinesfalls ein dystopisches Zukunftsbild malen, auch keine Technikschau bauen, sondern heutige Themen in die Zukunft transponieren: Nachhaltigkeit, Upcycling, Bezug zur Umwelt.

Den Einstieg macht ein vom Naturhistorischen Museum übernommenes Planetarium. Man steigt auf Berge, um ins Tal zurückzublicken – hier sieht man die Erde auf ihrem Weg durchs Weltall in ihrer Schönheit und Fragilität. Nach dieser Einstimmung stehen die Kinder vor acht Türen, die in unterschiedliche Korridore führen: immer andere Versionen möglicher Zukunft.

Die nächsten beiden Stationen sind der Kreislaufwirtschaft gewidmet. Aus alten Jeans entstehen im Lauf der Ausstellungsdauer immer mehr Lianen, ein Raum-Kunstwerk formt sich, die Kinder von heute hinterlassen jenen von morgen einen Raum, der übermorgen erneut weiterentwickelt wird. Gleichzeitig kann bei den Gesprächen mit den Vermittlern – sie begleiten die Kinder jeweils in Zweierteams durch die Ausstellung – der Ressourcenverbrauch der Kleidung Thema werden.

Goldfische düngen Pflanzen

Um Kreisläufe geht es auch ein Stockwerk höher: Eine aus gelben Schalungsplatten gezimmerte Brücke ist auf Gerüstteilen auf­geständert, ein Kunststoff-Gewächshaus schmiegt sich ins Gewölbe der Decke. Hier wachsen Rohstoffe nach, warten Roboterpflanzen auf Interaktion, Algen liefern Farbe, mit der die kleinen Forscher malen können. In einem Wasserkreislauf düngen Goldfische Pflanzen, die den Fischen wiederum Nährstoffe liefern; all das kann und soll angefasst und untersucht werden.

Auch die Wände des nächsten Raums haben Vergangenheit, wurden allerdings verspiegelt, um einen unendlichen Raum zu erzeugen, der an Serverräume erinnert, die die technische Basis für die heutigen Medien bilden: Der Raum ist sein Inhalt. Eine Musikmaschine erzeugt hier einen Rhythmus, den die Kinder durch gemeinschaftliches Füttern mit Bällen aufrechterhalten müssen.

Bei der Arbeit an der Ausstellung waren nie alle Mitglieder des Kollektivs gleichzeitig am Werk, es entstand in der Technik des „Cadavre Exquis“: Die französischen Surrealisten erfanden das Spiel, bei dem jeder die Zeichnung des Vorgängers fortsetzt, ohne den bisherigen Inhalt zu kennen. Ähnlich konzipierten die in Kleingruppen arbeitenden AKT-Mitglieder die Abfolge der einzelnen Abschnitte. Die improvisiert wirkende Materialwahl ist kein Zufall, AKT griff auch hier auf die Erfahrungen der teilweise selbst initiierten Projekte zurück. Die bestehenden historischen Räume wurden durch Um- und Einbauten verändert, viele Bauteile sind Versatzstücke und Artefakte aus anderen Ausstellungen.

Im abschließenden Raum, der von der Linzer Künstlergruppe Time’s Up entworfen wurde, werden endlich Tickets in das Jahr 2047 ausgegeben. Nachhaltige Verkehrsmittel führen an die Orte, an denen die künftigen Berufe gefragt sind: Gletschermacher:in, Ozeanotekt:in, Hitzebändiger:in – manche dieser heute noch unbekannten Jobs wird es in 25 Jahren wohl tatsächlich geben. Bis dahin muss man sich mit Wünschen begnügen, die die Kinder auf Zetteln formulieren. Und sie sind zahlreich und vielfältig: Neben „gesunde Luft“ oder „genug Essen für alle“ steht auf einigen Zetteln auch schlicht „Ich will ein Pony haben“ – die Hoffnungen für die Zukunft sind so vielfältig wie die Möglichkeiten, die sie bietet.

Spectrum, Fr., 2024.01.12

22. Dezember 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Die Postsparkasse in Budapest: Der Gaudí des Ostens

Österreich hatte Otto Wagner, Spanien Gaudí und Ungarn Ödön Lechner. Der Kassasaal seiner Postsparkasse in Budapest wurde lange als Möbellager genutzt, bis man ihn rekonstruierte: Die Bankschalter wurden neu angefertigt, die Holzbänke durch moderne Sitzmöbel ersetzt. Nun ist der Saal ein Kundencenter.

Österreich hatte Otto Wagner, Spanien Gaudí und Ungarn Ödön Lechner. Der Kassasaal seiner Postsparkasse in Budapest wurde lange als Möbellager genutzt, bis man ihn rekonstruierte: Die Bankschalter wurden neu angefertigt, die Holzbänke durch moderne Sitzmöbel ersetzt. Nun ist der Saal ein Kundencenter.

Das Jahr 1896 war bedeutsam für Budapest: Das 100-Jahr-Jubiläum der Landnahme der ungarischen Stämme wurde gefeiert und im Liget, dem Stadtwäldchen, eine große Landesausstellung verwirklicht, mit einem eklektischen Schlösschen als Zentrum. 1873 waren Buda und Pest vereinigt worden, wie in Wien formte eine „Gründerzeit“ die Großstadt neu. In diesem Taumel wurde das „europäische Entwicklungsland“ zu einem Land manch falscher Träume, aber auch echter Möglichkeiten, die ungelösten Probleme der Ethnien schwelten unter der Oberfläche, überlagert vom Bauboom.

Nicht nur im Liget entstanden historisierende Ausstellungsbauten, ein Gebäude war aber ganz anders: das neue Museum für Kunstgewerbe, entworfen von Ödön Lechner, dem „Gaudí Osteuropas“. Seine farbenfrohen, organischen und gesamtheitlichen Entwürfe waren so irrational aufwendig wie die des Kollegen, doch arbeiteten sie unabhängig voneinander; auch charakterlich unterschieden sie sich. Anders als der tief religiöse Gaudí, der sein letztes Lebensjahrzehnt fast nur der Sagrada Familia widmete und sich sogar dem Zölibat verschrieb, war Lechner ein Lebemann und liebte es noch als alter Herr, mit den Straßenmädchen zu scherzen. Zufällig verstarben beide an einem 10. Juni, an dem heute der „Weltjugendstiltag“ gefeiert wird.

„Aber die Vögel werden es sehen!“

Lechner hatte in Paris den neuen Stil des Art Nouveau kennengelernt und sah in ihm die Möglichkeit, einen eigenständigen ungarischen Baustil zu schaffen. Ab 1893 entstanden seine Budapester Hauptwerke: das Kunstgewerbemuseum, die Ladislauskirche, das Geologische Institut und die Postsparkasse. Dann geriet er wegen der teuren Dekorationen immer stärker unter Druck; gefragt, ob man zumindest die von der Straße nicht sichtbaren Teile der Dächer unbedingt mit der teuersten Keramik eindecken müsse, antwortete er: „Aber die Vögel werden es sehen!“

Gaudí baute für Gott, Lechner für die Vögel – und für sein Land, für das er eine moderne Nationalarchitektur schaffen wollte, mit orientalischem Einschlag für ein Volk, das tausend Jahre zuvor aus dem Osten nach Europa eingewandert war. Lechner stammte aus einer alten ungarisch-deutschen Familie – fast alle Architekten des betont nationalistischen Jugendstils waren entweder deutscher oder jüdischer Herkunft.

Dabei gab es damals bereits ein östlich geprägtes Gebäude mit byzantinisch-maurischen Anklängen und glasierten Ziegeln: Ausgerechnet Otto Wagner hatte hier 1873 ein Frühwerk verwirklicht, die Synagoge der orthodoxen Juden in der Rumbach utca; später wollte er nicht daran erinnert werden. Lechners Frühwerke ähneln dagegen den Palais der französischen Renaissance, wie das erst unlängst zum Luxushotel verwandelte Ballettinstitut auf der Andrassy út 25 gegenüber der Oper; mit den bunten Fliesendekorationen am Thonet-Haus in der Vaci út näherte er sich 1889 der Sezession ungarischer Art. Die große Wende zu seinem typischen Stil kam 1890/91 mit der Arbeit am Kunstgewerbemuseum.
Bienen als Symbol für die Sparsamkeit

Dann entstanden die Meisterwerke: 1899 das Geologische Institut mit dem blauen Keramikdach, zwei Jahre später die Postsparkasse als Krönung seiner Arbeit – kurz vor ihrem Wiener Pendant, mit dem Otto Wagner nun bei seinem typischen Stil angekommen war. Beides sind konstruktiv völlig zeitgemäße Bauwerke aus Stahlbeton, die äußere Gestaltung könnte aber kaum unterschiedlicher sein. Die kühle Postsparkasse in Wien mutierte inzwischen zur Universität, das bunte Pendant in Budapest wurde Teil der Nationalbank, damit passen Lechners Dekorationen auch weiterhin: Bienen als Symbol für die Sparsamkeit streben Bienenstöcken zu, die auf der Attika des Hauses thronen. Sie sind aus Pyrogranit, einem von Vilmos Zsolnay erfundenen frostfesten Keramikwerkstoff. Den Nektar liefern die Blumenmosaike auf den weißen, wenig plastischen Verputzflächen, die relativ glatten Fassaden sind den schmalen umgebenden Straßen angepasst.

Das Dach ist an den Schatz von Nagyszentmiklós angelehnt, ein Goldfund aus der Awarenzeit, der von Ungarn als identitätsstiftendes Erbe der Steppenvölker betrachtet wurde: Die Gestaltung ist so prachtvoll wie der Rest des Gebäudes, über den grün und gelb glasierten Ziegeln der Giebelschmuck aus Blumenranken, Stierköpfen und Schlangen – ein Vogel müsste man sein!

Früheres Herzstück des Hauses war der Kassasaal, gekrönt von einer Kuppel aus einer Stahlrahmen-Gitterkonstruktion: In das Tragegerüst waren sechseckige, wabenförmige Glassteine eingelegt und ließen Licht in die darunter liegende Halle, auch hier die Anspielung auf Bienenstöcke. Die Kuppel war allerdings etwas zu avantgardistisch und musste bereits in den 1930er-Jahren nach Feuchtigkeitsschäden abgetragen und durch ein schlichtes Glasdach ersetzt werden.

Märchenhafte Lichteffekte

Der Jugendstil war als Erinnerung an die Monarchie unmodern geworden, der Saal wurde vereinfacht, Lechners Mobiliar entsorgt. In den jüngsten Jahren wurden hier Möbel gelagert, bis entschieden wurde, ihn zu rekonstruieren – seit September 2023 dient der ehemalige Kassasaal als Kundencenter für den Vertrieb staatlicher Wertpapiere und zur Betreuung institutioneller Klienten. Beim Umbau wurden die Erweiterungen in den Innenhof entfernt und der Saal wieder zu einem einheitlichen harmonischen Raum.

Die historischen Bankschalter wurden neu angefertigt, die verloren gegangenen Holzbänke durch moderne Sitzmöbel ersetzt – der Altbestand hätte heutigen Anforderungen wohl nicht entsprochen. Die Kuppel in ihrer ursprünglichen Ausführung wurde nicht rekonstruiert; die neue Glaskonstruktion folgt zwar etwa der historischen Form, ist aber zeitgemäß. Trotzdem schade: Einst wurden vor allem die märchenhaften Lichteffekte der Wabenkonstruktion bewundert.

Leider kann die Postsparkasse nicht besichtigt werden, was derzeit für fast alle Budapester Bauten Lechners gilt. Die Sanierung des Kunstgewerbemuseums wird noch Jahre dauern, Führungen durch das Geologische Institut sind nur nach Voranmeldung möglich. Die Renovierung dieses Bauwerks rückt nun auch in den Fokus, nachdem ein Teil der Dachbekrönung abgestürzt ist: Auf der Spitze des Mitteltraktes tragen vier Riesen aus Pyrogranit die Weltkugel – die Risse in den Figuren haben nur die Vögel gesehen.

Spectrum, Fr., 2023.12.22

13. Oktober 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Kunst in Flandern: Wo Kohle abgebaut wurde, gackern nun die Hühner

In der flämischen Bergbaustadt Genk wurden die aufgelassenen Minenbetriebe kreativ neu belebt. Die Kulturprojekte C-Mine und Labiomista laden ein zu Stollenerkundungen, in eine Wunderkammer mit Skulpturen und in einen besonderen Park.

In der flämischen Bergbaustadt Genk wurden die aufgelassenen Minenbetriebe kreativ neu belebt. Die Kulturprojekte C-Mine und Labiomista laden ein zu Stollenerkundungen, in eine Wunderkammer mit Skulpturen und in einen besonderen Park.

Im Dreiländereck von Ostflandern, wo ein niederländischer Streifen von einigen Kilometern Breite Belgien von Deutschland trennt, liegt Genk. Anders als das berühmte Gent ist diese ehemalige Bergbaustadt kaum auf dem touristischen Radar, obwohl das Städtchen genau zwischen Düsseldorf und Brüssel liegt; 80 Kilometer sind es jeweils, ins niederländische Maastricht kann man mit dem Fahrrad fahren. Im 20. Jahrhundert verwandelte die Kohleförderung die bis dahin romantische Region in ein Bergbaugebiet, bis die letzten Minen in den 1980er-Jahren schlossen. Trotzdem ist die Stadt bis heute einer der wichtigsten Industriestandorte Flanderns und lockt Arbeitskräfte aus der ganzen Welt an; über hundert verschiedene Ethnien machen Genk zur diversesten Stadt Belgiens.

Die Altlasten der aufgelassenen Minenbetriebe wurden hier kreativ neu belebt, mit zwei überraschend großzügigen, professionellen Kulturprojekten: C-Mine und Labiomista. Auf dem ehemaligen Industriegelände des Winterslag-Steinkohlebergwerks ragen zwei Fördertürme hoch in den Himmel, die früheren Betriebsgebäude wurden ab 2005 sorgfältig renoviert und den neuen Nutzungen angepasst; die beeindruckenden Backstein-Industriedenkmäler von C-Mine mit der zeittypischen Großzügigkeit und Schönheit ihrer ehemaligen Maschinenhallen sollen der führende Kreativ-Cluster der Region werden. Natürlich bietet hier auch ein Bergbaumuseum Expeditionen in die Stollen im Untergrund, das Areal ist aber vor allem Kunstcampus und mit der LUCA School of Arts Homebase für zahlreiche Firmen der Kreativwirtschaft, einen Kinokomplex, ein Veranstaltungs- und Ausstellungszentrum. Herzstück der Anlage ist das Kraftwerksgebäude, hier wurden die alten Aggregate erhalten und Teil des „Designzentrums“ mit seinen multifunktionalen Bereichen; der früher T-förmige Grundriss wurde von 51N4E-Architects mit zwei Theatersälen zum Rechteck erweitert.

Neben den historischen Ziegelgebäuden dominiert ein riesiges Labyrinth aus Stahlplatten den Außenbereich: Das Architektenduo Gijs/Van Vaerenbergh schickt die Besucher in ein Gewirr fünf Meter hoher Gänge. In der beklemmend regelmäßigen Grundform sind dreidimensionale Volumen ausgeschnitten, unsichtbare Kugeln oder Kegel durchdringen den harten Rhythmus des Stahlkastens, die beim Weg durch die Struktur plötzlich sichtbar werden; manchmal ermöglichen sie den Blick nach draußen, manchmal ergeben sie überraschende virtuelle Kuppeln in den rostigen Eisenräumen. Auf den ersten Blick viel subtiler, aber doch logisch ist die zweite Umwidmung. Die Zwartberg-Mine wurde schon 1966 geschlossen, danach richteten private Betreiber hier einen Zoo ein, eigentlich mehr einen Gnadenhof und damit eine eher traurige Angelegenheit, bis die Stadt Genk um die Jahrtausendwende das Areal übernahm und den Zoo schloss.

Zoo des 21. Jahrhunderts

2014 wurde dann der Künstler Koen Vanmechelen auf das Gelände aufmerksam. Zentrales Element seiner Arbeit ist Biodiversität, berühmt wurde er mit dem „Cosmopolitan Chicken Project“: Das Huhn wird, von den Himalaya-Ausläufern ausgehend, seit Jahrtausenden weltweit domestiziert und hat sich dabei in viele Rassen aufgespalten, wurde an die jeweiligen Orte und Bedürfnisse angepasst gezüchtet. Seit 1999 kehrt Vanmechelen diesen einschränkenden Prozess um, indem er Hühner aus aller Welt kreuzt, um irgendwann ein „kosmopolitisches Huhn“ zu erhalten, das die Gene aller Hühnerrassen der Welt in sich trägt – ein „Perpetuum mobile der genetischen Diversifizierung“.

Es ist eine charmante Idee, gerade in einem früher monofunktionalen Industriegelände die Diversität zu feiern, und es ist ein charmanter „Zoo des 21. Jahrhunderts“, der so entstanden ist: ein ruhiger Flecken Land, angereichert mit historischer und zeitgenössischer Architektur, mit Kunstobjekten und Tieren, die sich sichtlich wohlfühlen. Historisches Schmuckstück ist die ehemalige Direktorenvilla, nun Villa OpUnDi (Open University Diversity) genannt, eine Wunderkammer voll mit den Tierskulpturen des Künstlers. Schimären sind es, hybride Mischwesen – Vanmechelen kreuzt alles mit allem, Fell und Federn mit Marmor, Glas oder Eierschalen. Den Eingangspavillon („The Arc“), aber vor allem das Hauptgebäude ließ er neu bauen: Der Schweizer Stararchitekt Mario Botta hat mit „The Battery“ einen schlichten lang gestreckten schwarzen Baukörper in den Park gestellt, angedockt sind zwei riesige Vogelvolieren, Aufzuchtstationen für bedrohte Arten. Das Obergeschoß, für das Publikum unzugänglich, ist das private Atelier des Künstlers. Darunter, im Sockel des in alle Richtungen offenen Pavillons, ist es still und ein wenig feierlich, es ist ein Schrein mit großformatigen Arbeiten, die in seitlichen Nischen inszeniert werden, eine große Marmorskulptur steht in der Mittelachse: Ein Baby sitzt auf einem Bücherstapel, der die „Encyclopedia of Human Rights“ in fünf Bänden darstellt – auf der venezianischen Biennale 2019 hat der Künstler den Länderpavillons in den Giardini symbolisch einen transnationalen „Pavillon der Menschenrechte“ entgegengesetzt.

Sinnbild für das vereinte Europa

Die „Batterie“ ist auch sinnbildliches Tor in den ruhigen Landschaftspark voll mit Vanmechelens Großskulpturen und Tiergehegen. An manchen Stellen laden Pavillons zur Partizipation ein, sind allerdings verwaist; nicht immer kann der theoretische Anspruch mit dem Tagesgeschäft mithalten, manches wirkt etwas eitel, aber der Park ist trotzdem ein Naturparadies, in dem die Kunst mit den Tieren harmoniert. Er ist klug entworfen und gestaltet, die barrierefreie Wegführung wirkt ungezwungen, verhindert aber auf diskrete Weise das Betreten geschützter Bereiche; der Wanderer fühlt sich nicht als außenstehender Betrachter, sondern mit der Natur verbunden.

Im Park von Biomista zelebriert Vanmechelen seine Hühnerzucht; sein „kosmopolitisches Huhn“ ist Symbol des Sieges der Vielfalt über die Monokultur. Es ist gerade die Diversität, die resilient macht: Die vielfach gekreuzten Hühner sind widerstandsfähiger, gesünder und friedlicher als das „Industriehuhn“ aus dem Supermarkt – ein großer Genpool ist für Vanmechelen ein unendliches Reservoir von Anpassungsfähigkeit. Diese Vermischung ist für den Künstler auch das Gegenteil der Idee abgegrenzter Nationalstaaten, sein Symbol für die Gleichwertigkeit aller Menschen: Jedes Wesen braucht alle anderen, um zu überleben. Genk mit seiner Diversität wird damit zum Sinnbild für das vereinte Europa, an dem mutige Menschen seit dem Zweiten Weltkrieg bauen – vor dreißig Jahren machte es hier, im nur wenige Kilometer entfernten Maastricht, einen großen Schritt vorwärts.

Spectrum, Fr., 2023.10.13

14. September 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Neue Bim an der Côte d’Azur

Das Konzept der autogerechten Stadt ist europaweit gescheitert – außer in Frankreich: Dort beschreitet man einen erfolgreichen Weg und verwandelt die Städte in Territorien der Hochwertigkeit. Das Werkzeug: neu gedachte ­Strecken der Öffis.

Das Konzept der autogerechten Stadt ist europaweit gescheitert – außer in Frankreich: Dort beschreitet man einen erfolgreichen Weg und verwandelt die Städte in Territorien der Hochwertigkeit. Das Werkzeug: neu gedachte ­Strecken der Öffis.

In den 1960er-Jahren schwappte mit dem Wirtschaftswunder auch die große Motorisierungswelle über die Städte. Während die Straßenbahnnetze im deutschsprachigen Raum reduziert wurden, blieben doch viele Betriebe erhalten; in Frankreich wurde der öffentliche Verkehr dagegen auf ein Minimum reduziert. Von den vielen Betrieben blieben nur bescheidene Reste in Lyon, St-Etienne und Lille. Gleichzeitig investierte man in Straßeninfrastruktur: So wurden in Paris Autostraßen auf den romantischen Kais der Seine oder ein Autobahnring um die Stadt angelegt.

Nach der ersten Ölkrise beschloss Frankreich, dass die Ballungsräume neue, vorzugsweise elektrisch betriebene, kollektive Verkehrsmittel benötigten, um die Probleme des Autoverkehrs in den Griff zu bekommen und die Luftverschmutzung zu bremsen. 1975 schrieb Marcel Cavaillée, Staatssekretär im Verkehrsministerium, einen Brief an einige große Provinzstädte, in dem er sie aufforderte, neue Konzepte für den Stadtverkehr auszuarbeiten. Die Reaktionen waren vorerst zurückhaltend, dank der Förderung des Staates wurden dann aber drei Projekte verwirklicht: Nantes war Vorreiter und eröffnete 1985 die erste Straßenbahn der neuen Generation, dann folgten Grenoble und eine Vorortstrecke in Paris.

Während die Tramway von Nantes noch eher konventionell wirkt, begann Grenoble mit dem Bau von Straßenbahnlinien auch ein komplexes Stadterneuerungsprojekt. Der Autoverkehr wurde aus dem Stadtzentrum zurückgedrängt, ein hochmodernes, barrierefreies Verkehrsmittel erschließt nun die neuen Fußgängerzonen. Es war das erste Mal, dass die Straßenbahn als Mittel der Stadterneuerung in ein Gesamtkonzept integriert wurde. Es war dann aber Straßburg vorbehalten, mit grandioser Konsequenz alle Elemente umzusetzen, die inzwischen als „Straßenbahn französischer Schule“ bezeichnet werden.

Rollende Gehsteige

Heute gleiten elegante Designerfahrzeuge mit riesigen Türen und Fenstern als rollende Gehsteige durch eine völlig transformierte Stadtlandschaft, mit angepasster Geschwindigkeit durch die Altstadt oder fast lautlos auf Grasflächen durch neu angelegte Alleen in die Vororte – Autoverkehr gibt es im zentralen Bereich kaum noch. Die durchfahrenen Stadtteile wurden zu einem „Territorium der Hochwertigkeit“ in bewusstem Gegensatz zu den billig hochgezogenen Shoppingmalls der Peripherie.

Nach dem beispiellosen Strassburger Erfolg begann eine „Tramway-Euphorie“, angetrieben ebenso vom Prestigedenken der Provinzstädte. Nun wetteiferten die Politiker um die schönsten Neugestaltungen, auch kleinere Städte wollten sich so profilieren. Eine Spezialität war die Anpassung der Fahrzeuge an die Umgebung: Die Züge der Champagnerstadt Reims haben ein „Gesicht“ in Form einer Sektflöte, durch Marseille gleiten elegante weiße „Boote“ in maritimem Design, Lyon als Stadt der Seidenspinnerei schickt sympathische weiße Raupen auf die Gleise. Unweit von Orleans liegt ein Zentrum der französischen Kosmetikindustrie, daher ließ man die Wagen vom Parfümeur Guerlain gestalten; Montpellier beauftragte den Modeschöpfer Christian Lacroix, der den Innenraum einer Wagenserie in der Farbwelt eines Korallenriffs entwarf: So werden die neuen Straßenbahnen Identifikationsobjekte der Bevölkerung, die auf „ihre Tramway“ stolz ist. Doch sind die Fahrzeuge nur ein Teil der städtebaulichen Symphonie: Die durchfahrenen Straßen und Plätze werden gesamtheitlich neu gestaltet, von Fassade zu Fassade, alle Elemente des Stadtraums von Designern und Architekten entworfen, oft begleiten moderne Kunstwerke die neuen Strecken.

Stadtbild vor Technik

Tours gelang bei dieser Entwicklung ein Höhepunkt: Dort sprach man während der Projektierung vom Konzept der „vierten Landschaft“ der Stadt – nach dem Fluss Loire, den Gärten und dem architektonischen Erbe überlagert nun die Straßenbahnlinie die bestehenden Strukturen. Bewusst wurde die Trasse als verbindendes Element aufgebaut, während die verchromten Seitenwände der Fahrzeuge die Stadt spiegeln. Die akustischen Elemente – Glocke und Stationsansagen – wurden von Louis Dandrel komponiert, der schon für die SNCF und andere Groß­firmen akustische Signets gestaltet hat; der Lichtkünstler Patrick Rimoux entwarf das nächtliche Erscheinungsbild der Bahn. Daniel Buren, von dem die gestreiften Säulen des Palais Royal in Paris stammen, gestaltete Stationselemente, große Flaggen und farbige Stelen, die die Trasse begleiten, und Roger Tallon die Straßenbahnzüge; er ist einer der führenden Designer Frankreichs und hat den TGV entworfen. Für das Stadtbild wird alles getan: Nicht nur in Tours verzichtet man inzwischen auf die Oberleitung, um den Blick auf die Stadt nicht zu beeinträchtigen. Stattdessen kommt der Strom von Bodenkontakten: Schönheit ist wichtiger als Technik, und man ist bereit, dafür Geld auszugeben.

Seit den 1990er-Jahren haben sich etwa 30 französische Städte mit ihrer Straßenbahn neu erfunden. Fast immer sind die neuen Netze auch ein wirtschaftlicher Erfolg: Vielerorts mussten die Straßenbahnzüge verlängert, Fahrzeuge nachbestellt werden; die neue Ringlinie an der Stadtgrenze von Paris war bereits nach wenigen Jahren eine der meistgenutzten Straßenbahnstrecken der Welt. Die durchfahrenen „Boulevards des Maréchaux“, früher Straßenzüge ähnlich dem Wiener Südgürtel, haben sich von einer Lärmhölle in einen zivilisierten grünen Stadtraum verwandelt. Während der „tapis vert“, der „grüne Teppich“, früher den Schlossparks der Monarchen vorbehalten war, wird er heute zu Ehren der Bürger ausgerollt: „Die Straßenbahn hat uns einen Park gebracht“ ist ein Zitat der Anrainer.

Die Erneuerung der französischen Metropolen ist zu einer Referenz für die Zukunft der Städte geworden, die weit über den rein technischen Aspekt von öffentlichen Verkehrsmitteln hinausgeht: Überall in Frankreich spürt man den Willen, die Menschen zu bezaubern, zu inspirieren, zu erfreuen. Das sind die wirklichen Werte, die Aufgaben der Stadt von morgen: den Menschen das Umfeld zu geben, in dem sie sich wieder wohlfühlen, in dem sie ihre Kreativität, Fantasie, Kraft und Liebe entfalten können.

Spectrum, Do., 2023.09.14

02. August 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Düsseldorf: Das Urban Design hält hier nicht mit

Nach eineinhalb Jahrzehnten Großbaustelle wurde Düsseldorfs größter Verkehrsknotenpunkt zu einem Aushängeschild der Stadt, gesäumt von Prestigebauten. Ein urbaner Platz ist er trotz Planung durch Stararchitekten dennoch nicht geworden.

Nach eineinhalb Jahrzehnten Großbaustelle wurde Düsseldorfs größter Verkehrsknotenpunkt zu einem Aushängeschild der Stadt, gesäumt von Prestigebauten. Ein urbaner Platz ist er trotz Planung durch Stararchitekten dennoch nicht geworden.

Die Geschichte des Areals beginnt mit der Französischen Revolution: 1795 wurde die Stadt besetzt und musste die Befestigungsanlagen abbrechen. Unter Napoleons Herrschaft entstanden elegante Parks und Alleen, und bis heute spürt man entlang der berühmten Königsallee französischen Urbanismus: ein geradliniger Boulevard entlang der Altstadt und in den Hofgarten mündend, mit einem 30 Meter breiten Stadtgraben. Am nördlichen Ende des Boulevards weitet sich der Kanal zu einem Teich, die Hofgartenstraße entlang dieser „Landskrone“ beschreibt einen Viertelkreisbogen: den „Kö-Bogen“. Die Gründerzeit füllte die Grundstücke in bester Lage mit repräsentativen Wohngebäuden und Stadtpalais. Nach dem Zweiten Weltkrieg war von der Pracht wenig übrig: Die nächsten Jahre bestimmten Trümmergrundstücke das Stadtbild.

Dann folgte Düsseldorf wie viele andere deutsche Städte dem Zeitgeist – frühere Plätze des Aufenthalts wurden zu Transitbereichen. Über die neu entstandene freie Fläche spannte man eine Hochstraße, die ehemals elegante, nun unbebaute Hofgartenstraße wurde zur dreispurigen Schnellstraßenrampe, zwischen den Betonbändern entstand der größte Straßenbahnknoten der Stadt. Es waren die Träume der autogerechten Stadt, die teilweise mehr zerstörten als der Krieg davor, vorangetrieben ausgerechnet von Friedrich Tamms: Vor 1945 war er Mitarbeiter von Albert Speer gewesen, in Wien ist er als Erbauer der Flaktürme bekannt. Ab 1948 leitete er das Stadtplanungsamt Düsseldorf und war maßgeblich für die Straßenachse durch den Hofgarten verantwortlich, deren von den Düsseldorfern „Tausendfüßler“ genannte Stelzenstraße den Bereich einige Jahrzehnte dominierte.
Das „Dreischeibenhaus“ als Symbol der Wirtschaftswunderjahre

Aus derselben Epoche stammt eines der bekanntesten Hochhäuser Deutschlands: das „Dreischeibenhaus“ als hoch aufragendes Symbol der Wirtschaftswunderjahre, errichtet durch das Paradeunternehmen Thyssen. 1960 fertiggestellt, wurden hier drei schlanke Scheiben unterschiedlicher Breite und Höhe aneinandergefügt, sie sollen an aufrecht stehende Stahlbrammen erinnern. Als Gegenstück zu den harten Formen des Bürohochhauses wurde ab 1965 daneben das Düsseldorfer Schauspielhaus gebaut, ein skulpturaler Baukörper des Architekten Bernhard Pfau, bei der Eröffnung 1970 präzise den Stil der Zeit treffend. Bewusst kontrastieren die fließenden Formen des Schauspielhauses die extrem reduzierte Großform des Nachbarhauses. Beide Gebäude sind von hoher Qualität, wurden unlängst renoviert und überzeugen bis heute.

Mit der Entscheidung für einen neuen Straßenbahntunnel durch die Innenstadt begann die Neuordnung des ganzen Bereichs. Durch den Wegfall der oberirdischen Gleisanlagen konnte der Platz neu gewidmet werden. 2012 entschied die Stadt, auch die Nord-Süd-Straßenverbindung und damit den „Tausendfüßler“ durch Tunnels zu ersetzen, um bei der Neugestaltung des Kö-Bogen-Areals mehr Spielraum zu haben. Doch war der Abriss nicht unumstritten, das durchaus elegante Verkehrsbauwerk stand unter Denkmalschutz. In einer ersten Etappe wurde der Jan-Wellem-Platz nach Plänen von Daniel Libeskind mit einem Bürokomplex bebaut. Zum Teich der „Landskrone“ hin bilden die beiden Gebäude eine klare Kante entlang ­­der früheren Hofgartenstraße, stadtseitig schwin­gen die Fassaden in Wellen und nehmen die skulpturale Fassade des Schauspielhauses auf. Die weißen Natursteinfassaden zur Kö und zum Park werden von bepflanzten Einkerbungen aufgebrochen: Schwebende Gärten nehmen auf den Park gegenüber Bezug, auch wenn diese „Cuts“ bemüht und unruhig wirken. In den Geschäftslokalen der Platzseite finden sich die üblichen Ketten.
Die schräge Wiese ist ein beliebter Selfie-Punkt

2009 gab es bereits einen Wettbewerbssieger für die Richtung Schauspielhaus anschließende Bebauung, die nach Fertigstellung des Straßenbahntunnels starten sollte. Allerdings öffnete der Abriss des „Tausendfüßlers“ 2013 neue Blickachsen und sorgte für Diskussionen über die Bebauungspläne: zurück an den Start. Schlussendlich erhielt das Büro Ingenhoven den neuen Planungsauftrag. Christoph Ingenhoven, ein Hollein-Schüler, sieht sich als Vorreiter nachhaltiger Architektur, dementsprechend sind die Fassaden seines Entwurfs stark bepflanzt: Etwa 8000 Laufmeter Hainbuchenhecken ergeben eine grüne Treppe. Das Gebäude bildet entlang der freigehaltenen Sichtachse zum Schauspielhaus ein „Tal“, dessen zweiter „Hang“ eine hochgeklappte Grasfläche ist. Insgesamt kaschiert die wuschelige Architektur nur mühsam das zu große Volumen des schiefwinkeligen Baukörpers; nicht jede Kubatur ist im Stadtgefüge verträglich, nur weil sie unter einem Blätterdach verschwindet.

Wenngleich die schräge Wiese ein inzwischen beliebter Selfie-Punkt ist: Die Blickachse wirkt am besten von einem erhöhten Standort, für den man aber ein Privatgebäude aufsuchen muss. Aus Fußgängerperspektive stört die aufgekippte grüne Scholle, sie nimmt dem Dreischeibenhaus die untersten Geschoße und hat keine besondere Funktion. Hier spürt man das provinzielle Denken, das im deutschsprachigen Raum wirklich große Architekturgesten und klare urbane Plätze unmöglich macht: In der Sichtachse stehen U-Bahn-Abgänge und die belanglosen Gastgartenmöbel eines Restaurants.

Auch am Gustav-Gründgens-Platz, dem Höhepunkt der Architektursammlung, verblüffen ungeschickte Details: Weil vor dem Dreischeibenhaus unbedingt Parkplätze nötig waren, trennen nun kniehohe Betontrommeln die Zufahrt vom Fußgängerbereich. Auf dem Platz steht ein banaler Kaffeehaus-Glas­pavillon, der Bodenbelag ist eine glatte Betonfläche. Das Urban Design kann mit den Prestigeobjekten nicht mithalten, gleichzeitig offenbart die Gesamtplanung ihre Schwäche: Es ist eine Ansammlung von Solitärbauten, die kein großes Ganzes ergeben und gleichzeitig zu modisch sind, um sich harmonisch in die gewachsene Stadt einzufügen. Das Dreischeibenhaus ist eine einzigartige Architekturikone – aber dem dramatisch aufgeschlitzten Libeskind-Bau kann man schon jetzt beim Altern zusehen, und das Ingenhoven-Tal benötigt laufend Pflege. Es ist vorhersehbar, welche der Objekte man in 20 Jahren stirnrunzelnd belächeln wird.

Spectrum, Mi., 2023.08.02

26. Mai 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Die Venezianer müssen draußen bleiben

Der österreichische Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig zielte heuer darauf ab, den Bewohnern der Umgebung die Hälfte des Pavillons für eigene Initiativen zu überlassen. Daraus wurde nichts: Weder durfte die Trennmauer geöffnet noch eine Brücke installiert werden.

Der österreichische Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig zielte heuer darauf ab, den Bewohnern der Umgebung die Hälfte des Pavillons für eigene Initiativen zu überlassen. Daraus wurde nichts: Weder durfte die Trennmauer geöffnet noch eine Brücke installiert werden.

Es sind stille, breite Straßen hinter dem größten Park Venedigs, kaum beachtet vom Massentourismus, der die Stadt zwischen Bahnhof und Markusplatz so zerzaust: Sant'Elena ist der östlichste Teil der Stadt, durch den kleinen Giardini-Kanal getrennt vom Rest der Stadt, bebaut erst vor hundert Jahren. Hier reparierten die städtischen Verkehrsbetriebe früher ihre Vaporetti, feiern Fußballfans im kleinen Stadion; in einer Marineschule werden Kadetten auf ihre Karriere zur See vorbereitet.

Wie in jeder italienischen Stadt treffen sich die Bewohner des Viertels in der Bar an der Ecke unter den riesigen Bäumen des Parco delle Rimembranze. Er ist Erweiterung des großen von Napoleon angelegten Gartens auf der anderen Seite des Kanals, der heute von der Biennale besetzt ist. Dort drüben, in den Giardini Pubblici, war die Keimzelle der riesigen Kunstmaschine, die heute Venedig beherrscht: Der Palazzo dell'Esposizione, heute zentraler Pavillon, wurde 1895 eröffnet und wucherte später durch allerlei Anbauten in den ursprünglich öffentlichen Park; bald darauf entstanden die ersten Länderpavillons, und so wurde immer mehr Grünfläche der Allgemeinheit entzogen.

1932 kam ein weiterer Bereich zum Ausstellungsgelände dazu: Nun übersprang die Kunstausstellung den Giardini-Kanal, entzog ihn den Bewohnern von Sant'Elena, ein Streifen des Parco delle Rimembranze wurde ummauert. Hier, in weitester Entfernung zum Besuchereingang, steht auch der österreichische Biennale-Pavillon von 1934. Ausgesperrt sind damit aber die Bewohner von Sant'Elena, ihnen kehrt die Biennale den Rücken, obwohl sogar einige teils vermauerte Türen die Mauer perforieren. Hinter dem österreichischen Pavillon liegt ebenfalls eine solche Tür, und sie war Inspiration für das 17-köpfige Architektenkollektiv AKT, das den diesjährigen Beitrag konzipierte: die Öffnung der Biennale zur Stadt, zu den Einwohnern.

Ein Zukunftslabor will die Biennale heuer sein, was läge also näher, als sich der Zukunft Venedigs zu widmen: Gerade Sant'Elena mit seinen vergleichsweise modernen Wohnbauten könnte der Möglichkeitsraum sein, in dem sich die Stadt neu erfindet. AKT plante zusammen mit Hermann Czech eine Zweiteilung des symmetrischen Pavillons: eine Hälfte für die Biennale-Besucher, die andere für die Bewohner des Stadtviertels, für deren Initiativen Räume fehlen. Eine Grenzverschiebung zugunsten der bisher unbekannten Nachbarn also – zwar nicht zu überschreiten, jedoch Einladung zur Kommunikation.

Nun zeigte sich aber die Diskrepanz von Anspruch und Realität der mächtigen Biennale-Organisation: Der Denkmalschutz wurde vorgeschoben, erst um die Öffnung der Mauer und dann auch die ersatzweise Überbrückung mit einer Stahlkonstruktion zu verhindern, man fürchtete einen Präzedenzfall. Deshalb liegen jetzt die vorbereiteten Teile der geplanten Brücke im Hof des Pavillons, führt der bereits montierte Stiegenaufgang ins Nichts. Dabei betonte gerade Lesley Lokko, die Gesamtkuratorin der heurigen Biennale, den Mehrwert des Teilens, des Abtretens von Macht oder Raum: ein brennendes Thema in der Wasserstadt, deren verbliebene Einwohner zwischen den Interessen mächtiger Lobbys zerrieben werden, und die sich immer deutlicher gegen deren wirtschaftliche Macht positionieren. Für AKT ist der österreichische Beitrag daher auch ein Stresstest für die mächtige Biennale, die seit ihrer Umwandlung in eine Stiftung 2004 immer restriktiver wurde; die Ablehnung des Konzepts war fast vorauszusehen. Dabei ist die Dominanz der Biennale inzwischen in ganz Venedig spürbar, nicht nur in den Giardini, auch im Arsenale, dem seit 1980 zweiten Austragungsort der „Weltkunst-Olympiade“, und im Stadtgebiet: Während Plattformen wie Airbnb mit der Bevölkerung in Wettstreit um leistbaren Wohnraum treten, konkurriert die Biennale bei der Vermittlung von Ausstellungsflächen für die „Collateral Events“ in der ganzen Stadt mit dem Einzelhandel und Kleingewerbe und forciert damit die touristische Monokultur.

Im Arsenale, dem historischen Werftgebiet, das wie ein Korken die östlichsten Stadtteile vom Kerngebiet abtrennt, unterläuft die Organisation jeden Versuch, öffentliche Durchwegungen zu schaffen ebenso wie die Nachnutzung der von der Marine verlassenen, brachliegenden Werfthallen und Freiräume. Dabei trat die erste Architekturbiennale 1980 dort eigentlich auch an, um das vorher unzugängliche militärische Sperrgebiet als städtischen Raum zu erschließen. Die Kritik der schrumpfenden Bevölkerung bleibt bei alledem ungehört, zu sehr ist die Biennale Cashcow, zu stark wachsen die Besucherzahlen: Gab es Ende der 1990er-Jahre noch einen Gleichstand von Besuchern und Bewohnern, stehen nun 50.000 Einwohnern knapp 300.000 Besuchern der Architekturbiennale gegenüber – und die Kunstbiennale mit mehr als 800.000 zahlenden Gästen im Jahr 2022 macht die Argumente der Bevölkerung sowieso irrelevant.

Zurück nach Sant'Elena, in das stille Viertel jenseits des Trubels. Hier versucht die Stadtgemeinde gerade einen neuen Anlauf zur Wiederbelebung: Auf dem Vaporetti-Werftgelände soll neue Wohnbebauung ausschließlich für dauerhaften Aufenthalt geschaffen werden, trotz Leerstands etlicher bestehender Sozialwohnungen; wie lange sich die Neubauten künftig gegen die Kurzfristvermietung werden sperren können bleibt abzuwarten. Währenddessen schauen die Menschen weiterhin auf die undurchdringliche Rückwand der während des italienischen Faschismus entstandenen Pavillons. In manchen Bereichen der Giardini-Mauer sind noch Reste alter Wohnhäuser zu erkennen, die einfach mitverwendet wurden – ihre zugemauerten Fenster erinnern ein wenig an die Bernauer Straße in Berlin, wo die Hausfassaden einige Jahre lang die Außengrenze des undurchdringlichen „antifaschistischen Schutzwalls“ bildeten.

Und im österreichischen Pavillon, der bewusst wie eine halb fertige, überstürzt verlassene Baustelle wirkt, steht das Gerüst des Stiegenaufgangs zur nicht genehmigten Brücke wie ein sehnsüchtiger Aussichtspunkt: wie seinerzeit an der Sektorengrenze zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Arm und Reich, zwischen Kunstkommerz und echtem Leben.

Spectrum, Fr., 2023.05.26

24. April 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Hier wohnt das Wissen

Ganz gleich, ob untergebracht in unauffälligen oder prunkvollen Gebäuden, in einem „Ozeanriesen“ oder einem privaten „Segelschiff“: Die Bibliotheken Wiens sind Schatzkammern und (fast immer) für alle Menschen zugänglich.

Ganz gleich, ob untergebracht in unauffälligen oder prunkvollen Gebäuden, in einem „Ozeanriesen“ oder einem privaten „Segelschiff“: Die Bibliotheken Wiens sind Schatzkammern und (fast immer) für alle Menschen zugänglich.

Angesichts seiner Endlichkeit das eigene Leben zu multiplizieren ist wohl ein Urtrieb des Menschen – mit Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen, die man sich anfangs am Feuer erzählt hat, bevor man sie nach Erfindung der Schrift auch niederschreiben konnte. Und so baute man den Erzählungen feste Häuser, die bald prachtvoller waren als die Unterkünfte der Menschen selbst: Für die Geschichten über Götter und das Jenseits wurden Tempel errichtet, während in Bibliotheken auch die weltlichen Aufzeichnungen gesammelt wurden.

Bereits in der mesopotamischen Hochkultur entstanden diese Wissensarchive, und die Bibliothek von Alexandria war als eine der ersten ihrer Art das geistige Zentrum der antiken Welt. Im Römischen Reich wurden Bibliotheken dann zum Statussymbol; in Europa waren es anfangs die Klosterbibliotheken, die historische Werke bewahrten. Nach der Erfindung des Buchdrucks kam es im Barock zur ersten Hochblüte, Herrscherhäuser sonnten sich im Prestige großer Sammlungen, im Kulturbereich ebenso wie im Bibliothekswesen.

„Nur die Bibliothekare haben ein verlässliches Bild der Welt – das steht schon im ,Mann ohne Eigenschaften‘!“ Im modernen Tiefspeicher der Nationalbibliothek erläutert der Archivar seine Philosophie, dann erklärt er die Transportlogistik: „Diese kleine Bahn bringt die bestellten Werke direkt durch die Schächte nach oben in die Lesesäle.“ Ein kleiner Transportwagen zieht eine senkrechte Schleife auf seiner Schiene und entschwindet surrend: Einige Stockwerke höher warten in sieben Sälen etwa 400 Leseplätze auf wissbegierige Menschen aller Art, privat oder studentisch, wissenschaftlich oder historisch interessiert. Ein Saal hat allerdings keinen Bahnanschluss: der soeben renovierte Prunksaal aus der Barockzeit. Hier stehen unter einer fast 30 Meter hohen Kuppel etwa 200.000 wertvolle Werke.

Bestände der Habsburger

Es war Kaiser Karl VI., der Johann Fischer von Erlach mit der Planung der Hofbibliothek beauftragte; der Bau begann allerdings erst in dessen Todesjahr 1723. Sein Sohn Joseph Emanuel vollendete das große Werk, von ihm stammen wohl vor allem die Fassaden, der Prunksaal des Vaters markiert einen Höhepunkt im österreichischen Hochbarock. Hier konnten erstmals die Buchbestände der Habsburger versammelt werden, die Bestände sind einheitlich gebunden und zeigen in den Regalen aus Nussholz ihre weitgehend einheitlichen Rücken. Dabei ist die Nationalbibliothek keine statische Ausstellung: Sie ist der wichtigste Wissensspeicher des Landes, bis heute müssen Pflichtexemplare jedes in Österreich erscheinenden Druckwerkes eingeliefert werden. Doch war die Sammlung gleich mehrfach in Gefahr: Beim Beschuss der Stadt während der Märzrevolution 1848 geriet der Augustinertrakt in Brand, der aber die Bibliothek verschonte; auch die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges überstand das evakuierte Gebäude unbeschädigt. 1992 kamen die Flammen den historischen Räumen dramatisch nahe, als der Redoutentrakt bei Sanierungsarbeiten Feuer fing; in Menschenketten gingen die wertvollen historischen Bücher von Hand zu Hand, um sie aus dem Gefahrenbereich von Feuer und Löschwasser zu bergen.

Auch wenn die Nationalbibliothek schon von Anfang an für den lernbegierigen Bürger geöffnet war, dauerte es 200 Jahre, bis in einer dann völlig veränderten Welt der Grundstein für den Zugang zum Wissen für die zuvor praktisch rechtlose Arbeiterklasse gelegt wurde. Am 20. Jänner 1923 trat das Gesetz zur Einführung der Wohnbausteuer in Kraft; in der jungen Ersten Republik legte die Sozialdemokratie das finanzielle Fundament für die Gemeindebauten des Roten Wien. Untrennbar damit verbunden war Bildung für alle: Neben anderen Gemeinschaftseinrichtungen sollten öffentliche Bibliotheken in zahlreichen Wohnhäusern entstehen.

Vorläufer und Auftakt war das Arbeiterheim in Favoriten, gebaut nach dem Vorbild von Volksheimen wie dem „Maison du Peuple“ in Brüssel; hier wurde die erste Arbeiterbibliothek der Stadt eingerichtet, viele weitere folgten. Eine der schönsten kann bis heute im Sandleitenhof in Ottakring besucht werden: Große Wandmalereien mit Motiven aus dem Leben der Werktätigen dekorieren den Raum, die Außenfassade zieren stilisierte aufgeschlagene Bücher.

Im heutigen Wien ist die Not der Zwischenkriegszeit weitgehend vergessen; die Idee städtischer geförderter Bildung wurde trotzdem in die Gegenwart gebracht. Lange hatten die öffentlichen Bibliotheken ein etwas verstaubtes Image, das änderte sich spätestens in den 2000er-Jahren, als mitten am Gürtel ein „Bücherschiff“ vor Anker ging, ein ikonisches Gebäude von Ernst Mayr. Es wirkt, als hätte es Segel gesetzt über dem Urban-Loritz-Platz (die Membranüberdachung von Architektin Silja Tillner war allerdings schon einige Jahre vorher da). Von staubiger Bücherstube keine Spur, es ist ein ruhiger Wellnesstempel für Leserinnen und Leser aller sozialen Schichten mitten in den Wogen des stürmischen Verkehrs rundum, der Panoramablick aus dem verglasten Lesebereich über der Stadt öffnet den Geist, es gibt keine Zugangsbarrieren, nur beim Entlehnen von Medien wird man nach der Mitgliedschaft gefragt.

Wasser, Bücher, Licht

Von der öffentlich geförderten zur individuellen Wissenswelt der Stadt: Auch sie wäre ohne die zahlreichen privaten Bibliotheken undenkbar.

Erinnert die Hauptbibliothek eher zufällig an einen Ozeanriesen, hat sich in Wien-Hietzing ein Segler seinen Traum erfüllt. „Luis Borges sagte: ,Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.‘ Das ist das Motto meiner Wasserbibliothek. Hier habe ich die mein Leben prägenden Elemente zusammengeführt: Wasser, Bücher, Licht.“

Alfred Zellinger war und ist Manager, Künstler, Literat, Flaneur; sein schlichtes Siedlungshaus hat er mit dem Architekten Norbert Tischler um ein präzise konstruiertes Tortenstück ergänzt, das maritime Formen zitiert, puristisch und effizient. Über dem dreieckigen Pool im unteren Bereich schwebt, getragen von einer Sichtbetonwand und Nirosta-Profilen, das Bibliotheksgeschoß mit gläsernem Boden: Das tiefe Blau des Beckens bringt die Weite der Meere in den Raum.

Als Autor beschäftigt sich Zellinger mit den großen Klassikern, die er in Werken wie „Doktor Faustus in London, Banker, Oligarch“ neu interpretiert. Welche Geschichten haben ihn am meisten geprägt? „Es war die Sage von Odysseus – als Segler bin ich seinen Routen gefolgt, habe seine Häfen angelaufen. Er hat mich inspiriert – und zum Europäer gemacht.“ Aber wie hat seine persönliche Lesereise begonnen? Zellinger lacht: „Meiner Mutter sei Dank – für ihren Bücherschrank!“

Spectrum, Mo., 2023.04.24

11. Februar 2023Harald A. Jahn
Spectrum

Antwerpens hipper Hafen

„Slow Urbanism“ in Antwerpen: Der Turm des neuen Museum aan de Stroom steht für die Neubelebung des alten Hafenbereiches. Das ehemalige Industrieviertel wird sorgfältig mit der Altstadt vernetzt.

„Slow Urbanism“ in Antwerpen: Der Turm des neuen Museum aan de Stroom steht für die Neubelebung des alten Hafenbereiches. Das ehemalige Industrieviertel wird sorgfältig mit der Altstadt vernetzt.

In den Binnenstädten Europas sind es alte Bahnhofsanlagen, die die Begehrlichkeiten der Immobilienentwickler wecken; an den Küsten sind es die verlassenen Häfen, für die riesigen Containerschiffe zu klein geworden. Dabei entstehen wie in Hamburg gelegentlich spröde Investorenviertel; in Antwerpen setzt man nun auf den Altbestand und sorgfältige Vernetzung mit der Altstadt.

Es sind nur wenige Stationen mit der Straßenbahnlinie 7 vom Zentrum bis zur Sint-Pietersvliet, und die altmodischen Wagen aus den frühen 1970er-Jahren passen gut zur Stimmung des „Schipperskwartier“ – bis sich neben dem neugotischen Lotsenhaus das erste Hafenbecken, das Bonapartedok, öffnet. Hier steht auf einer Landzunge der rote Turm des neuen Museum aan de Stroom, kurz MAS: Es ist das Leuchtturmprojekt der Neubelebung des alten Hafenbereiches, der mit großer Sensibilität entwickelt wird. „Slow Urbanism“ nennt das die Stadtverwaltung heute, der Weg dahin war aber verschlungen. Die Idee, den alten Hafenbereich neu zu gestalten und die historischen Zeugnisse zu bewahren, entstand gegen Ende der 1970er-Jahre, auch unter dem Eindruck der damaligen Nachnutzung der „London Docklands“; davor war das Hafengebiet vor allem als Industriezone wahrgenommen worden.

Es dauerte dann mehr als ein Jahrzehnt bis zum Wettbewerb „Staad an de Stroom“, den der Katalane Manuel de Solà Morales 1993 gewann, als Antwerpen Kulturhauptstadt und die Aufbruchsstimmung spürbar war – aus finanziellen Gründen aber ein Strohfeuer, vorerst zumindest. Man hatte sich auch zu viel vorgenommen bei dieser Auslobung: Neben dem Eilandje, dem alten Hafenbereich, war der ganze stadtnahe Kai der Schelde bis zu den Docks südlich der Altstadt Teil des Projektgebietes.

Private Investoren füllten das Vakuum und bauten die stadtnahen Lagerhäuser entlang Bonapartedok und Willemdok zu todschicken Büros und Wohnungen um. Manches ging aber auch schief: Leider wurde ein wichtiges Baudenkmal geopfert, das Koninklijke Entrepôt, ein 1906 fertiggestelltes Lagerhaus im Stil des Historismus. Heute steht hier als östliche Begrenzung des Willemdoks ein Apartmentblock von Kollhoff & Pols, dahinter wuchert großvolumige Stahlbeton-Standardware entlang der Verkehrsschneise N1/Italiëlei.

Früher Arbeiter-, jetzt Ausgehviertel

Immerhin wurde der daran anschließende Güterbahnhof nicht ebenfalls mit Bürohochhäusern verbaut, sondern zum großen Landschaftspark, ein Segen für die angrenzenden alten Stadtviertel und sehr beliebt. Ebenso von Vorteil ist, dass die von der N1 nach Westen laufende Autobahnspange, genau zwischen Hafen und Altstadt, hier im Tunnel geführt wird; damit münden die Straßenzüge des Schipperskwartier – früher klassische Arbeiterwohngegend, heute ein junges Ausgehviertel mit trendigen Cafés, teils noch Rotlichtbezirk – direkt in die Kais der Hafenbecken, der Falconplein als „Hauptplatz“ des Bezirks genau in die zentrale Achse des Eilandje. Diese Landzunge zwischen Bonapartedok und Willemdok war drei Jahrhunderte lang Standort eines der wichtigsten Gebäude der Stadt, des Hansahuis oder Oosterhuis: Es war Wirtschaftssitz und Lagerhaus der Hansestädte in Antwerpen, erbaut im Jahr 1568, und so prominent, dass es beim Ausheben der beiden Docks zu Beginn des 18. Jahrhunderts seinen Platz behielt. 1893 brannte es ab, nach banaleren Folgebauten steht hier nun das MAS als zentrales Symbol des Hafenviertels, dessen Revitalisierung inzwischen endlich Fahrt aufgenommen hat. Das Museum am Strom, eröffnet 2011, ist ein Projekt von Neutelings Riedijk Architects Rotterdam; das Büro ist vor allem mit Großprojekten in den Niederlanden und Belgien erfolgreich. Museumsthema sind die Geschichte von Stadt und Hafen sowie die Verbindung von Antwerpen mit der Welt; als symbolische Brücke zwischen der historischen und zukünftigen Stadt ist das Thema passend gewählt. Der rote Turm wirkt auf den ersten Blick wie ein verdrehter Stapel von Containern, tatsächlich besteht aber jedes Geschoß aus einem Ausstellungsraum und einem vorgelagerten „Boulevard“, der sich um das Gebäude in die Höhe schraubt; der Weg führt spiralförmig über Rolltreppen nach oben. Dabei ist der Boulevard öffentlich und ohne Ticket begehbar, die letzte Ebene bietet dann als Terrasse einen grandiosen Blick auf die Innenstadt und das umliegende Hafengebiet.

Es geht nicht ohne Hochpunkte

Riedijk Architects sind Meister der Oberflächen: Sie bekennen sich zum sorgfältig gewählten Material und zum Ornament. Der indische Sandstein, der Fassade, Böden und Untersichten bedeckt, wurde von Hand abgebaut und hat seine starke Struktur ebenso behalten wie seine vier unterschiedlichen Rottöne; er soll die Anmutung eines Lagerhauses ausstrahlen, das Gewicht der Geschichte betonen. Silberne Hände – das Symbol der Stadt – liegen in regelmäßigem Muster auf den Fassadenplatten, die gewellte selbsttragende und rahmenlose Außenverglasung reflektiert das Licht und erzeugt damit keine dunkle Fensterfront: die Leichtigkeit der Gegenwart als Kontrast zur Schwere der Vergangenheit.

Auch in weiterer Folge prägt die klassische Blockbebauung das Bild, auch wenn es offensichtlich nicht ganz ohne Hochpunkte ging: Sechs Wohnhochhäuser, knapp 60 Meter hoch, stehen entlang des Westkaai am Kattendijkdok. Trotz bekannter Architektennamen sind es schlichte Klötze. Und weil man nie genug „Landmarks“ haben kann, hat sich auch Zaha Hadid hier verewigt. Am nördlichen Ende des Gebiets schwebt ein verzerrt-zackiges Schiff über der historischen Hafenfeuerwache: Showtime! Dass das „Schiff“ der Sichtachse vom MAS das plumpe Heck zukehrt, dass der Quadratmeterpreis durch die aufwendige Konstruktion exorbitant ist und vor allem der nun degradierte Altbau eigentlich ikonisch genug wäre: geschenkt. Immerhin lockt es Touristen in den noch auf sein Upgrade wartenden Teil des alten Hafens, in dem künftig etwa 5000 Menschen leben sollen.

Tatsächlich sind es aber die unspektakulären Areale, die die Stärke des „Inselchens“ ausmachen: kleinteilige Bebauung, Fassaden in klassischen Proportionen, gepflasterte Straßen. Es ist auch die Haptik, die die DNA einer Stadt definiert, und so fühlt sich das Viertel trotz seiner vielen Neubauten historisch gewachsen an – was es ja auch ist, der Straßenraster wurde weitgehend beibehalten. Eine deutliche Spur in die wahre Vergangenheit des Hafens macht das Migrationsmuseum der Red Star Line sichtbar, das sich mit der Emigration der Passagiere nach Nordamerika beschäftigt. Wie das MAS erzählt es von Seereisen, von Antwerpens Verbindung mit der Welt, allerdings in einer ganz anderen Betrachtung: Hier, in der alten Lagerhalle, wurden die Passagiere auf ihre Reise ohne Wiederkehr vorbereitet.

Spectrum, Sa., 2023.02.11

06. Oktober 2022Harald A. Jahn
Spectrum

Planerische Naivität in Saudi-Arabien

Die vielfach beworbene ökologische Planstadt Masdar in Abu Dhabi hält nicht, was sie versprach. Nun folgt ein weiterer Versuch mit „The Line“, einer 170 Kilometer langen Bandstadt in Saudi-Arabien. Kann das gelingen?

Die vielfach beworbene ökologische Planstadt Masdar in Abu Dhabi hält nicht, was sie versprach. Nun folgt ein weiterer Versuch mit „The Line“, einer 170 Kilometer langen Bandstadt in Saudi-Arabien. Kann das gelingen?

Vor etwa 15 Jahren ließ eine Meldung aus Abu Dhabi aufhorchen: Eine neue Stadt sei geplant, nach ökologischen Grundsätzen, versorgt durch erneuerbare Energien, mit solarbetriebenen Wasserentsalzungsanlagen, autofrei, ohne CO2-Emissionen, mit einem automatisierten öffentlichen Verkehrssystem im Tiefgeschoß und einer Hochbahn als Verbindung zu anderen Stadtteilen. Sechs Quadratkilometer groß, knapp 50.000 Einwohner, Fertigstellung um 2016, das Grundkonzept von Stararchitekt Norman Foster: Die Renderings waren beeindruckend – die Realität umso weniger. Die Arbeiten kamen bald ins Stocken; inzwischen wurde die Fertigstellung immer weiter nach hinten verschoben.

Bis heute besteht Masdar nur aus einigen Häuserblocks; Etihad Airways haben einen Teil gekauft und als „Gated Community“ für ihr Personal der Allgemeinheit unzugänglich gemacht, Siemens hat hier das Hauptquartier aufgeschlagen, die technische Universität Abu Dhabi hat eine Niederlassung, ein Studentenheim ergänzt die Forschungseinrichtung. Aus dem Verkehrssystem wurde nichts, statt der Hochbahn umgeben riesige Parkplätze das Areal, das automatische Verkehrssystem wurde zum Touristenspielzeug, geöffnet Sonntag bis Donnerstag von neun bis fünf. Viele Ziele wie die Emissionsfreiheit wurden aufgegeben, allerdings soll die Planstadt Zentrum eines Technologie-Clusters werden, riesige Fotovoltaikanlagen unterstreichen den Anspruch. Ob das Gesamtprojekt jemals fertiggestellt wird, ob es sich jemals von der im arabischen Raum vorherrschenden Denkweise emanzipieren kann, ist fraglich. Sucht man nach Attraktionen im Umfeld, schlägt eine Tourismusplattform derzeit ausgerechnet eine „Ferrari World“ vor.

Wie eine Science-Fiction-Serie

Die Situation in Masdar beeindruckt den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman wenig. Seine Träume haben ganz andere Dimensionen: Am Roten Meer gegenüber dem ägyptischen Sharm-el-Sheikh soll eine Sonderwirtschaftszone entstehen, von der Größe Belgiens, mit einer Megacity für neun Millionen Einwohner. Auch hier muss es ein Technologiezentrum sein, eine Zukunftsstadt, ein Labor für die Welt von morgen. „Neom“ ist Teil des Projekts, Saudi-Arabien von der Ölwirtschaft unabhängiger zu machen, finanziert von genau dieser Branche: Die Ölgesellschaft Saudi Aramco ist mit zwei Billionen US-Dollar das wohl wertvollste Unternehmen der Welt, mit weit über 100 Milliarden US-Dollar Nettogewinn jährlich. 500 Milliarden will der daraus gespeiste Staatsfonds finanzieren, zudem hofft man auf Auslandsinvestitionen. In „Neom“ sollen unterschiedliche Schwerpunktregionen entstehen: „Oxagon“ als Industriezentrum, „Trojena“ als Wohn- und Freizeitgebiet im Gebirge des Hinterlands und eine absurde Wohnstadt in Linienform. Öffnet man die Website www.neom.com, wähnt man sich in einer bunten Netflix-Science-Fiction-Serie: Ein Mädchen fliegt durch eine utopische Stadtstruktur aufgetürmter Baukörper, schwebender Brücken, Gärten, Parks; all das Teil einer 170 Kilometer langen verspiegelten Struktur, die sich völlig geradlinig durch die Wüste von Saudi-Arabien zieht. Es ist „The Line“, eine Bandstadt, die in zwei gigantischen parallelen Baukörpern neun Millionen Einwohner aufnehmen soll.

Die Bewohner sollen sich in einer voll digitalisierten „Smart City“-Umgebung wiederfinden, aber: Ob es die Menschen trotz der versprochenen „westlichen Gesetze“ in der Sonderwirtschaftszone ideal finden, dass in einem Land mit Schariah-Grundlage der Computer über jedes Bier aus der Shopping Mall Bescheid weiß?

Trotz der immensen Geldsummen wirkt das Projekt unausgegoren. Die Website ist bemerkenswert unverbindlich, illustriert das Sci-Fi-Paradies mit farbenfrohen Agenturfilmchen und ebensolchen Werbetexten; diese versprechen eine Stadt, in der alles in 15 Minuten Gehdistanz liegen soll, die ausschließlich mit nachhaltiger Energie versorgt und die umliegende Natur schonen soll. Unterirdische Transportmittel sollen es erlauben, die ganze „Line“ in 20 Minuten von einem Ende zum anderen zu befahren. Zwei 500 Meter hohe verspiegelte Wandscheiben bilden die Außenwände der 200 Meter breiten Struktur, in der „Schlucht“ dazwischen soll sich das Leben entfalten. Die Bodenebene soll dem Fußverkehr und Parks vorbehalten bleiben, in den Stockwerken darunter dann Anlieferung, Versorgung und Schnellverkehr. Die Dimension des Grundrisses ist mit den Wohnbauten von Alt-Erlaa vergleichbar, diese Terrassenhäuser sind allerdings „nur“ 85 Meter hoch: Die Baukörper von „The Line“ wären sechsmal höher!

Erschütternd ist vor allem die urbanistische Naivität. Technische Lösungen werden für Probleme versprochen, die erst durch das Konzept entstehen. Mit einer Bahn soll die ganze Länge der Line in 20 Minuten von einem Ende zum anderen befahren werden – aber wozu? Die propagierte Fußgängerstadt benötigt erschließenden Nahverkehr. Verkehrsplaner rechnen mit 400 Metern Einzugsgebiet, eine Station alle 800 Meter ist also notwendig.

Nur auf den ersten Blick gut

Eine Linie ist aber nicht resilient und leistungsfähig genug, funktionierende Städte haben daher Verkehrsnetze. Ähnliches gilt für die Ver- und Entsorgung: Die Warenströme einer potenziellen Millionenstadt sind über einen so schmalen Korridor kaum zu bewältigen. Und die Probleme beginnen schon beim Bau: Wüstensand ist für Beton ungeeignet, der Transport aller Materialien von der Küste zur Baustelle wird mit fortschreitender Länge der „Line“ immer aufwendiger; die in sklavenähnlichen Bedingungen gehaltenen Arbeitskräfte benötigen trotzdem Wohnquartiere und Versorgung.

Die Idee einer Bandstadt kam erstmals mit der Verbreitung schneller Schienenverkehrsmittel auf. Der Spanier Arturo Soria y Mata entwickelte sie, um die Stadtplanung an die damals neue Madrider Straßenbahn anzupassen. Später hat Paolo Soleri in den USA die Idee weitergesponnen, Ausgangspunkt waren die dortigen unendlich zersiedelten Vorstädte. Dabei ist die Verdichtung entlang einer Verkehrsachse eine nur auf den ersten Blick gute Idee. Bewährt und durchgesetzt hat sich all das nicht, schlicht weil die Struktur der idealen Stadt nicht verstanden wurde. Es hat Gründe, dass gewachsene Städte ein Zentrum mit einzigartigen Bauten (Spital, Kultur, Verwaltung, Regierung etc.) haben, um das herum idealerweise durchmischte Viertel liegen: Die Stadt der kurzen Wege muss polyzentrisch sein, auf einer Fläche hat jeder Ort mehr umgebende mögliche Ziele (Schule, Arzt, Einkauf, Arbeitsplatz?) als entlang einer Linie. Keine noch so smarte Technik kann schlecht geplante Städte retten. Die zukunftssichere Stadt gibt es aber sowieso schon: Es ist die klassische europäische Stadt, mit menschlichen Dimensionen, sinnvoller Flexibilität – und all ihrer Schönheit.

Spectrum, Do., 2022.10.06

22. August 2022Harald A. Jahn
Spectrum

Brüssel hat aus seinen Fehlern gelernt

Erneuerung ohne Rücksicht auf Verluste – sorgfältiger Urbanismus war ein Fremdwort in einer Stadt, die erst ihren Fluss per Überwölbung verschwinden ließ, um kurz danach die halbe Altstadt abzureißen. Nun gibt es neue Hoffnung für das gequälte Brüssel.

Erneuerung ohne Rücksicht auf Verluste – sorgfältiger Urbanismus war ein Fremdwort in einer Stadt, die erst ihren Fluss per Überwölbung verschwinden ließ, um kurz danach die halbe Altstadt abzureißen. Nun gibt es neue Hoffnung für das gequälte Brüssel.

„Brüsselisierung“: So brutal geht Brüssel mit seinem Bauerbe um, dass ein eigenes Wort geschaffen wurde. Erneuerung ohne Rücksicht auf Verluste; sorgfältiger Urbanismus war ein Fremdwort in einer Stadt, die erst ihren Fluss per Überwölbung verschwinden ließ, um kurz danach die halbe Altstadt abzureißen – für eine Eisenbahn-Tunnelstrecke, deren Trasse heute von großvolumiger Stahlbeton-Standardware gesäumt wird. Inzwischen ist diese Eisenbahnstrecke Kernstück eines dicht vertakteten Bahnnetzes und ein Hauptgrund, nach der Arbeit auszupendeln, nach Mechelen oder Gent, nur eine halbe Stunde entfernt: Schnelle Verbindungen sind aber nicht gewonnene Zeit, sondern verlorener Raum, und auch Steuereinnahmen gehen verloren, wenn die Mitarbeiter Brüsseler Unternehmen außerhalb wohnen.

Seit den 1990er-Jahren versucht Brüssel gegenzusteuern, den Mittelstand zurückzuholen, und setzt dafür bewusst auf Gentrifizerung – ein Werkzeug, das in anderen Städten differenziert und auch kritisch betrachtet wird. Besonders in Molenbeek, einem durchaus berüchtigten Zuwandererviertel am Kanal Brüssel-Charleroi, wird die Veränderung immer deutlicher. Ein wichtiger Brückenkopf bei der Infiltration mit zeitgemäßer Kultur war das Millennium Iconoclast Museum of Art: Es besiedelte das Backsteingebäude einer alten Brauerei und hat den Anspruch, die Kunst der jungen Generation zu vermitteln, viele der Künstler kommen aus der Street-Art-Szene. In den umliegenden Trakten dann die typischen Nutzungen in solchen Clustern: Designerhotel, Coachingzentrum für Jungunternehmer, Gastronomie – während dahinter ein neues Wohnhochhaus in den Himmel wächst, mit Traumblick auf Brüssel.

Einen Kilometer weiter nördlich begrenzt der breite Boulevard Leopold II. den kleinteiligen Stadtteil; hier haben sich schon vor einigen Jahrzehnten riesige postmoderne Bürohäuser in das zarte Stadtgefüge Molenbeeks gefressen. Am anderen Ufer des Kanals entsteht gerade ein Projekt, das die Museumslandschaft Brüssels künftig dominieren wird: das Centre Pompidou Kanal. Der ehemalige Verkaufstrakt von Citroën dominiert die Place de l'Yser: ursprünglich eine luftige Halle in Stromlinienform, fast 25 Meter hoch, ohne Zwischenebenen, nachts dramatisch beleuchtet; erst später wurden sechs Stockwerke eingezogen.

Hinter dem „Showblock“ besetzt die Garage fast das ganze 100 mal 200 Meter große Grundstück, es war das größte Gebäude des Konzerns (zwei Hauseigentümer weigerten sich seinerzeit zu verkaufen, ihre Altbauten stecken seither als Fremdkörper im Objekt und der eleganten Glasfassade). Vom Vordertrakt mit den Verkaufsbereichen und Büros führt eine „Straße“ in die Tiefe, flankiert von Garagenflächen, Werkstätten und Ersatzteillagern. 2015 kaufte die Stadtentwicklungsgesellschaft der Region Brüssel-Hauptstadt den Komplex, um ein internationales kulturelles Zentrum zu errichten. 2019 konnte die Bevölkerung die Fabrik erstmals erforschen, das Centre Pompidou als künftiger Betreiber bespielte sie temporär mit raumgreifenden Exponaten – die sich in den 35.000 Quadratmetern trotzdem verloren. Inzwischen arbeitet eine Architektengruppe (noAarchitecten, Brüssel; EM2N, Zürich; Sergison Bates architects, London) am Projekt „Eine Bühne für Brüssel“. Ab 2024 soll sich der Komplex zur Umgebung öffnen, den Bürgern eine gastfreundliche Erweiterung ihrer Stadt anbieten, überdacht, mit Restaurants und Geschäften. Trotz seiner Dimensionen ist dieses „Museumsquartier“ aber nur der Eckpunkt einer noch größeren Entwicklungszone, die sich entlang des Kanals dahinter weiterzieht.

Güterbahnhöfe und Hafenanlagen: Das sind die Potenzialflächen heutiger Städte. Das Tour-&-Taxis-Gelände liegt nördlich des Kanals in Sichtweite der Citroën-Garage; der Name stammt von der deutschen Adelsfamilie Thurn und Taxis, die hier im 16. Jahrhundert den ersten internationalen Postdienst organisierte. Ab 1900 entstand ein multimodaler Verkehrsknoten mit Umladeanlagen, Zollspeichern, Depots. Die Aufhebung der europäischen Zollschranken und das Aufkommen des Lkw-Verkehrs verringerten die Bedeutung des Umschlagplatzes, 1987 zog der letzte Nutzer aus. Kernstück war der gigantische Güterbahnhof Gare Maritime, eine vier Hektar große Hallenkonstruktion mit drei Hauptschiffen und vier verbindenden/flankierenden Zwischentrakten. Nach langer Diskussion über mögliche Nachnutzungen entschied man sich für ein multifunktionales Stadtteilzentrum; der grandios gelungene Umbau nimmt das Konzept der „überdachten Landschaft“ vorweg, dem auch das Centre Pompidou Kanal folgt: eine Allee in der zentralen Halle, gesäumt von Pavillons, mit Geschäften, Büros, einem Hotel. Neutelings Riedijk Architects Rotterdam gelang ein sensibel umgesetztes Projekt: In die renovierte Stahlstruktur setzten sie ihre Holzbaukörper, deren Anmutung perfekt mit der Stahlstruktur harmoniert. Die zentrale Straße ist eine urbane Achse, mit ihrem Pflaster, dem Randstein, Sitzmöbeln und den Kiosken an den Seitengassen; kleine Parks schaffen Abstand zur Geschäftsfront. Typisches wiederkehrendes Element ist die X-Form der gegenläufigen Treppen ins Obergeschoß; mit den Zugangs-„Pawlatschen“ bilden sie eine intime Raumstruktur mit warmem Ambiente und angenehmer Akustik.

Noch sind viele der teils riesigen Geschäftsflächen leer, noch ist der „Food-Court“ nur zur Mittagspause der umliegenden Büros belebt; es stellt sich die Frage, ob sich die passenden Mieter finden werden, ob der Mix gelingt. Wie demnächst im Pompidou sucht auch diese Bühne das passende Ensemble für den großen Auftritt – ob die Bewohner Molenbeeks wohl in dem Stück mitspielen werden? Trotzdem, die gelungenen Proportionen, die menschlichen Dimensionen und die angenehme Ausstrahlung der Materialien bieten deutlich bessere Voraussetzungen als die seelenlose Stahl-Glas-Architektur der vergangenen „Brüsselisierungen“, die der Stadt zugesetzt haben: Hier wurde endlich wieder neue Schönheit in der gequälten Stadt verankert.

Spectrum, Mo., 2022.08.22

12. August 2022Harald A. Jahn
Spectrum

Gesucht: Venedigs Bewohner

Es war das größte urbanistische Projekt der Stadt Venedig seit dem Zweiten Weltkrieg und wohl auch ein letzter Versuch, die Stadt in die Zukunft zu führen. Dem Campo Junghans fehlt allerdings das Wichtigste: die Menschen – sie fehlen überall abseits der touristischen Pfade.

Es war das größte urbanistische Projekt der Stadt Venedig seit dem Zweiten Weltkrieg und wohl auch ein letzter Versuch, die Stadt in die Zukunft zu führen. Dem Campo Junghans fehlt allerdings das Wichtigste: die Menschen – sie fehlen überall abseits der touristischen Pfade.

Für die meisten Besucher ist Venedig eine immer gleiche romantische Kulisse; kaum eine Stadt bietet eine so unverwechselbare Identität, und rasch entsteht der Eindruck, sie sei zur Zeit der Dogen erstarrt, um seither pittoresk zu verfallen. Venedig war aber stets zeitgemäß. Nähert man sich über den Bahndamm, dominiert an der linken Stadtkante eine postmoderne Wohnanlage das Bild; am Piazzale Roma, dem Eintrittstor zur Stadt, blickt man vom Parkhaus des Stadtplaners Eugenio Miozzi aus den 1930er-Jahren auf die futuristische Ponte della Costituzione von Santiago Calatrava; dazwischen wartet die moderne Straßenbahn auf Passagiere zum Festland. Nur wenige Schritte weiter liegt der Baukörper des Bahnhofs Santa Lucia von 1952 breit gestreckt am Kanal, und schräg gegenüber versuchte die Stadt 1959, mit einem experimentellen Bau von Giuseppe Samonà, ihre Rolle als Verwaltungszentrum zu betonen.

Nun hat die moderne Architektur auch den berühmtesten Platz und damit die Herzkammer der Stadt erreicht: Der Stararchitekt David Chipperfield hat mit der diskreten Restaurierung der Alten Prokuratien am Markusplatz den nördlichen Gebäudetrakt in die Gegenwart gebracht. Hier arbeiteten und wohnten ursprünglich die Beamten der Baubehörde, später war der Komplex schlicht das Verwaltungszentrum der Serenissima, dann übernahm der Versicherungskonzern Generali schrittweise den verwinkelten Bau – der zuletzt allerdings weitgehend leer stand. Es ist ein introvertiertes Projekt, von außen fast unsichtbar; innen wurden jedoch 12.000 Quadratmeter Nutzfläche neu definiert. Während der Dachboden zu einem Ausstellungs- und Veranstaltungsbereich ausgebaut wurde, behielten die alten Büroräume im ersten und zweiten Stock teils ihre Funktion: echte Arbeitsplätze in einer Stadt, die fast nur noch als Touristendienstleister funktioniert.

Erstmals zugänglich seit 500 Jahren

So gleichförmig die unendlich lange Fassade aus Bögen und Säulen von außen wirkt, so verworren war der Mikrokosmos im muffigen Inneren vor der Sanierung; tatsächlich handelte es sich hier eigentlich um eine Reihe von Einzelhäusern. Chipperfield hat dann auch eher mit kleinen, befreienden Eingriffen gearbeitet, Ordnung ins Chaos gebracht, mit Respekt vor dem Bestand und hoher handwerklicher Qualität; die zentrale neue Treppe zum Dachpavillon ist neben dem Auditorium die einzige große, vielleicht sogar etwas unsubtile Geste. Zum ersten Mal seit der Erbauung vor 500 Jahren ist der Komplex nun für die Allgemeinheit zugänglich. Noch haben die Touristen die neue Attraktion nicht so recht entdeckt, noch hat sich die neue Attraktion nicht in den Organismus der Stadt eingeschrieben. Ein ähnlich prominentes Haus in ähnlich prominenter Lage hat diese Phase bereits hinter sich: Die Fondaco dei Tedeschi, die frühere Niederlassung der deutschen Händler neben der Rialtobrücke, war fast eineinhalb Jahrhunderte lang das Hauptpostamt der Stadt, bis es – nach Ankauf durch die Benetton-Gruppe und von Protesten begleitet – von Rem Koolhaas zu einem luxuriösen Einkaufszentrum verwandelt wurde. Trotz der bei solchen Projekten üblichen Versprechen wie Respekt vor der historischen Substanz oder Öffnung des Innenhofs als Piazza für alle Bürger änderte sich die Funktion doch völlig: von einem selbstverständlichen Angebot für die Bürger der Stadt zu einem weiteren talmiglitzernden Anziehungspunkt für den (gehobenen) Massentourismus. Auf der Strecke bleibt bei dieser Internationalisierung die Authentizität der Städte, spürbar ist das in fast allen historischen Zentren Europas.

Venedig ist von massivem Bevölkerungsschwund betroffen: Heute leben im historischen Zentrum gerade 50.000 Menschen, vor 50 Jahren waren es doppelt so viele. Noch in den 1980er-/90er-Jahren wurden allerdings neue Wohngebiete erschlossen, typischerweise anstelle obsolet gewordener Industriebetriebe an den Rändern der historischen Altstadt. Direkt neben dem Bahnhof lag der Komplex der Streichholzfabrik Saffa. Das Büro von Vittorio Gregotti entwarf einen neuen Stadtteil, der zwischen 1981 und 2002 in zwei Etappen fertiggestellt wurde. Wie selbstverständlich fügen sich die Bauten in das Wegenetz von Cannaregio; ruhig und unaufgeregt entwickeln sich aus dem zentralen Platz lang gestreckte Wohnhöfe, an denen streng symmetrisch die abgestuften rostroten Baukörper, teils mit Eigengärten, angeordnet sind; gekrönt werden die Häuser von hoch liegenden Balkonen, Zitate der typischen „Altana“, der über den Dächern errichteten Holzbalkone, die das Altstadtpanorama bis heute prägen.
Schornsteine erinnern an Fabriken

Südlich der Stadt, unter dem Bauch des „Venezianischen Fisches“, liegt Giudecca, dominiert von der gigantischen „Molino Stucky“, einer ehemaligen Getreidemühle und Nudelfabrik, heute Luxushotel. Auch in ihrer Umgebung ist das frühere Gewerbegebiet weiterhin ablesbar: Alte Ladekräne und Schornsteine erinnern an Fabriken, an deren Stelle teilweise immer noch Brachen liegen. Es ist die Rückseite der Serenissima, hier ankern die Boote der Müllabfuhr, ein Umspannwerk summt leise, die Sozialwohnblocks könnten in jeder italienischen Stadt stehen. Genau hier versuchte Venedig ab den 1980er-Jahren noch einmal, wirklicher Lebensraum zu sein, mit neuen Wohnungen für echte Venezianer; beauftragt wurden Architekten von Weltrang.

Direkt hinter der Molino Stucky baute Gino Valle seinen dichten Wohnkomplex in strengem Quadratraster. Drei Doppelzeilen mit etwa 100 Wohnungen steigen zur Landseite hin an, um auch den hinteren Wohnungen den Blick auf die Lagune zu ermöglichen; hohe Pfeiler tragen diese Gebäudeteile. Dabei wirkt der Wald aus Ziegelsäulen, wirken die Treppenläufe zu den Erschließungsbrücken nicht als dunkler Angstraum: Valle hat sich bei der Gestaltung an der Backsteinarchitektur der alten Fabriken orientiert, die Abfolge von Pfeilern, Bögen und Stiegen wirkt lebendig und warm.

Ein Stück weiter westlich liegt das Junghans-Areal, nach dem Masterplan von Cino Zucchi auf das Grundstück der ehemaligen Uhrenfabrik gesetzt: ein Miniaturstadtteil, der Venedigs typische Stadtstruktur nachempfindet, mit vorsorglich bereits deutlich höheren Kaimauern. Teile des Altbestandes wurden integriert, ein kleines Theater zeichnet die Form der ehemaligen Baukörper nach und dominiert den Campo Junghans. Es war das größte urbanistische Projekt der Stadt Venedig seit dem Zweiten Weltkrieg und wohl auch ein letzter Versuch, die Stadt für echte Bewohner in die Zukunft zu führen. Eigentlich fehlt dem Areal nur wenig – aber das Wichtigste: die Menschen. Und sie fehlen überall abseits der touristischen Trampelpfade; am Campo Junghans scheint der Weg in die Zukunft der Stadt bis auf Weiteres zu enden.

Spectrum, Fr., 2022.08.12

03. März 2022Harald A. Jahn
Spectrum

Das Design der Wiener U-Bahn ist zeitlos

Vor 50 Jahren wurden die Stationen der Wiener U-Bahn entworfen – ähnlich wie bei Otto Wagners Stadtbahn sollten die Elemente des Bauwerks mit der Stadt verschmelzen. Eine Glanzleistung – aber noch immer zu wenig gewürdigt.

Vor 50 Jahren wurden die Stationen der Wiener U-Bahn entworfen – ähnlich wie bei Otto Wagners Stadtbahn sollten die Elemente des Bauwerks mit der Stadt verschmelzen. Eine Glanzleistung – aber noch immer zu wenig gewürdigt.

Noch an den letzten Tagen des Jahres 1971 arbeitete das Team der Architektengruppe U-Bahn (AGU) an dem Kompendium, das die Gestaltung der Wiener U-Bahn definierte. Der ähnliche Ansatz, die Stationen mit seriellen Paneelen zu verkleiden und daraus alle Elemente zu entwickeln, hatte die beiden Zweitplatzierten des vorangegangenen Architektenwettbewerbs zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeführt; nun wurden die Grundlagen der Gestaltung festgelegt, Sitzbänke, Mistkübel, Zielanzeigen, Stiegengeländer gezeichnet.

Neben den Architekten Holzbauer, Marschalek, Ladstätter und Gantar arbeiteten auch zwei Grafiker an den Entwürfen, die mit jeder Überarbeitung stringenter wurden: Tino Erben und Werner Sramek waren für das Leitsystem verantwortlich, das integraler Bestandteil der Architektur war und die Fahrgäste zuverlässig durch die Stationen führen sollte. Die U-Bahn war anfangs als reines Ingenieurbauwerk konzipiert gewesen; bereits seit November 1969 hatten sich die Bagger durch den Karlsplatz gefressen, erst 1970 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, der mit schwacher Beteiligung und ohne ersten Preis abgeschlossen wurde.

Vieles war damals Neuland in einer Stadt, deren öffentliche Verkehrsmittel unterfinanziert und deren einzige Metro eine schon bei der Eröffnung veraltete Stadtbahn war. Der SP-Regierung war das Thema U-Bahn lange suspekt, man versuchte sich mit tiefgelegten Straßenbahnlinien in die unklare Verkehrszukunft zu retten; Vorbild dafür war Brüssel. Erst nach jahrelangem Druck der Opposition öffnete man sich der U-Bahnidee – Pläne hatte es seit der Ringstraßenzeit ja genug gegeben. Beeindruckend und überraschend ist im Rückblick vor allem, dass Wien nun tatsächlich Nägel mit Köpfen machen wollte und mit dem verspäteten Wettbewerb ein Architektenteam zusammenbrachte, dem ein wirklich großer Wurf gelang.

Eine Farbe für jede Linie

Die Grundidee ist jedem Wiener bekannt, auch wenn kaum jemand auf die Details achtet: eine Farbe für jede Linie, weiße glatte Flächen, regelmäßig unterbrochen durch Stege in Linienfarbe, ein heller Bahnsteigbereich, der durch das Lichtband vom dunklen Gleisbereich klar abgetrennt ist, einheitliche Beschriftung mit großer Primärinformation und Piktogrammen für die Richtungsangaben – all das war zu Zeiten einer Stadtbahn, die sich durch ruinöse Stationen bewegte, neu. Dabei war das System flexibel genug, um auf alle Stationstypen reagieren zu können, von Tiefstationen in offener oder Röhrenbauweise über die Adaption der Otto-Wagner-Haltestellen bis hin zu den Hochstationen der U1 nördlich der Donau.

Es spricht für die hohe Qualität des Entwurfs, dass alle Zugeständnisse an den damaligen Zeitgeist herausreduziert wurden – immerhin war es die Epoche der Pop-Art, der orange-braunen Plastikmöbel, der Space-Age-Plexiglaskuppeln. Einzig die typischen Viertelrundbögen und die damit ineinanderfließenden Wand- und Deckenverkleidungungen verraten die Entstehungszeit. Bewusst entschied sich die AGU dafür, alle Stationen in einheitlicher Formensprache auszuführen. Ähnlich wie Otto Wagners Stadtbahn sollte ein überall wiedererkennbares Bauwerk die ganze Stadt durchziehen – und sich in die bestehende Ikonografie einschreiben. Wie das Sonnenradgeländer Wagners sollten die Elemente der neuen U-Bahn mit der Stadt verschmelzen; so bezieht sich etwa der U-Bahnwürfel von Tino Erben bewusst auf die Wiener Würfeluhr.

Wagner war übrigens in den 1960er-Jahren nur in Architektenkreisen geschätzt; in der allgemeinen Wahrnehmung war Jugendstil Kitsch, seine Baudenkmäler konnte man ohne Weiteres abreißen. Mit viel Glück wurden die Karlsplatz-Pavillons gerettet, die heute in keinem Tourismuskatalog fehlen dürfen; andere Bauwerke wie die Stationen Meidling, Hietzing oder Hauptzollamt (heute Wien-Mitte) gingen verloren. Die sorgfältigen Sanierungen im Zuge der U-Bahnumbauten trugen dazu bei, dass die Öffentlichkeit Wagners Wert wieder wahrnahm.

Leider wurde in den 1970er-Jahren auch ein „verdienter Partner der Gemeinde“ mit Aufträgen bedacht: Kurt Schlauss hatte sich nicht am Wettbewerb beteiligt, wohl aber einige Projekte wie das Matzleinsdorfer Hochhaus, Wehranlagen der Neuen Donau oder die Straßenbahnschleife Schottentor zur Zufriedenheit der Stadt geplant; nun durfte er sich am Karlsplatz verwirklichen und die Straßenbahn unter der „Zweierlinie“ umbauen. Vor allem der düstere Karlsplatz mit seinem schwer wirkenden Materialmix fiel von Anfang an deutlich zu den Stationen der AGU ab.

Technoider, aber beliebiger

In spätere Ausbaustufen wurde diese „Altlast“ mitgenommen: Während für einen Großteil von U3 und U6 das AGU-Stationsdesign weiterentwickelt wurde, mit großzügigen, natürlich belichteten Aufgängen und reduzierten Wartungskosten, entstanden erneut Haltestellen wie Volkstheater (U3) oder Längenfeldgasse (U4/U6) im Schlauss'schen Design. Und während die AGU schon in den 1970ern überzeugend und zeitlos entworfen hatten, dekorierte Schlauss seine Stationen noch in den 1990ern in Orange und Braun.

Ende der 1990er-Jahre begann mit der Verlängerung der U2 Richtung Stadlau eine neue Phase, nach einem erneuten Wettbewerb gestalteten nun die Büros Moßburger und Katzberger jeweils die Tief- und Hochstationen. Jetzt wandelte sich das Design, wurde technoider, aber beliebiger; die typische Identität ging verloren. Doch auch die Entwürfe aus der Anfangszeit konnten erneut ihre Stärken ausspielen: Mit nur wenigen Anpassungen wurde die U1 im Stil der 1970er-Jahre an beiden Enden weitergebaut. 2017 wurde sie fertiggestellt – eine unglaubliche Bestätigung der hohen Qualität, die die AGU 50 Jahre zuvor abgeliefert hat.

Damit schließt sich der Kreis gleich doppelt. Einerseits hat das typische Design des Grundnetzes seinen Platz im Stadtbild gefunden und kann ihn bis heute verteidigen; 70 Jahre nach Otto Wagner entstand abermals ein hochmodernes Verkehrsbauwerk, das mit seinen Begleitmaßnahmen die Stadt nachhaltig veränderte und als Gesamtkunstwerk gesehen werden kann. Andererseits teilen vor allem die frühen Bauwerke der U1 das Schicksal der Stadtbahnstationen: Sie werden als zu alltäglich wahrgenommen und schlecht gepflegt. Schon vor etlichen Jahren haben die Wiener Linien viele Deckenverkleidungen entfernt, ohne sich Gedanken über die Optik zu machen, oder nach kleinen Umbauten Wandpaneele weggelassen. Dass es im Lauf der Jahrzehnte zu Veränderungen kommt, ist selbstverständlich. Wünschenswert wäre aber, einen ganz kleinen Teil der Milliardenbeträge, die in die Neubaustrecken fließen, für den Altbestand aufzuwenden: Er hätte es verdient, nicht wie Otto Wagner erst nach Jahrzehnten wiederentdeckt zu werden

Spectrum, Do., 2022.03.03

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