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03. August 2025Wolfgang Freitag
Spectrum

Wie renoviert man einen Loos? Wenn die Moderne in die Werkstatt muss

Der Architekt Heinrich Kulka (1900–1971), die Werkbundsiedlung, ein Haus am Küniglberg – und was allesamt mit einem Oldtimer verbindet. Oder: Wie viel kostet architektonisches Geschichtsbewusstsein? Und wie viel darf es kosten?

Der Architekt Heinrich Kulka (1900–1971), die Werkbundsiedlung, ein Haus am Küniglberg – und was allesamt mit einem Oldtimer verbindet. Oder: Wie viel kostet architektonisches Geschichtsbewusstsein? Und wie viel darf es kosten?

Enthusiasmus hört sich anders an. Er könne „nicht viel Positives“ mitteilen, antwortet einer, den ich um seine Einschätzung einer historischen Immobilie gebeten habe. Seine Einschätzung, das ist die eines Nutzers, und die klingt auch im Weiteren nicht euphorisch. Das Objekt sei „weder architektonisch noch bautechnisch“ einzigartig. Und: „Darüber hinaus ist die Qualität der Objektherstellung in vielen Punkten mangelhaft.“

Nun, immerhin steht, was hier mehr oder minder unverhohlen als Bruchbude von entbehrlicher Bedeutung beschrieben wird, seit 2010 unter Denkmalschutz, Intimkennern hiesiger Architekturgeschichte als „Haus Weiszmann“ geläufig. Dieser Tage genießt es besondere Aufmerksamkeit: Das Ausstellungszentrum im Ringturm hat seinem Schöpfer, Heinrich Kulka (1900–1971), eine Personale ausgerichtet. Aus gutem Grund: Nicht nur dass Kulka, geboren unweit Olmütz, ausgebildet in Wien, seinem Mentor und Arbeitgeber Adolf Loos als Büroleiter wichtiger Partner in dessen von Krankheit und langen Absenzen gezeichneten letzten Lebensjahren war, kann er, aus der Folgezeit datierend, auf ein reiches Œuvre erst im heutigen Tschechien, später, von den Nationalsozialisten in die Flucht geschlagen, im neuseeländischen Dauerexil verweisen.

Und eben, in Wien, auf oberwähntes Haus Weiszmann, Anfang der 1930er auf dem Küniglberg ins Werk gesetzt: einen Quader von bescheidener Dimension, dessen innere Gestaltung idealtypisch dem von Loos entwickelten und von Kulka so benannten Konzept des „Raumplans“ folgt. Will sagen: Stockwerke sind nicht schichtartig übereinandergelegt, vielmehr erhält jeder Raum die für seine Benutzung jeweils nötige Höhe und Dimension.

Schüler übertrifft Lehrer

Während etwa für Friedrich Achleitner Haus Weiszmann das Beispiel eines Gebäudes ist, „bei dem der Schüler in seiner Entwicklungslinie über seinen Lehrer hinausgeht und dessen Prinzipien vollendet“, scheint es für obgenannten Nutzer primär kraft Denkmalschutz auf alle Zeit verbrieftes Ärgernis: Als Bauingenieur könne er „verschiedene Schutzmaßnahmen und -vorgaben nicht nachvollziehen – weder künstlerisch, noch bautechnisch, noch weniger bauphysikalisch“. Überdies sei für „einkommensdurchschnittliche Objektbesitzer“ dadurch die Erhaltung einer solchen Immobilie „wirtschaftlich kaum machbar“.

Martin Praschl sieht die Sache pragmatisch: „So ein Haus ist wie ein Oldtimer. Für den, der, sagen wir, einen Jaguar E schätzen kann, ist der das schönste Auto der Welt. Aber wenn ich lieber einen Audi mit Klimaanlage, Navigationssystem und ABS haben will, dann ist der Jaguar E, der vermutlich jedes Monat in die Werkstatt muss, nicht das Richtige.“ In den vergangenen 15 Jahren hat Praschl reichlich Jaguar-E-Erfahrung gesammelt: Gemeinsam mit seiner Frau, Azita Praschl-Godarzi, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihrer beider Büro, P.Good Architekten, betreut er seit 2011 die Sanierungsarbeiten in jenen Teilen der Werkbundsiedlung, die im Eigentum der Stadt Wien stehen, also in einem Bestand, der, zur selben Zeit wie Kulkas Haus Weiszmann errichtet, nämlich strengen Denkmalschutzvorgaben unterworfen ist. Und allein die Tatsache, dass diese Sanierung bereits die zweite ist, die den vormaligen Musterhäusern im äußeren Hietzing zuteil wird, erzählt einiges über den Aufmerksamkeitsbedarf, den Kubaturen solcher Art verlangen. Besondere Herausforderung dabei: Da ja keine Musealisierung, vielmehr die weitere Nutzung als Wohnraum angestrebt ist, gilt es, denkmalpflegerische Umsicht mit aktuellen Wohnansprüchen in Einklang zu bringen.

Anschauungsmaterial dazu liefern auch in der Werkbundsiedlung Objekte, die aufs Engste mit dem Namen Heinrich Kulka verbunden sind: jene beiden Doppelhäuser, die unter Kulkas Ägide in Adolf Loos’ Büro geplant wurden. Eine der Kulka/Loos’schen Doppelhaushälften, Woinovichgasse 15, konnte vor wenigen Jahren, ausnahmshalber zu jener Zeit leerstehend, von Grund auf saniert werden, ohne Rücksicht auf etwaige Bewohner nehmen zu müssen. Ursprünglich über Einzelöfen beheizt, darf sich das Gebäude seither unter anderem einer zeitgemäßen Gasbrennwert-Anlage erfreuen, die im Gegenzug freiwerdenden Kamine wurden für den Einbau einer Wohnraumlüftung mit Wärmetauscher genützt.

Verbesserte Dämmwerte

In Sachen dämmtechnischer Aktualisierung dagegen musste man sich auf Maßnahmen im Dachbereich und an den Kellerwänden beschränken. Auf eine Wärmedämmung der Fassade habe man – wie überall in der Werkbundsiedlung – aus Denkmalschutzgründen verzichtet, berichtet Martin Praschl: „Das haben Adolf Krischanitz und Otto Kapfinger dankenswerterweise schon anlässlich der ersten Sanierung in den 1980ern so gehalten.“ Immerhin habe man auch so die Dämmwerte verbessern können: „Und die eines Neubaus wären sowieso im Altbestand nicht zu erreichen.“

Zu den technischen Maßnahmen gehört auch die Adaptierung des Geländers, das die Galerie des Wohnraums sichert: Das habe man mit einer diskreten Glasscheibe absturzsicher umgestaltet. In vielen anderen Fällen sei es wiederum gelungen, die Originalsubstanz nicht nur zu erhalten, vielmehr sie angemessen instand zu setzen. Namentlich die Restaurierung des originalen Bodenbelags aus Linoleum ist da zu nennen. Wobei es in diesem wie in anderen Fällen – so Martin Praschl – nicht darum gegangen sei, den Eindruck eines imaginären Neuzustands zu erwecken: „Das Linoleum ist halt wieder sauber und ordentlich, Risse und Fehlstellen sind ausgebessert; zugleich aber sieht man die Abdrücke, wo einmal der Tisch gestanden ist oder der Kasten. In diesem Boden ist das Leben der vergangenen 90 Jahre drin: für sich fast ein Kunstwerk.“ Detto im Sanierungsrepertoire: dass etwa bei Verputzarbeiten oder Anstrichen auf Handwerkstechniken aus der Entstehungszeit zurückgegriffen wird.

Freilich: Derlei Akribie hat ihren Preis. Auf knapp eine halbe Million Euro haben sich die Baukosten der Sanierung allein im Haus Woinovichgasse 15 belaufen. Keine Kleinigkeit. Und für „einkommensdurchschnittliche Objektbesitzer“, siehe oben, gewiss nicht leicht zu tragen. Was man davon hat? Zum einen seien solche Gebäude, so Martin Praschl, „nach wie vor gut zu bewohnen“. Nicht zu vergessen ihr Wert als Schaustück belebter Architekturgeschichte. Leisten muss man’s sich halt können.

[ Die Ausstellung zu Heinrich Kulka ist bis 7. November im Wiener Ringturm zu sehen, die dazu passende Monografie, herausgegeben von Adolph Stiller, bei Müry Salzmann, Salzburg, erschienen. ]

Spectrum, So., 2025.08.03

24. Mai 2025Wolfgang Freitag
Spectrum

Was tun mit leerstehenden Industriebauten im Waldviertel?

Die Textilfabrik Hirschbach auf der Suche nach einer Neubestimmung: wie ein Wiener Architektenduo einem Stück Waldviertler Industrieerbe neuen Sinn geben will. Und was eine an die Wand gepinselte Mona Lisa damit zu tun hat.

Die Textilfabrik Hirschbach auf der Suche nach einer Neubestimmung: wie ein Wiener Architektenduo einem Stück Waldviertler Industrieerbe neuen Sinn geben will. Und was eine an die Wand gepinselte Mona Lisa damit zu tun hat.

Wie gestrandete Wale liegen sie in hiesigen Landschaften, ausgespuckt vom Meer der Zeit: jene massigen Kubaturen, die einst den kapitalistischsten Sehnsüchten der Industrialisierung Heimstatt boten und mittlerweile kaum mehr als – womöglich denkmalgeschützter – Ballast einer Gegenwart sind, die mit ihnen nichts anzufangen weiß.

Während der Bröckelcharme von „Lost Places“ solcher Art ganze Fotobände füllt, stellt die Wirklichkeit unserer Tage, unsentimental, wie sie ist, fortwährend drängender die Frage, wie lang wir es uns angesichts anderweitig so heftig kritisierten Bodenverbrauchs leisten können, via Leerstand historischer Gewerbe- und Industriekomplexe Nutzflächen sonder Zahl, teils in bester Lage, ungenutzt zu sehen. Und ob denn einschlägige Zeugnisse der Vergangenheit auch dann so dringlich zu erhalten seien, wenn sich selbst nach etlichen Jahrzehnten keinerlei Aussicht auf Neu- oder Umnutzung einstellen will.

Die Großmutter hat hier noch gearbeitet

Prominente Beispiele wie die Hammerbrotwerke in Schwechat, unweit der Wiener Stadtgrenze, oder die Neusiedler Papierfabrik, ihrerseits nächst Schwechat gelegen, mögen architektur- wie sozialhistorisch noch so bedeutsam sein: Was nicht verwendet wird, ist langfristig nicht zu retten, denn erst verfällt es, und irgendwann holt sich die Natur zurück, was ihr vordem genommen wurde, alles nur eine Frage der Zeit. Dass ein Nebengebäude der Neusiedler Papierfabrik, zwei Jahre ist es her, als Varieté-Lokal Wiederauferstehung feiern durfte, ist ein kleiner Anfang, der im konkreten Fall Hoffnung gibt – aber nicht mehr als das.

In sehr viel peripherere Industriegefilde hat sich ein in Wien situiertes Architektenduo vorgewagt. David Calas und Barbara Calas-Reiberger haben das textile Erbe des nördlichen Waldviertels erkundet und was von dessen baulicher Verlassenschaft wie für die Zukunft zu gewinnen wäre: von Großkomplexen wie der Backhausenkolonie bei Gmünd bis zu Kleinstobjekten wie den sogenannten Haarstuben, in denen einst aus widerborstigen Flachsstängeln jene Fasern gewonnen wurden, die wir als Leinen kennen. Erstes Ergebnis ihrer Auseinandersetzung: die Ausstellung „Wertvolles Erbe, aktive Zukunft“, die derzeit in Krems gezeigt wird.

Konkreter Anlass dieser Beschäftigung: der Erwerb eines Objekts, das zu jenem textilen Erbe zählt – der Textilfabrik Hirschbach. Kein Zufall, vielmehr quasi persönliche Notwendigkeit: Ihre Großmutter habe noch selbst hier gearbeitet, erzählt Barbara Calas-Reiberger gleich zu Beginn unserer Begegnung, da stehen wir noch in jenem der beiden Eingänge zur Textilfabrik, den Generationen von Arbeiterinnen und Arbeitern passierten – auf dem Weg zu dem geräumigem Saal, in dem erst die Webstühle einer Genossenschaft, ab der Zwischenkriegszeit die Strickmaschinen eines Wiener Fabrikanten Platz fanden.

Im Ortsverband integriert

Das Thema Leerstand habe sie schon früher beschäftigt, so Calas-Reiberger; das ihr seit Kindheitstagen vertraute Gebäude sei dann willkommener Gegenstand gewesen, „die Sache einmal selbst in die Hand zu nehmen“. Will sagen: entwickelte Konzeptideen im Selbstversuch auf Tauglichkeit zu prüfen.

Immerhin kann das Objekt im Vergleich zu ähnlichen Fällen auf einige Vorzüge verweisen. Zum einen ist es in den Ortsverband integriert, zum anderen öffentlich gut erreichbar, keine zehn Gehminuten von der nächsten Haltestelle der Franz-Josefs-Bahn entfernt, und überdies von handhabbarer Größe. 800 Quadratmeter überdachter Raum samt weiteren 1400 Quadratmetern, verteilt auf zwei Innenhöfe: Das sind Dimensionen, die nicht schon a priori noch so hochmögende Pläne unter der Masse der aufzuwendenden Mittel erdrücken.

Dazu kommt, dass sich die vorhandene Substanz, im Kern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammend, als erstaunlich widerstandsfähig gegen die Anfechtungen der Zeit erwiesen hat. Gewiss, Spuren jahrzehntelanger Vernachlässigung seien nicht zu übersehen, und ja, es gebe einen beträchtlichen Aufbesserungsbedarf, weiß Calas-Reiberger und verweist auf Risse in der Wand, auf Gebäudeteile, die vom Wegbrechen bedroht waren. Andererseits, für mehr als ein halbes Jahrhundert weitgehenden Leerstands scheint das weniger schlimm, als man erwarten könnte.

Dass es sich dennoch bei der Sanierung der Textilfabrik Hirschbach um ein „Millionenprojekt“ handelt, darum weiß Calas-Reiberger genauso wie darum, dass vor jeder Sanierung eine Antwort auf die Frage aller Leerstandsaktivierungsfragen zu suchen ist: Welchem langfristig tragfähigen Zweck kann die Sanierung dienen?

Die dabei stets parate Idee einer Musealisierung stand für Calas-Reiberger nie zur Diskussion: „Man kann nicht aus jedem alten Gebäude ein Museum machen.“ Eine Umfrage unter der Ortsbevölkerung, nicht zuletzt angestellt, um das Vorhaben besser in die Gemeinde einzubinden, förderte rasch Wohnen als eine der zentral erwünschten Nutzungen zutage: sei es im Rahmen zeitlich begrenzter Vermietung oder etwa in Form betreuten Wohnens.

Ein Wunsch, dem Calas-Reiberger in sehr spezieller Weise Rechnung tragen will: „Wir versuchen derzeit, Baugruppen für die Textilfabrik zu interessieren“, also Bauwillige, die sich zur gemeinsamen Gestaltung ihres künftigen Wohnraums zusammenfinden. Ein Ziel, dem in den kommenden Wochen mehrere „Wohnevents“ gewidmet sind: mit der Möglichkeit, das Projekt und andere Interessenten an Ort und Stelle kennenzulernen.

Der ehemalige Maschinensaal allerdings soll in seiner Großzügigkeit erhalten bleiben: „Den haben wir schon jetzt für verschiedene Zwischennutzungen aufgepeppt, und der wird auch künftig kulturellen Aktivitäten zur Verfügung stehen.“ Und vielleicht finde sich ja auch noch Platz für eine kleine „Museumsnische“, in der sich diverse vorgefundene Artefakte vergangener Textilfabrikstage präsentieren lassen.

So manche Nutzungsidee gäbe es darüber hinaus – nur weniges davon wird, falls überhaupt, Wirklichkeit werden. Schließlich, wollte man all jene Träume finanzieren, die sich hier und anderwärts in Österreich an leer stehender Altsubstanz entzünden, dann müsste die glupschäugige Mona Lisa, die ein fantasievoller Nutzer an eine Wand der Textilfabrik gepinselt hat, von Leonardo stammen. Für Hirschbach immerhin besteht Hoffnung. Sehr viel mehr an Wunder wird nicht zu verlangen sein.

Spectrum, Sa., 2025.05.24

02. April 2025Wolfgang Freitag
Spectrum

Visitenkarte mit Meerblick: Die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group in Kopenhagen

Eine Innenerschließung als begehbare Raumskulptur, eine Feuertreppe als begrünter Erholungsraum. Von der Freiheit über den Architektenköpfen: die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group im Nordhafen von Kopenhagen.

Eine Innenerschließung als begehbare Raumskulptur, eine Feuertreppe als begrünter Erholungsraum. Von der Freiheit über den Architektenköpfen: die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group im Nordhafen von Kopenhagen.

„Stay“, rät das kleine Café Ecke Helsinkigade/Murmanskgade an seinen Fensterscheiben. Also warum nicht ein paar Minuten innehalten im Rundgang durch das Stadtquartier, das sich in den vergangenen Jahren im ehemaligen Nordhafen von Kopenhagen entwickelt hat? Hier lebe es sich recht gut, erzählt die Café-Betreiberin. Und was sie von dem architektonischen Neuzugang an der Spitze des Piers gegenüber halte? Der wirke aufs Erste ein wenig fremd, aber die Menschen, die dort arbeiten, erzählten nur das Beste.

Wenig später befinde ich mich selbst an besagtem Ort, und Frederik Lyng, Chefdesigner des Objekts, empfängt mich zu einem Rundgang: zu einem Rundgang durch die neue Kopenhagener Heimstatt der Bjarke Ingels Group. Die hat sich, 2006 vom dänischen Architekten Bjarke Ingels gegründet, erst in der engeren Heimat, mittlerweile mit Dependancen rund um den Globus durch teils spektakuläre Projekte einen Namen gemacht. Und allein was sich davon in Kopenhagen und Umgebung findet, lohnt einen Blick in jenes Land, in dem der hohe Norden Europas am flachsten ist.

Da wäre etwa das Schifffahrtsmuseum in Helsingør, rund um ein ausrangiertes Trockendock in den Boden gegraben; oder das „8 Haus“ im Kopenhagener Vorort Ørestad, unterschiedlichste Wohn-, Büro- und Einzelhandelsflächen bis zu zehngeschoßig übereinandergestapelt und auf einer außen liegenden Rampe bis zu den höchsten Höhen zu begehen; nicht zu vergessen „CopenHill“, die Kopenhagener Müllverbrennungsanlage mit ihrer auf dem Dach platzierten Ganzjahresskipiste samt Lift und Skihüttenzauber unter dem Schlot.

Fun follows function

Nein, es sind nicht die leisen Architekturtöne, für die Bjarke Ingels und sein Team stehen. Aber es ist auch nicht der pure formale Übermut, der aus ihren Arbeiten spricht. Die Anordnung des Schifffahrtsmuseums rund um das Trockendock a. D. macht das Trockendock selbst zum eindrucksvollsten Schaustück des Museums. Die begehbare Rampe verschafft dem „8 Haus“ und seinen Nutzern Verbindungswege, wo sonst keine sind, Fernsicht inklusive. Und die Skimatten auf dem Dach von „CopenHill“ verwandeln einen Unort in eine Freizeitattraktion – nicht zuletzt für die Mitarbeiter der Müllverbrennungsanlage. Kurz: Mag manches noch so spielerisch scheinen, es ist nie ohne Zweck. Fun follows function, sozusagen.

Erdacht wurde so viel Neues allerdings bis vor Kurzem durchweg in alten Mauern. „Wir haben bisher ausschließlich in adaptierter Altsubstanz gearbeitet“, erzählt Frederik Lyng. Freilich, eine beständig steigende Mitarbeiterzahl, derzeit 300 und mehr je nach Auftragslage, war in umgenutzten Kubaturen schließlich nicht mehr unterzubringen.

„Bürogebäude sehen oft aus wie Doughnuts“

Die entsprechende Liegenschaft für einen Neubau war bald gefunden: an der Spitze eines Piers im Nordhafen, ehedem Heimstatt eines Zelluloidfilmlagers, nach dessen Abriss zum Parkplatz degradiert. Doch wie die bisher gehabte Durchlässigkeit der Arbeit auf einer Ebene, die Selbstverständlichkeit interner Kommunikationsabläufe in einen Mehrgeschoßer transferieren?

„Bürogebäude nehmen oft die Gestalt eines Doughnuts an“, meint Frederik Lyng. Will sagen: außen, an den Fenstern, die Arbeitsplätze, innen Besprechungszimmer, Nebenräume und die Erschließung. Die Folge: Segregation allenthalben. Frederik Lyng: „Die Gestaltung hier war maßgeblich vom Bemühen geprägt, alle und alles miteinander zu verbinden, und das über alle Stockwerke hinweg.“

Ergebnis ist ein Gebäude, das sich gleich hinter dem Eingang über alle sieben Ebenen öffnet, von Kantine und Empfang im Erdgeschoß bis zu Dachterrasse und großem Gemeinschaftsraum im letzten Stock, eine Halle formend, in die die Zwischenebenen wie schwebend einmünden. Die nämlich reichen nur bis etwa zur Hälfte der Kubatur, sind zudem nicht gleich auf gleich übereinander angeordnet, sondern gegeneinander wechselnd verdreht.

Die Fensterflächen wiederum sind, zu langen Bändern zusammengeschoben, je Geschoß an jeweils anderen Seiten des Gebäudes angeordnet. Die Zentrale der Bjarke Ingels Group in Kopenhagen: ein lichtdurchflutetes Großraumbüro über sieben Geschoße voll wechselnder Ein-, Aus- und Durchblicke, erschlossen über eine offene Treppe in der Mitte, die impressiv quasi im Zickzack nach oben geführt ist. „Piranesisch“ nennt solches die Marketing-Prosa des Hauses, doch auch ohne architekturhistorische Beschwörungsformel fällt es schwer, sich der Wirkung dieses Raums und seiner Dynamik zu entziehen.

Einziges tragendes Element in der Gebäudemitte: eine Säule, gefügt aus sechs je geschoßhohen Einzelstücken unterschiedlichen Gesteins von dichtestgefügtem Granit zu ebener Erd’ bis zu Marmor an der Spitze. „Die haben wir aus den Steinbrüchen übernommen, wie sie waren“, erzählt Frederik Lyng. Abfallprodukte gewissermaßen wie auch die Holzplatten jener Wand, hinter der sich nordseitig Liftanlagen, Nassräume, kleine Besprechungszimmer für jede Etage verbergen: „Die stammen von einem Parketthersteller, Reststücke mit vielen Astansätzen, die für die Verlegung als Boden nicht geeignet waren.“

Witz und Charme am Hafenrand

Selbstredend ist auch der Stahl der Erschließungstreppe Recyclingmaterial, die Klimatisierung erfolgt über ein Zusammenspiel aus Geothermie und natürlicher Ventilation. Und dass man gemeinsam mit der Errichterfirma einen speziellen, CO₂-arm zu produzierenden Beton für den Bau entwickelt hat, versteht sich da schon fast von selbst.

Nicht ganz so selbstverständlich: die äußere Erscheinung des Objekts. Die vorgeschriebene Feuertreppe nämlich hat man zum Gestaltungselement der Fassade umgedeutet. In einer Abfolge aus Terrassen und Stiegen ist sie vom Dach weg spiralig rund um das Gebäude bis ins Erdgeschoß gewunden, versorgt zugleich jede Ebene mit einer eigenen begrünten Freifläche, gestaltet von den hauseigenen Landschaftsplanern. „Wir haben daraus einen Erholungsraum für die Mitarbeiter gemacht“, erklärt Lyng. Erholungsraum wie der kleine, dem Gebäude vorgelagerte Park, der auch der Allgemeinheit zur Verfügung steht.

Ob Ingenieurbau, Architektur, Produktdesign oder eben Landschaftsplanung: Sämtliche Abteilungen des Hauses sollten, so die Idee, in der neuen Heimstatt der Bjarke Ingels Group in eins zusammenfinden. Ergebnis: eine gebaute Visitenkarte, mit Witz, Charme und viel Kreativität an den Kopenhagener Hafenrand platziert. Visitenkarte mit Meerblick gewissermaßen. Was könnte schöner sein?

Spectrum, Mi., 2025.04.02

09. August 2024Wolfgang Freitag
Spectrum

Stadtgestaltung in Wien: So kleinlich darf man nicht planen

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt...

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt...

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt Vorstand des Instituts für Städtebau und Raumplanung an der TU Wien, als konzeptiver Zuarbeiter des Magistrats. Kürzlich kündigte er überraschend an, seine beruflichen Agenden stillzulegen. Anlass für ein Gespräch.

Die Presse: Man wird vielleicht nicht als Architekt geboren, aber wenn man’s einmal ist, bleibt man’s üblicherweise bis ins Grab. Warum dieser Rückzug?

Erich Raith: Ich gehöre wohl nicht zu jenen, die den letzten Atemzug unbedingt an der Kante des Zeichentisches machen wollen. Als junger Architekt, wenn man noch glaubt, über unerschöpflich viel Zeit und Kraft zu verfügen, stürzt man sich ja voll Sportsgeist in jeden Wettbewerb, kämpft auch lustvoll gegen Windmühlen und versucht, Kopf voran manche Wand zu durchbrechen. Später lernt man dann notgedrungen, sich genauer zu überlegen, in welche Projekte man Zeit, Aufmerksamkeit und Herzblut investiert. Und ja, ich glaube, ich hätte schon noch einiges einzubringen an Wissen und Erfahrung.

Sind Sie frustriert über aktuelle Entwicklungen der Stadt?

Es wäre naiv anzunehmen, dass sich Expertenmeinungen immer hundertprozentig durchsetzen müssen. Da können ja mittlerweile auch Virologen und Immunologen ein Lied davon singen. Auch die Stadtentwicklung gehört zu jenen Themenfeldern, die zu wichtig sind, um sie allein Expertinnen zu überlassen. Außerdem ist Wien gerade wieder zur lebenswertesten Stadt weltweit gekürt worden. Das ist sicher nicht allein das Verdienst der Stadtplanung – ganz unschuldig wird sie daran aber auch nicht sein. Ich denke, dass es nicht zuletzt der Praxis der sanften Stadterneuerung zu verdanken ist, dass Wien eine im internationalen Vergleich herausragende urbane Qualität entwickeln konnte.

Über die Meriten der Stadterneuerung hört man aber nicht sehr viel.

Die gesetzlichen Grundlagen für den speziellen Wiener Weg der Stadterneuerung, für den Wien immerhin im Jahr 2010 von der UNO-Weltorganisation für Siedlungswesen und Wohnbau mit dem weltweit wichtigsten Preis in diesem Bereich ausgezeichnet wurde, stammen aus dem Jahr 1974. Die Stadterneuerung feiert also heuer das 50-Jahr-Jubiläum. Zum 30-Jahr-Jubiläum gab es 2004 noch große Veranstaltungen, bei denen sich auch die politische Prominenz entsprechend feiern ließ. Heuer zeichnet sich nichts dergleichen ab. Das ist erstaunlich und irgendwie beschämend. Die Stadt ist sich offenbar ihrer eigenen Verdienste nicht mehr bewusst. Ich bedaure auch, dass die – mittlerweile betagten – Persönlichkeiten, die diese großartige Entwicklung auf Schiene gebracht und ständig weiterentwickelt haben, nicht angemessen vor den Vorhang geholt werden.

Nehmen wir Ihre Studie über das Wiental, erstellt 2021 im Auftrag des Magistrats: Da haben Sie ziemlich genau das Gegenteil von dem empfohlen, was jetzt mit der Naschmarkthalle passiert.

Das Wiental ist die wichtigste Frischluftschneise Wiens, vom Westen her bis ins Stadtzentrum. Für die gesamte Kernstadt wäre es immens wichtig, diesen Großraum insgesamt als Kaltluftbahn zu optimieren. Im gegenwärtigen Zustand aber ist das Wiental der effizienteste Luft-Durchlauferhitzer, den man sich vorstellen kann. Wenn der frische Wind aus dem Wienerwald beim Naschmarkt angelangt ist, ist er bereits zu einem heißen Wüstenwind geworden. Hier mit einigen Baumsetzungen und Wasserspielen zu reagieren mag zwar zu kleinräumig spürbaren Verbesserungen beitragen, für die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt sind diese Maßnahmen zu zentrumsnah und sowieso unzureichend. Im Hinblick auf die bedrohliche Entwicklung des Stadtklimas wird leider viel zu kleinlich gedacht. Dass man dann bei einem Projekt, das zwar aus einem Wettbewerbsverfahren siegreich hervorgegangen, aber dennoch stadtstrukturell problematisch ist – auch, weil es zu einer Barriere für die Luftströme werden kann –, ein paar Quadratmeter Dachbegrünung anbietet, steht geradezu symbolisch für diese konzeptionelle Kleinlichkeit.

Was müsste stattdessen geschehen?

Man müsste die spektakuläre Transformationsgeschichte des Wientals mutig und offensiv fortschreiben. So wie zu Otto Wagners Zeiten eine vorindustriell überformte, aber immer noch grüne Tallandschaft radikal in eine zeittypische steinerne Infrastrukturtrasse verwandelt wurde – mit einem stadtbaukünstlerischen Zugriff, der bis heute beeindruckt, und den man sich in dieser Großzügigkeit längst nicht mehr zutraut –, so sollte das Wiental jetzt ebenso grundlegend in eine zukunftsweisende Stadtlandschaft des 21. Jahrhunderts umgebaut werden.

Gibt es schon Studien dazu? Weiß man, was in diesem Sinn zum Beispiel ein Aufstauen des Wienflusses bewirken könnte? Gibt es Überlegungen zur Nutzung der enormen Kaltluftreserven im Wienflussgewölbe, zu einer konsequenteren Überplattung und Begrünung der U-Bahntrasse? Kennt man die Flächenpotenziale für eine klimaeffiziente Stadtbegrünung, die wirklich stadtstrukturelle Dimensionen erreicht? Gibt es ein visionäres Gesamtbild, das mehr ist als ein kleinteiliges Flickwerk?

Was passiert stattdessen: Man versiegelt im Vorfeld von Schönbrunn einen Großparkplatz, der bereits vorliegenden Wettbewerbsergebnissen diametral widerspricht und auch mit Blick auf das Welterbe Schönbrunn falsch ist. Statt einer ernst zu nehmenden Strategie in Sachen Stadtklima gibt es diesen Tortenstreusel aus kleinen Grün- und Wasserelementen, den man undifferenziert und flächig über die Stadt verteilt. Da kriegt dann halt auch der Michaelerplatz ein paar blaue und grüne Flankerln ab, die hier leider völlig deplatziert sind, woanders aber schwächelnde Grünstrukturen sinnvoll stärken könnten. In Wahrheit müsste man sich überlegen: Wie gesundheitsfördernd, nahrhaft und wohlschmeckend kann denn zukünftig die Torte unter dem Streusel sein?

Und wieso geschieht das nicht?

Die Stadt Wien hat das Klimathema bis vor wenigen Jahren kaum wahrgenommen. Vor etwa zehn Jahren gab es zum Beispiel den Wettbewerb zum Areal Wiener Eislaufverein/Hotel Intercontinental. In der Wettbewerbsauslobung hat das Klimathema noch keine Rolle gespielt. Entsprechend ist auch das Wettbewerbsergebnis. Wenn man mitbekommt, wie unglaublich verkrampft da bis heute mit dem Unesco-Weltkulturerbe über die Höhenentwicklung gestritten und dabei das Projekt immer fragwürdiger wird, dann tut das fast schon körperlich weh. Erstaunlicherweise wird aber nicht darüber diskutiert, dass die Fläche des Eislaufplatzes die großräumig etablierte Bebauungskante an der Außenseite des Glacis unzulässig überspringt und als Hitzeinsel stadtklimatisch kaum beherrschbar sein wird. Für mich wären diese Themen mindestens so relevant wie der Canaletto-Blick.

Dann gab es Jahre später plötzlich wissenschaftlich fundierte Klimaprognosen für Wien, die zu Recht einen Schock ausgelöst haben. Wien steht nämlich diesbezüglich schlechter da als die meisten anderen europäischen Städte.

Der Stadtplanung ist das Problem natürlich bewusst, ich sehe nur nicht die angemessenen konzeptionellen Konsequenzen. Auf der Planungsebene schlägt sich das im Moment vor allem in Gestalt des grünblauen Tortenstreusels nieder: ein paar Wasserspiele da, ein paar Kräuterbeete dort, ein paar begrünte Fassaden und Dächer. Und man kann nur hoffen, dass das wunderbare Wiener Hochquellwasser ausreichen wird, um das alles zu bewässern. In Zukunft wird ja wahrscheinlich jeder Stadtbaum wie ein Patient in der Intensivstation an versorgenden Schläuchen hängen und permanent überwacht werden müssen.

Tatsächlich müssten wir die enormen Herausforderungen, die auf die Stadt zukommen, auf einer viel grundsätzlicheren Ebene angehen. Es geht um eine andere Energieversorgung und in letzter Konsequenz darum, dass wir unsere alltäglichen Lebensprozesse anders im Raum organisieren müssen – Stichwort: 15-Minuten-Stadt. Die gute Nachricht ist: Die gründerzeitlichen Teile der Stadt werden sich da wahrscheinlich wieder ganz gut bewähren, wahrscheinlich besser als die gering verdichteten, monofunktionell spezialisierten und in der Gebäudestruktur zu kleinteiligen und zu starren Wohnbauten des vergangenen Jahrhunderts.

Alt schlägt Neu: wieso?

Zum Beispiel, weil ältere Stadthäuser in der Regel erlauben, dass im selben Haus gleichzeitig auf unterschiedliche Weise gewohnt und auf ebenso unterschiedliche Weise gearbeitet werden kann und im Erdgeschoß vielleicht noch ein Wirtshaus sein kann oder ein Geschäft. Besonders wichtig ist dabei, dass die Gebäudestrukturen Umnutzungen, Veränderungen und ständige Anpassungen an sich verändernde Lebensbedingungen ausreichend zulassen. Diese „strukturelle Offenheit“ ist ein wesentlicher Schlüssel für das Entstehen und die ständige Auffrischung vitaler Urbanität.

Wenn ich mir aber die funktionell spezialisierten Wohnbauten anschaue, wie sie noch heute meistens errichtet werden, mit einem Wohngeschoß auf Nullebene oder einem gerade etwas über zwei Meter hohen Erdgeschoß, das gerade für die Garageneinfahrt und den Müllraum reicht, dann leistet das einfach zu wenig für den öffentlichen Raum und für ein lokales Stadtleben. Darüber gibt es dann immer gleiche Regelgeschoße, wo immer an der gleichen Stelle im Grundriss das Doppelbett mit den zwei Nachtkästchen stehen muss, weil es räumlich gar nicht anders geht. Das hat doch mit unserer aktuellen – und erst recht mit einer zukünftigen – gesellschaftlichen Realität und der explodierenden Vielfalt an Lebensentwürfen nichts mehr zu tun.

Und wenn man dann Wettbewerbe für große Stadterweiterungsgebiete durchführt, wo die Auslobung den Planerinnen abverlangt, dass 90 Prozent der Bebauung als reiner Wohnbau dieser Art vorzusehen ist, dann ist das höchst problematisch und rückwärtsgewandt, dann erklärt sich das vielleicht aus der Trägheit des mächtigen Systems Wohnbau in Wien und vielleicht auch daraus, dass sich die Stadtplanung auf eine pragmatische Haltung zurückzieht und vielleicht eigene Ansprüche unterordnet. Nachhaltige Raumentwicklung stelle ich mir jedenfalls anders vor.

Woran fehlt es?

Wir stehen vor der Herausforderung, diese Stadt wieder einmal gründlich umrüsten zu müssen, um nächsten Generationen einen zukunfts- und entwicklungsfähigen Lebensraum mit historischer Tiefe, aber auch mit ausreichenden Innovationspotenzialen hinterlassen zu können. Diesem Umbauerfordernis steht viel an Trägheit, an Beharrungskräften entgegen. Wobei ich glaube, dass man gerade in Wien durch die Erfolgsgeschichte der Stadterneuerung einen gewaltigen Wissens- und Erfahrungsschatz hätte, auf den man zugreifen sollte. Nur: Das interessiert offenbar niemanden – schon gar nicht beim Neubauen am Stadtrand.

Dieser einfache Gedanke, dass das, was man heute neu baut, für die nächste Generation ein Erneuerungs- und Anpassungsproblem darstellen wird, dieser Gedanke wird nicht gedacht und schon gar nicht konzeptionell und konstruktiv umgesetzt.

Wir können heute unmöglich prognostizieren, welche räumlichen Ansprüche man in 30 Jahren im Hinblick auf das Wohnen oder das Arbeiten haben wird, und ob es diese Begriffe angesichts solcher Megatrends wie der Digitalisierung überhaupt noch geben wird. Wir wollen aber, dass die Stadtquartiere und Gebäude, die wir heute errichten, eine lange Lebensdauer haben und langfristig gut brauchbar und attraktiv sein werden. Wieso bauen wir aber dann immer noch mehrheitlich Wohnungstypen wie für eine alte Industriegesellschaft, für die das Wohnen und das Arbeiten zeitlich und räumlich ganz streng getrennt waren? Wegen der meistens gewählten konstruktiven Struktur der Gebäude werden diese starren Raumangebote auch kaum nachkorrigiert werden können. Das ist eine urbanistische Erbsünde.

Dabei hätte gerade Wien alle Voraussetzungen, wieder so einen Innovationssprung zu machen, wie es der Wohnbau des Roten Wien in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war, nur diesmal müsste es darum gehen, den monofunktionalen Wohnbau zu überwinden. Das „System Wohnbau“ hat zwar in den vergangenen 100 Jahren viele, auch große und qualitätsvolle Wohnsiedlungen hervorgebracht, aber nie eine wirklich urbane Stadt. Es ist mittlerweile eine historische Erfahrung, dass das mit dieser Art von Wohnbau auch nicht geht. Urbanität ist aber die Schlüsselqualität und die unverzichtbare Voraussetzung, wenn man in Zukunft mit den vorhandenen Ressourcen an Fläche, Raum, Energie und Material auskommen will.

Wir werden sehen, was zu diesen Themenbereichen im nächsten Wiener Stadtentwicklungsplan stehen wird, der ja spätestens im kommenden Jahr beschlossen werden soll. Ich habe bislang nicht mitbekommen, wie da der Stand der Dinge ist. Im Unterschied zu früher wird jetzt offenbar lieber hinter verschlossenen Türen über die Zukunft der Stadt diskutiert.

Spectrum, Fr., 2024.08.09

08. März 2024Wolfgang Freitag
Spectrum

Prater ohne Wursteln: Das neue Pratermuseum eröffnet am 15. März

Zwei Wunder – und ein Architekt, der sich von allen Vorgaben frei macht. Michael Wallraffs neues Pratermuseum oder: Wie man ästhetisch abheben und doch auf dem Boden bleiben kann.

Zwei Wunder – und ein Architekt, der sich von allen Vorgaben frei macht. Michael Wallraffs neues Pratermuseum oder: Wie man ästhetisch abheben und doch auf dem Boden bleiben kann.

Kaiser Franz Joseph begegnet Alexander Van der Bellen. Ludwig van Beethoven stapft zwischen Gustav Klimt, Egon Schiele und Franz Schubert grummelig durchs Gras. Und über allem Batman in den Wiener Lüften. Das neue Pratermuseum macht möglich, was sonst nicht möglich ist – nicht nur auf dem Zeiten und Grenzen überschreitenden Praterwimmelbild, das die Seitenwand im Erdgeschoß füllt, sondern auch mit einer Architektur, die eine andere Sprache spricht als alles, was sie umgibt, und dennoch genau hierher und nirgends sonst hingehört.

Dass derlei geschehen kann, ist zunächst einmal der Sammelbegeisterung eines Wiener Heimatforschers zu verdanken: Über Jahrzehnte häufte Hans Pemmer (1886 bis 1972), von Beruf Lehrer, einen Bestand an Pratermemorabilien an, die bis in die Zeit der Öffnung des kaiserlichen Jagdreviers für die Öffentlichkeit, 1766, zurückreicht.

So war es auch Pemmers Wohnung, in der ein erstes Pratermuseum Heimstatt fand, ehe seine Sammlung 1964 in einen Nebenraum des eben erst errichteten Planetariums übersiedelte – unter der Ägide des damals noch als Historisches Museum der Stadt Wien geläufigen Wien Museums.

„Zugang von zwei Seiten, das Museum obendrauf“

Die Jahrzehnte zogen ins Land, und die Präsentation der Sammlung im Planetarium vermochte den Besucherbedürfnissen wie jenen der Konservatoren immer weniger zu genügen. Und siehe, da geschah das erste Praterwunder: Eine Spielhalle, zwischen Riesenradplatz und Straße des Ersten Mai gelegen, wurde vom Betreiber aufgegeben.

„Ursprünglich hatten wir die Aufgabe zu prüfen, ob man diese Halle so verwenden kann, wie sie ist“, erzählt Architekt Michael Wallraff. „Und da hat sich rasch herausgestellt, dass die in keiner Weise entspricht.“

Nächster Versuch: ein gleich großer Ersatzbau, „aber halt klimagerecht“, so Wallraff. „Da ist dann die Diskussion entstanden: Wenn es eine eingeschoßige Halle ist, wo geht man hinein, an der Straße des Ersten Mai oder auf der anderen Seite? Irgendwann hab ich gesagt: Zugang von beiden Seiten und das Museum obendrauf. Und so ist das Projekt in die Höhe gewachsen.“

Kreatives Chaos?

Man habe sich letztlich von der ursprünglichen Fragestellung gelöst und grundsätzlicher überlegt: „Was gehört da wirklich her? Und wie kann man das nachhaltig, aber auch städtebaulich und typologisch richtig machen?“ Eine vorgabenbefreite Vorgangsweise, wie sie sich manche beim neuen Wien Museum gewünscht hätten. Umso erstaunlicher, dass sich derlei ausgerechnet im Wurstelprater ereignet, einem Terrain, das nicht unbedingt als Hotspot der Baukunst gilt.

Was Wohlgesonnene als kreatives Chaos beschreiben, das individuelle Gestaltungslust der mehr als 80 Praterunternehmer zum Ausdruck bringe, nehmen weniger Wohlgesonnene als Geisterbahn grotesker Beliebigkeiten wahr, in der an die Stelle der subversiven komödiantischen Verve eines Hanswurst allseitiges Durchwursteln getreten ist.

Auch ein obrigkeitlicher Versuch, 2008 mit einer Neugestaltung des Zugangsbereichs ein wenig Haltung ins Unterhaltungs-Tohuwabohu zu bringen, hat nicht mehr als Abgeschmacktes in die Entertainmentwelt gesetzt, diesfalls allerdings um so viel Geld, dass es die dafür amtszuständige Vizebürgermeisterin sogar die politische Karriere gekostet haben soll. Jedenfalls zog sie sich kurz nach dem Desaster aus der Politik zurück.

Das Dach: Sprungschanze, Zelt oder Kasperlmütze?

So blieb das dem Riesenrad 2002 angelagerte Entree des Schweizers Mathis Barz bis dato der einzig ansehnliche Baubeitrag jüngeren Datums zu einem Gelände, dem an seinem Südosteck mit der monumentalen Betonröhre des „Panorama Vienna“ eben erst eine besonders groteske Ergänzung zuteil wurde.

Wie’s ganz anders gehen kann, zeigt jetzt das Pratermuseum vor. Schon das äußere Erscheinungsbild demonstriert gleichermaßen Witz wie Traditionsbewusstsein: Die Lattenfassade der Oberstöcke referiert auf den Bretterbudenzauber vergangener Tage, das Orange dahinter und darunter an unser aller Bedürfnis, nicht alles tierisch ernst zu nehmen.

Das Dach öffnet in seiner Form ein Feld vielfältiger Assoziationen. Und egal, ob man Sprungschanze, Zelt oder Kasperlmütze darin erahnen will, seiner Gestalt ist eine widerständige Heiterkeit eigen, die sich so markant wie liebenswürdig in Szene setzt.

„Einladung zum Spekulieren“

Gut möglich, dass sich derlei Bewusstsein für den dramatischen Gestus aus Michael Wallraffs Zweitprofession, der Bühnenbildnerei, erklären lässt. „Wir wollten eine kleine Landmark setzen“, bekennt er denn auch, und diese hat ausgerechnet in einer Vorgabe der für Stadtgestaltung zuständigen Magistratsabteilung ihren Ursprung. „Ich habe bei der MA 19 angefragt, was aus deren Sicht gar nicht geht“, erzählt Wallraff. „Dort hat man gesagt, der Blick aufs Riesenrad soll frei bleiben.

Damit war klar: Zur Straße des Ersten Mai hin kann man eigentlich recht hoch bauen, denn da verstellen wir das Riesenrad nicht, aber auf der anderen Seite, dem Riesenrad zu, muss es runtergehen. Und so ist diese Dachform entstanden.“ All das und noch etliches mehr, zum Projekt gefasst, hatte freilich nicht mehr allzu viel mit der Ausgangsidee – und den dafür budgetierten Errichtungskosten – gemein.

Und da geschah das zweite Praterwunder: Die Stadt Wien, konkret ihr Kulturressort, hatte Einsehen in Vernunft und Qualität des Vorgeschlagenen und tat, was dieser Tage nur selten geschieht – sie stimmte der Finanzierung dessen zu, was architektonisch überzeugend und kulturpolitisch (zur Aufwertung des Wurstelpraters) richtig war.

Praterattraktion der besonderen Art

So kommen ab 15. März Besucherinnen und Besucher in den Genuss einer Institution, die ihresgleichen nicht bald wo hat: nicht allein der rundum aufgefrischten und mittlerweile beträchtlich erweiterten Sammlung wegen, sondern auch mit sorgsam gestalteten Räumlichkeiten, die das Zeug zu einer Praterattraktion der besonderen Art haben.

Im frei zugänglichen Erdgeschoß mit dem schon erwähnten Riesenwimmelbild, das sein Schöpfer, der Grafiker Olaf Osten, als „Einladung zum Spekulieren“ verstanden wissen will; in den zwei Geschoßen darüber mit einer von Michael Wallraff verantworteten Ausstellungsarchitektur, die bei vergleichsweise noch immer bescheidenem Platzangebot eine Fülle sorgsam ausgewählter Objekte ins rechte Licht setzt, ohne das Publikum mit einer Überfülle zu erschlagen.

Und wer von so viel Vergangenheiten die Gegenwart nicht aus dem Blick verlieren will, dem bieten zwei Balkone die Möglichkeit, sich ein Bild davon zu machen. „Die Idee war, dass man von außen neugierig wird: Da stehen Leute oben – und wie komme ich da hin?“, erläutert Wallraff. „Und dass man am Ende der Ausstellung den Prater zum Ausstellungsobjekt macht.“ Ein Objekt, dessen erfreulichsten Neuzugang seit Jahrzehnten man leider genau von dort nicht sehen kann: das Pratermuseum.

Spectrum, Fr., 2024.03.08

19. Januar 2024Wolfgang Freitag
Spectrum

Otto Wagner und die Nussdorfer Schleuse: Fast wäre hier eine Diskothek entstanden

So original, wie es gegenwärtiges Wissen und Befunden zulassen – und womöglich haltbarer denn je: Otto Wagners Administrationsgebäude an der Nussdorfer Schleuse in Wien-Brigittenau, neu gefasst. Ein Besuch.

So original, wie es gegenwärtiges Wissen und Befunden zulassen – und womöglich haltbarer denn je: Otto Wagners Administrationsgebäude an der Nussdorfer Schleuse in Wien-Brigittenau, neu gefasst. Ein Besuch.

Oje, da ist ja der Herr Architekt, der wird gleich mein grünes Hemd weiß anstreichen . . .“ Der Magistratsmitarbeiter, der da den „Herrn Architekten“ im Vorbeigehen launig anspricht, ist nicht wirklich um sein Hemd besorgt. Jener „Herr Architekt“ nämlich, von Beruf Baumeister und Wolfgang Czernilofsky mit Namen, mag zwar mit mancher Umfärberei in Verbindung zu bringen sein, doch von Textilien konnte dabei bislang noch nie die Rede sein.

Wir befinden uns an der Adresse Am Brigittenauer Sporn 7, und wer hier, wo sich Donaukanal von Donau trennt, mit Wolfgang Czernilofsky durch die Räume geht, könnte leicht glauben, er habe es mit einem hochherrschaftlichen Palais oder mit einem kaiserlichen Schloss zu tun, so akribisch bedenkt Czernilofsky jedes Detail mit Aufmerksamkeit.

Nun, hochherrschaftlich ist das Gemäuer keineswegs und kaiserlich nur gewissermaßen, vielmehr schlichtes Administrationsgebäude, 1898/1899 errichtet für die Donau-Regulierungs-Commission. Und doch: Wem könnte der selbstsicher-souveräne Gestus entgehen, mit dem es sich über die Wasser erhebt?

Bronzelöwen als Wächter

Derlei ist kein Zufall, schließlich ist die Baulichkeit Teil einer Komposition, die ihrem Schöpfer, Otto Wagner, sehr viel mehr war als bloßes Zweckobjekt. „Die Bauten der Donaucanalsperre betreffend, war Wagners Gedanke der der Schaffung eines monumentalen Thores am Eingange des Canales“, wusste die Zeitschrift „Der Architekt“ im Jahr 1900 zu berichten. Entsprechend dominant präsentiert sich, was heute Nußdorfer Wehr- und Schleusenanlage heißt: Namentlich die beiden Bronzelöwen, die da, geschaffen von Rudolf Weyr, auf mächtigen Pylonen Wächterdienste tun, lassen keinen Zweifel darüber, dass hier mehr erfüllt sein sollte als eine bloß technische Funktion.

Dieses „Thor“ passiert heute kaum noch wer. Geblieben ist dagegen die periphere Lage am äußersten Nordzipfel der Brigittenau, die es der Nachfolgeorganisation der Donau-Regulierungs-Commission, der Donauhochwasserschutzkonkurrenz, nicht gerade leichter machte, nach ihrer Übersiedlung in zentralere Lage einen Nachnutzer für das Gebäude zu finden. „Da gab es sogar Pläne, das Haus zu entkernen und eine Diskothek draus zu machen“, weiß Wolfgang Czernilofsky.

Glücklicherweise kam es anders: Mit der Magistratsabteilung 45, zuständig für Wiens Gewässer, wurde ein passender Quartiernehmer gefunden, und im Zuge der für den Einzug nötigen Adaptierungsmaßnahmen entstand die Idee, dem Gebäude sein originales Aussehen zurückzugeben. Denn davon konnte seit Jahrzehnten keine Rede mehr sein.

An Eleganz gewonnen

Auch an diesem Objekt wie an so vielen anderen Otto Wagners hatte sich jenes ominöse Otto-Wagner-Grün breitgemacht, von dem man seit Jahren weiß, dass es erst lang nach Wagner an seine Gebäude – und an seine Stadtbahngeländer – kam. „Otto Wagner hat vorwiegend monochrom gebaut, und zwar monochrom weiß“, sagt Czernilofsky – und sagen die Befunde, die man in einschlägiger Sache längst angestellt hat.

Dass im Licht solcher Erkenntnisse Otto Wagners Werk nicht samt und sonders entgrünt wird, hat gute Gründe: nicht zuletzt den, dass Denkmalschützern auch das zwar nicht originale, jedoch längst gewohnte Bild als schützenswert gilt. So erinnert nur eine Handvoll Geländerlaufmeter unweit der Urania an deren ursprüngliche Farbe, ein helles Beige – und seit Kurzem das bewusste Administrationsgebäude, das, einheitlich in Weiß getaucht, noch an Eleganz gewonnen hat.

Allerdings, mit ein bisschen Farbe allein war’s nicht getan, wollte man sich dem ursprünglichen Erscheinungsbild annähern: Auch die Form der Fenster hatte sich im Lauf der Jahrzehnte deutlich verändert. „Wir hatten zwei kleine Fenster übereinander, mit einem dicken Kämpfer dazwischen, und die Fenster hatten auch noch Sprossen“, erzählt Wolfgang Czernilofsky.

Der historische Zustand dagegen: schlanke, hohe, sprossenlose Fensterflügel. Eine Lösung, die sich, so Czernilofsky, offenbar nicht bewährt hat: „Wir haben durch die exponierte Lage des Gebäudes Regen, der vom Wind mit 100 Stundenkilometern und mehr an die Fenster geschlagen wird. Das haben die ursprünglichen Fenster sicher nicht lang ausgehalten.“ Dazu kommt, dass sich das Gebäude bis heute bewegt: „Wir stehen hier auf einem Schüttgebiet.“ Die Folge: Wenn sich das Gebäude bewegt, verziehen sich die Fenster und werden undicht.

Bewährte Handwerkstradition

Mit einem Trick schaffte Czernilofsky den Spagat zwischen historischer Erscheinungsform und den hier durchaus besonderen Herausforderungen der Funktionalität: Innen sind Passivhausfenster aus Holz in den Rahmen montiert, außen jedoch Aluminiumfenster. Eine Materialwahl, die bei den Denkmalschützern zunächst auf wenig Gegenliebe stieß, allerdings eine besondere Konstruktionsweise erlaubte. „Die Außenebene der Fenster ist gleitend montiert“, erläutert Czernilofsky. Das Verhältnis Fensterstock zu Fensterflügel sei dadurch „unabhängig vom Rest des Gebäudes“. Ergebnis: „Wann immer es beim Haus eine Bewegung gibt – das Fenster bleibt dicht.“ Und seit dem äußeren Holz-Schein mit einer entsprechenden Pulverbeschichtung des Aluminiums Rechnung getragen wurde, ist – so Czernilofsky – auch das Bundesdenkmalamt einverstanden.

Sonst freilich setzte Czernilofsky meist auf bewährte Handwerkstradition: So mussten die Maurer, die den Verputz der Fassade besorgten, entsprechende Expertise in historischen Techniken nachweisen können. Und auch für die teils durchaus herausfordernden Erneuerungsarbeiten an den Verblechungen konnte ein Spengler mit einschlägigem Know-how gewonnen werden.

Da steht es also 125 Jahre nach seiner Errichtung, Otto Wagners Administrationsgebäude für die Donau-Regulierungs-Commission: so original, wie es Wissen und Befunden unserer Tage zulassen – und womöglich haltbarer denn je zuvor. Und für jene, die Otto-Wagner-grünen Ornamenten, Verblechungen und Fensterrahmen nachtrauern, hält es eine charmante Überraschung bereit: Folgend aktuellen Untersuchungen, finden sich Applikationen unter dem weiten Dachvorsprung und ein kleiner Balkon an der stromaufwärts gelegenen Fassade in zartestes Olivgrün getaucht. Kein Otto-Wagner-Grün, gewiss, aber ein bisserl Grün halt doch.

Spectrum, Fr., 2024.01.19

23. August 2023Wolfgang Freitag
Die Presse

Ein Wiener Welterklärer der kleinen Dinge

Nachruf. Mit Luigi Blau verliert Wien einen seiner prägendsten Gestalter der vergangenen 50 Jahre.

Nachruf. Mit Luigi Blau verliert Wien einen seiner prägendsten Gestalter der vergangenen 50 Jahre.

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Blau Luigi

12. Januar 2022Wolfgang Freitag
Die Presse

Ein Wenigbauer, der Architekturgeschichte geschrieben hat

Er war ein Lehrender, Forschender, ein unbeirrbarer Kämpfer für die Sache der Baukunst – und mit der Arbeitsgruppe 4 auch ein Taktgeber der Nachkriegsarchitektur: zum Tod des österreichischen Architekten Friedrich Kurrent (1931–2022).

Er war ein Lehrender, Forschender, ein unbeirrbarer Kämpfer für die Sache der Baukunst – und mit der Arbeitsgruppe 4 auch ein Taktgeber der Nachkriegsarchitektur: zum Tod des österreichischen Architekten Friedrich Kurrent (1931–2022).

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Presseschau 12

03. August 2025Wolfgang Freitag
Spectrum

Wie renoviert man einen Loos? Wenn die Moderne in die Werkstatt muss

Der Architekt Heinrich Kulka (1900–1971), die Werkbundsiedlung, ein Haus am Küniglberg – und was allesamt mit einem Oldtimer verbindet. Oder: Wie viel kostet architektonisches Geschichtsbewusstsein? Und wie viel darf es kosten?

Der Architekt Heinrich Kulka (1900–1971), die Werkbundsiedlung, ein Haus am Küniglberg – und was allesamt mit einem Oldtimer verbindet. Oder: Wie viel kostet architektonisches Geschichtsbewusstsein? Und wie viel darf es kosten?

Enthusiasmus hört sich anders an. Er könne „nicht viel Positives“ mitteilen, antwortet einer, den ich um seine Einschätzung einer historischen Immobilie gebeten habe. Seine Einschätzung, das ist die eines Nutzers, und die klingt auch im Weiteren nicht euphorisch. Das Objekt sei „weder architektonisch noch bautechnisch“ einzigartig. Und: „Darüber hinaus ist die Qualität der Objektherstellung in vielen Punkten mangelhaft.“

Nun, immerhin steht, was hier mehr oder minder unverhohlen als Bruchbude von entbehrlicher Bedeutung beschrieben wird, seit 2010 unter Denkmalschutz, Intimkennern hiesiger Architekturgeschichte als „Haus Weiszmann“ geläufig. Dieser Tage genießt es besondere Aufmerksamkeit: Das Ausstellungszentrum im Ringturm hat seinem Schöpfer, Heinrich Kulka (1900–1971), eine Personale ausgerichtet. Aus gutem Grund: Nicht nur dass Kulka, geboren unweit Olmütz, ausgebildet in Wien, seinem Mentor und Arbeitgeber Adolf Loos als Büroleiter wichtiger Partner in dessen von Krankheit und langen Absenzen gezeichneten letzten Lebensjahren war, kann er, aus der Folgezeit datierend, auf ein reiches Œuvre erst im heutigen Tschechien, später, von den Nationalsozialisten in die Flucht geschlagen, im neuseeländischen Dauerexil verweisen.

Und eben, in Wien, auf oberwähntes Haus Weiszmann, Anfang der 1930er auf dem Küniglberg ins Werk gesetzt: einen Quader von bescheidener Dimension, dessen innere Gestaltung idealtypisch dem von Loos entwickelten und von Kulka so benannten Konzept des „Raumplans“ folgt. Will sagen: Stockwerke sind nicht schichtartig übereinandergelegt, vielmehr erhält jeder Raum die für seine Benutzung jeweils nötige Höhe und Dimension.

Schüler übertrifft Lehrer

Während etwa für Friedrich Achleitner Haus Weiszmann das Beispiel eines Gebäudes ist, „bei dem der Schüler in seiner Entwicklungslinie über seinen Lehrer hinausgeht und dessen Prinzipien vollendet“, scheint es für obgenannten Nutzer primär kraft Denkmalschutz auf alle Zeit verbrieftes Ärgernis: Als Bauingenieur könne er „verschiedene Schutzmaßnahmen und -vorgaben nicht nachvollziehen – weder künstlerisch, noch bautechnisch, noch weniger bauphysikalisch“. Überdies sei für „einkommensdurchschnittliche Objektbesitzer“ dadurch die Erhaltung einer solchen Immobilie „wirtschaftlich kaum machbar“.

Martin Praschl sieht die Sache pragmatisch: „So ein Haus ist wie ein Oldtimer. Für den, der, sagen wir, einen Jaguar E schätzen kann, ist der das schönste Auto der Welt. Aber wenn ich lieber einen Audi mit Klimaanlage, Navigationssystem und ABS haben will, dann ist der Jaguar E, der vermutlich jedes Monat in die Werkstatt muss, nicht das Richtige.“ In den vergangenen 15 Jahren hat Praschl reichlich Jaguar-E-Erfahrung gesammelt: Gemeinsam mit seiner Frau, Azita Praschl-Godarzi, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihrer beider Büro, P.Good Architekten, betreut er seit 2011 die Sanierungsarbeiten in jenen Teilen der Werkbundsiedlung, die im Eigentum der Stadt Wien stehen, also in einem Bestand, der, zur selben Zeit wie Kulkas Haus Weiszmann errichtet, nämlich strengen Denkmalschutzvorgaben unterworfen ist. Und allein die Tatsache, dass diese Sanierung bereits die zweite ist, die den vormaligen Musterhäusern im äußeren Hietzing zuteil wird, erzählt einiges über den Aufmerksamkeitsbedarf, den Kubaturen solcher Art verlangen. Besondere Herausforderung dabei: Da ja keine Musealisierung, vielmehr die weitere Nutzung als Wohnraum angestrebt ist, gilt es, denkmalpflegerische Umsicht mit aktuellen Wohnansprüchen in Einklang zu bringen.

Anschauungsmaterial dazu liefern auch in der Werkbundsiedlung Objekte, die aufs Engste mit dem Namen Heinrich Kulka verbunden sind: jene beiden Doppelhäuser, die unter Kulkas Ägide in Adolf Loos’ Büro geplant wurden. Eine der Kulka/Loos’schen Doppelhaushälften, Woinovichgasse 15, konnte vor wenigen Jahren, ausnahmshalber zu jener Zeit leerstehend, von Grund auf saniert werden, ohne Rücksicht auf etwaige Bewohner nehmen zu müssen. Ursprünglich über Einzelöfen beheizt, darf sich das Gebäude seither unter anderem einer zeitgemäßen Gasbrennwert-Anlage erfreuen, die im Gegenzug freiwerdenden Kamine wurden für den Einbau einer Wohnraumlüftung mit Wärmetauscher genützt.

Verbesserte Dämmwerte

In Sachen dämmtechnischer Aktualisierung dagegen musste man sich auf Maßnahmen im Dachbereich und an den Kellerwänden beschränken. Auf eine Wärmedämmung der Fassade habe man – wie überall in der Werkbundsiedlung – aus Denkmalschutzgründen verzichtet, berichtet Martin Praschl: „Das haben Adolf Krischanitz und Otto Kapfinger dankenswerterweise schon anlässlich der ersten Sanierung in den 1980ern so gehalten.“ Immerhin habe man auch so die Dämmwerte verbessern können: „Und die eines Neubaus wären sowieso im Altbestand nicht zu erreichen.“

Zu den technischen Maßnahmen gehört auch die Adaptierung des Geländers, das die Galerie des Wohnraums sichert: Das habe man mit einer diskreten Glasscheibe absturzsicher umgestaltet. In vielen anderen Fällen sei es wiederum gelungen, die Originalsubstanz nicht nur zu erhalten, vielmehr sie angemessen instand zu setzen. Namentlich die Restaurierung des originalen Bodenbelags aus Linoleum ist da zu nennen. Wobei es in diesem wie in anderen Fällen – so Martin Praschl – nicht darum gegangen sei, den Eindruck eines imaginären Neuzustands zu erwecken: „Das Linoleum ist halt wieder sauber und ordentlich, Risse und Fehlstellen sind ausgebessert; zugleich aber sieht man die Abdrücke, wo einmal der Tisch gestanden ist oder der Kasten. In diesem Boden ist das Leben der vergangenen 90 Jahre drin: für sich fast ein Kunstwerk.“ Detto im Sanierungsrepertoire: dass etwa bei Verputzarbeiten oder Anstrichen auf Handwerkstechniken aus der Entstehungszeit zurückgegriffen wird.

Freilich: Derlei Akribie hat ihren Preis. Auf knapp eine halbe Million Euro haben sich die Baukosten der Sanierung allein im Haus Woinovichgasse 15 belaufen. Keine Kleinigkeit. Und für „einkommensdurchschnittliche Objektbesitzer“, siehe oben, gewiss nicht leicht zu tragen. Was man davon hat? Zum einen seien solche Gebäude, so Martin Praschl, „nach wie vor gut zu bewohnen“. Nicht zu vergessen ihr Wert als Schaustück belebter Architekturgeschichte. Leisten muss man’s sich halt können.

[ Die Ausstellung zu Heinrich Kulka ist bis 7. November im Wiener Ringturm zu sehen, die dazu passende Monografie, herausgegeben von Adolph Stiller, bei Müry Salzmann, Salzburg, erschienen. ]

Spectrum, So., 2025.08.03

24. Mai 2025Wolfgang Freitag
Spectrum

Was tun mit leerstehenden Industriebauten im Waldviertel?

Die Textilfabrik Hirschbach auf der Suche nach einer Neubestimmung: wie ein Wiener Architektenduo einem Stück Waldviertler Industrieerbe neuen Sinn geben will. Und was eine an die Wand gepinselte Mona Lisa damit zu tun hat.

Die Textilfabrik Hirschbach auf der Suche nach einer Neubestimmung: wie ein Wiener Architektenduo einem Stück Waldviertler Industrieerbe neuen Sinn geben will. Und was eine an die Wand gepinselte Mona Lisa damit zu tun hat.

Wie gestrandete Wale liegen sie in hiesigen Landschaften, ausgespuckt vom Meer der Zeit: jene massigen Kubaturen, die einst den kapitalistischsten Sehnsüchten der Industrialisierung Heimstatt boten und mittlerweile kaum mehr als – womöglich denkmalgeschützter – Ballast einer Gegenwart sind, die mit ihnen nichts anzufangen weiß.

Während der Bröckelcharme von „Lost Places“ solcher Art ganze Fotobände füllt, stellt die Wirklichkeit unserer Tage, unsentimental, wie sie ist, fortwährend drängender die Frage, wie lang wir es uns angesichts anderweitig so heftig kritisierten Bodenverbrauchs leisten können, via Leerstand historischer Gewerbe- und Industriekomplexe Nutzflächen sonder Zahl, teils in bester Lage, ungenutzt zu sehen. Und ob denn einschlägige Zeugnisse der Vergangenheit auch dann so dringlich zu erhalten seien, wenn sich selbst nach etlichen Jahrzehnten keinerlei Aussicht auf Neu- oder Umnutzung einstellen will.

Die Großmutter hat hier noch gearbeitet

Prominente Beispiele wie die Hammerbrotwerke in Schwechat, unweit der Wiener Stadtgrenze, oder die Neusiedler Papierfabrik, ihrerseits nächst Schwechat gelegen, mögen architektur- wie sozialhistorisch noch so bedeutsam sein: Was nicht verwendet wird, ist langfristig nicht zu retten, denn erst verfällt es, und irgendwann holt sich die Natur zurück, was ihr vordem genommen wurde, alles nur eine Frage der Zeit. Dass ein Nebengebäude der Neusiedler Papierfabrik, zwei Jahre ist es her, als Varieté-Lokal Wiederauferstehung feiern durfte, ist ein kleiner Anfang, der im konkreten Fall Hoffnung gibt – aber nicht mehr als das.

In sehr viel peripherere Industriegefilde hat sich ein in Wien situiertes Architektenduo vorgewagt. David Calas und Barbara Calas-Reiberger haben das textile Erbe des nördlichen Waldviertels erkundet und was von dessen baulicher Verlassenschaft wie für die Zukunft zu gewinnen wäre: von Großkomplexen wie der Backhausenkolonie bei Gmünd bis zu Kleinstobjekten wie den sogenannten Haarstuben, in denen einst aus widerborstigen Flachsstängeln jene Fasern gewonnen wurden, die wir als Leinen kennen. Erstes Ergebnis ihrer Auseinandersetzung: die Ausstellung „Wertvolles Erbe, aktive Zukunft“, die derzeit in Krems gezeigt wird.

Konkreter Anlass dieser Beschäftigung: der Erwerb eines Objekts, das zu jenem textilen Erbe zählt – der Textilfabrik Hirschbach. Kein Zufall, vielmehr quasi persönliche Notwendigkeit: Ihre Großmutter habe noch selbst hier gearbeitet, erzählt Barbara Calas-Reiberger gleich zu Beginn unserer Begegnung, da stehen wir noch in jenem der beiden Eingänge zur Textilfabrik, den Generationen von Arbeiterinnen und Arbeitern passierten – auf dem Weg zu dem geräumigem Saal, in dem erst die Webstühle einer Genossenschaft, ab der Zwischenkriegszeit die Strickmaschinen eines Wiener Fabrikanten Platz fanden.

Im Ortsverband integriert

Das Thema Leerstand habe sie schon früher beschäftigt, so Calas-Reiberger; das ihr seit Kindheitstagen vertraute Gebäude sei dann willkommener Gegenstand gewesen, „die Sache einmal selbst in die Hand zu nehmen“. Will sagen: entwickelte Konzeptideen im Selbstversuch auf Tauglichkeit zu prüfen.

Immerhin kann das Objekt im Vergleich zu ähnlichen Fällen auf einige Vorzüge verweisen. Zum einen ist es in den Ortsverband integriert, zum anderen öffentlich gut erreichbar, keine zehn Gehminuten von der nächsten Haltestelle der Franz-Josefs-Bahn entfernt, und überdies von handhabbarer Größe. 800 Quadratmeter überdachter Raum samt weiteren 1400 Quadratmetern, verteilt auf zwei Innenhöfe: Das sind Dimensionen, die nicht schon a priori noch so hochmögende Pläne unter der Masse der aufzuwendenden Mittel erdrücken.

Dazu kommt, dass sich die vorhandene Substanz, im Kern aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammend, als erstaunlich widerstandsfähig gegen die Anfechtungen der Zeit erwiesen hat. Gewiss, Spuren jahrzehntelanger Vernachlässigung seien nicht zu übersehen, und ja, es gebe einen beträchtlichen Aufbesserungsbedarf, weiß Calas-Reiberger und verweist auf Risse in der Wand, auf Gebäudeteile, die vom Wegbrechen bedroht waren. Andererseits, für mehr als ein halbes Jahrhundert weitgehenden Leerstands scheint das weniger schlimm, als man erwarten könnte.

Dass es sich dennoch bei der Sanierung der Textilfabrik Hirschbach um ein „Millionenprojekt“ handelt, darum weiß Calas-Reiberger genauso wie darum, dass vor jeder Sanierung eine Antwort auf die Frage aller Leerstandsaktivierungsfragen zu suchen ist: Welchem langfristig tragfähigen Zweck kann die Sanierung dienen?

Die dabei stets parate Idee einer Musealisierung stand für Calas-Reiberger nie zur Diskussion: „Man kann nicht aus jedem alten Gebäude ein Museum machen.“ Eine Umfrage unter der Ortsbevölkerung, nicht zuletzt angestellt, um das Vorhaben besser in die Gemeinde einzubinden, förderte rasch Wohnen als eine der zentral erwünschten Nutzungen zutage: sei es im Rahmen zeitlich begrenzter Vermietung oder etwa in Form betreuten Wohnens.

Ein Wunsch, dem Calas-Reiberger in sehr spezieller Weise Rechnung tragen will: „Wir versuchen derzeit, Baugruppen für die Textilfabrik zu interessieren“, also Bauwillige, die sich zur gemeinsamen Gestaltung ihres künftigen Wohnraums zusammenfinden. Ein Ziel, dem in den kommenden Wochen mehrere „Wohnevents“ gewidmet sind: mit der Möglichkeit, das Projekt und andere Interessenten an Ort und Stelle kennenzulernen.

Der ehemalige Maschinensaal allerdings soll in seiner Großzügigkeit erhalten bleiben: „Den haben wir schon jetzt für verschiedene Zwischennutzungen aufgepeppt, und der wird auch künftig kulturellen Aktivitäten zur Verfügung stehen.“ Und vielleicht finde sich ja auch noch Platz für eine kleine „Museumsnische“, in der sich diverse vorgefundene Artefakte vergangener Textilfabrikstage präsentieren lassen.

So manche Nutzungsidee gäbe es darüber hinaus – nur weniges davon wird, falls überhaupt, Wirklichkeit werden. Schließlich, wollte man all jene Träume finanzieren, die sich hier und anderwärts in Österreich an leer stehender Altsubstanz entzünden, dann müsste die glupschäugige Mona Lisa, die ein fantasievoller Nutzer an eine Wand der Textilfabrik gepinselt hat, von Leonardo stammen. Für Hirschbach immerhin besteht Hoffnung. Sehr viel mehr an Wunder wird nicht zu verlangen sein.

Spectrum, Sa., 2025.05.24

02. April 2025Wolfgang Freitag
Spectrum

Visitenkarte mit Meerblick: Die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group in Kopenhagen

Eine Innenerschließung als begehbare Raumskulptur, eine Feuertreppe als begrünter Erholungsraum. Von der Freiheit über den Architektenköpfen: die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group im Nordhafen von Kopenhagen.

Eine Innenerschließung als begehbare Raumskulptur, eine Feuertreppe als begrünter Erholungsraum. Von der Freiheit über den Architektenköpfen: die neue Zentrale der Bjarke Ingels Group im Nordhafen von Kopenhagen.

„Stay“, rät das kleine Café Ecke Helsinkigade/Murmanskgade an seinen Fensterscheiben. Also warum nicht ein paar Minuten innehalten im Rundgang durch das Stadtquartier, das sich in den vergangenen Jahren im ehemaligen Nordhafen von Kopenhagen entwickelt hat? Hier lebe es sich recht gut, erzählt die Café-Betreiberin. Und was sie von dem architektonischen Neuzugang an der Spitze des Piers gegenüber halte? Der wirke aufs Erste ein wenig fremd, aber die Menschen, die dort arbeiten, erzählten nur das Beste.

Wenig später befinde ich mich selbst an besagtem Ort, und Frederik Lyng, Chefdesigner des Objekts, empfängt mich zu einem Rundgang: zu einem Rundgang durch die neue Kopenhagener Heimstatt der Bjarke Ingels Group. Die hat sich, 2006 vom dänischen Architekten Bjarke Ingels gegründet, erst in der engeren Heimat, mittlerweile mit Dependancen rund um den Globus durch teils spektakuläre Projekte einen Namen gemacht. Und allein was sich davon in Kopenhagen und Umgebung findet, lohnt einen Blick in jenes Land, in dem der hohe Norden Europas am flachsten ist.

Da wäre etwa das Schifffahrtsmuseum in Helsingør, rund um ein ausrangiertes Trockendock in den Boden gegraben; oder das „8 Haus“ im Kopenhagener Vorort Ørestad, unterschiedlichste Wohn-, Büro- und Einzelhandelsflächen bis zu zehngeschoßig übereinandergestapelt und auf einer außen liegenden Rampe bis zu den höchsten Höhen zu begehen; nicht zu vergessen „CopenHill“, die Kopenhagener Müllverbrennungsanlage mit ihrer auf dem Dach platzierten Ganzjahresskipiste samt Lift und Skihüttenzauber unter dem Schlot.

Fun follows function

Nein, es sind nicht die leisen Architekturtöne, für die Bjarke Ingels und sein Team stehen. Aber es ist auch nicht der pure formale Übermut, der aus ihren Arbeiten spricht. Die Anordnung des Schifffahrtsmuseums rund um das Trockendock a. D. macht das Trockendock selbst zum eindrucksvollsten Schaustück des Museums. Die begehbare Rampe verschafft dem „8 Haus“ und seinen Nutzern Verbindungswege, wo sonst keine sind, Fernsicht inklusive. Und die Skimatten auf dem Dach von „CopenHill“ verwandeln einen Unort in eine Freizeitattraktion – nicht zuletzt für die Mitarbeiter der Müllverbrennungsanlage. Kurz: Mag manches noch so spielerisch scheinen, es ist nie ohne Zweck. Fun follows function, sozusagen.

Erdacht wurde so viel Neues allerdings bis vor Kurzem durchweg in alten Mauern. „Wir haben bisher ausschließlich in adaptierter Altsubstanz gearbeitet“, erzählt Frederik Lyng. Freilich, eine beständig steigende Mitarbeiterzahl, derzeit 300 und mehr je nach Auftragslage, war in umgenutzten Kubaturen schließlich nicht mehr unterzubringen.

„Bürogebäude sehen oft aus wie Doughnuts“

Die entsprechende Liegenschaft für einen Neubau war bald gefunden: an der Spitze eines Piers im Nordhafen, ehedem Heimstatt eines Zelluloidfilmlagers, nach dessen Abriss zum Parkplatz degradiert. Doch wie die bisher gehabte Durchlässigkeit der Arbeit auf einer Ebene, die Selbstverständlichkeit interner Kommunikationsabläufe in einen Mehrgeschoßer transferieren?

„Bürogebäude nehmen oft die Gestalt eines Doughnuts an“, meint Frederik Lyng. Will sagen: außen, an den Fenstern, die Arbeitsplätze, innen Besprechungszimmer, Nebenräume und die Erschließung. Die Folge: Segregation allenthalben. Frederik Lyng: „Die Gestaltung hier war maßgeblich vom Bemühen geprägt, alle und alles miteinander zu verbinden, und das über alle Stockwerke hinweg.“

Ergebnis ist ein Gebäude, das sich gleich hinter dem Eingang über alle sieben Ebenen öffnet, von Kantine und Empfang im Erdgeschoß bis zu Dachterrasse und großem Gemeinschaftsraum im letzten Stock, eine Halle formend, in die die Zwischenebenen wie schwebend einmünden. Die nämlich reichen nur bis etwa zur Hälfte der Kubatur, sind zudem nicht gleich auf gleich übereinander angeordnet, sondern gegeneinander wechselnd verdreht.

Die Fensterflächen wiederum sind, zu langen Bändern zusammengeschoben, je Geschoß an jeweils anderen Seiten des Gebäudes angeordnet. Die Zentrale der Bjarke Ingels Group in Kopenhagen: ein lichtdurchflutetes Großraumbüro über sieben Geschoße voll wechselnder Ein-, Aus- und Durchblicke, erschlossen über eine offene Treppe in der Mitte, die impressiv quasi im Zickzack nach oben geführt ist. „Piranesisch“ nennt solches die Marketing-Prosa des Hauses, doch auch ohne architekturhistorische Beschwörungsformel fällt es schwer, sich der Wirkung dieses Raums und seiner Dynamik zu entziehen.

Einziges tragendes Element in der Gebäudemitte: eine Säule, gefügt aus sechs je geschoßhohen Einzelstücken unterschiedlichen Gesteins von dichtestgefügtem Granit zu ebener Erd’ bis zu Marmor an der Spitze. „Die haben wir aus den Steinbrüchen übernommen, wie sie waren“, erzählt Frederik Lyng. Abfallprodukte gewissermaßen wie auch die Holzplatten jener Wand, hinter der sich nordseitig Liftanlagen, Nassräume, kleine Besprechungszimmer für jede Etage verbergen: „Die stammen von einem Parketthersteller, Reststücke mit vielen Astansätzen, die für die Verlegung als Boden nicht geeignet waren.“

Witz und Charme am Hafenrand

Selbstredend ist auch der Stahl der Erschließungstreppe Recyclingmaterial, die Klimatisierung erfolgt über ein Zusammenspiel aus Geothermie und natürlicher Ventilation. Und dass man gemeinsam mit der Errichterfirma einen speziellen, CO₂-arm zu produzierenden Beton für den Bau entwickelt hat, versteht sich da schon fast von selbst.

Nicht ganz so selbstverständlich: die äußere Erscheinung des Objekts. Die vorgeschriebene Feuertreppe nämlich hat man zum Gestaltungselement der Fassade umgedeutet. In einer Abfolge aus Terrassen und Stiegen ist sie vom Dach weg spiralig rund um das Gebäude bis ins Erdgeschoß gewunden, versorgt zugleich jede Ebene mit einer eigenen begrünten Freifläche, gestaltet von den hauseigenen Landschaftsplanern. „Wir haben daraus einen Erholungsraum für die Mitarbeiter gemacht“, erklärt Lyng. Erholungsraum wie der kleine, dem Gebäude vorgelagerte Park, der auch der Allgemeinheit zur Verfügung steht.

Ob Ingenieurbau, Architektur, Produktdesign oder eben Landschaftsplanung: Sämtliche Abteilungen des Hauses sollten, so die Idee, in der neuen Heimstatt der Bjarke Ingels Group in eins zusammenfinden. Ergebnis: eine gebaute Visitenkarte, mit Witz, Charme und viel Kreativität an den Kopenhagener Hafenrand platziert. Visitenkarte mit Meerblick gewissermaßen. Was könnte schöner sein?

Spectrum, Mi., 2025.04.02

09. August 2024Wolfgang Freitag
Spectrum

Stadtgestaltung in Wien: So kleinlich darf man nicht planen

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt...

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt...

Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt Vorstand des Instituts für Städtebau und Raumplanung an der TU Wien, als konzeptiver Zuarbeiter des Magistrats. Kürzlich kündigte er überraschend an, seine beruflichen Agenden stillzulegen. Anlass für ein Gespräch.

Die Presse: Man wird vielleicht nicht als Architekt geboren, aber wenn man’s einmal ist, bleibt man’s üblicherweise bis ins Grab. Warum dieser Rückzug?

Erich Raith: Ich gehöre wohl nicht zu jenen, die den letzten Atemzug unbedingt an der Kante des Zeichentisches machen wollen. Als junger Architekt, wenn man noch glaubt, über unerschöpflich viel Zeit und Kraft zu verfügen, stürzt man sich ja voll Sportsgeist in jeden Wettbewerb, kämpft auch lustvoll gegen Windmühlen und versucht, Kopf voran manche Wand zu durchbrechen. Später lernt man dann notgedrungen, sich genauer zu überlegen, in welche Projekte man Zeit, Aufmerksamkeit und Herzblut investiert. Und ja, ich glaube, ich hätte schon noch einiges einzubringen an Wissen und Erfahrung.

Sind Sie frustriert über aktuelle Entwicklungen der Stadt?

Es wäre naiv anzunehmen, dass sich Expertenmeinungen immer hundertprozentig durchsetzen müssen. Da können ja mittlerweile auch Virologen und Immunologen ein Lied davon singen. Auch die Stadtentwicklung gehört zu jenen Themenfeldern, die zu wichtig sind, um sie allein Expertinnen zu überlassen. Außerdem ist Wien gerade wieder zur lebenswertesten Stadt weltweit gekürt worden. Das ist sicher nicht allein das Verdienst der Stadtplanung – ganz unschuldig wird sie daran aber auch nicht sein. Ich denke, dass es nicht zuletzt der Praxis der sanften Stadterneuerung zu verdanken ist, dass Wien eine im internationalen Vergleich herausragende urbane Qualität entwickeln konnte.

Über die Meriten der Stadterneuerung hört man aber nicht sehr viel.

Die gesetzlichen Grundlagen für den speziellen Wiener Weg der Stadterneuerung, für den Wien immerhin im Jahr 2010 von der UNO-Weltorganisation für Siedlungswesen und Wohnbau mit dem weltweit wichtigsten Preis in diesem Bereich ausgezeichnet wurde, stammen aus dem Jahr 1974. Die Stadterneuerung feiert also heuer das 50-Jahr-Jubiläum. Zum 30-Jahr-Jubiläum gab es 2004 noch große Veranstaltungen, bei denen sich auch die politische Prominenz entsprechend feiern ließ. Heuer zeichnet sich nichts dergleichen ab. Das ist erstaunlich und irgendwie beschämend. Die Stadt ist sich offenbar ihrer eigenen Verdienste nicht mehr bewusst. Ich bedaure auch, dass die – mittlerweile betagten – Persönlichkeiten, die diese großartige Entwicklung auf Schiene gebracht und ständig weiterentwickelt haben, nicht angemessen vor den Vorhang geholt werden.

Nehmen wir Ihre Studie über das Wiental, erstellt 2021 im Auftrag des Magistrats: Da haben Sie ziemlich genau das Gegenteil von dem empfohlen, was jetzt mit der Naschmarkthalle passiert.

Das Wiental ist die wichtigste Frischluftschneise Wiens, vom Westen her bis ins Stadtzentrum. Für die gesamte Kernstadt wäre es immens wichtig, diesen Großraum insgesamt als Kaltluftbahn zu optimieren. Im gegenwärtigen Zustand aber ist das Wiental der effizienteste Luft-Durchlauferhitzer, den man sich vorstellen kann. Wenn der frische Wind aus dem Wienerwald beim Naschmarkt angelangt ist, ist er bereits zu einem heißen Wüstenwind geworden. Hier mit einigen Baumsetzungen und Wasserspielen zu reagieren mag zwar zu kleinräumig spürbaren Verbesserungen beitragen, für die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt sind diese Maßnahmen zu zentrumsnah und sowieso unzureichend. Im Hinblick auf die bedrohliche Entwicklung des Stadtklimas wird leider viel zu kleinlich gedacht. Dass man dann bei einem Projekt, das zwar aus einem Wettbewerbsverfahren siegreich hervorgegangen, aber dennoch stadtstrukturell problematisch ist – auch, weil es zu einer Barriere für die Luftströme werden kann –, ein paar Quadratmeter Dachbegrünung anbietet, steht geradezu symbolisch für diese konzeptionelle Kleinlichkeit.

Was müsste stattdessen geschehen?

Man müsste die spektakuläre Transformationsgeschichte des Wientals mutig und offensiv fortschreiben. So wie zu Otto Wagners Zeiten eine vorindustriell überformte, aber immer noch grüne Tallandschaft radikal in eine zeittypische steinerne Infrastrukturtrasse verwandelt wurde – mit einem stadtbaukünstlerischen Zugriff, der bis heute beeindruckt, und den man sich in dieser Großzügigkeit längst nicht mehr zutraut –, so sollte das Wiental jetzt ebenso grundlegend in eine zukunftsweisende Stadtlandschaft des 21. Jahrhunderts umgebaut werden.

Gibt es schon Studien dazu? Weiß man, was in diesem Sinn zum Beispiel ein Aufstauen des Wienflusses bewirken könnte? Gibt es Überlegungen zur Nutzung der enormen Kaltluftreserven im Wienflussgewölbe, zu einer konsequenteren Überplattung und Begrünung der U-Bahntrasse? Kennt man die Flächenpotenziale für eine klimaeffiziente Stadtbegrünung, die wirklich stadtstrukturelle Dimensionen erreicht? Gibt es ein visionäres Gesamtbild, das mehr ist als ein kleinteiliges Flickwerk?

Was passiert stattdessen: Man versiegelt im Vorfeld von Schönbrunn einen Großparkplatz, der bereits vorliegenden Wettbewerbsergebnissen diametral widerspricht und auch mit Blick auf das Welterbe Schönbrunn falsch ist. Statt einer ernst zu nehmenden Strategie in Sachen Stadtklima gibt es diesen Tortenstreusel aus kleinen Grün- und Wasserelementen, den man undifferenziert und flächig über die Stadt verteilt. Da kriegt dann halt auch der Michaelerplatz ein paar blaue und grüne Flankerln ab, die hier leider völlig deplatziert sind, woanders aber schwächelnde Grünstrukturen sinnvoll stärken könnten. In Wahrheit müsste man sich überlegen: Wie gesundheitsfördernd, nahrhaft und wohlschmeckend kann denn zukünftig die Torte unter dem Streusel sein?

Und wieso geschieht das nicht?

Die Stadt Wien hat das Klimathema bis vor wenigen Jahren kaum wahrgenommen. Vor etwa zehn Jahren gab es zum Beispiel den Wettbewerb zum Areal Wiener Eislaufverein/Hotel Intercontinental. In der Wettbewerbsauslobung hat das Klimathema noch keine Rolle gespielt. Entsprechend ist auch das Wettbewerbsergebnis. Wenn man mitbekommt, wie unglaublich verkrampft da bis heute mit dem Unesco-Weltkulturerbe über die Höhenentwicklung gestritten und dabei das Projekt immer fragwürdiger wird, dann tut das fast schon körperlich weh. Erstaunlicherweise wird aber nicht darüber diskutiert, dass die Fläche des Eislaufplatzes die großräumig etablierte Bebauungskante an der Außenseite des Glacis unzulässig überspringt und als Hitzeinsel stadtklimatisch kaum beherrschbar sein wird. Für mich wären diese Themen mindestens so relevant wie der Canaletto-Blick.

Dann gab es Jahre später plötzlich wissenschaftlich fundierte Klimaprognosen für Wien, die zu Recht einen Schock ausgelöst haben. Wien steht nämlich diesbezüglich schlechter da als die meisten anderen europäischen Städte.

Der Stadtplanung ist das Problem natürlich bewusst, ich sehe nur nicht die angemessenen konzeptionellen Konsequenzen. Auf der Planungsebene schlägt sich das im Moment vor allem in Gestalt des grünblauen Tortenstreusels nieder: ein paar Wasserspiele da, ein paar Kräuterbeete dort, ein paar begrünte Fassaden und Dächer. Und man kann nur hoffen, dass das wunderbare Wiener Hochquellwasser ausreichen wird, um das alles zu bewässern. In Zukunft wird ja wahrscheinlich jeder Stadtbaum wie ein Patient in der Intensivstation an versorgenden Schläuchen hängen und permanent überwacht werden müssen.

Tatsächlich müssten wir die enormen Herausforderungen, die auf die Stadt zukommen, auf einer viel grundsätzlicheren Ebene angehen. Es geht um eine andere Energieversorgung und in letzter Konsequenz darum, dass wir unsere alltäglichen Lebensprozesse anders im Raum organisieren müssen – Stichwort: 15-Minuten-Stadt. Die gute Nachricht ist: Die gründerzeitlichen Teile der Stadt werden sich da wahrscheinlich wieder ganz gut bewähren, wahrscheinlich besser als die gering verdichteten, monofunktionell spezialisierten und in der Gebäudestruktur zu kleinteiligen und zu starren Wohnbauten des vergangenen Jahrhunderts.

Alt schlägt Neu: wieso?

Zum Beispiel, weil ältere Stadthäuser in der Regel erlauben, dass im selben Haus gleichzeitig auf unterschiedliche Weise gewohnt und auf ebenso unterschiedliche Weise gearbeitet werden kann und im Erdgeschoß vielleicht noch ein Wirtshaus sein kann oder ein Geschäft. Besonders wichtig ist dabei, dass die Gebäudestrukturen Umnutzungen, Veränderungen und ständige Anpassungen an sich verändernde Lebensbedingungen ausreichend zulassen. Diese „strukturelle Offenheit“ ist ein wesentlicher Schlüssel für das Entstehen und die ständige Auffrischung vitaler Urbanität.

Wenn ich mir aber die funktionell spezialisierten Wohnbauten anschaue, wie sie noch heute meistens errichtet werden, mit einem Wohngeschoß auf Nullebene oder einem gerade etwas über zwei Meter hohen Erdgeschoß, das gerade für die Garageneinfahrt und den Müllraum reicht, dann leistet das einfach zu wenig für den öffentlichen Raum und für ein lokales Stadtleben. Darüber gibt es dann immer gleiche Regelgeschoße, wo immer an der gleichen Stelle im Grundriss das Doppelbett mit den zwei Nachtkästchen stehen muss, weil es räumlich gar nicht anders geht. Das hat doch mit unserer aktuellen – und erst recht mit einer zukünftigen – gesellschaftlichen Realität und der explodierenden Vielfalt an Lebensentwürfen nichts mehr zu tun.

Und wenn man dann Wettbewerbe für große Stadterweiterungsgebiete durchführt, wo die Auslobung den Planerinnen abverlangt, dass 90 Prozent der Bebauung als reiner Wohnbau dieser Art vorzusehen ist, dann ist das höchst problematisch und rückwärtsgewandt, dann erklärt sich das vielleicht aus der Trägheit des mächtigen Systems Wohnbau in Wien und vielleicht auch daraus, dass sich die Stadtplanung auf eine pragmatische Haltung zurückzieht und vielleicht eigene Ansprüche unterordnet. Nachhaltige Raumentwicklung stelle ich mir jedenfalls anders vor.

Woran fehlt es?

Wir stehen vor der Herausforderung, diese Stadt wieder einmal gründlich umrüsten zu müssen, um nächsten Generationen einen zukunfts- und entwicklungsfähigen Lebensraum mit historischer Tiefe, aber auch mit ausreichenden Innovationspotenzialen hinterlassen zu können. Diesem Umbauerfordernis steht viel an Trägheit, an Beharrungskräften entgegen. Wobei ich glaube, dass man gerade in Wien durch die Erfolgsgeschichte der Stadterneuerung einen gewaltigen Wissens- und Erfahrungsschatz hätte, auf den man zugreifen sollte. Nur: Das interessiert offenbar niemanden – schon gar nicht beim Neubauen am Stadtrand.

Dieser einfache Gedanke, dass das, was man heute neu baut, für die nächste Generation ein Erneuerungs- und Anpassungsproblem darstellen wird, dieser Gedanke wird nicht gedacht und schon gar nicht konzeptionell und konstruktiv umgesetzt.

Wir können heute unmöglich prognostizieren, welche räumlichen Ansprüche man in 30 Jahren im Hinblick auf das Wohnen oder das Arbeiten haben wird, und ob es diese Begriffe angesichts solcher Megatrends wie der Digitalisierung überhaupt noch geben wird. Wir wollen aber, dass die Stadtquartiere und Gebäude, die wir heute errichten, eine lange Lebensdauer haben und langfristig gut brauchbar und attraktiv sein werden. Wieso bauen wir aber dann immer noch mehrheitlich Wohnungstypen wie für eine alte Industriegesellschaft, für die das Wohnen und das Arbeiten zeitlich und räumlich ganz streng getrennt waren? Wegen der meistens gewählten konstruktiven Struktur der Gebäude werden diese starren Raumangebote auch kaum nachkorrigiert werden können. Das ist eine urbanistische Erbsünde.

Dabei hätte gerade Wien alle Voraussetzungen, wieder so einen Innovationssprung zu machen, wie es der Wohnbau des Roten Wien in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war, nur diesmal müsste es darum gehen, den monofunktionalen Wohnbau zu überwinden. Das „System Wohnbau“ hat zwar in den vergangenen 100 Jahren viele, auch große und qualitätsvolle Wohnsiedlungen hervorgebracht, aber nie eine wirklich urbane Stadt. Es ist mittlerweile eine historische Erfahrung, dass das mit dieser Art von Wohnbau auch nicht geht. Urbanität ist aber die Schlüsselqualität und die unverzichtbare Voraussetzung, wenn man in Zukunft mit den vorhandenen Ressourcen an Fläche, Raum, Energie und Material auskommen will.

Wir werden sehen, was zu diesen Themenbereichen im nächsten Wiener Stadtentwicklungsplan stehen wird, der ja spätestens im kommenden Jahr beschlossen werden soll. Ich habe bislang nicht mitbekommen, wie da der Stand der Dinge ist. Im Unterschied zu früher wird jetzt offenbar lieber hinter verschlossenen Türen über die Zukunft der Stadt diskutiert.

Spectrum, Fr., 2024.08.09

08. März 2024Wolfgang Freitag
Spectrum

Prater ohne Wursteln: Das neue Pratermuseum eröffnet am 15. März

Zwei Wunder – und ein Architekt, der sich von allen Vorgaben frei macht. Michael Wallraffs neues Pratermuseum oder: Wie man ästhetisch abheben und doch auf dem Boden bleiben kann.

Zwei Wunder – und ein Architekt, der sich von allen Vorgaben frei macht. Michael Wallraffs neues Pratermuseum oder: Wie man ästhetisch abheben und doch auf dem Boden bleiben kann.

Kaiser Franz Joseph begegnet Alexander Van der Bellen. Ludwig van Beethoven stapft zwischen Gustav Klimt, Egon Schiele und Franz Schubert grummelig durchs Gras. Und über allem Batman in den Wiener Lüften. Das neue Pratermuseum macht möglich, was sonst nicht möglich ist – nicht nur auf dem Zeiten und Grenzen überschreitenden Praterwimmelbild, das die Seitenwand im Erdgeschoß füllt, sondern auch mit einer Architektur, die eine andere Sprache spricht als alles, was sie umgibt, und dennoch genau hierher und nirgends sonst hingehört.

Dass derlei geschehen kann, ist zunächst einmal der Sammelbegeisterung eines Wiener Heimatforschers zu verdanken: Über Jahrzehnte häufte Hans Pemmer (1886 bis 1972), von Beruf Lehrer, einen Bestand an Pratermemorabilien an, die bis in die Zeit der Öffnung des kaiserlichen Jagdreviers für die Öffentlichkeit, 1766, zurückreicht.

So war es auch Pemmers Wohnung, in der ein erstes Pratermuseum Heimstatt fand, ehe seine Sammlung 1964 in einen Nebenraum des eben erst errichteten Planetariums übersiedelte – unter der Ägide des damals noch als Historisches Museum der Stadt Wien geläufigen Wien Museums.

„Zugang von zwei Seiten, das Museum obendrauf“

Die Jahrzehnte zogen ins Land, und die Präsentation der Sammlung im Planetarium vermochte den Besucherbedürfnissen wie jenen der Konservatoren immer weniger zu genügen. Und siehe, da geschah das erste Praterwunder: Eine Spielhalle, zwischen Riesenradplatz und Straße des Ersten Mai gelegen, wurde vom Betreiber aufgegeben.

„Ursprünglich hatten wir die Aufgabe zu prüfen, ob man diese Halle so verwenden kann, wie sie ist“, erzählt Architekt Michael Wallraff. „Und da hat sich rasch herausgestellt, dass die in keiner Weise entspricht.“

Nächster Versuch: ein gleich großer Ersatzbau, „aber halt klimagerecht“, so Wallraff. „Da ist dann die Diskussion entstanden: Wenn es eine eingeschoßige Halle ist, wo geht man hinein, an der Straße des Ersten Mai oder auf der anderen Seite? Irgendwann hab ich gesagt: Zugang von beiden Seiten und das Museum obendrauf. Und so ist das Projekt in die Höhe gewachsen.“

Kreatives Chaos?

Man habe sich letztlich von der ursprünglichen Fragestellung gelöst und grundsätzlicher überlegt: „Was gehört da wirklich her? Und wie kann man das nachhaltig, aber auch städtebaulich und typologisch richtig machen?“ Eine vorgabenbefreite Vorgangsweise, wie sie sich manche beim neuen Wien Museum gewünscht hätten. Umso erstaunlicher, dass sich derlei ausgerechnet im Wurstelprater ereignet, einem Terrain, das nicht unbedingt als Hotspot der Baukunst gilt.

Was Wohlgesonnene als kreatives Chaos beschreiben, das individuelle Gestaltungslust der mehr als 80 Praterunternehmer zum Ausdruck bringe, nehmen weniger Wohlgesonnene als Geisterbahn grotesker Beliebigkeiten wahr, in der an die Stelle der subversiven komödiantischen Verve eines Hanswurst allseitiges Durchwursteln getreten ist.

Auch ein obrigkeitlicher Versuch, 2008 mit einer Neugestaltung des Zugangsbereichs ein wenig Haltung ins Unterhaltungs-Tohuwabohu zu bringen, hat nicht mehr als Abgeschmacktes in die Entertainmentwelt gesetzt, diesfalls allerdings um so viel Geld, dass es die dafür amtszuständige Vizebürgermeisterin sogar die politische Karriere gekostet haben soll. Jedenfalls zog sie sich kurz nach dem Desaster aus der Politik zurück.

Das Dach: Sprungschanze, Zelt oder Kasperlmütze?

So blieb das dem Riesenrad 2002 angelagerte Entree des Schweizers Mathis Barz bis dato der einzig ansehnliche Baubeitrag jüngeren Datums zu einem Gelände, dem an seinem Südosteck mit der monumentalen Betonröhre des „Panorama Vienna“ eben erst eine besonders groteske Ergänzung zuteil wurde.

Wie’s ganz anders gehen kann, zeigt jetzt das Pratermuseum vor. Schon das äußere Erscheinungsbild demonstriert gleichermaßen Witz wie Traditionsbewusstsein: Die Lattenfassade der Oberstöcke referiert auf den Bretterbudenzauber vergangener Tage, das Orange dahinter und darunter an unser aller Bedürfnis, nicht alles tierisch ernst zu nehmen.

Das Dach öffnet in seiner Form ein Feld vielfältiger Assoziationen. Und egal, ob man Sprungschanze, Zelt oder Kasperlmütze darin erahnen will, seiner Gestalt ist eine widerständige Heiterkeit eigen, die sich so markant wie liebenswürdig in Szene setzt.

„Einladung zum Spekulieren“

Gut möglich, dass sich derlei Bewusstsein für den dramatischen Gestus aus Michael Wallraffs Zweitprofession, der Bühnenbildnerei, erklären lässt. „Wir wollten eine kleine Landmark setzen“, bekennt er denn auch, und diese hat ausgerechnet in einer Vorgabe der für Stadtgestaltung zuständigen Magistratsabteilung ihren Ursprung. „Ich habe bei der MA 19 angefragt, was aus deren Sicht gar nicht geht“, erzählt Wallraff. „Dort hat man gesagt, der Blick aufs Riesenrad soll frei bleiben.

Damit war klar: Zur Straße des Ersten Mai hin kann man eigentlich recht hoch bauen, denn da verstellen wir das Riesenrad nicht, aber auf der anderen Seite, dem Riesenrad zu, muss es runtergehen. Und so ist diese Dachform entstanden.“ All das und noch etliches mehr, zum Projekt gefasst, hatte freilich nicht mehr allzu viel mit der Ausgangsidee – und den dafür budgetierten Errichtungskosten – gemein.

Und da geschah das zweite Praterwunder: Die Stadt Wien, konkret ihr Kulturressort, hatte Einsehen in Vernunft und Qualität des Vorgeschlagenen und tat, was dieser Tage nur selten geschieht – sie stimmte der Finanzierung dessen zu, was architektonisch überzeugend und kulturpolitisch (zur Aufwertung des Wurstelpraters) richtig war.

Praterattraktion der besonderen Art

So kommen ab 15. März Besucherinnen und Besucher in den Genuss einer Institution, die ihresgleichen nicht bald wo hat: nicht allein der rundum aufgefrischten und mittlerweile beträchtlich erweiterten Sammlung wegen, sondern auch mit sorgsam gestalteten Räumlichkeiten, die das Zeug zu einer Praterattraktion der besonderen Art haben.

Im frei zugänglichen Erdgeschoß mit dem schon erwähnten Riesenwimmelbild, das sein Schöpfer, der Grafiker Olaf Osten, als „Einladung zum Spekulieren“ verstanden wissen will; in den zwei Geschoßen darüber mit einer von Michael Wallraff verantworteten Ausstellungsarchitektur, die bei vergleichsweise noch immer bescheidenem Platzangebot eine Fülle sorgsam ausgewählter Objekte ins rechte Licht setzt, ohne das Publikum mit einer Überfülle zu erschlagen.

Und wer von so viel Vergangenheiten die Gegenwart nicht aus dem Blick verlieren will, dem bieten zwei Balkone die Möglichkeit, sich ein Bild davon zu machen. „Die Idee war, dass man von außen neugierig wird: Da stehen Leute oben – und wie komme ich da hin?“, erläutert Wallraff. „Und dass man am Ende der Ausstellung den Prater zum Ausstellungsobjekt macht.“ Ein Objekt, dessen erfreulichsten Neuzugang seit Jahrzehnten man leider genau von dort nicht sehen kann: das Pratermuseum.

Spectrum, Fr., 2024.03.08

19. Januar 2024Wolfgang Freitag
Spectrum

Otto Wagner und die Nussdorfer Schleuse: Fast wäre hier eine Diskothek entstanden

So original, wie es gegenwärtiges Wissen und Befunden zulassen – und womöglich haltbarer denn je: Otto Wagners Administrationsgebäude an der Nussdorfer Schleuse in Wien-Brigittenau, neu gefasst. Ein Besuch.

So original, wie es gegenwärtiges Wissen und Befunden zulassen – und womöglich haltbarer denn je: Otto Wagners Administrationsgebäude an der Nussdorfer Schleuse in Wien-Brigittenau, neu gefasst. Ein Besuch.

Oje, da ist ja der Herr Architekt, der wird gleich mein grünes Hemd weiß anstreichen . . .“ Der Magistratsmitarbeiter, der da den „Herrn Architekten“ im Vorbeigehen launig anspricht, ist nicht wirklich um sein Hemd besorgt. Jener „Herr Architekt“ nämlich, von Beruf Baumeister und Wolfgang Czernilofsky mit Namen, mag zwar mit mancher Umfärberei in Verbindung zu bringen sein, doch von Textilien konnte dabei bislang noch nie die Rede sein.

Wir befinden uns an der Adresse Am Brigittenauer Sporn 7, und wer hier, wo sich Donaukanal von Donau trennt, mit Wolfgang Czernilofsky durch die Räume geht, könnte leicht glauben, er habe es mit einem hochherrschaftlichen Palais oder mit einem kaiserlichen Schloss zu tun, so akribisch bedenkt Czernilofsky jedes Detail mit Aufmerksamkeit.

Nun, hochherrschaftlich ist das Gemäuer keineswegs und kaiserlich nur gewissermaßen, vielmehr schlichtes Administrationsgebäude, 1898/1899 errichtet für die Donau-Regulierungs-Commission. Und doch: Wem könnte der selbstsicher-souveräne Gestus entgehen, mit dem es sich über die Wasser erhebt?

Bronzelöwen als Wächter

Derlei ist kein Zufall, schließlich ist die Baulichkeit Teil einer Komposition, die ihrem Schöpfer, Otto Wagner, sehr viel mehr war als bloßes Zweckobjekt. „Die Bauten der Donaucanalsperre betreffend, war Wagners Gedanke der der Schaffung eines monumentalen Thores am Eingange des Canales“, wusste die Zeitschrift „Der Architekt“ im Jahr 1900 zu berichten. Entsprechend dominant präsentiert sich, was heute Nußdorfer Wehr- und Schleusenanlage heißt: Namentlich die beiden Bronzelöwen, die da, geschaffen von Rudolf Weyr, auf mächtigen Pylonen Wächterdienste tun, lassen keinen Zweifel darüber, dass hier mehr erfüllt sein sollte als eine bloß technische Funktion.

Dieses „Thor“ passiert heute kaum noch wer. Geblieben ist dagegen die periphere Lage am äußersten Nordzipfel der Brigittenau, die es der Nachfolgeorganisation der Donau-Regulierungs-Commission, der Donauhochwasserschutzkonkurrenz, nicht gerade leichter machte, nach ihrer Übersiedlung in zentralere Lage einen Nachnutzer für das Gebäude zu finden. „Da gab es sogar Pläne, das Haus zu entkernen und eine Diskothek draus zu machen“, weiß Wolfgang Czernilofsky.

Glücklicherweise kam es anders: Mit der Magistratsabteilung 45, zuständig für Wiens Gewässer, wurde ein passender Quartiernehmer gefunden, und im Zuge der für den Einzug nötigen Adaptierungsmaßnahmen entstand die Idee, dem Gebäude sein originales Aussehen zurückzugeben. Denn davon konnte seit Jahrzehnten keine Rede mehr sein.

An Eleganz gewonnen

Auch an diesem Objekt wie an so vielen anderen Otto Wagners hatte sich jenes ominöse Otto-Wagner-Grün breitgemacht, von dem man seit Jahren weiß, dass es erst lang nach Wagner an seine Gebäude – und an seine Stadtbahngeländer – kam. „Otto Wagner hat vorwiegend monochrom gebaut, und zwar monochrom weiß“, sagt Czernilofsky – und sagen die Befunde, die man in einschlägiger Sache längst angestellt hat.

Dass im Licht solcher Erkenntnisse Otto Wagners Werk nicht samt und sonders entgrünt wird, hat gute Gründe: nicht zuletzt den, dass Denkmalschützern auch das zwar nicht originale, jedoch längst gewohnte Bild als schützenswert gilt. So erinnert nur eine Handvoll Geländerlaufmeter unweit der Urania an deren ursprüngliche Farbe, ein helles Beige – und seit Kurzem das bewusste Administrationsgebäude, das, einheitlich in Weiß getaucht, noch an Eleganz gewonnen hat.

Allerdings, mit ein bisschen Farbe allein war’s nicht getan, wollte man sich dem ursprünglichen Erscheinungsbild annähern: Auch die Form der Fenster hatte sich im Lauf der Jahrzehnte deutlich verändert. „Wir hatten zwei kleine Fenster übereinander, mit einem dicken Kämpfer dazwischen, und die Fenster hatten auch noch Sprossen“, erzählt Wolfgang Czernilofsky.

Der historische Zustand dagegen: schlanke, hohe, sprossenlose Fensterflügel. Eine Lösung, die sich, so Czernilofsky, offenbar nicht bewährt hat: „Wir haben durch die exponierte Lage des Gebäudes Regen, der vom Wind mit 100 Stundenkilometern und mehr an die Fenster geschlagen wird. Das haben die ursprünglichen Fenster sicher nicht lang ausgehalten.“ Dazu kommt, dass sich das Gebäude bis heute bewegt: „Wir stehen hier auf einem Schüttgebiet.“ Die Folge: Wenn sich das Gebäude bewegt, verziehen sich die Fenster und werden undicht.

Bewährte Handwerkstradition

Mit einem Trick schaffte Czernilofsky den Spagat zwischen historischer Erscheinungsform und den hier durchaus besonderen Herausforderungen der Funktionalität: Innen sind Passivhausfenster aus Holz in den Rahmen montiert, außen jedoch Aluminiumfenster. Eine Materialwahl, die bei den Denkmalschützern zunächst auf wenig Gegenliebe stieß, allerdings eine besondere Konstruktionsweise erlaubte. „Die Außenebene der Fenster ist gleitend montiert“, erläutert Czernilofsky. Das Verhältnis Fensterstock zu Fensterflügel sei dadurch „unabhängig vom Rest des Gebäudes“. Ergebnis: „Wann immer es beim Haus eine Bewegung gibt – das Fenster bleibt dicht.“ Und seit dem äußeren Holz-Schein mit einer entsprechenden Pulverbeschichtung des Aluminiums Rechnung getragen wurde, ist – so Czernilofsky – auch das Bundesdenkmalamt einverstanden.

Sonst freilich setzte Czernilofsky meist auf bewährte Handwerkstradition: So mussten die Maurer, die den Verputz der Fassade besorgten, entsprechende Expertise in historischen Techniken nachweisen können. Und auch für die teils durchaus herausfordernden Erneuerungsarbeiten an den Verblechungen konnte ein Spengler mit einschlägigem Know-how gewonnen werden.

Da steht es also 125 Jahre nach seiner Errichtung, Otto Wagners Administrationsgebäude für die Donau-Regulierungs-Commission: so original, wie es Wissen und Befunden unserer Tage zulassen – und womöglich haltbarer denn je zuvor. Und für jene, die Otto-Wagner-grünen Ornamenten, Verblechungen und Fensterrahmen nachtrauern, hält es eine charmante Überraschung bereit: Folgend aktuellen Untersuchungen, finden sich Applikationen unter dem weiten Dachvorsprung und ein kleiner Balkon an der stromaufwärts gelegenen Fassade in zartestes Olivgrün getaucht. Kein Otto-Wagner-Grün, gewiss, aber ein bisserl Grün halt doch.

Spectrum, Fr., 2024.01.19

23. August 2023Wolfgang Freitag
Die Presse

Ein Wiener Welterklärer der kleinen Dinge

Nachruf. Mit Luigi Blau verliert Wien einen seiner prägendsten Gestalter der vergangenen 50 Jahre.

Nachruf. Mit Luigi Blau verliert Wien einen seiner prägendsten Gestalter der vergangenen 50 Jahre.

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12. Januar 2022Wolfgang Freitag
Die Presse

Ein Wenigbauer, der Architekturgeschichte geschrieben hat

Er war ein Lehrender, Forschender, ein unbeirrbarer Kämpfer für die Sache der Baukunst – und mit der Arbeitsgruppe 4 auch ein Taktgeber der Nachkriegsarchitektur: zum Tod des österreichischen Architekten Friedrich Kurrent (1931–2022).

Er war ein Lehrender, Forschender, ein unbeirrbarer Kämpfer für die Sache der Baukunst – und mit der Arbeitsgruppe 4 auch ein Taktgeber der Nachkriegsarchitektur: zum Tod des österreichischen Architekten Friedrich Kurrent (1931–2022).

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10. Februar 2021Wolfgang Freitag
Spectrum

Von der Ordnung und Unordnung der Gärten

Seit Tagen schaue ich, da ich diese Zeilen schreibe, auf die Leerstelle in meinem Garten, die mein alter Marillenbaum hinterlassen hat. Gut 90 Jahre alt, wurde er vergangenen Montag gefällt. Vom Wachsen, Vergehen und neu Entstehen. Kagraner Marginalien zur Wiener Siedlerbewegung.

Seit Tagen schaue ich, da ich diese Zeilen schreibe, auf die Leerstelle in meinem Garten, die mein alter Marillenbaum hinterlassen hat. Gut 90 Jahre alt, wurde er vergangenen Montag gefällt. Vom Wachsen, Vergehen und neu Entstehen. Kagraner Marginalien zur Wiener Siedlerbewegung.

Montags um acht war die Welt noch in Ordnung. Nicht die große, weite, wann wäre die je in Ordnung gewesen. Nein, die bescheidene Gartenwelt, die sich, 80 Quadratmeter klein, hinter meinem Siedlungshaus zu Kagran gegen Osten streckt. Gewiss, sogar diese Siedlungsgartenordnung strebt wie alles im Kosmos, ewigen Gesetzen folgend, stets der Unordnung zu, wer wäre Gärtner und wüsste das nicht. Doch bei allem, was da immer vor sich ging, ob sommers, ob winters, bei Regen, bei Schnee, stand da, umtost vom Toben der Jahre, der eine, der Ordnung und Orientierung schuf, wie sehr sich auch alles im Chaos von Wachsen, Werden und wieder Vergehen verlor: ein Marillenbaum, Maßstab für alles, was rundum geschah, als könnt's nicht anders sein und als sei er selbst längst enthoben den Zwängen, die der Zirkel des Lebens jedem sonst aufdrängt.

Vergangenen Montag um acht in der Früh stand er genauso noch da, von zahllosen Stürmen geschüttelt, doch stets ungerührt dem Augenschein nach. Zwar hatte ihm die Zeit Wunden geschlagen, zweimal hatte die Last der Früchte, die er trug, ihn zerbrechen lassen, doch stets hatte er sich aus eigener Kraft neu erschaffen, ein Monarch, der nicht willens schien, sein Siedlungsimperium je aufzugeben, ein Imperium, das er sich, bis ins Kernholz redlich, nicht ererbt, sondern durch Beharrlichkeit gleichsam erwachsen hatte, letzter Zeuge aus der Anfangszeit der Freihofsiedlung, den Zwanzigerjahren, einer Zeit, von der rund um ihn kaum einer noch wusste, mancher auch gar nichts mehr wissen wollte, den einen zu fern, zu fremd jene Tage, zu schmerzhaft anderen vielleicht.

Vergangenen Montag war die Regentschaft zu Ende, erst fielen die Äste, der Stamm folgte bald. Gestürzt lag der Monarch um halb zehn Uhr morgens vor mir, eben noch Alleinherrscher gewesen in einem Reich, das ohnehin schon lang nicht mehr das seine gewesen: ein Gartenreich, das in nichts mehr jenem glich, dem er einst entwachsen, und das doch noch immer Glück spendete jenen, die es bewohnten, wenngleich auf ganz andere Art, als anfangs gedacht.

„Der Garten ist das Primäre, das Haus ist das Sekundäre.“ Kein Geringerer als Adolf Loos definiert schon früh, 1920, die Grundmaxime, der die Siedlerbewegung gehorchen muss, soll sie ihren Zweck erfüllen. Loos weiter, kompromissverweigernd wie oft: „Nur der Mensch, der das Bedürfnis hat, durch Gartenarbeit neben seinem Beruf Nahrungsmittel zu schaffen, hat das Recht, Boden für sich von der Allgemeinheit in Anspruch zu nehmen.“ Und: „Das Sichfreuen am Garten hat nur im Anbauen von Nahrungsmitteln zu bestehen.“

Womit wir Lang- und Längstnachgeborenen unmittelbar auf die Wurzeln der Siedlerbewegung verwiesen sind: die elementaren Versorgungsnöte während und nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die „Kriegsgemüsegärten“, in die hungrige Massen jedes nur greifbare Stückchen städtisches Land vor 1918 verwandeln, finden nach 1918 (und angesichts ungemindert bedrückender Nahrungsmittelknappheit) rasch in wilden Landnahmen ihre Fortsetzung, jetzt freilich mit dem Ziel, den Landnehmern nicht nur durch Eigenanbau von Feldfrüchten aller Art das Überleben zu sichern, sondern darüber hinaus durch Errichtung schlichtester Behausungen ein Dach über dem Kopf zu geben.

Was als disparate Mischung aus bürgerlich, sozialistisch oder gar anarchistisch Bewegten beginnt, organisiert sich alsbald in Genossenschaften. Mit der Einrichtung eines eigenen Siedlungsamts treibt eine eben erst sozialdemokratisch gewordene Stadtregierung die Institutionalisierung der Siedlerei weiter voran – und verleibt sie kurzerhand dem Roten Wien ein, als wär sie nie anders als sozialdemokratisch gewesen.

Auffallend rasch, den Nöten der Zeit gehorchend, ist ein Organisationsprinzip gefunden: Grund und Boden wird von der Stadt bereitgestellt, das Siedlungsamt steuert die Planung bei, Baumaterial wird von der gleichfalls eigens gegründeten Gemeinwirtschaftlichen Siedlungs- und Baustoffanstalt der Gemeinde geliefert (die unter dem Kürzel Gesiba in der Nachkriegszeit zu einem der größten gemeinnützigen Bauträger Österreichs wächst), die Errichtung der Siedlungshäuser wiederum liegt nicht zuletzt in Händen der künftigen Siedler selbst: Statt Kapital (über das ohnehin keiner von ihnen verfügt) bringen sie ihre Arbeitsleistung in die Genossenschaften ein.

Auf diese Weise entstehen in knapper Folge an den Wiener Peripherien mehrere Siedlungsrayone, der größte von ihnen unweit des transdanubischen Ortsteils Kagran: „Am Freihof“, errichtet im Zusammenwirken gleich dreier Genossenschaften, die sich alsbald zu einer einzigen zusammenschließen werden – der Siedlungsunion, die bis heute besteht und mittlerweile ihre ursprüngliche Kernkompetenz, eben den Reihenhausbau, längst für (immerhin stets human dimensionierten) Mehrgeschoßwohnbau aufgegeben hat.

Mehrgeschoßer, ja regelrechte „Volkswohnpaläste“ sind es auch, die schon früh in sozialdemokratischen Wohnbauprogrammen die Flachbauten der Siedlerei in den Hintergrund drängen. Und Grund dafür wird gewiss nicht nur die von allem Anfang an unübersehbare Tatsache sein, dass sich übereinandergestapelt mehr Menschen je Quadratmeter Grundfläche unterbringen lassen als in weitläufigen Reihenhausquartieren. Auch die Idee eines „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ scheint mit dem eher individualistischen Siedlerglück im Kleingarten nicht ideal kompatibel, ganz zu schweigen vom Selbstbewusstsein, das Siedler und ihre Genossenschaften allein deshalb entwickeln, weil sie mit Recht das Gefühl haben dürfen, ihr Geschick selbst in die Hand genommen zu haben. Emanzipation ist zwar allenthalben ein hoch gepriesenes Gut, das politische Parteien freilich lieber für andere fordern, als es in den eigenen Reihen zu leben.

So wird es kein Zufall sein, dass Bürgermeister Seitz erst dann die Reise über die Donau antritt, als im rathausfernen Kagran die neue Wiener Wohnkultur nicht nur am Beispiel einer (alsbald international viel beachteten) „Gartenvorstadt“ zu loben ist. Im Mai 1927 stehen dort nebst der Siedlung „Am Freihof“ auch zwei – im Übrigen eher mediokre – Gemeindebaukasernen zur Eröffnung an. Und dass Seitz bei nämlicher Gelegenheit den skizzierten wohnbauprogrammatischen Konflikt gewandt in Abrede stellt, bestätigt nur dessen Existenz.

Immerhin ist der Stadt die Eröffnung der Freihofsiedlung eine reich illustrierte Broschüre wert, in der neben dem Leiter des Siedlungsamts vor allem der Gestalter der Anlage zu Wort kommt: der Architekt Karl Schartelmüller, Wiener des Jahrgangs 1884 und seit 1913 in Diensten der Stadt. Und nicht nur die Anlage von Straßen und Plätzen, Grundrisstypen für die Häuser samt innerer und äußerer Erschließungsstruktur hat er vorgesehen, sondern selbstverständlich auch, wie die jeweilige Gartenfläche bestmöglich zu nutzen sei: „Für die Anlage der Hausgärten wurden Typenpläne entworfen und die Baumpflanzung einheitlich durchgeführt, um die rationelle Bodenverwertung zu ermöglichen und einen einheitlichen Eindruck der zwischen den Hauszeilen liegenden Gartenflächen zu erreichen.“

Die dazu passenden Fotografien der Broschüre zeigen blühende Obstbäume, niedrige Maschendrahtzäune, Ribisel- und Stachelbeerstauden. Was sie nicht zeigen, weiß meine Erinnerung: ausbetonierte Mistgruben, die neben Gartenabfällen wohl auch die Einstreu aufnehmen sollen, die der jedem Haus eigene Kleintierstall abwirft. Alles im Dienst einer Kreislaufwirtschaft, die sich weitestmöglich selbst genug ist. So sieht sie aus, die Siedlungsgartenwelt, in die jener Marillenbaum gesetzt wird, der mich später durchs Leben begleitet. Gepflanzt muss er irgendwann Ende der Zwanzigerjahre worden sein, wann genau, ist nicht überliefert, nur dass der Baum in den Vierzigerjahren kräftig genug war, einen Halbwüchsigen zu tragen. Etliche Jahrzehnte später hat mir jener, einer der Vorbewohner meines Siedlungshauses, davon berichtet. Und dass er die Pracht der Marillenblüte nie vergessen habe. Wie sie auch mir in Erinnerung bleiben wird.

Meiner eigenen Kindheit, einer in den Sechzigerjahren, ist der Marillenbaum stets als uralt begegnet, ein Stück selbstverständliches arboretrisches Garteninventar, das aus grauer Vorzeit auf uns gekommen schien. Nicht weiter erstaunlich, wie viel an Wandel hatte die Zeit mit sich gebracht, die er bis dahin durchmessen, viel mehr, als es der bloßen Zahl der Jahre gebührend gewesen wäre. 1929 Börsenkrach, 1934 Bürgerkrieg, 1938 Machtübernahme der Nationalsozialisten, anschließend Krieg, danach Wiederaufbau und Wirtschaftswunder, all das schien sich auf die eine oder andere Art in die Schrunden und Klüfte der Rinde eingeschrieben zu haben, wie es sich auch bei den Bewohnern der Siedlungshäuser rundum niederschlug.

Ungenannt die Zahl der Arbeitslosen unter den Siedlern, die während der Weltwirtschaftskrise abermals auf ihren kleinen Garten als wichtigste Quelle der Nahrung zurückgeworfen waren. Ungenannt auch die Zahl unter ihnen, die auf diesem so sozialdemokratisch geprägten Terrain Opfer des Austrofaschismus wurden. Nicht einmal die Zahl jener jüdischen Siedler ist bekannt, die mit „Anschluss“ und regimetreuer Gleichschaltung der Genossenschaft vertrieben wurden. Aktenkundig nur der Fall eines Ehepaars namens Weiss, das, wohnhaft in einem Siedlungshaus gleich gegenüber jenem, das ich selbst heute bewohne, während der Novemberpogrome des Jahrs 1938 von anderen Siedlern auf die Straße geprügelt wurde.

Drei Jahre später weiß die „Illustrierte Kronen-Zeitung“ wortreich vom Geist zu schwärmen, „der Heimat und Front zusammenschmiedet“. Der Anlass: Die „braven Siedler“ der Freihofsiedlung haben verwundeten Soldaten eines Lazaretts „3500 Prachtäpfel“ gespendet, „von denen manche bis zu 50 Dekagramm wogen“, weiters „1500 herrliche Birnen, 30 Kilogramm Weintrauben“ sowie „126 Gläser Dunstobst“. Siedlungsgärtnerei im Dienst der Wehrkraftwiederherstellung. Wie viele Siedler im selben Krieg fielen, ist nicht überliefert.

Karl Schartelmüller übrigens, noch immer im städtischen Dienst, steuert 1939 dem großdeutschen Wien eine Erweiterung seiner Freihofsiedlung bei – und wird drei Jahre später zwangspensioniert: ob aufgrund seiner ungebrochen sozialdemokratischen Gesinnung oder der beharrlichen Weigerung, sich von seiner Frau zu trennen, die nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Halbjüdin“ gilt, ist nicht mehr zu eruieren. Schartelmüller stirbt 1947. In ihrem kleinen Nachruf nennt ihn die Tageszeitung „Neues Österreich“ knapp „einen der hervorragendsten Siedlungsarchitekten“.

Seit Tagen nun schaue ich, da ich diese Zeilen schreibe, auf die Leerstelle in meinem Garten, die mein Marillenbaum hinterlassen hat. Und ich denke an die vielen anderen Leerstellen, geschlagen vom Fortgang der Zeiten, in der Freihofsiedlung wie anderswo im Städtischen. Ich denke an die verschiedenen Läden, die sich bis in die Siebziger-, Achtzigerjahre rund um den Platz in der Siedlungsmitte sammelten, das schmale Papiergeschäft der zarten Frau Hofbauer, den kleinen Fleischer daneben, die Konsumfiliale, das Geschäft mit dem Nähzugehör, die Drogerie der Frau Krückl und die Milchfrau, die Kraft hieß und Stärke vermittelte. Nichts davon hat sich erhalten, der Platz, einst Versorgungszentrum, das die Freihofsiedlung zum autonomen Dorf in der Stadt wachsen ließ, ist ganz Gewerben anheim gegeben, von denen wir seit Kurzem wissen, dass man sie fachsprachlich körpernahe Dienstleistungen nennt: Friseuren, Friseusen und anderer Körperpflegerei. Als kreiste ein Siedlerleben nur mehr um den eigenen äußeren Schein.

Auch sonst ließen sich viele sentimentale oder womöglich düstere Gedanken auf die Verluste verschwenden, die doch jede Veränderung unvermeidlich mit sich bringt. Wie es geschehen konnte, dass wir den Kleinhandel in den Untergang trieben, dass je mehr Geld wir hatten, wir nur umso dringlicher den Billig!-Verheißungen der Diskonter hinterherliefen, je mehr Freizeit wir hatten, nur umso störrischer, nicht zuletzt um Zeit zu sparen, unseren täglichen Einkauf in anonymen Supermärkten zentralisierten, statt ihn zur Begegnung zu nutzen.

Und was würde der gestrenge Herr Loos zu all den Thujenhecken, den verzweifelt von jedem Kräutlein befreiten Rasenmonokulturen, den geschniegelten Blumenrabatten und Rosenäckern sagen, die seine Nutzgartenregel längst außer Kraft gesetzt haben, als hätte es sie ohnehin nie gegeben? Ein letztes Stück, das noch dieser Regel gehorchte, ist vergangenen Montag gefallen, knapp nach acht in der Früh. Eine Pilzkrankheit, die den freundlichen Namen Monilia trägt, hatte meinem alten Marillenbaum von Jahr zu Jahr mehr zugesetzt, trotz aller Interventionen, ihn vor weiterer Unbill zu schützen. Zuletzt hatte sich auch ein Baumschwamm in seine Rinde gefressen, und fast hätte man glauben können, der Baum sage selbst: Es ist genug.

Vergangenen Montag hat er Platz gemacht für ein Neues, von dem noch keiner weiß, was es werden soll. Nur dass es anders wird, als es damals gewesen. Und wie nicht, sind doch auch die Nöte und Notwendigkeiten, die uns plagen, nicht mehr dieselben. Genauso wie uns heute in unseren Breiten die Sorge vor dem Verhungern nicht mehr umtreiben muss, wären ja andererseits die wenigsten von uns noch dazu befähigt, Hühner und Ziegen zu halten oder mit eigener Hände Arbeit ein Siedlungshaus zu erbauen. Und keiner kann wachen Sinnes wünschen, dass es wieder werde wie damals, als solches allgemeiner Wissensstand war, jedenfalls unter jenen, die sich dem Siedlungsgedanken verschrieben.

Zahllose Transformationen hat die Freihofsiedlung erfahren, manche wohl auch erlitten. Und wenn Architekturconnaisseure sich nach Kagran verirren, hört man oft die Klage, was da alles an Zu- und Umbauten mittlerweile geschehen sei. Ich schaue auf die Leerstelle in meinem Garten, sehe Verlust und unvermutete Möglichkeit. Es war gut, wie es war, und aller Erfahrungen nach wird's bald wieder so sein, als wär's immer so, wie's dann sein wird, gewesen.

Spectrum, Mi., 2021.02.10

21. Januar 2020Wolfgang Freitag
Spectrum

Otto Wagner und die Fotografie: Message control à la Wien um 1900

Jüngst entdeckte Fotografien aus dem Nachlass Otto Wagners zeigen den Pionier der modernen Architektur als klug kalkulierenden Medienstrategen. Zu sehen im „Photoinstitut Bonartes“, Wien.

Jüngst entdeckte Fotografien aus dem Nachlass Otto Wagners zeigen den Pionier der modernen Architektur als klug kalkulierenden Medienstrategen. Zu sehen im „Photoinstitut Bonartes“, Wien.

So einfach kann alles sein. Eines Tages, so die Fotohistorikerin Monika Faber, sei eine Frau bei ihr vor der Tür gestanden, eine Mappe in der Hand. Die stamme aus der Verlassenschaft ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, einer Nachfahrin Otto Wagners, und müsse wiederum direkt aus dem Nachlass Wagners stammen. Der Inhalt: gut 80 Fotografien, die zu den erstaunlichsten – und wissenschaftlich wertvollsten – Entdeckungen der jüngeren Wagner-Geschichtsschreibung zählen. Eine illustrative Auswahl ist derzeit in den Ausstellungsräumen von Monika Fabers Photoinstitut Bonartes zu sehen.

Der Reihe nach. Dass Otto Wagner (1841–1918) als einer der bedeutendsten Pioniere der modernen Architektur anzusehen ist, sollte spätestens das Otto-Wagner-Jahr 2018 vermittelt haben. Kaum geläufig dagegen ist, dass sich seine Begeisterung für das Neue keineswegs auf seine Profession im engeren Sinn beschränkte, sondern sich nicht zuletzt auf die Vermittlung seiner Arbeiten erstreckte. Dazu schien ihm neben der Produktion bis heute ungebrochen faszinierender Präsentationszeichnungen insbesondere das rund um das Fin de Siècle noch vergleichsweise junge Medium Fotografie geeignet. Nicht dass Wagner damit allein gewesen wäre. Wie er allerdings Fotografie einsetzte, scheint jedenfalls für das Feld der Architektur ohnegleichen.
Eine gezielte Bildpolitik

Am auffallendsten womöglich die gezielte Bildpolitik, die er betrieb: Es geht ihm keineswegs um die pure, quasi objektive Abbildung der Objekte; ganz und gar subjektiv werden einzelne Details hervorgehoben, dann wieder nachgerade abenteuerliche Bildwinkel und Bildausschnitte gewählt, sei es, um das aus seiner Architektensicht Wichtige zu betonen, sei es, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie ein Gebäude auf einen nur beiläufig vorbeieilenden Passanten wirken mag. Dass Wagner, wie man aus dem nun vorliegenden Bestand erstmals erkennen kann, sich nicht darauf verließ, es genüge, entsprechende Bildausschnitte vor der Reproduktion auf den Abzügen einzuzeichnen, dass er vielmehr Abzüge an den ihm richtig scheinenden Stellen kurzerhand in Stücke teilte, um nur ja keine Missverstände darüber aufkommen zu lassen, was genau er ins Bild gesetzt sehen wollte, ist aus heutiger Sicht mehr als erstaunlich: So etwas, bekennt Monika Faber, habe sie aus dieser Zeit noch nie gesehen. Message Control à la Wien um 1900.

Was Wagner von den meisten seiner Zeitgenossen unterscheide, sei sein „Sensorium für die gestalterischen Möglichkeiten“ der Fotografie im Architekturdiskurs, so Ausstellungskurator Andreas Nierhaus in der vorzüglich gestalteten Begleitpublikation, erschienen in der Fotohof-Edition. Wagner habe offenbar selbst immer wieder die Kamera zur Hand genommen. Andreas Nierhaus: „Dieser im Kontext der damaligen Architektur ungewöhnliche, wenn nicht singuläre Umstand wird durch Äußerungen Wagners untermauert, lässt sich aber zudem durch eine Reihe von Fotografien aus Wagners Besitz belegen, die sowohl Motive seiner Bauten als auch Familienmitglieder zeigen und offensichtlich von einem Amateur aufgenommen wurden.“ Solche Fotografien aus dem privaten Umfeld sind ein weiteres charakteristisches Instrument des Medienstrategen Wagner. Immer wieder greift er in seinen Publikationen auf Illustrationsmaterial aus seinen Wohnungen und Häusern zurück.

Typisches Beispiel: eine Fotografie, die seine Tochter Luise, malerisch an einen Brunnen drapiert, neben dem Gärtnerhaus seiner Hütteldorfer Villa zeigt – publiziert in dem von Wagner verfassten Standardwerk „Moderne Architektur“, dem ersten mit Fotografien ausgestatteten Buch in der Geschichte der Architekturtheorie. Oder: Blicke in das Billardzimmer mit seinem üppigen Interieur, an der Rückwand so gut wie lebensgroße Porträts von Wagner selbst und seiner tief angebeteten Frau Luise.

Blicke bis ins Badezimmer

Ja bis hinein in sein Badezimmer mit der nachmalig berühmt gewordenen gläsernen Wanne lässt Wagner die Leser seiner Publikationen schauen, freilich ohne jenen exhibitionistisch-voyeuristischen Aspekt, der heute Home Storys eigen ist, vielmehr, um am eigenen Beispiel Formen des aus seiner Sicht modernen Wohnens zu illustrieren.

Ganz anders auffällig mehrere auf Untersichten, konstruktive Merkmale fokussierte Aufnahmen von der für Wien fraglos prägendsten Leistung Wagners, des Stadtbahnbaus. Wie raffiniert sich da etwa das Zusammenspiel von mächtigen Steinpfeilern und fast schon fragil wirkenden Eisenstützen entlang der offenen Galerie an der heutigen U4-Station Schwedenplatz zeigt. Und wie bedrückend ist es, dass im Zuge des Umbaus der Stadtbahn zur U-Bahn in den 1970er-Jahren nichts davon erhalten blieb.

Erhalten haben sich, quer durch alle Irrungen der Geschichte, immerhin Otto Wagners Fotografien davon. Erhalten haben sie sich als singuläre Dokumente eines Gestaltungswillens, der im Bewusstsein um die eigene Genialität doch nie der Welt entrückt schien. „Artis sola domina necessitas“, die einzige Herrin der Kunst ist die Notwendigkeit, stand an Wagners Villa in Hütteldorf geschrieben und steht dort bis heute, da sie als Ernst-Fuchs-Villa die Anfechtungen der Zeit überstanden hat.

[ Ein Architekt als Medienstratege. Otto Wagner und die Fotografie: Photoinstitut Bonartes, Wiener Seilerstätte 22, bis 30. April; nur nach Voranmeldung unter info@bonartes.org, 01/236-02-93/40). ]

Spectrum, Di., 2020.01.21

05. November 2018Wolfgang Freitag
Die Presse

Mit untrüglicher Kennerschaft für die Wiener Moderne

Als sie vergangenen Februar einen Beitrag über die Brünner Werkbundsiedlung in der „Presse“ publizierte, gewohnt sorgfältig recherchiert, gewohnt kennerisch...

Als sie vergangenen Februar einen Beitrag über die Brünner Werkbundsiedlung in der „Presse“ publizierte, gewohnt sorgfältig recherchiert, gewohnt kennerisch...

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06. Oktober 2018Wolfgang Freitag
Spectrum

Urbanität mit Rufzeichen

Richard Sennetts Plädoyer für „Die offene Stadt“: so wichtig wie aus der Zeit gefallen.

Richard Sennetts Plädoyer für „Die offene Stadt“: so wichtig wie aus der Zeit gefallen.

Die offene Stadt“: Ein solcher Titel ist in Zeiten, da sich alles ums Abschließen, Ausschließen, um Zäune, Grenzen, ums Auseinanderdividieren dreht, fast schon eine Provokation. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die vormals hochgeschätzte Idee der Öffnung vom Sehnsuchtsziel zur Drohgebärde gewandelt, und wo einst das Gemeinsame gesucht wurde, scheint heute nur mehr das Trennende von Belang.

Dennoch: Richard Sennett macht „Die offene Stadt“ zu seinem Programm. Ja schlimmer noch: In Tagen, da die Vereinfacher allenthalben gefeiert werden, redet der US-amerikanische Soziologe der Komplexität das Wort. Und verweist auf – wen sonst? – die alten Griechen. Schon bei Aristoteles finde sich ein Plädoyer für die Verschiedenheit, denn: Aus ganz gleichen Menschen könne „nie ein Staat entstehen“. Sennett weiter: „So nahm Athen in Kriegszeiten eine Reihe von Stämmen auf und auch Exilanten, die dann in der Stadt blieben. Obwohl der Status dieser Flüchtlinge unklar und unsicher blieb, brachten sie doch neue Denkweisen und neue Handwerke in die Stadt.“ Im Übrigen hätten „fast alle antiken Autoren, die über die Stadt schrieben“, festgestellt, „dass vielfältige, komplexe Ökonomien einträglicher seien als ökonomische Monokulturen“.

Die Syntax der Stadt

Auch stadtplanerische Überlegungen macht Sennett am Altgriechischen fest: am Unterschied zwischen Agora und Pnyx. Hier der Hauptplatz der Stadt, an dem so ziemlich alles geschehen konnte, und das gleichzeitig, da die streng geordnete Welt des Amphitheaters mit seinem klar abgegrenzten Nebeneinander der Menschen und Hintereinander der Funktionen. „Diese beiden Räume“ verkörperten, so Sennett, „unterschiedliche Gefahren“: „Platon fürchtete die geisttötende Macht der Rhetorik in der Pnyx. Die passive, sitzende Menge konnte zum Opfer der Worte werden.“ Die Agora wiederum mochte „in kognitiver Hinsicht geisttötend“ sein, „da sie für eine Anhäufung zusammenhangloser Eindrücke sorgte“.

Dass Sennett eher dem Agora-Modell anhängt, wird nicht zuletzt angesichts des Buchtitels niemanden überraschen, aber: „Wenn man den stimulierenden Charakter der Agora nutzen, den verwirrenden Charakter aber möglichst gering halten möchte, muss der Ort in einer Weise markiert werden, die Orientierung ermöglicht.“ Markierungen vergleichbar Interpunktionen, die ja auch in der Abfolge der Worte für die Betonung der Struktur sorgen: Rufzeichen oder Strichpunkte im urbanen Gefüge, die auf je eigene Weise durch die Syntax der Stadt führen und zugleich die Besonderheit einzelner Orte definieren. Denn: „Der heilige Gral der Stadtplanung ist die Schaffung von Orten mit einem besonderen Charakter.“

Sennetts stadtplanerisches Vademecum weist über Antike, Mittelalter, Gründerzeit bis zu jenen Projekten, an denen er selbst beteiligt war, auch solchen, die gescheitert sind – und warum sie gescheitert sind. Über allem steht die tiefe Überzeugung, dass die Zukunft unserer Städte nicht „in einer selbstzerstörerischen Betonung von Kontrolle und Ordnung“ liegen könne, sondern in der Bereitschaft, Komplexität und Vielfalt von Bedeutungen „über deren bloße Klarheit zu stellen“. Das festzuhalten, sollt's keinen Weisen aus Amerika brauchen, dafür reicht schlichter Hausverstand. Aber den, wir wissen es, gibt's offenbar nur mehr in der Billa-Werbung.

Spectrum, Sa., 2018.10.06

09. März 2013Wolfgang Freitag
Spectrum

Mitten im Neunten

Das gemeinschaftliche Leben von Studenten und Obdachlosen soll ab kommenden Mai an der Währinger Straße, Wien-Alsergrund, geprobt werden: „Vinzirast-Mittendrin“ – vom Zusammenbringen und Dazugehören.

Das gemeinschaftliche Leben von Studenten und Obdachlosen soll ab kommenden Mai an der Währinger Straße, Wien-Alsergrund, geprobt werden: „Vinzirast-Mittendrin“ – vom Zusammenbringen und Dazugehören.

Es zischt, es pocht, es wummert, es kracht. Schlagbohrmaschinen nagen sich in jahrhundertealtes Gemäuer, im Hof wird frischer Mörtel angerührt, unter dem Dach sind die Anstreicher zugange, vor dem Haus wachen die Bauzäune. Vorbei ist es mit der Stille, die das weit in die Währinger Straße vorspringende Haus Nummer 19 jahrelang umflort hat. Bis vor Kurzem ließ sich wenigstens noch an der Fassade ablesen, was da in den Erdgeschoßauslagen einst zu sehen war: Doch auch der Schriftzug „Kinderwagen“ ist mittlerweile unter heller Tünche verschwunden.

„Das Gebäude“, erzählt Alexander Hagner, „ist jahrelang leer gestanden. Die Investoren, die sich das angeschaut haben, sind immer abgesprungen, weil hier nur Bauklasse zwei ist, und das fand jeder uninteressant.“ Bauklasse zwei bedeutet: eine maximale Gebäudehöhe von zwölf Metern. „Das war unser großes Glück“, weiß Hagner, „denn wo findet man sonst in einer Innenstadtlage einen Bauplatz, für den sich niemand interessiert.“ Wiewohl die Bezeichnung „Innenstadtlage“ nicht so ganz genau die örtliche Situierung der Liegenschaft charakterisiert: Zentrumsnah ist sie allemal und, umzingelt von etlichen Universitätsinstituten, den Campus des alten AKH im Rücken, quasi im Mittelpunkt hiesigen Wissenschafts- und Studienbetriebs.

„Man hätte das Haus auch abreißen können“, erläutert Hagner, „aber es war schnell klar, dass wir mit der Grundstruktur des Vorhandenen arbeiten können.“ Hagner ist Hälftepartner des schon mehrfach erfreulich auffällig gewordenen Architekturbüros Gaupenraub. Doch wenn er hier von „wir“ spricht, dann sind nicht er und seine Gaupenraub-Partnerin Ulrike Schartner gemeint, sondern die von Cecily Corti initiierte Vinzenzgemeinschaft Sankt Stephan, die er seit Gründungstagen mit planerischer Tat und fachlichem Rat unterstützt. Das Haus in der Währinger Straße 19 nämlich wird ein Projekt beherbergen, das unter der Ägide von Corti und ihren Vinzi-Mitstreitern entsteht: In der „Vinzirast-Mittendrin“ soll das gemeinsame Leben und gemeinsame Arbeiten von Studenten und Obdachlosen geprobt werden.

Und das kommt so. 2002 lernt Cecily Corti anlässlich eines Vortrags in Wien den Grazer Armenpfarrer Wolfgang Pucher kennen. Der, Mitglied der Vinzenzgemeinschaft, hat 1993 mit einem Dorf aus Baucontainern einen hierzulande neuen Zugang zum Thema Obdachlosenasyl geöffnet: Im „Vinzidorf“geht es nicht darum, jene Menschen, die Zuflucht suchen, zu „resozialisieren“, was sich etwas weniger wolkig als „gesellschaftsfähig machen“ übersetzen ließe, hier will man vor allem deren elementare Bedürfnisse – Essen, Schlafen, Waschen, im Bedarfsfall medizinische Versorgung – befriedigen, ohne diesen Dienst am Nächsten gleich mit einer Art Zurichtungsabsicht zu verbinden.

„Fragen wir den Haselsteiner“

Puchers Ideen folgend, begibt sich Corti, bis dahin in keiner Weise mit dem Thema Obdachlosigkeit befasst, auf die Suche. Ein erster Versuch, die Dorfidee auch in Wien umzusetzen, scheitert am Widerstand von Anrainern, doch die namhafte Spende eines Unternehmers, der das Glück, das er in seinem Erwerbsleben gehabt hat, jetzt, in seiner Pension, teilen will, schafft die finanzielle Basis für den Ankauf eines Gründerzeithauses in der Meidlinger Wilhelmstraße, in dessen Erdgeschoß zügig die Produktion von Pizzateig einer Notschlafstelle weicht. Die „Vinzirast“ ist geboren.

2008 schließlich kann Cortis Vinzenzgemeinschaft Sankt Stephan die Substandardquartiere in den Stockwerken darüber zu Übergangswohnungen ausbauen, in denen ab da Wohnungslose erste Schritte zurück in ein geregeltes Leben tun. Und diesmal ist es der Bauindustrielle Hans Peter Haselsteiner, der dem Vorhaben nicht nur ideell, sondern vor allem mit den erforderlichen finanziellen Mitteln zur Seite steht. Es spricht für sich und für die gute Gesprächsbasis zwischen Haselsteiner und den Wiener Vinzi-Aktivisten, dass Haselsteiner Monate später bei Corti Rat sucht, als sich eine Studentengruppe mit einer einigermaßen ungewöhnlichen Idee an ihn wendet. Die ist im Zuge der Proteste gegen Studienbeschränkungen, landesweit bekannt unter dem Signet „Uni brennt“, im Spätherbst 2009 mit Obdachlosen in Kontakt gekommen, die in besetzten Hörsälen temporär Quartier nahmen und sich nebstbei nützlich machten. „Da ging es darum, schmutziges Geschirr wegzubringen, abzuwaschen, Kaffee auszuteilen, Matratzen herzuräumen, Matratzen wegzuräumen, Gelegenheitsarbeiten eben“, weiß Cecily Corti. „Daraus wollte diese Gruppe ein Projekt entwickeln: Wir bieten Obdachlosen gratis Beratung, und dafür leisten die uns gratis Arbeit, beispielsweise in Form von Putzen. Zufällig kamen sie an dem Haus in der Währinger Straße vorbei, haben gesehen, dass das leer steht. Und da haben sie, wunderbar wahnsinnig, wie Studierende halt manchmal sind, gedacht: Fragen wir den Haselsteiner, vielleicht kauft er uns das.“

Haselsteiner seinerseits, keineswegs einschlägigen Engagements, jedoch einschlägiger Expertise bar, erkundigt sich dort, wo er Expertise vermuten darf: bei Cecily Corti. „Ich hab gesagt: Ja, eine interessante Idee, aber ein bisschen naiv; aus unserer Erfahrung wissen wir beispielsweise, dass man Obdachlose zu Kontinuität und Verantwortung erst langsam hinführen muss.“ Corti und ihre Mitstreiter setzen sich mit den Studenten in Verbindung, gemeinschaftlich feilt man an einem Konzept, das allzu hochfliegenden Idealismus im Boden mehrjähriger Sozialarbeitspraxis verankert. Einer der wichtigeren Punkt, die man in das Studentenkonzept einbringt: dass das Haus nicht einzig von Förderungen leben kann. „Nach Vorstellung der Studenten sollte in dem Haus nur beraten und gearbeitet werden“, erinnert sich Cortis Geschäftsleiter, Christian Spiegelfeld. „Wir aber wussten, es muss da auch eine Wohnsituation sein, aus der wir Mieten generieren, damit das Haus ein Grundeinkommen hat.“

Mittlerweile hat das Vorhaben längst nicht nur auf dem Papier, sondern auch räumlich Kontur gewonnen. Im Haus Währinger Straße 19, mit Haselsteiners Unterstützung angekauft, sind die gröbsten Baumaßnahmen so gut wie abgeschlossen, jetzt steht die innere Feinarbeit auf dem Programm. „Das ist frisch gelegt, bitte nicht draufsteigen!“ Die Intervention des Fliesenlegers kommt fast zu spät, als wir einen gekachelten Treppenabsatz queren. „Hab ich etwas kaputt gemacht?“ Cecily Corti blickt geknickt, doch der Fliesenleger winkt ab: Gerade noch einmal gut gegangen.

Wir wechseln in den zweiten Stiegenaufgang, der uns bis unters Dach führt, vorbei an den zehn WGs mit insgesamt 27 Wohnplätzen, die gleichsam das Herzstück der „Vinzirast-Mittendrin“ bilden. „Für die studentischen Bewohner wird es ein Auswahlverfahren geben“, erläutert Cecily Corti, „da sind wir gerade dabei, das zu definieren. Und bei den Obdachlosen haben wir schon angefangen zu überlegen, wer dafür infrage kommt aus dem Umfeld, das wir kennen. Das sind Menschen, die eine gewisse Hilfe brauchen, weil sie längere Zeit wohnungslos waren oder weil sie ein großes Alkoholproblem hatten.“ Ziel sei freilich auch hier „nicht Integration im üblichen Sinn oder Resozialisierung“: „Das wollen wir offenlassen. Jeder Mensch entwickelt das, was er zu entwickeln imstande ist. Aber die Unterstützung wollen wir geben, dass er an sein Potenzial so weit wie möglich herankommt und nicht ewig den Stempel hat, eine Belastung für die Gesellschaft zu sein.“ Rund 300 Euro Miete pro WG-Zimmer sind zu bezahlen. „Das ist“, meint Christian Spiegelfeld, „für Studenten nach unseren Recherchen ein sehr günstiger Preis, für die Obdachlosen dagegen nicht, aber es ist uns wichtig, dass die Miete für beide Gruppen gleich hoch ist, damit wir nicht schon da eine Abstufung haben.“

Hineinwachsen in die Gemeinschaft

Den erwünschten Begegnungsfluss sollen die Gemeinschaftsküchen in jeder Etage befördern. Oder das Lokal im Erdgeschoß, das, öffentlich zugänglich, auch der Klientel des Umfelds „gutes, günstiges Essen“ – so Cecily Corti – bieten soll. Im großen Veranstaltungsraum des Souterrains sind zudem Diskussionen, Vorträge, Lesungen, Filmvorführungen, kurz Austauschaktivitäten aller Art geplant. Mit den hauseigenen Werkstätten wiederum will man den Obdachlosen ein Hineinwachsen in die Gemeinschaft erleichtern. „Das ist der schwierige Punkt“, weiß Cecily Corti, „dieses Miteinander so zu gestalten, dass die Obdachlosen Anerkennung finden, Freude finden, dass sie Arbeit haben, dass sie Verantwortung übernehmen – begleitet von unseren Ehrenamtlichen. Da geht es nicht darum zu kontrollieren, ob sie ihre Arbeit genau und in der Zeit erledigen, sondern um die Klarheit einer Struktur, die Halt gibt.“

Von all dem wird man sich allerdings ein noch viel besseres Bild machen können, wenn erst der letzte Estrich getrocknet, die letzte alte Tür neu lackiert, der letzte Boden geschliffen ist. Und wenn es gelungen ist, Unterstützer für all die schönen Einrichtungsdinge zu finden, an denen es noch fehlt. Als da derzeit wären: 30 Kleiderschränke und 30 Tische für die Zimmer, 70 Stapelsessel für den Veranstaltungsraum, Innenhandläufe, Feuerlöscher und so weiter und so fort kreuz und quer durch den Interieurbedarf. „Können Sie vielleicht unauffällig unterbringen, dass noch Sponsorengelder notwendig sind?“, fragt Cecily Corti vorsichtig an. Aber gern, schon geschehen.

„Das Projekt ist von Anfang an ein einziger Glücksfall gewesen.“ Alexander Hagner steht zufrieden im Erdgeschoß, dort wo sich dereinst zwischen Tischen und Sesseln, Gläsern und Tellern Begegnung ereignen soll. Und: „Für uns gehören obdachlose Menschen nicht irgendwie raus aus der Gesellschaft, sie gehören dazu. Und dieses Dazugehören, das ist das, was hier städtebaulich, architektonisch transportiert werden soll.“ Dass eine schief geratene Dachrinne an der Fassade seine Architektenseele kränkt, wird er sicher bald vergessen haben. Und übrigens: Im Leben geht – wir wissen es – ja auch nicht alles grad.

Spectrum, Sa., 2013.03.09

24. September 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Boarding mit Josef Frank

So dringlich kann der Aufruf zum Boarding gar nicht sein, dass man sich nicht doch die Zeit nähme, vor dieser verschwenderischen Pracht innezuhalten: vor...

So dringlich kann der Aufruf zum Boarding gar nicht sein, dass man sich nicht doch die Zeit nähme, vor dieser verschwenderischen Pracht innezuhalten: vor...

So dringlich kann der Aufruf zum Boarding gar nicht sein, dass man sich nicht doch die Zeit nähme, vor dieser verschwenderischen Pracht innezuhalten: vor den floral überwucherten Möbelstoffen, die da in großen Glasvitrinen den Flugpassagieren auch längere Wartefristen verkürzen. Sorgsam ist die Entwicklung der Entwürfe aus den Illustrationen schlichter Naturkundeführer nachgezeichnet, sorgsam der Lebensgeschichte des Entwerfers gedacht, sorgsam seine Zusammenarbeit mit dem schwedischen Designunternehmen Svenskt Tenn dargestellt, dessen Bestände die kleine Ausstellung ermöglichten.

Es sind Entwürfe des großen Josef Frank, geboren 1885 zu Baden bei Wien, aber es ist nicht der Flughafen Wien, in dem sie zu sehen sind, vielmehr der Flughafen einer Stadt, die mit Frank so gut wie nichts verbindet: San Francisco nämlich. Noch den ganzen Oktober werden im International Terminal „The Enduring Designs of Josef Frank“ gezeigt. Und da kann man dann schon ins Grübeln geraten: wieso Frank am Pazifik womöglich bekannter ist als an der Donau, wieso man ihn dort mit größter Selbstverständlichkeit mitten ins Leben platziert, während in seiner Heimatstadt einschlägig Bemühte auf den Knien um die Aufmerksamkeit politischer Entscheidungsträger betteln müssen, wenn sie die Errichtung eines kleinen Museums zu Franks Wiener Werkbundsiedlung für angezeigt halten.

Richtig, der Amerikaner an sich, wir Europäer sind uns da üblicherweise ganz sicher, ist ja in kulturellen Belangen eher unbedarft. Im Wiener Rathaus geht es gewiss ganz anders zu.

Spectrum, Sa., 2011.09.24

10. September 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Rand? Erscheinung!

Am 10. September vor zehn Jahren wurde sein Siebziger im Wiener Semperdepot groß gefeiert. „Einen Tag später“, erinnert sich Friedrich Kurrent heute, hätte...

Am 10. September vor zehn Jahren wurde sein Siebziger im Wiener Semperdepot groß gefeiert. „Einen Tag später“, erinnert sich Friedrich Kurrent heute, hätte...

Am 10. September vor zehn Jahren wurde sein Siebziger im Wiener Semperdepot groß gefeiert. „Einen Tag später“, erinnert sich Friedrich Kurrent heute, hätte man nicht mehr feiern können, ja „nicht mehr dürfen“. Und wenn es am heurigen 10. September seinen Achtziger zu feiern gilt, dann wird zwangsläufig sehr viel mehr von jenem Tag danach die Rede sein.

So sei wenigstens in dieser Randspalte an einen erinnert, der gewiss keine Randerscheinung ist: nicht zuletzt als Mitglied der legendären „Arbeitsgruppe 4“ wesentlicher Mitgestalter der heimischen Nachkriegsarchitektur, stets streitbar, widerständig – und bis weit in einen Lebensabschnitt, den andere Ruhestand nennen, von einer Rührigkeit, die nicht so leicht etwas ruhen oder stehen lässt. Dieser Tage erscheint bei Müry Salzmann, Salzburg, sein neues Buch, den „Nullerjahren“ gewidmet. Und es wäre nicht Friedrich Kurrent, fände sich darin nicht auch eine Zukunftsvision: das Projekt einer Synagoge am Wiener Ring, das Kurrent erstmals vor drei Jahren im Architekturzentrum Wien vorgestellt hat.

Der Schmerlingplatz, „zwischen Parlament und Palais Epstein, im Schutze des Justizpalastes“, sei dafür „die richtige Stelle“, meint Kurrent. „Viele Freunde und Fachleute haben mich bisher beim Synagogenprojekt unterstützt. Vom Wiener Bürgermeister erwarte ich eine Antwort.“ Und die sollte er nicht erst zu seinem Hunderter erhoffen dürfen.

Spectrum, Sa., 2011.09.10



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03. September 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Die Lust am Zusammenhang

Einem Bau von Frank O. Gehry oder Richard Meier könne man „heute weltweit begegnen“: „Ihre Wiedererkennbarkeit ist in einem Maße prägnant, dass man in...

Einem Bau von Frank O. Gehry oder Richard Meier könne man „heute weltweit begegnen“: „Ihre Wiedererkennbarkeit ist in einem Maße prägnant, dass man in...

Einem Bau von Frank O. Gehry oder Richard Meier könne man „heute weltweit begegnen“: „Ihre Wiedererkennbarkeit ist in einem Maße prägnant, dass man in diesen Fällen von Markenartikeln zu sprechen begonnen hat“, meint Frank Maier-Solgk, Publizist zu München. Und: In der jüngsten Vergangenheit mache sich „eine entgegengesetzte Entwicklung bemerkbar. Gegen die globale Uniformität von Marken und gegen einen einheitlichen formalen ,Stil‘ gerichtet, meldet sich ein altes Kriterium zurück: das Prinzip der Kontextualität, das auf die spezifischen urbanen Umfelder Bezug nimmt.“

Was manche gerne hören werden. Vor allem jene, denen die Architekturjahrmärkte längst auf die Nerven gehen, die eine rund um den Globus vazierende Truppe internationaler Stars in und an Städten hinterlassen, als ginge es weder um Funktion noch um Einbettung in einen vorhandenen Zusammenhang, sondern einzig um Selbstverwirklichung. Irgendwann hat man sich ja auch an all den architektonischen Freakshows sattgesehen, an den Damen ohne Unterleib, Elefantenmenschen, siamesischen Zwillingen. Gewiss: erstaunlich, was alles möglich ist – aber wozu?

Also, nur herbei mit der „Kontextarchitektur“, die Maier-Solgk nebst vier weiteren Beiträgern zumindest auf dem Gebiet des Museumsbau umkreist: in einem Band der Reihe „Kunst und Philosophie“, seinerseits gedrucktes Ergebnis eines Netzwerkprojekts, das die deutsche Kulturstiftung gemeinsam mit der Ludwig-Maximilian-Universität München zwischen Herbst 2009 und diesem Sommer organisiert hat.

Spectrum, Sa., 2011.09.03

27. August 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Fairness im Unterland

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“...

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“...

Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“ So weit der kühle urbanistische Kriterienkatalog eines Karl Kraus. Und der scheint gedanklich ziemlich weit von jenem Thema entfernt, dem sich die diesjährigen Alpbacher Baukulturgespräche widmen. Da fragt man voll Emphase: „Gibt es die gerechte Stadt?“

Freilich, ehe wir mit Kraus erwidern: Genau so, wie eine Stadt nicht gemütlich sein könne, vermag sie auch nicht gerecht zu sein, das obliege doch wohl eher ihren Einwohnern, werfen wir noch einen zweiten Blick in die Programmvorschau und entdecken dabei Präzisierungen, die die Sache auch dem nüchternen Stadtbetrachter plausibler machen: „In Ghana werden eigenständige und nachhaltige urbane Entwicklungen durch die Dominanz internationaler Investoren infrage gestellt.“ Oder: „Thailand setzt verstärkt auf ökologische Gerechtigkeit und fördert entsprechende infrastrukturelle Konzepte.“ Oder: „Inwiefern sind gerechte Entwicklungen in europäischen Städten in ungerechten Zuständen anderswo begründet?“

Wir sehen schon, da geht's ziemlich weltläufig zu, und weltläufig ist denn auch die Beiträgerrunde, die im Tiroler Unterland zusammenkommt: Zheng Shiling, Leiter des Architekturinstituts an der Tongji Universität von Shanghai. Und: Teekayupun Teerasuk, Vizebürgermeister der thailändischen Regionalhauptstadt Khon Kaen. Und: Dinesh Mohan, Professor am Indian Institute of Technology in New Delhi. Und so weiter und so fort. Ja, auch Wien ist vertreten, mit Maria Vassilakou – denn die ist, was manchem bis dato vielleicht entgangen sein mag, mittlerweile seit einem Dreivierteljahr hierorts amtsführende Stadträtin für Stadtentwicklung.

Eröffnung: 2.September, 9.30 Uhr. Finale: 3.September, 13 Uhr.

Spectrum, Sa., 2011.08.27

13. August 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Denker mit Zauberstift

Während meine frühen Projekte Zeugnis ablegen von meiner Bestimmung, nach einer Architektur zu suchen, die ihre Ursprünge im Zusammenprall grundsätzlich...

Während meine frühen Projekte Zeugnis ablegen von meiner Bestimmung, nach einer Architektur zu suchen, die ihre Ursprünge im Zusammenprall grundsätzlich...

Während meine frühen Projekte Zeugnis ablegen von meiner Bestimmung, nach einer Architektur zu suchen, die ihre Ursprünge im Zusammenprall grundsätzlich abstrakter Formen mit der Topografie einer Landschaft hat, sind meine späteren Häuserserien Bekundungen meiner Obsession, das archetypische Ritual des Wohnens zu erfassen und zu planen.“ Also schrieb Raimund Abraham Anfang der 1990er, da stand die erste Monografie seines Schaffens, „(Un)Built“, vor ihrem Abschluss.

Jetzt, keine zwei Jahrzehnte später und ein Jahr nach Abrahams Unfalltod, liegt „(Un)Built“ wieder vor: in einer zweiten, erweiterten Auflage. „Die erste Auflage war schnell ausverkauft“, berichtet Herausgeberin Brigitte Groihofer, „und über die Jahre habe ich oft mit Raimund Abraham darüber gesprochen, eine erweiterte Neuausgabe anzugehen, aber das Vorhaben kam aus verschiedenen Gründen nicht recht voran.“ Unter anderem deshalb, weil Abraham „immer vorwärts blickte, sich auf die laufenden und auf neue Projekte konzentrierte“.

Abrahams Tochter, Una, gewährte Groihofer Zugang zum Nachlass, nicht zuletzt, um die Dokumentation der noch nicht erfassten Arbeiten Abrahams zu ermöglichen. Der Neuausgabe beigefügt finden sich zudem Texte über Abraham, die Freunde verfasst haben: Kenneth Frampton. Lebbeus Woods. Oder Wolf D. Prix: „Ich sehe Raimund auf einer weiten Ebene, es könnte das Meer sein, er sitzt auf den Grundsteinen seiner Häuser. Seine Augen liegen im Schatten seines Huts, seine Haltung ist die von Rodins Denker. Die linke Hand stützt seinen Kopf, aber die rechte liegt nicht auf seinem Knie, sie hält auch keinen Bleistift. Stattdessen hält sie einen Zauberstift, mit dem er auf seinem Laptop zeichnet.“

Brigitte Groihofer (Hrsg.) Raimund Abraham – (Un)Built, 348S., geb., €74,85 (Springer Verlag, Wien)

Spectrum, Sa., 2011.08.13



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30. Juli 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Schöner sterben

Tanja Jankowiak berichtet über „Architektur und Tod“.

Tanja Jankowiak berichtet über „Architektur und Tod“.

Krankheit, Hinfälligkeit, Tod: Das, könnte man meinen, seien nicht gerade Themen für den freizeitgesellschaftlichen Smalltalk. Andererseits: Was sonst liefert öfter Stoff für unsere Gespräche als die jüngste Diagnose oder der Abschied von einem geschätzten/geliebten Menschen? Ganz abgesehen von den Massen an TV-Unterhaltungsware, die uns mit Einschlägigem versorgen – von der Spitalsserie bis zur Bestattungsinstituts-Saga.

Spätestens seit „Six Feet Under“ wissen wir ja: „Gestorben wird immer.“ Und so wird es niemanden wundern, dass auch die Architektur von alters her Antworten auf vorletzte und letzte Fragen zu geben hatte. „Architektur und Tod“ ist sohin ein reichlich weitläufiges Feld, das die Kulturwissenschaftlerin Tanja Jankowiak für ihr Buch gleichen Namens auf fünf Kernbereiche einengt: Altenheim, Krankenhaus, Hospiz, Bestattungsunternehmen, Krematorium. „Wie die Gebäude, in denen Menschen heute in überwiegendem Maße sterben, gestaltet sind“, will sie zeigen. Und darüber hinaus: „inwiefern auf dem Gebiet der Architektur aktuelle Umgangsweisen mit Sterben, Trauer und Bestattung zum Tragen kommen, und was sich andererseits an der gebauten Architektur über den Umgang mit diesen Themen in unserer Gesellschaft zeigt“.

Entstanden ist daraus ein voluminöses Kompendium, das sich zwar in den fünf im Detail vorgestellten Beispielprojekten auf Berlin konzentriert, in den umfänglichen historischen Einführungen zu jedem der fünf Bereiche freilich weit über Spree und Havel hinausgreift. Ergebnis: wertvolle Einblicke in eine sonst eher vernachlässigte Materie.

Spectrum, Sa., 2011.07.30

23. Juli 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Lust auf Land?

Sabine Pollak sucht die „Zukunft des ruralen Wohnens“.

Sabine Pollak sucht die „Zukunft des ruralen Wohnens“.

Die „Freuden des Landlebens“? Den Titel könnte man für Ironie, wenn nicht gar Zynismus halten. Stundenlanges Pendeln zum Arbeitsplatz; infrastrukturelle Unterversorgung vom Greißler bis zum Zahnarzt; und wenn das letzte Unkraut gezupft, der letzte Fensterrahmen frisch lackiert, der letzte Dachziegel zurechtgerückt ist – was tut man eigentlich dann?

„Ich bin eine Landpomeranze“, bekennt Ute Woltron in einem Beitrag zu dem Band „Die Freuden des Landlebens“. Und weil es darin der Herausgeberin, Sabine Pollak, um nicht mehr und nicht weniger als die „Zukunft des ruralen Wohnens“ getan ist, vorgestellt am Beispiel Niederösterreich, erklärt Frau Woltron auch, warum das so bleiben wird: „Das Leben auf dem Land erscheint heute in einem völlig veränderten Licht als vor 20 Jahren.“ Denn: „Vor allem die Informationstechnologie spielt dem Land ungeheuer zu.“ Die „leichtfüßige Szene der sogenannten Kreativen“ sei keineswegs mehr ortsgebunden. Die Folge: Immer öfter werde sie in Wien gefragt, „ob man nicht eine nette Immobilie ,da draußen‘ kenne“. Am besten samt Garten und Gemüsebeet, schließlich habe auch das „Wühlen in der Erde“ Hochkonjunktur. Nachzulesen in Woltrons allsamstäglicher Kolumne „Gartenkralle“ in der „Presse“.

Selbstredend hat Sabine Pollak nicht nur persönliche Bekenntnisse wie dieses in ihrem Band versammelt, sondern auch raum- und städteplanerische Theorie oder architektonisch Exemplarisches. Wirklich glaubwürdig werden all die schönen Worte freilich erst im gelebten Alltag.

Spectrum, Sa., 2011.07.23

26. März 2011Wolfgang Freitag
Spectrum

Wer als Dritter Erster wird

Zu seinem 124. Geburtstag am letztjährigen 27. März musste man noch warten. Jetzt, zum 125., dürfen wir endlich darin lesen: in der ersten „politischen“...

Zu seinem 124. Geburtstag am letztjährigen 27. März musste man noch warten. Jetzt, zum 125., dürfen wir endlich darin lesen: in der ersten „politischen“...

Zu seinem 124. Geburtstag am letztjährigen 27. März musste man noch warten. Jetzt, zum 125., dürfen wir endlich darin lesen: in der ersten „politischen“ Biografie Clemens Holzmeisters. Wilfried Posch, vormals Leiter der Linzer Lehrkanzel für Städtebau, hat sie vorgelegt – und es nimmt doch einigermaßen wunder, dass sich nicht schon sehr viel früher einer fand, dieses so ergiebige Themenfeld zu beackern: An welcher Person und an welchem Werk ließe sich besser die Verstrickung von Architektur und Politik demonstrieren?

Und zwar gleichsam von Karriereanfang an. Schon das Wiener Krematorium erweist den gebürtigen Tiroler als souveränen Strippenzieher zwischen und über allen politischen Lagern: Wie sich da ein Mittdreißiger gerade noch der katholischen Kirche angedient hat und im nächsten Augenblick bei einem sozialdemokratischen Vorzeigeprojekt reüssiert, das vom Roten Wien gegen den erbitterten Widerstand ebendieser katholischen Kirche durchgesetzt wird, wie er die Voraussetzungen schafft, dass sein Projekt, wiewohl im Wettbewerb nur als eines von mehreren drittgereiht, letztlich als gleichsam einzig richtiges übrig bleibt, das beweist Talente, die über unmittelbar künstlerische Meisterschaft weit hinausgehen. Und die Wilfried Posch am Beispiel Holzmeister paradigmatisch vorführt.

Zeiten ändern sich, ästhetische Vorstellungen auch; Mechanismen der Macht dagegen bleiben erstaunlich beständig. Holzmeister lebt und wird weiter leben. Nicht nur in der (und in seiner) Architektur.

Spectrum, Sa., 2011.03.26

18. September 2010Wolfgang Freitag
Die Presse

Grün ist nicht irgendwas

Ein Symposium im Loisium samt angeschlossenem Wettbewerb bemüht sich um die Gartenkultur.

Ein Symposium im Loisium samt angeschlossenem Wettbewerb bemüht sich um die Gartenkultur.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Die Presse“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

28. August 2010Wolfgang Freitag
Spectrum

Unentbehrlich, seit 300 Jahren

Alpbacher Nachhaltigkeit: Am 3. September beginnen die Baukulturgespräche.

Alpbacher Nachhaltigkeit: Am 3. September beginnen die Baukulturgespräche.

Dass Architektur für sich genommen schon von Vornherein eine eher nachhaltig wirksame Angelegenheit ist, wird jedem einleuchten, der vor den Pyramiden steht. Nachhaltigkeit im engeren begrifflichen Sinne freilich ist nicht seit 5000, sondern erst seit 300 Jahren belegt: Da bekundete ein sächsischer Berghauptmann, eine „nachhaltende Nutzung“ der Wälder sei eine „unentbehrliche Sache“. Spätestens mit Energiekrise und „Grenzen-des-Wachstums“-Debatten erreichte die Idee von den natürlich regenerierbaren Systemen schließlich außerwäldlerische Gedankenkreise. Und weil seither auch schon wieder etliche Jahrzehnte vergangen sind, könnte man meinen, sie sei mittlerweile längst interdisziplinäre Selbstverständlichkeit.

Von wegen. Allein die Tatsache, wie viele Veranstaltungen der vergangenen (wie der künftigen) Monate die Nachhaltigkeit im Titel tragen, lässt ahnen, dass sich auf dem vermeintlichen Gemeinplatz noch immer nur eine Minderheit umtut. Jedenfalls in der Architektur. Und wenn die diesjährigen Alpbacher Baukulturgespräche fragen: „Gehören Nachhaltigkeitskonzepte mittlerweile nicht zum State of the Art jeder Stadt- und Siedlungsentwicklung?“, dann lehrt uns etwa die Wiener Planungspraxis, dass diese Frage weniger rhetorisch ist, als offenbar gedacht. Wer's nicht glaubt, mag in diesem „Spectrum“ bei Reinhard Seiß die Geschichte der Wiener Donau City nachlesen.

Seiß zeichnet übrigens mitverantwortlich für das Programm der Alpbacher Baukulturgespräche, die heuer am 3. und 4.September in Szene gehen. Passendes Motto: „Nachhaltigkeit. Entwürfe und Wirklichkeiten“. Näheres im Internet unter www.alpbach.org.

Spectrum, Sa., 2010.08.28

25. Januar 2009Wolfgang Freitag
Spectrum

Wie mobil kann ein Museum sein?

„Bis vor wenigen Jahren wäre ein derartiges Projekt nahezu unbaubar gewesen.“ Elke Delugan-Meissl, Roman Delugan und Martin Josst über ihr Porsche-Museum, das kommende Woche in Stuttgart-Zuffenhausen eröffnet wird.

„Bis vor wenigen Jahren wäre ein derartiges Projekt nahezu unbaubar gewesen.“ Elke Delugan-Meissl, Roman Delugan und Martin Josst über ihr Porsche-Museum, das kommende Woche in Stuttgart-Zuffenhausen eröffnet wird.

Das Thema Automobilmuseum gehört als Bauaufgabe nicht gerade zum Standardrepertoire der Architektur und fällt auch aus dem bis zur Auftragserteilung 2005 zusammengekommenen Delugan-Meissl-Repertoire heraus. Was hat Sie bewogen, sich um dieses Projekt zu bewerben: die Aufgabe? Die Marke Porsche? Die Chance, auf internationalem Parkett zu reüssieren?

Roman Delugan: Die Umsetzung eines Museumsbaus in seiner Typologie war eine sehr reizvolle Herausforderung, genauso wie die Aufgabe, durch eine Marke wie Porsche ausgelöste Emotionen in eine architektonische Sprache zu übersetzen. Das Unternehmen Porsche an sich war ebenfalls eine Inspiration. Porsche ist mit Leidenschaft, mit Innovation, aber auch mit Tradition und der Neuinterpretation von Bewährtem assoziiert.

Automobilmuseum: Das ist ein in zwei entgegengesetzte Richtungen weisender Begriffszwitter. Museum signalisiert Beharrung und Festhalten, Automobil ist untrennbar mit Bewegung verbunden. Wie kann man das unter ein Dach bringen?

Elke Delugan-Meissl: Im Gegensatz zum Autobau oder etwa zur Raumfahrt gilt der Anspruch auf Mobilität in der Architektur in den seltensten Fällen. Dennoch treffen Begriffe wie „Mobilität“ und „Dynamik“ den Kern unseres architektonischen Zugangs. Die räumliche Organisation, das Leitsystem, Wegrelationen, Räume unterschiedlicher Zonierungen implementieren die Auseinandersetzung mit Geschwindigkeit und Bewegung. Die architektonischen Gegebenheiten im Inneren des Gebäudes werden durch ihre sinnliche Erfahrbarkeit in eine subtile Steuerung der Bewegungsabläufe transferiert. Das weitläufige Raumvolumen des Vorplatzes bis hin zum Foyer, der schmale Zugang über den zentralen Treppenlauf in den darüberliegenden Museumsbereich, der sich nach oben hin weitet und schließlich in eine vollkommene Öffnung des Blickes über den Ausstellungsraum mündet, erzeugen ein kraftvolles Wechselspiel aus Geschwindigkeit und Spannung, Gelassenheit und Ruhe.

Porsche ist als Autohersteller mit seinen musealen Ambitionen im Deutschland dieser Tage nicht allein: Im Mai 2006 öffnete, gleichfalls in Stuttgart, das Mercedes-Benz-Museum seine Pforten, verantwortet von Ben van Berkels UNStudio; im Oktober 2007 folgte in München die BMW-Welt von Coop Himmelb(l)au. Haben diese Entwürfe Ihre Arbeit beeinflusst? Wie ordnen Sie in diesem Umfeld Ihr Porsche-Museum ein?

Martin Josst: Wie am Beginn jedes Entwurfsprozesses haben wir uns natürlich auch im Vorfeld dieses Projektes mit Bestehendem auseinandergesetzt. Wir sehen das Museum in einer Reihe mit bestehenden Automuseen, allerdings nicht in der architektonischen Sprache. Die Frage nach einer Reihung neben Coop oder UN haben wir uns nie gestellt.

Das Jahr 2005 brachte für Sie nicht nur den Zuschlag für das Porsche-Museum, sondern auch für den Neubau des Filmmuseums Amsterdam. Beiden ist der äußeren Gestalt nach eine auffallende Ähnlichkeit eigen. Ein Zufall? Oder haben wir es da mit Markenbildung zu tun: einem Delugan-Meissl-Signet?

Roman Delugan: Das Porsche-Museum ist ohne Zweifel eines unserer wichtigsten Projekte, denn stärker als bei vorangehenden Bauten hatten wir hier die Chance, unsere Auffassung von Architektur umzusetzen und Entwurfsideen in ihrer Gesamtheit zu entfalten. Der gestalterischen Freiheit wurden keine Grenzen gesetzt, die architektonische Sprache wurde seitens der Auftraggeber in hohem Maße anerkannt. In seiner baulichen Erscheinung verkörpert das Museum durchgehend unsere architektonische Vision – ein „lupenreines“ Projekt.

Inzwischen sind für Ihr Büro weitere internationale Großprojekte dazugekommen: Wie weit ist es erstrebenswert, zu den Global Playern der Architektenschaft zu gehören – und unter welchen Umständen nicht mehr?

Roman Delugan: Die Einordnung in die Riege der Global Player geschieht von außen – wenn die eigene Architektur nur noch einer erwarteten Stilrichtung zugeordnet wird, der sogenannte Starkult permanent mit einer starren ästhetischen Aussage verbunden wird und Weiterentwicklung unerwünscht ist, dann ist die Grenze erreicht.

Die soziale Verantwortung des Architekten ist Ihnen etwa dort, wo es um das Thema Wohnbau geht, immer wieder artikuliertes Anliegen. Wie fühlt sich der sozial bewegte Architekt, wenn er in Zeiten der großen Klimadebatten für den Hersteller eher zweckfreier Kohlendioxidschleudern baut und seine Walhalla zur höheren Ehre der Luxusgüterindustrie dann auch noch mitten in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren eröffnet wird?

Elke Delugan-Meissl: Nachhaltigkeit und ökologisches Bauen müssen im Fall des Porsche-Museums in einem größeren, in einem Gesamtzusammenhang betrachtet werden. Das Porsche-Museum stellt eine Aufwertung für das Gebiet dar, eine Initialzündung im Sinne einer Weiterentwicklung des Quartiers Zuffenhausen.

Als Fertigstellungsjahr des Porsche-Museums war ursprünglich 2007 annonciert, die Baukosten wurden mit 50 Millionen Euro angekündigt. Jetzt schreiben wir 2009, und die Baukosten werden unter der Hand mit 100 Millionen Euro angegeben. Worauf sind Verzögerung und doch eher dramatische Baukostenerhöhung zurückzuführen?

Martin Josst: Bis vor wenigen Jahren wäre ein derartiges Projekt aufgrund seiner statischen und konstruktiven Komplexität nahezu unbaubar gewesen. Aufgrund der komplexen Geometrie entstanden unzählige Arbeitsmodelle, anhand derer wir die räumliche Komposition und deren Wirkung konstant weiterentwickelten. Die Übertragung der Gebäudekräfte in die drei tragenden Kerne erforderten Ingenieurleistung von höchster Präzision.

Spectrum, So., 2009.01.25



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03. Januar 2009Wolfgang Freitag
Spectrum

Es grünt so kühn

Ob in „Barry Lyndon“ oder in der „Truman Show“, in „Blow Up“ oder in „Edward mit den Scherenhänden“: Überall finden wir sie, die „Gärten im Film“. Drei Landschaftsarchitekten auf der Suche nach Gartenkunst, wie sie von der Leinwand kommt.

Ob in „Barry Lyndon“ oder in der „Truman Show“, in „Blow Up“ oder in „Edward mit den Scherenhänden“: Überall finden wir sie, die „Gärten im Film“. Drei Landschaftsarchitekten auf der Suche nach Gartenkunst, wie sie von der Leinwand kommt.

Ich bin immer ein begeisterter Gärtner gewesen – Blumen strahlten in meiner Kindheit, wie sie es in mittelalterlichen Handschriften tun.“ Und: „Hinter jedem Garten liegt das Paradies, und einige Gärten sind wahre Paradiese. Meiner gehört dazu.“ Es ist der Große des britischen Independent Films, der hier von seiner Gartenleidenschaft Zeugnis ablegt: Derek Jarman. Und es wäre nicht Jarman, hätte er es sich mit diesem seinem Garten leicht gemacht. Die Fischerkate, die er 1986 auf der Halbinsel Dungeness erwirbt, liegt inmitten einer jämmerlichen Kieswüste mit einem klapprigen Atomkraftwerk als einziger Attraktion in der Nachbarschaft.

Das Gartenkunstwerk aus Treibgut und anderen Fundstücken, aus bodenständigen und angesiedelten Pflanzen, das er in den folgenden Jahren, bis zu seinem frühen Aids-Tod, 1994, einer grimmigen Natur anempfiehlt, verwebt er einmal, 1990, auch in einen Film: „The Garden“ heißt der traumatisch-traumverlorene Streifen voller Anspielungen auf Religion, Aids und Sexualität. Eine der entlegeneren Seitenstraßen, wenn man sich dem Thema „Gärten im Film“ annähert.

Zu entlegen, wenn man sich dabei wie Leonie Glabau, Daniel Rimbach und Horst Schumacher im Dienste der Handlichkeit auf 144 Buchseiten beschränken will. Immerhin: „Über 130 Spielfilme, die einen Gartenbezug zeigen“, haben die drei deutschen Landschaftsarchitekten im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Fachhochschule Erfurt analysiert. Das Ergebnis wartet auch ohne Jarmans „Garden“ mit einer ganzen Reihe überraschender Details auf.

So erfahren wir, dass Michelangelo Antonioni für die zentrale Passage von „Blow Up“ (1966) den Rasen des Londoner Maryon Parks grün anstreichen ließ und die Asphaltwege schwarz. Ergebnis: Der Park wirkt entrückt, fast surreal. Oder schauen wir uns, geführt von dem Autorentrio, Alain Resnais' „Letztes Jahr in Marienbad“ (1960) einmal genauer an: „In der berühmtesten Einstellung des Films gleitet der Blick von einem Balkon hinunter in den weiten Barockgarten von Nymphenburg. Menschen stehen unbeweglich in der Hauptachse. Während sie lange Schatten werfen, fehlen die Schatten der Bäume, Statuen und der Gehölze. Hierfür wurde bei bedecktem Himmel gedreht und mit aufgemalten Schatten gearbeitet.“ Ergebnis, abermals: eine nachgerade gespenstische Verfremdung der Szenerie.

Wir sehen schon: Glabau, Rimbach und Schumacher begnügen sich nicht damit, eine Sammlung von Drehorten und schönen Bildern vorzulegen; sie wollen auch Antworten auf Fragen geben wie: „Warum wurde ein spezieller Garten ausgewählt? Welche räumliche Situationen entstehen auf der Leinwand? Was kann ein Filmgarten gegenüber einem realen Garten?“

Schließlich: Gedreht on location bedeutet ja keineswegs, dass diese location dann auch tatsächlich so ins Bild gerückt wird, wie sie nun einmal ist. Und auch diesen Differenzen zwischen Leinwandschein und Gartenwirklichkeit forschen die Autoren lokalaugenscheinlich nach. Da geht es um unmittelbare Eingriffe in die Gestaltung der Landschaftsräume, der Parterre und Rabatten, der Sichtschneisen, der Brunnen und des sonstigen Gartenmobiliars, wie sie sich an den jeweiligen Orten finden. Hier eine Statue dazu, da ein paar Hecken, die unter Planen verschwinden: Regelmäßig wird die ohnehin schon vorhandene Gartenkunst im Dienste eines filmisch dienlicheren Ausdrucks noch einmal ästhetisch aufgepeppt. Gar nicht zu reden von jenen Fällen, wo ein Filmgarten gar aus mehreren realen Gärten gefügt wird. Man denke an Stanley Kubricks bis auf den heutigen Tag unübertroffenes Historiendrama „Barry Lyndon“ (1975). Kubricks „Hauptanliegen war es, ein stimmiges Bild aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zu erschaffen“, erläutern die Autoren. „Für dieses perfekt inszenierte Bild wurde zum Beispiel das Anwesen der Lyndons aus mehreren englischen Landsitzen zu einem imaginären Ideallandschaftsgarten verschmolzen. Diese Verschmelzungen sind jedoch keine ,Fehler‘, sie erschließen sich nur dem Kenner der einzelnen Drehorte.“ Der Szenograf des Films als Schöpfer einer zwar aus Vorhandenem rekombinierten, und doch auf ihre Art neuen Landschaftsgestaltung, die das Bild von Gartenkunst, das das Kinopublikum nach Haus nimmt, womöglich tiefer prägt, als es die realen Orte vermögen.

Doch auch jenseits aller Eingriffe durch eine Filmcrew formt, was von der Leinwand kommt, naturgemäß unsere Sehgewohnheiten. So definiert der New Yorker Central Park allein schon dank seiner Omnipräsenz in US-amerikanischen Filmen und, ja, auch Fernsehserien längst sozusagen weltweit den Standard dafür, wie ein metropolitanes Grün auszusehen hat. Egal ob Bow Bridge, Sheep Meadow, Lake oder Bethesda Brunnen: Seit gut hundert Jahren sind sie kinematografisches Gemeingut. Mehr als 240 Spielfilme wurden ab 1908 im Central Park gedreht, allein im Jahr 2004 „wurde die Anlage für insgesamt 4000 Drehtage beziehungsweise Fototermine genutzt“, so Glabau, Rimbach und Schumacher. Der globalisierte Stadtgarten.

Und dann sind da noch die Orte, von denen man gar nicht glauben möchte, sie könnte es wirklich irgendwo auf dieser Welt geben: etwa das brechreizend schnuckelige Städtchen Seahaven aus Peter Weirs „Truman Show“ (1998), das unter dem Namen Seaside in Florida zu finden ist. Oder die Pastellsiedlung, in der Tim Burtons „Edward mit den Scherenhänden“ (1990) monotone Vorstadthecken in bizarre Skulpturen verwandelt: Die heißt eigentlich Tinsmith Circle und kann unweit des Städtchens Lutz und gleichfalls in Florida besichtigt werden.

Dass „Gärten im Film“ als „Führer zu Filmgärten in Deutschland, Europa und Übersee“ nicht auch nach Österreich führt, verwundert nicht, trauen doch selbst die Eingeborenen der hiesigen Landschaftsarchitektur bis dato kaum zu, wenigstens das einheimische Publikum breitflächig zu interessieren. Und wenn denn einmal eine nennenswerte Aktivität zu verbuchen wäre wie vergangenes Jahr die Niederösterreichische Landesgartenschau in Tulln, dann bleibt sie, weil jeder erkennbaren Pressearbeit bar, so gut wie ohne reflektierende Resonanz.

Übrigens: Auch die „Gärten im Film“ waren vergangenen Sommer auf dem Tullner Gelände zu Gast – mit drei Filmen und einer Einführung durch Leonie Glabau. Aber davon hat außer den Lurchen in der Tullner Au leider kaum jemand erfahren.

Vielleicht findet sich ja an anderem Ort einmal Gelegenheit, den „Gärten im Film“ noch einmal – und diesmal unter Einschluss der Öffentlichkeit – cineastisch nachzuspüren. Was man in Erfurt seit fünf Jahren jährlich kann, wird man ja hierzulande wenigstens einmal zusammenbringen

Spectrum, Sa., 2009.01.03

07. Dezember 2008Wolfgang Freitag
Spectrum

Fehlt nur noch Surround Sound

Das Schwarz der Architekten. Die Schwierigkeit, einen guten Stuhl zu bauen. Der Ziegel des Jahres. Neue Architektur- bücher: über Le Corbusier, Hiesmayr, Mies van der Rohe, die Jungen, die Wilden und die jungen Wilden.

Das Schwarz der Architekten. Die Schwierigkeit, einen guten Stuhl zu bauen. Der Ziegel des Jahres. Neue Architektur- bücher: über Le Corbusier, Hiesmayr, Mies van der Rohe, die Jungen, die Wilden und die jungen Wilden.

„Weil sie um ihre Zukunft fürchten“, antwortet Wolf D. Prix. „Weil sie sich scheuen, Farbe zu bekennen“, erwidert Florian Lichtblau. Und Hani Rashid behauptet gar: „Um sich im Raum aufzulösen.“ Die Frage, die ihnen allen und noch gut 100 weiteren Architekten weltweit von Cordula Rau gestellt wurde: „Why Do Architects Wear Black?“ Und die ist zugleich Titel des von ihr herausgegebenen Bandes, der höchst unterschiedliche Annäherungen an die höchst diffizile Fragestellung versammelt: von witzig-polemisch über seriös bis zu bierernst (228S., geb., €18; Springer Verlag, Wien). Rückschlüsse auf die Architektur der jeweiligen Wortspender sind erlaubt, aber nicht immer sinnfällig.

Kennen Sie die Zedlitzhalle?
Ein Prater mit Rotunde. Die Kuppel des Zirkus Schumann in der Märzstraße. Und das Gebäude der Gartenbaugesellschaft am Parkring samt der benachbarten lang gestreckten Zedlitzhalle: „Wien von oben“, will sagen in Flugaufnahmen, entstanden zwischen 1890 und 1935, präsentiert ein ebenso betitelter Band, den der Wiener Album Verlag hervorgebracht hat. Für alle, die wissen wollen, wie das wirklich ausgeschaut hat, damals, als die Zeit zwar alt, aber sicher nicht immer gut war (120S., geb., €22).

Die Jungen und die Wilden.
Die „Architekturkonzepte einer Generation, die bald in Praxis und Theorie der Architektur tonangebend sein wird“, wollte der amerikanische Architekturpublizist Kieran Long porträtieren. Zustande gekommen ist ein mutig disparates Kompendium unterschiedlichster Stile und Herangehensweisen: „Young Architects – Die Avantgarde“ (352S., geb., €49,95; Callwey Verlag, München). Heimische Beiträge unter den 100 vorgestellten Büros: Caramel, Feld72, Next Enterprise und Purpur.

Die Landfresser.
Golfplätze, die aus Wüsten wachsen. Vorstädte, die sich, jedes Stück freies Land verzehrend, ins städtische Umland fressen. Parkplätze, die viel größer sind als der Raum, den sich die Menschen zum Leben zugestehen. All das sind längst keine US-amerikanischen Spezialitäten mehr, aber in den USA hat sie Alex MacLean fotografiert, von seiner kleinen Cessna aus. „Over – Der American Way of Life oder Das Ende der Landschaft“ ist sein Band betitelt: ein Blick über den Atlantik – und in unsere unmittelbare europäische Zukunft (336S., geb., €58; Schirmer/Mosel Verlag, München).

Ein Atlas ohne Österreich.
Ja, es gibt sie auch in Österreich, die zeitgenössische Landschaftsarchitektur. Noch nicht wirklich im allgemeinen Bewusstsein verankert vielleicht. Und vielleicht auch noch nicht durchgängig auf dem Niveau von Ländern, wo dieses Bewusstsein auf jahrhundertelangen Traditionen aufbauen kann (Frankreich! England!). Die findet man auch prominent vertreten im „Atlas der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur“, den Àlex Sánchez Vidiella im Dumont Verlag, Köln, herausgegeben hat (600S., geb., €68). Österreich findet man nicht. Noch nicht?

Stadtforscher unterwegs.
Michael Zinganel wandert durch Wien und Graz „zwischen Bildungsauftrag und widerständigen Lesarten“. Meike Günther reist „durch Geschichten chinesischer Gegenwartskünstler“. Und Eberhard Syring beobachtet am Beispiel Bremen den „bebauten städtischen Raum und die Bilder, die wir (uns) von ihm machen“. Alles zusammen und noch etliches mehr haben Elke Krasny und Irene Nierhaus in dem Band „Urbanografien – Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie“ zusammengefasst (208S., brosch., €39; Reimer Verlag, Berlin), der am 15.Dezember im Wiener Museum auf Abruf (Felderstraße 6–8) im Rahmen einer Podiumsdiskussion vorgestellt wird. Beginn 19 Uhr.

Ein Guter Stuhl? Schwierig!
„Es ist schwieriger, einen guten Stuhl zu bauen als einen Wolkenkratzer“, soll Ludwig Mies van der Rohe einmal bekundet haben. Und der wusste, wovon er da sprach: Schließlich gehören Stühle und anderes Mobiliar gleichermaßen zu seinem weiten Betätigungsfeld wie Hochhäuser. Bei Hatje Cantz, Ostfildern, hat man sie versammelt, den Pavillonsessel für Barcelona, den Freischwinger für Stuttgart, das Lilly-Reich-Geflecht und alles andere, was zu den Innenraumkonzepten Mies van der Rohes zu sagen ist: „Mies und das Neue Wohnen – Räume, Möbel, Fotografie“, herausgegeben von Helmut Reuter und Birgit Schulte (288S., geb., €49,80).

Nachgelassene Welterfahrung.
„Der Architekt beginnt bei Form und Fuge“, notierte er zu Alvar Aaltos Sommerhaus. Und zum Museumsquartier: „Die Zweite Republik hat die Chance verspielt, durch einen Abbruch der Reithalle, einem Dutzendprodukt des Historismus, einen Platz im Kern der Stadt zu bilden.“ Es ist ein Vermächtnis, das uns Ernst Hiesmayr (1920 bis 2006) mit einer Sammlung kommentierter Fotografien von Bauwerken quer durch Länder und Zeiten hinterlassen hat: kommentiert durch ihn selbst und durch von ihm ausgewählte Zitate aus der Philosophie des Orients wie des Okzidents. Jetzt bei Springer, Wien: „Geschautes – Bilder einer Welterfahrung“, herausgegeben von Walter Zschokke, Hildegard Burgstaller und Michael Hiesmayr (272S., geb., €29,95). Präsentiert wird der Band am 9.Dezember in der Wiener Aula der Wissenschaften (Wollzeile 27a). Beginn 18.30 Uhr.

Der Le-Corbusier-Ziegel.
Der Ziegel des Jahres kommt nicht von Wienerberger, sondern vom Berliner Phaidon Verlag. Doch für das Leben eines der ganz Großen ist ein Volumen von 420 mal 320 mal 85 Millimeter allemal angemessen: „Le Corbusier: Le Grand“ von Jean-Louis Cohen und Tim Benton ist nicht noch eine, sondern die visuelle Biografie, und das Übermaß rechtfertigt sich in diesem Fall durch die sinnliche Fülle des Gebotenen: von Zeichnungen bis zu persönlicher Korrespondenz, von Fotografien bis zu Zeitungsartikeln (624S., geb., €150). Architektur in Cinemascope. Fehlt nur noch Surround Sound.

Spectrum, So., 2008.12.07

11. Mai 2008Wolfgang Freitag
Spectrum

Architekturtage 2008. Ganz Österreich: ein offenes Haus. Und Pressburg noch dazu.

Alles Architektur!

Alles Architektur!

Was der Musik, den Museen, den Kirchen die „Langen Nächte“ sind, das sind der heimischen Architektur die Tage. Kein Wunder, schließlich kann man ja im Dunkeln zwar tadellos Musik hören, Museen besuchen oder Andacht üben, nur eingeschränkt jedoch Stadtbilder oder Fassaden inspizieren, was die Nutzung des Tageslichts zur Architekturbetrachtung nahelegt.

Nebstbei braucht die heimische Architekturszene auch keineswegs das Licht zu scheuen: Von politikinduzierten Ausreißern wie dem neuen Entree des Wiener Wurstelpraters abgesehen, präsentiert sich das hiesige Baugeschehen grosso modo wesentlich erfreulicher, als es die Expertise vor allem öffentlicher Auftraggeber und rechtliche wie administrative Rahmenbedingungen eigentlich erwarten ließen.
Und wer's nicht glauben will, der kann sich ja vom architektonischen Status quo selbst überzeugen: zizerlweise Tag für Tag - oder eben biennal „erdbebenartig“, wie das Architekturtage-Mitinitiator und „Spectrum“-Autor Christian Kühn anlässlich der ersten Architekturtage im September 2002 formulierte.

Mittlerweile ist das österreichweite architektonische Schaulaufen in den Frühling verrutscht, aber sonst der programmatischen Linie der ersten Stunde treu geblieben: neben dem Angebot kundiger Führung vor allem auch Zugang zu Orten zu schaffen, die üblicherweise für die Öffentlichkeit unzugänglich sind. Heuer beispielsweise in Johann Georg Gsteus Müllzentrum Meidling oder in die Verbund-Zentrale am Wiener Hof. Dazu noch der auch schon traditionelle Blick über die Grenze nach Pressburg - und, ganz neu, ein eigenes Kinderprogramm. Am 16. Mai beginnt's, am 17. Mai endet's - aber aller Architekturtage Abend ist das dann sicher noch lange nicht. Näheres unter www.architekturtage.at.

Spectrum, So., 2008.05.11

02. Oktober 2004Wolfgang Freitag
Spectrum

Kopflos zur Kunst?

Wie entwirft ein Architekt, wie entwirft ein Designer, was er entwirft? Mehr mit Herz? Mehr mit Hirn? Oder mit beidem zusammen? Eine Nachforschung am Beispiel aktueller Architektur- und Designbücher.

Wie entwirft ein Architekt, wie entwirft ein Designer, was er entwirft? Mehr mit Herz? Mehr mit Hirn? Oder mit beidem zusammen? Eine Nachforschung am Beispiel aktueller Architektur- und Designbücher.

Wie entwirft ein Architekt, was er entwirft? Wir Nichtkreativen tun uns naturgemäß schwer, uns Schaffensprozesse welcher Art immer zu imaginieren. Wie komponiert der Komponist? Wie dichtet der Dichter? Hat man sich das Entwerfen, Dichten, Komponieren tatsächlich so vorzustellen, wie es uns Film- und Fernsehindustrie üblicherweise vor Augen führen? Quasi als Akt der Selbstbefreiung nach langen quälerischen Gefühlsschüben? Oder, alternativ, genialisch, mit leichter Hand, ein hingetupftes Irgendwie, das doch sofort vollendete Meisterschaft bekundet? Jedenfalls: kopfloses Gebeuteltsein vom Wirken metaphysisch-irrationaler Mächte?

Die Antworten der Realität enttäuschen regelmäßig allzu hoch gespannte Erwartungen. Wie gern hätte man doch das Gesicht der Interviewerin gesehen, die von Josef Hader kürzlich auf die Frage, woher denn die Ideen für seine Programme kämen, erfahren musste: „Das ist ganz einfach: Je mehr man nachdenkt, desto mehr fällt einem ein.“ In der Tat: Nichts ist trivialer als die Wirklichkeit. Und so darf es uns nicht wundern, wenn auch Architekten wie Günther Domenig, Gustav Peichl oder Delugan[*]Meissl über das Wie ihres Entwerfens eher wenig Sensationelles zu Protokoll geben. Beispiel Delugan[*]Meissl: „Wir entwerfen natürlich nicht unemotional, aber immer auf der Basis des Wissens um das, was ein Gebäude können und leisten muss.“ Wie sonst, möchte man ergänzen. Dennoch oder vielleicht genau deshalb lesenswert: was Peter Lorenz bei weiteren 24 Architekten und Architektenteams über ihr „Entwerfen“, so auch der Titel seines Bandes, herausgefunden hat.

Und es sind selbstredend nicht nur Entwerfer, sondern auch Entwurfsprofessoren, die zum Match Herz gegen Hirn, so es denn überhaupt eines ist, Gewichtiges zu sagen haben. „Entwickle eine umfassende Technik, dann kannst du dich der Gnade der Inspiration überlassen“: Diese Empfehlung eines nicht näher bekannten japanischen Musikerziehers stellte Hans Puchhammer, seines Zeichens 16 Jahre lang Lehrender an der Abteilung Hochbau und Entwerfen der Technischen Universität Wien, in den Achtzigern an den Anfang eines Ausstellungskatalogs voller Studienarbeiten. Ein Grundsatz, dem er unübersehbar auch in seinem eigenen Werk gefolgt ist, wie die Puchhammer-Monografie „Bauen kann Architektur sein“ belegt.

Dass selbst bei einem so sehr den Primat des Schöpferischen signalisierenden Bau wie dem Kunsthaus Graz kühle Pragmatik die Form bestimmen kann, weiß Colin Fournier, gemeinsam mit Peter Cook verantwortlich für den „Friendly Alien“ am Lendkai, in der gleichnamigen Kunsthaus-Graz-Dokumentation zu berichten: Dieses sei „weniger das Ergebnis einer stilistischen Entscheidung als das ungeplante Ergebnis einer Reihe von Zufällen“. So habe beispielsweise das Grundstück eine so komplexe Geometrie aufgewiesen, „dass daraus die kurvige Gebäudeform entstehen musste“. Kurz: „Die Form des Gebäudes hat für uns weniger mit ästhetischer Rhetorik als vielmehr mit der ,Stärke des Unvermeidlichen' zu tun.“

Gerade mit dieser Stärke des Unvermeidlichen planerisch souverän zurechtzukommen, das kann seinerseits eine besondere Stärke sein. Man denke an das Wiener Büro Nehrer + Medek, wie es von Liesbeth Waechter-Böhm in einer umfassenden Monografie porträtiert wird: „Die experimentelle Vision ist nicht ihr Anliegen. Sie setzen Programme um, unter heutigen Bedingungen, mit heutigen Mitteln, im Rahmen der jetzt geltenden Usancen.“ - Und wie sieht Entwurfsarbeit direkt auf dem Zeichenblock aus? Ein jüngst in einem Archiv aufgefundenes Skizzenbuch der großen französischen Designerin Charlotte Perriand (1903 bis 1999), die Ende der Zwanzigerjahre im Atelier Le Corbusier maßgeblich an der Entwicklung der Inneneinrichtungen mitgewirkt hat, fördert, im Faksimile abgedruckt und von Arthur Rüegg kommentiert, abermals wenig Erstaunliches, schon gar nicht emotional Aufgeladenes zu Tage: klare übersichtliche Studien zu Tischen, Stühlen und Fauteuils, dazu technische Anmerkungen, auffällig nüchtern allesamt.

Und im Fall der Realisierung mit dem Vorzug unmittelbarer Sichtbarwerdung ausgestattet, wie er den Entwürfen von Designern und Architekten grundsätzlich eigen ist: Erst Objekt geworden, steht das Entworfene fertig vor uns da. Nicht so, was Landschaftsarchitekten konzipieren: Die müssen nicht selten gut und gern 20, 30 Jahre warten, bis sich all ihr Gesätes und Gesetztes so ausgewachsen hat, wie sie es sich in ihren Köpfen und auf Papier zusammenfabulierten. Penelope Hill hat für ihre „Contemporary History of Garden Design“ herausragende europäische Beispiele zusammengetragen: ein machtvolles Kompendium, was werden kann, wenn man es werden lässt.

Wo nach Meinung mancher nichts mehr werden soll, weil eh schon genug geworden ist, dort ist das Signet „Unesco-Weltkulturerbe“ nicht weit, das sich derzeit epidemisch über den Globus verbreitet. Auch die Wiener Innenstadt darf sich seit einiger Zeit dieses angeblich fremdenverkehrsfördernde Federchen an den Stephansturm stecken. Das Ende aller Entwerferei, weil damit die Stadt unter einem Glassturz der Unveränderlichkeit verschwindet? Nicht doch, versichert Manfred Wehdorn in seiner Weltkulturerbe-Wien-Dokumentation. Zwar sei „die Bewahrung des Stadtkörpers von zentraler Bedeutung“: „Ebenso wichtig ist aber auch, dass zukunftsweisende Formen von Architektur und Städtebau in den historischen Stadtkörper integriert werden können.“ Die Wiener Architekturdebatten der nachkulturerblichen Vergangenheit lassen anderes erahnen. [*]


Peter Lorenz: Entwerfen. 25 Architekten - 25 Standpunkte. 160 S., geb., € 71,90 (Deutsche Verlags-Anstalt, München).

Hans Puchhammer: Bauen kann Architektur sein. Mit Geleitworten von Friedrich Achleitner und Otto Kapfinger. 176 S., brosch., € 35 (Pustet Verlag, Salzburg).

Liesbeth Waechter-Böhm: Nehrer + Medek. 30 Jahre Architektur im Kontext. 192 S., Ln., € 46,30 (Pustet Verlag, Salzburg).

Arthur Rüegg (Hrsg.): Charlotte Perriand - Livre de Bord 1928-1933. 288 S., geb., € 70 (Birkhäuser Verlag, Basel).
Dieter Bogner, Kunsthaus Graz AG (Hrsg.): A Friendly Alien - Ein Kunsthaus für Graz. Mit Beiträgen von Peter Cook und Colin Fournier. 252 S., brosch., € 32 (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern).

Penelope Hill: Contemporary History of Garden Design. European Gardens between Art an Architecture. 262 S., geb., € 82,50 (Birkhäuser Verlag, Basel).

Manfred Wehdorn: Wien. Das historische Zentrum: Weltkulturerbe der Unesco - Eine Dokumentation. Mit Beiträgen von Peter Csendes und Mario Schwarz. 148 S., geb., € 60,70 (Springer Verlag, Wien).

Spectrum, Sa., 2004.10.02



verknüpfte Publikationen
Nehrer + Medek, 30 Jahre Architektur im Kontext
Hans Puchhammer: Bauen kann Architektur sein
Entwerfen. 25 Architekten 25 Standpunkte
Charlotte Perriand - Livre de Bord 1928-1933
A Friendly Alien - Ein Kunsthaus für Graz
Wien. Das historische Zentrum
Contemporary History of Garden Design

31. Juli 2004Wolfgang Freitag
Spectrum

Viele Strände, kein Meer

Ein einsames Mauerstück. Dieses „Investoren aller Länder, vereinigt euch“. Ein Luftschloss aus Geschichtsversessenheit. Und der Sexappeal der Armut. Berlin: eine Metropole auf der Suche nach sich selbst.

Ein einsames Mauerstück. Dieses „Investoren aller Länder, vereinigt euch“. Ein Luftschloss aus Geschichtsversessenheit. Und der Sexappeal der Armut. Berlin: eine Metropole auf der Suche nach sich selbst.

EIN MAUERSTÜCK steht am Potsdamer Platz. Beschrieben, bemalt, von Souvenirjägern löchrig geschlagen. Ziemlich verloren steht es da, übermannshoch, einen guten Meter breit, einer von 45.000 gleichen Betonteilen, die einst die Trennung Berlins auf ewig zu befestigen schienen. Die 44.999 anderen? Teils Berliner Gedenkstätteninventar, teils als zertifizierte Geschichtshäppchen über die ganze Welt verstreut, in der Mehrzahl freilich - und banaler noch - zerkleinert und zermahlen unter jene neuen Asphaltdecken verbracht, die das große ganze Deutschland zumindest straßenverkehrsmäßig wiedervereinigen.

„Die Mauer wird auch in 50 oder 100 Jahren noch bestehen bleiben“, prophezeite Erich Honecker, man schrieb den Jänner 1989, im Rundfunk seiner DDR. Heute, 15 Jahre später, steht ein letztes, einsames Mauerstück am Potsdamer Platz, auf Nichtigkeit geschrumpft vor all den aktuellen Potsdamer-Platz-Architekturen, vor diesem Beton, Stahl und Glas gewordenen „Investoren aller Länder, vereinigt euch!“, das sich da hochhaushoch in den Himmel schiebt. Das soll die Mauer gewesen sein, vor der sich alle so gefürchtet haben?

Das hundertfach todbringende Trauma einer Stadt, ja eines ganzen Landes, ausgestellt und vorgeführt, der Lächerlichkeit preisgegeben, ein Dokument der Geschichte als Dekor, fescher Aufputz modernistischer Fassaden. Hie ein Stück Mauer, da, ein paar Schritte weiter, der Ampelturm, der schon in den Zwanzigerjahren den Verkehr hier regelte, heute sinnlos grün und gelb und rot signalisierend, denn keiner schaut nach ihm, ebenso verloren mitten auf dem Trottoir wie das Mauerstück, dafür umweht von jenem seltsamen Duft der Nostalgie, der in uns die Erinnerung an die brodelnde Zwischenkriegsmetropole wachruft, ohne uns gleichermaßen an lästige Nebenerscheinungen wie Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und Armut zu gemahnen.

JE NUN, ARM IST BERLIN ja auch heute, bekennt der Regierende Bürgermeister der Stadt, Klaus Wowereit: „Arm, aber sexy.“ Ein Appeal, der die Tourismuszahlen derzeit um zweistellige Prozentwerte steigen lässt. Hauptsache also, die Besucher kriegen nichts mit von den Alltagsproblemen. Und falls doch, macht's auch nichts: Schließlich ist es, so Wowereit, „nicht unbedingt Reichtum, was Städte attraktiv macht“.

Da muss man nicht gleich an jene wohligen Schauer denken, die sich der betuchte Wohlstandsbürger bei seinen Aufenthalten in Ländern der Dritten, Vierten Welt zu bescheren pflegt angesichts einer existenziellen Not - Schrecklich, nicht? -, die er sonst nicht einmal mehr vom Wegschauen kennt. Der Nichtreichtum kann auch moralisch unanfechtbar anziehend wirken: zum Beispiel wenn er potenziellen Bewohnern niedrige Mieten beschert. Michel Goin etwa ist vor fünf Jahren nach Berlin übersiedelt, weil ihm seine Heimatstadt, Paris, schlicht zu teuer geworden war. Jetzt hält er am Hackeschen Markt seine aus altem Silberbesteck zurechtgebogenen Kerzenhalter feil und ist's zufrieden, auch wenn das Geschäft wie in diesem verregneten Sommer einmal nicht besonders läuft: „Macht nichts, die Wohnung kann ich mir auch so leisten. Kein Vergleich mit Paris.“ Weltläufigkeit zum Diskontpreis: Wo gibt's das sonst?

Tatsächlich ist es keineswegs nur die geballte Finanzkraft multinationaler Konzerne, die Berlin wieder zu alter Größe hinaufstemmt, zumindest genauso wichtig auf dem Weg zurück zur wirklichen Weltstadt ist der Zuzug einer jungen Kunstszene, die hier zu konkurrenzlosen Konditionen Kost und Logis findet - und nicht zuletzt eine kaufkräftige wie kunstsinnige Sammlerklientel. Wie etwa Familie Hoffmann. Acht Jahre ist es her, dass Erika Hoffmann gemeinsam mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Rolf, Textilindustrielle und unter anderem mit der Nobelmarke van Laack zu einigem Kapital gekommen, das heimatliche Mönchengladbach hinter sich gelassen hat, um sich samt ihrer im Lauf von 30 Jahren angehäuften Schätze zeitgenössischster Kunst in Berlin Mitte, unweit des Hackeschen Markts, in einem ehemaligen Fabriksgebäude niederzulassen. Ihre „Sammlung Hoffmann“ in den heute so genannten „Sophie-Gips-Höfen“ ist freilich kein Museum, sondern schlicht ihre - zugegeben reichlich großzügig auf drei Ebenen ausgebreitete - Wohnstatt, die sie jeweils samstags (und nach Voranmeldung) dem Publikum öffnet: im Jahresrhythmus neu beschickt aus einem reichen, in seinem Umfang freilich streng geheim gehaltenen Vorrat. Und es sind nicht nur die Frank Stellas, die Lucio Fontanas und andere längst kanonisierte einschlägige Größen, deren Werken man hier begegnet, sondern immer wieder Junge, noch Unbekannte. „Ich habe keine Strategie. Ich sammle einfach, was mir gefällt“, bekennt Frau Hoffmann. Der Wert spielt dabei keine Rolle, weder der gegenwärtige noch ein künftig zu erwartender. Genauso wenig die Beständigkeit. Und wenn einmal eine eigens angefertigte Installation nicht anders denn durch Zerstörung, mit Schere, Zange, Messer, abgebaut werden kann, dann ist das auch kein Malheur; schließlich war es ja nie anders denn als Vergängliches gedacht. Und jetzt ist eben Zeit für etwas Neues.

„BITTE DIE JACKEN ABLEGEN, Hosentaschen entleeren.“ Freundlich, aber bestimmt, das Personal, das hier alles durchleuchtet, alles durchsucht, als begehre man Einlass in irgendeine hochbrisante Geheimanlage. Hat das Jüdische Museum Berlin derart strenge Sicherheitsmaßnahmen nötig? Da bestehe leider kein Zweifel, erwidert sein Geschäftsführer, Ulrich Klopsch. So um die 50 Gegenstände, die unter das Waffengesetz fallen, entdecke man bei den Kontrollen. Monat für Monat. Und keineswegs nur zu groß geratene Taschenmesser, auch Faustfeuerwaffen aller Art. „Da können Sie sich vorstellen, was die Menschen alles bei sich tragen, mit denen Sie in anderen Museen Seite an Seite stehen.“

Wir sitzen bei „Liebermanns“, im Restaurant des Museums, ein erster Rundgang liegt hinter mir, ein zweiter muss folgen. Und ein dritter, ein vierter, ein fünfter. Alles, was über Daniel Libeskinds Bau zu schreiben war, ist geschrieben - und doch, es wurde nichts gesagt. Ja, der „Holocaust-Turm“ mit seiner beklemmenden Bedrohlichkeit; ja, die aus allen Fugen geratene Betonwelt im „Garten des Exils“; ja, die Voids, absichtsvoll in den Bau platzierte Leerstellen, sinnhaft sinnlos. Und kein Wort, nichts, was all dem gerecht zu werden vermöchte, nur die eigene Anschauung. Nein, das eigene Erleben. Nicht Architektur mehr, sondern Teil dessen, den sie umhüllt.

„SCHAUEN SIE SICH DAS AN, eine Holocaust-Gedenkstätte und ein Mahnmal neben dem anderen, wozu?“, fragt der Taxifahrer, der mich vom Flughafen ins Hotel bringt. „Die Kinder in der Schule, die können alle KZs aufzählen, aber kein Einmaleins. Es muss doch endlich einmal Schluss sein mit der Vergangenheit.“ Nicht daheim - und doch zu Haus. Wäre da nicht der herbere Tonfall, man könnte sich auf der Fahrt von Schwechat in die hiesige Innere Stadt wähnen. Wie auch sonst Berlin bei der Wiederbegegnung nach knapp zehn Jahren dem Wienerischen merkwürdig anverwandelt scheint. Welch wunderbare Possen haben sich da etwa rund um architektonische Entscheidungen entwickelt? Nehmen wir nur Norman Fosters Reichstag-Umgestaltung, die heute - transformiert in einem schmerzhaften Prozess vielseitiger Änderungsbegehrlichkeiten - eher dem im Wettbewerb zweitgereihten Entwurf des Kollegen Calatrava ähnelt als dem Siegerprojekt des britischen Architektur-Sirs. Oder die endlose Geschichte des Straßentunnels unter dem Tiergarten, für dessen Bau eigens die Spree umgeleitet wurde. Eröffnung: 2002. Oder 2003? Nun ja, 2005. Vielleicht. Von den peinlichen Diskussionen rund um das Holocaust-Mahnmal Peter Eisenmans (wenn schon Holocaust-Mahnmal, wieso dann nur eines für die jüdischen Opfer, wo bleiben die Holocaust-Mahnmale für Homosexuelle, für Roma und Sinti und andere - und wie groß sollen die dann sein?) gar nicht erst zu reden. Das hätten wir hierzulande auch noch zusammengebracht.

Sogar eine Art absurdes Pendant zu Wiens Sophiensälen gibt es in Berlin, die Trümmer des Hotels Esplanade, wie sie der Zweite Weltkrieg zurückgelassen hat. Die hat man nach langen Jahren, da sie, hart an der Mauer situiert, unbeachtet vor sich hin verrotteten, im Zuge der neuen Hauptstadtplanung nicht einfach platt gewalzt, sondern erst, weil einem Hochhausprojekt im Wege, 75 Meter verschoben, dann renoviert und endlich der Glas-Stahl-Herrlichkeit des Sony-Centers am Potsdamer Platz eingebaut. Was es den Demokraten des angehenden 21. Jahrhunderts ermöglicht, dort, wo einst der deutsche Kaiser seine Herrenabende schmiss, auch einmal richtig republikanisch auf den neobarocken Putz zu hauen.

Mit der Vergangenheit ist es halt so eine Sache in Berlin: Da gibt es die, die man vielfach - und aus gutem Grund - mit Bedenkmälern bedenkt, eine jüngere, die der DDR, die man am liebsten ganz und gar vergessen machte, und eine ältere, die des Kaiserreichs, in deren Talmiglanz man sich zu sonnen sehnt. Stichwort Berliner Stadtschloss. 1950 wurde die Brandruine, die der Krieg im Osten Berlins hinterlassen hatte, gesprengt. „Wir hatten damals andere Sorgen, als darüber zu diskutieren, ob man das Schloss erhalten solle“, erinnerte sich Eva Kemlein, Fotografin des Sprenggeschehens, ein halbes Jahrhundert später. Und: „Es gab genug Schutt, aber nicht genügend Wohnraum und auch kein Geld.“ Heute liegt das Geld noch immer nicht auf den Berliner Straßen, aber dass das Schloss wiedererrichtet werden soll, ist mittlerweile - nicht zuletzt dank eines rührigen Fördervereins - sogar seitens des Bundestages abgesegnet. Und die Kosten, knapp 700 Millionen Euro? Die werden gewiss mühelos aufzubringen sein in einer Stadt, die sich bis vor kurzem nicht einmal den Abriss des asbestverseuchten „Palasts der Republik“ leisten konnte, der derzeit noch, pfui, DDR, den Platz fürs künftig wieder gute alte Wilhelminische verstellt.

Und weil man schon so schön am Wiedererrichten ist, soll auch Schinkels Bauakademie aus den 1830ern, gleichfalls unter DDR-Ägide abgetragen, neu erstehen. Eine potemkinsche Schaufassade findet sich schon an Ort und Stelle. Berlin, Stadt der historisierenden Attrappen, auf der Flucht in eine längst untergegangene Epoche. Aber vielleicht ist so viel Moderne auf einmal gar nicht anders auszuhalten, so viel Foster und Richard Rogers, so viel Renzo Piano und Rafael Moneo, die gewaltige Brache in der Stadtmitte füllend, die Drittes Reich und Kalter Krieg zurückgelassen haben.

BERLIN LIEGT NICHT AM MEER. Und dennoch: Strände überall. Als da wären: die „Strandbar Mitte“ im Monbijoupark, direkt an der Spree, oder der „Bundespressestrand“ gleich neben Abgeordnetenhaus und Reichstag. Das Konzept: eine Lastwagenfuhre Sand, ein paar Liegestühle oder auch Strandkörbe dazu, vielleicht noch die eine oder andere Palme - und fertig ist er, der Traum von der Ferne inmitten der Millionenmetropole, Cocktails und ein paar kleine Happen inklusive. Aufs Träumen versteht man sich hier noch immer, vielleicht so gut, wie seit vielen Jahrzehnten nicht. Und manch einem bleibt auch gar nichts anderes übrig. Träume, auf Sand gebaut? Allemal besser als gar keine.

Spectrum, Sa., 2004.07.31

08. März 2003Wolfgang Freitag
Spectrum

„Klump“! Nicht Klumpert!

Ein Stück heimische Moderne fürs Kinderzimmer: die Holzspielzeugserie „Klump“ - 1935 von Herbert Eichholzer und Walter Ritter entworfen, alsbald vergessen, jetzt neu aufgelegt.

Ein Stück heimische Moderne fürs Kinderzimmer: die Holzspielzeugserie „Klump“ - 1935 von Herbert Eichholzer und Walter Ritter entworfen, alsbald vergessen, jetzt neu aufgelegt.

Ist das Dorf für mich?" Leander packt zu. Das Dorf? Ein Vierkant hof, eine Kirche mit Zwiebelturm, ein Baum: Das ginge erwachsener Terminologie nach nicht einmal als Weiler halbwegs ordnungsgemäß durch. Für Leander freilich ist mit Haus plus Kirche plus Baum alles da, was es zum Dorf braucht. Wie auch für die Schöpfer ebenjener Spielzeugwelt, die da auf dem Küchenboden steht. Leander ist Jahrgang 1999. Der Entwurf seines Dorfes Jahrgang 1935. Und der - präsumtive - Entwerfer hätte heuer 100 Jahre alt werden können, wäre er nicht vor 60 Jahren von einem „Volksgerichtshof“ verurteilt und anschließend hingerichtet worden: Herbert Eichholzer, Architekt und Widerstandskämpfer.

„Ein Stuhl ist zum Sitzen da. Eine Kaffeetasse ist ein Gebrauchs- und kein Ziergegenstand. Eine Wohnung ist zum Wohnen da und soll nicht den Eindruck eines mehr oder minder reich versorgten Altertumsmuseums machen“: So schreibt Eichholzer, Grazer mit akademischem Abschluss an der Technischen Hochschule seiner Geburtsstadt, 1931 sein ästhetisches Credo fest. Da hat er sein prägendes Volontariat im Atelier Le Corbusiers gerade knapp zwei Jahre hinter sich.

Doch die „hellen, klaren Räume“, die ihm vorschweben, „Luft und Licht bis ins letzte Eck, kein Winkel als Staubfänger, keine Tapeten mit Marmormuster“, all das in die gebaute Wirklichkeit zu übertragen bleibt ihm nicht viel Zeit. Und nicht viel Gelegenheit, schon allein durch die Wirtschaftskrise jener Tage bedingt. Auch sein prononciertes sozialistisches Engagement wird in den herandämmernden Jahren des Ständestaates wenig dazu beigetragen haben, die Auftragsbücher zu füllen. Von hiesigen Vorbehalten einer architektonischen Avantgarde gegenüber ganz zu schweigen.

So mag es einen durchaus profanen Grund gehabt haben, als sich Eichholzer gemeinsam mit dem Bildhauer Walter Ritter, Freunde aus Jugendtagen, im Sommer 1935 an den Entwurf einer Spielzeugserie machte: schlicht die Hoffnung, solchermaßen das finanzielle Überleben zu sichern. Viele Künstler jener Zeit „versuchten, in kulturelle Marktnischen hineinzukommen“, weiß die Kunsthistorikerin Antje Senarclens de Grancy. „Es galt, etwas zu produzieren, das einem künstlerischen Anspruch entsprach, dabei aber doch einfach herzustellen und zu verkaufen war.“

Eichholzer und Ritter entwerfen Tierfiguren, Elefant und Zebra, Löwe, Hahn, Henne, summa summarum knapp 40 verschiedene, allesamt aus Holz zu fertigen, allesamt streng stilisiert, auf wenige geometrische Grundformen zurückgeführt und in ihrer Reduktion schon durch ihre Silhouette so unzweideutig charakterisiert, dass es der aufgebrachten Bemalung, der Ohr-, Schwanz- und Geweih-Applikationen aus Filz und Kordel oftmals gar nicht bedürfte, um eine angemessene Wiedererkennbarkeit zu gewährleisten. Eine Art der Gestaltung, wie sie dem Denken der Moderne entsprach, diente sie doch „der Schulung des kindlichen Auges für einfache, in ihrer Wirkung archaische Formen“, so de Grancy.

Eichholzer und Ritter entwerfen aber auch „Dörfer“, eines den landläufigen Bauformen Oberösterreichs, eines jenen aus Tirol folgend: je ein Hof und eine Kirche. Dass sie damit weniger den Maßstäben der Avantgarde als denen der ständestaatlichen Pflege ländlicher Idyllen dienen, scheint auf den ersten Blick unbestreitbar; auf den zweiten freilich signalisiert selbst hier die scheinbar biedere Form den Aufbruch: Kirchenschiff und Kirchturm sind je als eigene Baukörper, gleichsam als Solitäre angelegt, der gute, alte oberösterreichische Vierkanter wiederum lässt sich mühelos in eine Gruppe aus vier selbstständigen Häusern verwandeln. Was selbst Vierjährige schon in die Lage versetzt, überlieferte Bauformen lustvoll in neue räumliche Zusammenhänge zu bringen.

Die Frage, wer nun für welche Entwürfe verantwortlich gewesen sein mag, muss umstritten bleiben: Zu ähnlich sind die Zeichentechnik von Eichholzer und Ritter, als dass man an den reichlich vorhandenen Entwurfsblättern jeweils eine bestimmte Hand identifizieren könnte. Immerhin ist die Idee einer Arbeitsteilung in Architekturformen (Eichholzer) und Tiere (Ritter) einigermaßen naheliegend.

Wie auch immer: Dem Holzspielzeug aus Avantgardistenwerkstatt blieb der Erfolg versagt. Vielleicht weil der gewählte Name der Serie, „Klump“, ein wenig zu sehr an „Klumpert“ oder „plump“ gemahnte, vielleicht weil die Moderne wenn schon nicht im Stadtbild, so noch weniger im Kinderzimmer erwünscht war. Zwar schafften es „Klump“-Entwürfe gerade noch auf das Plakat einer Ausstellung zum Thema „Das gute Spielzeug“, doch aus den Regalen des Grazer Kaufhauses Kastner & Öhler waren sie schnell verschwunden.

Und wären wohl verschwunden geblieben, hätte nicht eines neujahrtausendlichen Tages Antje Senarclens de Grancy ihren damals sechsjährigen Sohn Anatol dabei beobachtet, wie er mit Verve „Klump“-Tierskizzen zu seinen eigenen machte. Wenn so nachdrücklich die Aktualität der Formensprache von Eichholzer und Ritter belegt war, warum nicht „Klump“ eine zweite Chance geben? Zwar lagen so gut wie keine Originalfiguren mehr vor, doch immerhin waren die Konstruktionspläne erhalten, was eine originalgetreue Rekonstruktion ermöglichen sollte.

In der Werkstatt der steirischen Behindertenhilfevereinigung „Chance B“ fand de Grancy einen Partner für ihre Idee. Womit auf ganz anderer Ebene ein Bezug zur Geschichte hergestellt war: zeichnete doch die von Herbert Eichholzer organisierte kommunistische Widerstandsgruppe für das einzige Flugblatt verantwortlich, das noch zu Zeiten der Nazi-Diktatur, im Herbst 1940, auf die Morde an behinderten Menschen, auf NS-Euthanasie und die Vernichtung „unwerten Lebens“ hinwies.

Am 7. Februar 1941 wurde Eichholzer verhaftet, am 9. September 1942 wegen fortgesetzten Verbrechens der Vorbereitung zum Hochverrat zum Tod verurteilt, am 7. Jänner 1943, wenige Wochen vor seinem 40. Geburtstag, im Wiener Landesgericht hingerichtet.

Wenn also am 29. März in der Technischen Universität Graz die Neuauflage von „Klump“ der Öffentlichkeit präsentiert wird, dann ist das mehr als eines der nostalgisch gefärbten Spielzeug-Revivals, die uns heute etwa ehrwürdige Anker-Baukästen in unseren Beton-und-Gipskarton-Kinderzimmern bescheren: Ziel ist es auch, so de Grancy, „der Opfer der NS-Euthanasie zu gedenken, den Einsatz jener Menschen, die dagegen Widerstand geleistet haben, zu würdigen“.

Das alles mag Leander, Jahrgang 1999, heute noch nicht interessieren. Aber ein Stück dieser Geschichte wird er auf seine Art schon mit vier begriffen haben.


[Nähere Informationen zu „Klump“ sowie Bestellungen bei „Chance B“ - via Internet (www.chanceb.at/klump) oder telefonisch (03112/4911/90).]

Spectrum, Sa., 2003.03.08

21. September 2002Wolfgang Freitag
Spectrum

„Zwei Tage, erdbebenartig“

Offene Gebäude, offene Ateliers, offene Grenzen: Ganz Österreich soll offen sein am letzten Septemberwochenende, bei den „Architekturtagen 2002“. Über Sinn, Zweck, heimische Debattenkultur und Humor in der Architektur: ein Gespräch mit den Initiatoren.

Offene Gebäude, offene Ateliers, offene Grenzen: Ganz Österreich soll offen sein am letzten Septemberwochenende, bei den „Architekturtagen 2002“. Über Sinn, Zweck, heimische Debattenkultur und Humor in der Architektur: ein Gespräch mit den Initiatoren.

Jetzt ist alles offen!" Unter diesem Motto wollen die „Architekturtage 2002“ am letzten Septemberwochenende „einem breiten Publikum die Entstehungsprozesse der Architektur an der Schnittstelle zwischen Kunst, Technologie und Gesellschaft“ näherbringen. So öffnen am 27. September anläßlich eines „Open House der Architektur“ Bauwerke und Ateliers in ganz Österreich ihre sonst für die Öffentlichkeit verschlossenen Tore, gut 200 allein in Wien und Umgebung im Rahmen der Aktion „Architektur von innen“. Am 28. September folgen Vorträge, Feste und weitere Aktionen unterschiedlichster Art, vom „Wasser Marsch“ rund um Feldkirch bis hin zur grenzüberschreitenden architektonischen Schiffsreise von Tulln nach Preßburg.

„Jetzt ist alles offen - dieser Slogan bezieht sich einerseits auf die Aktivitäten während der Architekturtage: offene Gebäude, offene Ateliers, offene Grenzen. Aber er hat noch eine grundsätzlichere Bedeutung: Die Lösungen von gestern gelten in vielen Bereichen nicht mehr, weil sich unsere Kultur so rasch ändert. Die Architektur muß da mitgehen, auch wenn es oft schwer ist, eingefahrene Gleise zu verlassen“, meint „Spectrum“-Architekturkritiker Christian Kühn, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender der Architekturstiftung Österreich, die mit den in ihr vertretenen heimischen Architekturinitiativen eine der beiden Säulen der „Architekturtage 2002“ ist. Die andere: die Kammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, im „Spectrum“-Gespräch vertreten durch den Architekten Georg Pendl.

Wenn man hierzulande eine Idee hat, dann schallt einem in aller Regel zunächst mehr oder weniger verblümt eine Frage entgegen, die sich in ihrer ehrlichsten Variante auf die vorstädtische Formel „Wos brauch ma des?“ reduzieren läßt. Also: Architekturtage - wos brauch ma des?

Christian Kühn: Sicher, man könnte meinen: Architektur steht ohnehin überall herum das ganze Jahr, man kann eh immer hinschaun. Die Architekturtage haben nun einfach die Intention, daß man einmal anders hinschaut. Und das ist am besten zu erreichen, wenn man's in ganz Österreich gleichzeitig versucht, erdbebenartig, zwei Tage lang. Wobei es nicht nur darum geht, daß man Gebäude betreten kann, die sonst nicht zugänglich sind, sondern es sollen auch die Motive gezeigt werden, die Produktionsbedingungen von Architektur.
Ein weiteres Ziel ist es, die breiteren Schichten der Bevölkerung aus ihrer Betroffenheitssituation herauszubringen: daß man immer nur an Architektur denkt, wenn man das Gefühl hat, irgend etwas wird verstellt. Wir wollen zeigen, welche Möglichkeiten zur Mitgestaltung bestehen, daß es eine Frage des Engagements ist.

Wie ist die Idee zu den Architekturtagen entstanden?

Georg Pendl: Vor ein paar Jahren hat es schon Architekturtage gegeben, veranstaltet von der Architektenkammer.

Kühn: Die haben darunter gelitten, daß sie eher unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden haben.

Pendl: Und jetzt hat man gesagt, wir wollen diese Idee wieder aufgreifen, aber eben in Kooperation mit jenen Institutionen, die das Feld aktiv beackern, also mit den Architekturhäusern. Man hat einen Verein gegründet als Trägerschaft, da ist die Architekturstiftung Partner der Kammer, und so ist auch das Startbudget entstanden, von dem ausgehend man die weiteren Geldmittel akquiriert hat, vom Bund, von den Ländern und von privaten Sponsoren.

Wie schwierig war es eigentlich, all die unterschiedlichen Architekturhäuser, Architekturzentren, Architekturinstitute, die beteiligt sind, unter einen Hut zu bringen?

Kühn: Das ist natürlich eine diplomatische Unternehmung gewesen, zumal hier sehr heterogene Institutionen zusammengebracht wurden. Und was für mich beispielsweise im Katalog der Architekturtage jetzt sehr schön herauskommt: wie vielfältig und regional verankert die Szene in Österreich ist, mit ganz unterschiedlichen Potentialen.

Pendl: Die Intention war ja von vornherein, in mehrfacher Hinsicht Denkanstöße zu liefern. Und dazu gehörte auch der Versuch, Fäden zu knüpfen, und zwar nicht nur innerhalb Österreichs, sondern auch zu den Architekturinitiativen in den EU-Beitrittsländern. Die Architekturtage sollen auch ein Katalysator sein für Beziehungen, die danach weiterlaufen.
Vergleicht man die heimische Architekturszene heute mit der vor zehn Jahren, dann fällt auf, wie vehement sich der Sektor Architekturvermittlung entwickelt hat. Das Niveau einschlägiger öffentlicher Debatten, Stichwort Salzburger Landesarchitekturpreis, Stichwort Wien-Mitte, scheint davon freilich nicht wesentlich zu profitieren.

Pendl: Architekturvermittlung ist ein ständiges Pflügen von Feldern. Und da wächst dann nicht immer etwas. Aber nehmen wir das Tiroler Beispiel: Dort hat es vor zehn Jahren ganz anders ausgeschaut. Dann ist das Architekturforum gegründet worden; da wird seither einfach eine solide Basisarbeit gemacht, die weniger an spektakulären Großereignissen hängt, sondern es gibt ein ständiges Träufeln, einen steten Tropfen. Und das hat in den letzten Jahren das Klima deutlich verändert.

Aber würde nicht eine Diskussion wie die um das Museumsquartier heute noch genauso ablaufen wie vor zehn, fünfzehn Jahren?

Kühn: Sicher, es ist eine klischeehafte Debatte, nach wie vor. Aber das liegt zum Teil auch an der heimischen Medienlandschaft. Grundsätzlich müssen derartige Großprojekte öffentlich diskutiert werden, je intensiver, desto besser. Daß man nur mit absolut regierenden Fürsterzbischöfen gute Architektur machen kann, ist ein Märchen. Im antiken Athen mußten alle Auftr?ge für öffentliche Bauten von der Volksversammlung beschlossen werden, und dabei ist immerhin die Akropolis entstanden.

Beim Museumsquartier hat es aber nur so ausgesehen, als ob das Volk diskutieren würde. In Wirklichkeit konnte eine kleine Gruppe von Leuten auf Grund der Medienkonzentration in Österreich persönliche Rechnungen begleichen. Das ist kein Problem der Architekturvermittlung, sondern der politischen Kultur insgesamt und der Medienpolitik im besonderen.

Sieht man sich den Katalog der Architekturtage an, dann fällt zuallererst das Zigarettenschachtel-Format auf und dann schon das Geleitwort von Franzobel. Üblicherweise hätte man hier die wohlgesetzten Worte eines Architekturkenners erwartet und nicht Provokationen wie: „Die meisten modernen Gebäude kommen mir vor wie ein hausgewordenes ,Wetten daß`.“

Kühn: Es sollten bewußt keine Architektentage sein, sondern Architekturtage, und insofern ist es berechtigt, daß jemand von außen einen Kommentar abgibt, der überhaupt nicht differenziert ist, aber provokant. Die Provokation zum Nachdenken ist eines unserer Hauptanliegen, es geht nicht darum, die Botschaft zu vermitteln, sondern Gelegenheit zu liefern, sich selbst ein Urteil zu bilden.

Der Ton, der auch sonst in der Präsentation der Architekturtage angeschlagen wird, ist durchaus humorvoll ironisch: ziemlich ungewohnt für eine Szene, die eher als witzfreie Zone gilt.

Pendl: Dieser Ernst hängt direkt mit dem Starkult zusammen. Sicher, die Starkultur gibt's in jeder Branche, die braucht's auch, man braucht solche Lichtanker am medialen Himmel. Aber das Gerieren der Stars in ihrer Monumenthaftigkeit ist immer etwas furchtbar Ernstes.

Kühn: Es gibt mittlerweile auch ein großes Bemühen, Architektur vom Massiven wegzubringen; wir haben eine Diskussion über Prozesse, dazu gehört auch das Miteinanderreden, daß der Architekt nicht mehr der einsame Künstler ist, der ein Werk produziert.

Wie schaut die Zukunft der Architekturtage aus?

Kühn: Das steht noch nicht fest. Aber es gibt internationale Beispiele, wo so etwas jedes Jahr passiert. ?

[ Ein detailliertes Programm der „Architekturtage 2002“ findet sich unter der Internet-Adresse www.architekturtage.at. Näheres zur „Architektur von innen“ ist auch bei der Österreichischen Gesellschaft für Architektur unter Tel. 01/319-46-15 zu erfahren. ]

Spectrum, Sa., 2002.09.21

17. November 2001Wolfgang Freitag
Spectrum

Der Sieg über die Schwere

„Man muss die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.“ Eine Banalität? Nicht doch: Nietsche! Über Philosophie und Architektur, alte Achtundsechziger, alte Meister und einen neuen Architekturroman, der keiner ist: aktuelle Bücher zur Baukunst.

„Man muss die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist.“ Eine Banalität? Nicht doch: Nietsche! Über Philosophie und Architektur, alte Achtundsechziger, alte Meister und einen neuen Architekturroman, der keiner ist: aktuelle Bücher zur Baukunst.

Was ist Architektur? „Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloß befehlend“, antwortet Friedrich Nietzsche in seinen „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“. Und: „Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren.“

Markus Breitschmid hat solche und eine Fülle anderer architektureinschlägiger Anmerkungen aus Nietzsches Schriften zusammengetragen und einem ausführlichen Kommentar unterzogen, denn: „Nietzsche besitzt von Beginn seines Schaffens an eine Affektion für die Baukunst, und Baugedanken haben einen stetig steigenden Einfluß für sein philosophisches Werk.“

Ob und wie wiederum vice versa dieses philosophische Werk Einfluß auf die Architektur genommen habe, diese Fragen werden zwar in Breitschmids Traktat „Der bauende Geist – Friedrich Nietzsche und Architektur“ nur sehr nebenbei gestellt – und noch nebenbeier beantwortet –, aber immerhin liefert der Band zahlreiche sonstige Anregungen zu Zustimmung und Widerspruch. Und auch die eine oder andere mittlerweile von der Wirklichkeit widerlegte Vision: „Ich gehe durch die neuen Straßen unserer Städte“, notiert Nietzsche etwa 1874, „und denke, wie von all diesen greulichen Häusern, welche das Geschlecht der öffentlich Meinenden sich erbaut hat, in einem Jahrhundert nichts mehr steht und wie dann auch wohl die Meinungen dieser Häuserbauer umgefallen sein werden.“ Je nun, bedauernd müssen wir dem entgegenhalten: So manches jener greulichen Häuser steht noch immer, und das Geschlecht der öffentlich Meinenden ist bis zum heutigen Tage nimmermüd am Werk, sich neue zu errichten.

„Ist das Architektur?“ mag sich Karl Schwanzer gefragt haben, als er, der honorige Ordinarius am Institut für Gebäudelehre und Entwerfen der damals noch Hochschule genannten Technischen Universität Wien, an den Sozius eines schweren Motorrads geklammert, auf eine Betonwand der Tiefgarage Am Hof zujagte. Gewiß, mit seinem damaligen Assistenten Günther Feuerstein hatte der Herr Professor im Lauf der sechziger Jahre, wie man so sagt, „frischen Wind “ in die etwas muffigen Hallen am Wiener Karlsplatz gebracht, aber so etwas?

Die rasende Fahrt im innerstädtischen Untergrund war jedenfalls Teil der Präsentation einer studentischen Abschlußarbeit, für die Timo Huber, Bertram J.Mayer, Michael Pühringer und Hermann Simböck gemeinsam unter dem Namen „Zünd-Up“ firmierten. Titel des Entwurfs: „The Great Vienna Auto-Expander“.

Was man sich darunter vorzustellen hat? Zeitzeuge Gert Winkler berichtet: „Das präsentierte Projekt war an die weißen Fliesen einer Waschkabine geklebt, rund um das Modell, das im Prinzip ein schwarz gestrichener, mit Auspuffrohren dekorierter Flippertisch war und eine Dragsterstrecke vom Karlsplatz zum Stephansdom darstellte, mit Wendepunkt in der ehrwürdigen Kathedrale. Den Anschauungsunterricht erteilten die Motorradjungs vor Ort.“ Wäre solches heute noch möglich? Damals jedenfalls, wir schreiben das Jahr 1969, war es möglich, und damals war es auch möglich, daß solches von einem Ordinarius als akademische Arbeit – gewiß, nach einigem Zögern, aber doch – akzeptiert wurde.

Man könnte schon ein wenig wehmütig werden, wenn man diesen Anfang und den weiteren, kurzen gemeinsamen Weg der Gruppe verfolgt, wie er in dem von Martina Kandeler-Fritsch herausgegebenen Band „Zünd-Up“ nachzulesen ist: nicht zuletzt deshalb, weil Kandeler-Fritschs „Dokumentation eines Architekturexperiments an der Wende der sechziger Jahre“ über denunmittelbaren Anlaßfall hinaus das plastische Porträt einer Zeit entwirft, die wenigstens rückblickenderweise an jene märchenhaften Tage erinnert, in denen das Wünschen noch geholfen hat.

Ob das nun Architektur ist oder nicht, das steht selbstredend beim Schaffen kunstgeschichtlich kanonisierter Größen des Metiers längst nicht mehr zur Debatte. Publikationen, die sich deren Werken widmen, signalisieren nicht selten schon äußerlich mit entsprechender formaler Wucht das Epochal-Monumentale, das ihr Inneres birgt.

In der heurigen Herbst-Konkurrenz der Architekturbuch-Schwergewichte liegt derzeit der von Phyllis Lambert edierte Band „Mies van der Rohe in America“ mit 3,73 Kilogramm klar vor Bruno Taut “(2,39 Kilo-gramm) und Klaus-Peter Gasts „Louis I.Kahn –Das Gesamt-werk“ (1,37 Kilogramm). Der ursprünglich an zweiter Stelle gereihte Du Mont-Band „Höhepunkte der Weltarchitektur“ (2,99 Kilogramm) mußte wegen Nichteinhaltung gestalterischer Mindeststandards aus der Wertung genommen werden.

Architektur ist nicht einfach Architektur, und ein Haus ist nicht einfach ein Haus. Zum Beispiel: Wir stehen vor einer Fassade –und sehen ein Gesicht mit einem Tür-Mund und Fenster-Augen. Solchen anthropomorphen Projektionen, also vermeintlichen, aber vor allem auch tatsächlichen organischen Spuren in der Baukunst ist der schon erwähnte ehemalige Schwanzer-Assistent Günther Feuerstein für seine jüngste Publikation nachgegangen: In „Biomorphic Architecture“ begibt sich der nunmehrige TU-Emeritus auf die Suche nach „Mensch- und Tiergestalten in der Architektur “und präsentiert gleich einen ganzen Zoo mit Vögeln, Fischen, Elefanten, wie sie sich im Œuvre eines Santiago Calatrava oder eines Frank O. Gehry finden. Nicht zu vergessen Günther Domenigs Zentralsparkassen-Gürteltier in der Wiener Favoritenstraße.

Die Architektur –ein Roman? Franz Kneissl jedenfalls, seines Zeichens selbst Architekt, hat einen Architekturroman geschrieben. So steht es zumindest auf dem Einband seines Buches „Eine Ratte namens Apfel“ zu lesen. Und gleich auf Seite fünf: „Sämtliche Begebenheiten sind frei erfunden. Etwaige Namensübereinstimmungen oder Ähnlichkeiten beschriebener Charaktere mit lebenden Personen sind zufällig.“

Wer die folgenden 368 Seiten liest, weiß: Nichts davon ist wahr. Das heißt: Es dreht und wendet sich schon alles um Architektur, aber Roman ist das keiner, kaum ein Hauch von Fiktion, sondern überwiegend schlichte, formal aufwendig ineinander verwobene Sachverhaltsdarstellungen zu unendlichen Projektgeschichten wie jener des Linzer Musiktheaters oder der des Bibliotheksneubaus am Wiener Gürtel, all das aus der Warte eines Mitleidenden.

Daß sich hier nebst soviel trüber Realität unter anderem auch ästhetische Betrachtungen über das heimische Fleischlaberl-Design finden, beweist nur wieder einmal, daß auch auf dem Feld der Architektur gilt, was man der rotweißroten Befindlichkeit allgemein nachsagt: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

Eine Empfehlung zum guten Ende: „Man muß die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist“, legt uns Nietzsche als eine „Moral für Häuserbauer“ nahe. Eine Selbstverständlichkeit? Wer weiß?


[Martina Kandeler-Fritsch (Hrsg.)
Zünd-Up
Dokumentation eines Architekturexperiments an der Wende der sechziger Jahre, 272 S., Ln., S 476, €,34,59 (Springer Verlag,Wien)

Franz Kneissl
Eine Rattenamens Apfel
Architekturroman, 374 S., brosch.,S 298, € 21,66 (Sonderzahl Verlag, Wien)

Winfried Nerdinger u.a.(Hrsg.)
Bruno Taut 1880 –1938
Architekt zwischen Tradition und Avantgarde, 440 S., Ln., S 1810, € 131,54 (Deutsche Verlags-Anstalt,München)

Günther Feuerstein
Biomorphic Architecture
Menschen- und Tiergestalten in der Architektur, 188 S., Ln.,S 931, € 67,66 (Edition Axel Menges,Stuttgart)

Markus Breitschmid
Der bauende Geist
Friedrich Nietzsche und die Architektur, 224 S., brosch., S 300, € 21,80 (Quart Verlag,Luzern)

Klaus-Peter Gast
Louis I. Kahn
Das Gesamtwerk, 208 S., geb., S 1080, € 78,49 (Deutsche Verlags-Anstalt, München)

Hubertus Adam, Jochen Paul (Hrsg.)
Höhepunkte der Weltarchitektur
440 S., geb., S 368, € 26,74(DuMont Verlag,Köln)

Phyllis Lambert (Hrsg.)
Mies van der Rohe in America
792 S., Ln., S 1445, € 105,01 (Hatje Cantz Verlag,Ostfildern)]

Spectrum, Sa., 2001.11.17

31. März 2001Wolfgang Freitag
Spectrum

Wenn Architektur Trauer trägt

Egal ob man es für Understatement hält oder für ein Signal, daß Architektur eben eine ernste Sache ist: Wo heimische Baukunst im Internet präsent ist, da tritt sie nicht selten in Pompfüneberer-Outfit auf. Ein Rundgang durch heimische Architektur-Websites.

Egal ob man es für Understatement hält oder für ein Signal, daß Architektur eben eine ernste Sache ist: Wo heimische Baukunst im Internet präsent ist, da tritt sie nicht selten in Pompfüneberer-Outfit auf. Ein Rundgang durch heimische Architektur-Websites.

Wenn dem heimischen Surfer schwarz vor Augen wird, dann kann es sich um eine Ohnmachtsattacke - sagen wir infolge Surf-Übermüdung - handeln. Vielleicht aber hat er sich auch nur auf eine jener zahlreichen Web-Sites verirrt, in denen sich die Architekturszene des Landes im Netz der Netze präsentiert.

Egal ob man es für Understatement hält oder für den Ausdruck angemessener Architekten-Trauer angesichts tagtäglich erlittener Unbill: Faktum ist, daß der Pompfüneberer-Gestus, mit dem nicht selten heimische Baukunst virtuell vorgetragen wird, selbst die Homepage der Wiener städtischen Bestattung (übrigens: www. wienerstadtwerke.at/bestattung)
wie die eines Vergnügungsparks erscheinen läßt.

Nehmen wir als Beispiel den Internet-Auftritt des „Architektur Zentrums Wien“: Wer sich unter www.azw.at auf die Suche nach hauptstädtischen Architekturaktivitäten begibt, findet sich unversehens vor einem schwarzen Bildschirm, den einzig - und unübersehbar - das Logo des Architekturzentrums erhellt. Ach ja, fast hätte man es übersehen, da sind noch rechts und links unten, in mattem Orange, die Buchstaben D und E. Kenner werden - mit Recht - vermuten, daß sich dahinter die Verbindung zu einer d eutschen und einer e nglischen Homepage-Version verbirgt, und sie werden je nach Gusto D oder E anklicken; für weniger Internet-Versierte ist hier Endstation - so sie nicht bereit sind, eine gute Minute vor Logo samt schwarzem Bildschirm auszuharren: Dann nämlich wird man auch ohne Mausklick ins Allerheiligste vorgelassen.

Wer sich solchermaßen auf die eine oder andere Art als würdig genug erwiesen hat, wird dafür reich belohnt: mit einer übersichtlichen und stets aktuell gehaltenen Auflistung aller Veranstaltungen des „Architektur Zentrums Wien“ von Ausstellungen über die „Mittwochs“-Diskussionsrunden bis hin zu den „Sonntags“-Führungen, vor allem aber mit der umfassendsten Sammlung von Architektur-Links, also Verbindungen zu anderen Architektur-Websites, die der heimische Cyberspace kennt. Alles streng vor schwarzem Hintergrund, versteht sich. Schließlich ist Architektur eine ernste Angelegenheit. Oder so.

Freilich sind die Men und Women, die Architektur partout in Black hüllen zu müssen glauben, nicht nur im angeblich so friedhofsseligen Wien respektive in Ostösterreich zu Hause. Auch die Homepage des „Vorarlberger Architektur Instituts“ (www. v-a-i.at) kommt reichlich düster daher. Rätselndes Antichambrieren freilich bleibt dem Nutzer hier erspart, denn gleich auf der ersten Seite wird in unmißverständlichen weiterführenden Schlagworten auf den gesamten Inhalt der Website hingewiesen. Und der kann sich sehen lassen; der übersichtlichen Sammlung, Archivierung und Ankündigung der Institutsprojekte steht nur das Manko gegenüber, daß die an verschiedenen Stellen angekündigten Links derzeit noch nirgendwohin führen.

„Architektur Zentrum Wien“ und das „Vorarlberger Architektur Institut“ zählen zu jenen der Architekturvermittlung gewidmeten Institutionen, die sich mittlerweile schon in jedem Bundesland zwecks einschlägiger - und tatsächlich dringend erforderlicher - Aufklärungsarbeit etabliert haben. Nicht alle diese „Institute“, „Zentren“ und „Räume“ sind derzeit im Internet präsent, und nicht alle, die es sind, sind es - so scheint's jedenfalls - mit dem nötigen Nachdruck. Da kann es schon vorkommen, daß man beispielsweise auf einer Homepage unter dem Stichwort „Aktuell“ Ende März 2001 nur den Hinweis auf eine Veranstaltung aus dem vergangenen Oktober findet (www. architekturraumburgenland.at); und auch das graphische Chaos aus Rechts- und Linksbündigkeiten, mit dem das Grazer „Haus der Architektur“ den Surfer webmäßig begrüßt, spricht nicht für eine sonderlich intensive Pflege der Internet-Agenden.

Ganz anders eine Website jenseits des Institutionellen: Unter www.nextroom.at, 1996 von Juerg Meister gegründet, ist - wohlgestaltet - ein wahrer Schatz an Informationen zu entdecken: in einer eigenen Architekturdatenbank, die derzeit rund 650 umfangreich dokumentierte Objekte, 300 Texte und mehr als 2000 Photos und Pläne umfaßt, darunter nebst anderem die „Spectrum“-Architekturkritiken der jüngeren Vergangenheit. Allesamt mit einfach zu bedienenden Suchfunktionen abzurufen.

Juerg Meisters „nextroom“ zeichnet auch für die Gestaltung einer weiteren Internet-Preziose der heimischen Architekturszene verantwortlich: der Homepage der Wiener Architekturphotographin Margherita Spiluttini (www.spiluttini.com). Diese Website, eigentlich vor allem für den professionellen Nutzer des reichen Spiluttinischen Fundus gedacht, liefert so viele photographische An- und Einsichten zur zeitgenössischen Baukunst Österreichs, daß sich ein Besuch für jeden Architekturfreund lohnt. Selbst dann, wenn er eines der bei spiluttini.com zu findenden Gebäude schon in jedem Winkel zu kennen meint - hier wird er noch eine ungeahnte Facette entdecken können.

Damit haben wir übrigens das Reich der Finsternis schon hinter uns gelassen: Juerg Meister zieht auf den von ihm verantworteten Homepages helle Hintergründe und als Schmuckfarben belebendes Hellrot und Orange dem Trauerrand-Flair vor.

In tiefstem Rot schließlich empfängt uns das „Architekturnetz Österreich“ (www.aaf.or.at/ aaf): Hier sind nicht nur sämtliche oben erwähnte Architekturvermittler aufgelistet und - soweit möglich - verlinkt. Hier stößt man auch (unter dem Stichwort „Termine“) auf die österreichweit vollständigste Liste aller einschlägigen Vermittlungsaktivitäten, selbst auf die jener Institutionen, die den Sprung ins Netz bisher noch nicht geschafft haben.

B leibt noch der Hinweis auf zwei virtuelle Architekturausstellungen, deren Besuch dringend zu empfehlen ist. Da wäre zunächst das Salzburger Projekt „L@nd-Umgang“: Unter www.seminarorganisation. com/landumgang werden Beispiele zeitgenössischer Architektur auf dem Land jenseits der Klischees älplerischen Bauens vorgestellt: vom Bauernhof über das Parkhaus bis zum Kindergarten - allesamt dem aktuellen Baugeschehen in Salzburg entnommen.

Der Photograph Gerald Zugmann wiederum lädt unter www. zugmann.com zu einer virtuellen Reise durch sein Projekt „architecture in the box“. Warum auch er schwarze Hintergründe bevorzugt, erklärt sich leicht: Vor nichts anderem kämen seine k l a s s i s c h - s trengen Schwarzweiß- Kompositionen so eindringlich zur Geltung. Warum der gebürtige Wiener sich und seine Arbeit freilich ausschließlich englisch präsentiert - who knows?

Spectrum, Sa., 2001.03.31

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