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25. August 2017Sophie von Schwerin
TEC21

Jedermann Selbstversorger!

Leberecht Migge (1881–1935) zählt zu den führenden Vertretern der sozialen Freiraumplanung. Der konfrontationsbereite Reformer bestückte Arbeitergärten wie herrschaftliche Parks gern mit Nutzpflanzen. Seine Ideen beeinflussten auch die Schweizer Landschaftsarchitektur.

Leberecht Migge (1881–1935) zählt zu den führenden Vertretern der sozialen Freiraumplanung. Der konfrontationsbereite Reformer bestückte Arbeitergärten wie herrschaftliche Parks gern mit Nutzpflanzen. Seine Ideen beeinflussten auch die Schweizer Landschaftsarchitektur.

Die Gartenkunst sollte sozialer orientiert sein und allen Teilen der Gesellschaft dienen, postulierte der Gartenarchitekt, Theoretiker und Publizist Leberecht Migge. Er trat dezidiert für Reformen in der Gartenkunst ein: Im Garten bzw. in der Tätigkeit des Gärtnerns sah er eine wichtige Verbesserung der Lebensqualität, die er mit positiven Auswirkungen auf Körper und Geist begründete.

Mit dieser Position und mit seinen landschaftsarchitektonischen Konzepten erlangte Migge nach­haltige Bedeutung, auch für die Landschaftsarchitektur in der Schweiz. Bis heute gilt er als wichtiger Vertreter der sozialen Freiraumplanung, und bis heute verwenden wir Argumente, die er bereits vor 100 Jahren wie selbstverständlich anführte. Sichtbar sind seine Ideen vor allem auf seinen Plänen, die als Konvolut im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur an der Hochschule für Technik Rapperswil HSR liegen; deutlich werden sie auch vor dem Hintergrund der damaligen Zeit und von Migges eigenwilligem Charakter.

Leberecht Migge wurde 1881 in Danzig als zwölftes von 13 Kindern einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater handelte u. a. mit ­Gewürzen, und eigentlich sollte auch der Sohn diesen Weg einschlagen. Doch es kam anders, Migge lernte den Gärtner­beruf in Hamburg. Dort arbeitete er ab 1904 im renommierten Gartenbaubetrieb Ochs und gründete 1913 sein eigenes Büro. Im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Buch «Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts», in dem er bereits seine sozial orientierten Ansätze formulierte: «Das ist der Wille zur Gartenkultur. Um diese aber zu erleben, dafür müssen wir zuvor erst überhaupt einmal den Garten haben. Der Besitz eines Gartens darf in diesen Tagen von nichts anderem abhängig sein als von dem Wunsch nach ihm: Jedermann einen Garten! Der neue deutsche Garten ist eine soziale Angelegenheit oder ernsthaft überhaupt keine.»

Nutzgärten für Arm und Reich

Die Forderung, jeder solle unabhängig von seiner sozia­len Herkunft einen Garten haben können, entsprach Migges Überzeugung. Einen Grossteil seiner Aufträge in den Jahren 1913 bis 1920 erhielt er aber ­von einem wohlhabenden Kundenkreis. Dennoch entwickelte er bereits zu dieser Zeit Vorschläge für Gartenstädte, Siedlungen und Pachtgärten, und er gab praktische Vorschläge für die effizienten Nutzung bzw. Verbesserung des Bodens. Seine technischen Vorschläge testete und optimierte er im Selbstversuch, als er 1920 mit der eigenen Grossfamilie in die Künstlerkolonie Worps­wede bei Bremen zog. Dort gründete er die sogenannte ­Siedlerschule, in der anhand praktischer Ausführung das Potenzial des Gärtnerns gelehrt wurde.

Gleichzeitig wirkte Migge in den 1920er-Jahren auch an den grossen Bauvorhaben der Zeit mit. Dazu zählen Planungen zu den Aussenanlagen der Hufeisensiedlung in Berlin von Bruno Taut oder die Gärten der Römerstadt in Frankfurt am Main unter der Leitung von Ernst May. 1926 eröffnete er ein Büro in Berlin und veröffentlichte regelmässig Artikel.

Migge war konfrontationsbereit und blieb es bis zu seinem Tod 1935. Aufschlussreiche Hinweise auf seinen Charakter gibt ein Nachruf in der Fachzeitschrift «Die Gartenkunst»: «Angeborene Neigungen zu extremen Auffassungen und umwälzerischen Bestrebungen, dazu Veranlagung für rücksichtslose Kampfesart liessen jedoch seine Gaben nach Erreichung des Mannesalters nicht mehr recht zur Auswirkung kommen […] So kam es, dass Migge schliesslich von jeder beruflichen Zusammenarbeit ausgeschlossen blieb und in den Ruf geriet, marxistische Tendenzen zu begünstigen.»

Grünräume für Stadtmenschen

Migge war konsequent und direkt. Er stand kompromisslos für seine Vorstellungen ein, rief auf, provo­zierte und experimentierte. Damit folgte er auch einer allgemeinen Tendenz der Zeit, denn das beginnende 20. Jahrhundert war geprägt vom Wunsch nach Reform: Noch immer liess das politische System der Monarchie wenig Raum für gesellschaftliche und persönliche Entfaltung. Die Industrialisierung hatte ihre Spuren hinterlassen und schlug sich unter anderem in einem enormen Städtewachstum nieder. Soziale Unzufriedenheit und Spannungen, der sich ausbreitende Militarismus und die Suche nach einem sinnerfüllten Leben in einer beschleunigten Welt führten zu einem Drang nach Veränderung. Dieser manifestierte sich in Experimenten mit neuen Lebenskonzepten, in der Kleidung, in verschiedenen Bereichen der Kunst, im Handwerk, in der Architektur und auch im Garten.

Leberecht Migge reagierte hierauf mit seiner Theorie zu einer neuen Gartenkultur. Er sah den Handlungsbedarf besonders in den Städten, zu denen er 1913 feststellte: «Deutschland ist das Land der grossen ­Städte. Fünfzig Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern und einer Gesamtbevölkerung von rund 14 Millionen liegen auf einer Fläche zusammen, so eng wie in keinem anderen grossen Lande der Erde. Das bedeutet aber auch: Fast ein Viertel der Bevölkerung des Deutschen Reiches sind dem ausgesetzt, was wir als Nachtseiten des Großstadtlebens kennen: Wohnungen, in die zu wenig Sonne und Luft eindringen, unerschwingliche Mieten, teures Brot und teures Fleisch, Alkohol und lange Arbeitszeiten, der Mütter und der Kinder Not.»

Um solchen Lebensbedingungen entgegen­zuwirken, plädierte Migge dafür, den Eigenanbau zu stärken, Flächen für Gärten bereitzustellen und öffentliche Parks zur Bewegung und zum Spiel zu etablieren. Seine Pläne für den Volkspark Rüstringen – heute ein Teil von Wilhelmshaven – beispielsweise erfüllen mehrere Funktionen. Migge reihte im unmittelbaren Umfeld Sportwiese, Festwiese, Nutzviehweide, Stadtgärtnerei, einen Friedhof und Schrebergärten aneinander. Der Park selbst lag darin eingebettet und besass Tennisplätze sowie einen Spielrasen. Alleen zum Promenieren erschlossen die Anlage, ein L-förmiger Wasserkanal mit Karpfenteich erweiterte das Nutzungs- und Erholungsangebot. Bis heute ist der Park ein beliebter Freizeitort und zeigt die Funktionalität der offenen, gleichzeitig aber auch strukturierten und effizienten Gestaltung Leberecht Migges.

Die Schönheit der Nutzpflanze

Seine Vorstellungen für Siedlungen folgten dem Prinzip der Gartenstadt, wie er sie während seines Aufenthalts in England 1910 gesehen hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelte er eigene Ideen. Die Pläne zur Steenkamp­siedlung in Hamburg-Altona von 1920 zeigen Strassenzüge mit Reihenhäusern, gesäumt von Obstbäumen. Nur die einheitlichen Vorgärten erfüllen den reinen Zierzweck. Die Hauswände sind mit Spalieren versehen, und in den rückwärtigen Gärten sind Gemüseanbau und Kleintierhaltung vorgesehen. Doch obwohl die Flächen maximal ausgenutzt sind, gibt es immer eine Bank oder einen Laubengang für Genuss und Erholung.

Dass Migge für den Anbau von Nutzpflanzen als Kulturpflanzen einstand, zeigen auch seine Planungen für aufwendige Villengärten. Deutlich wird dies etwa auf den Zeichnungen für den Pfirsichgarten Trunkhahn in Budapest von 1918/1919. Auf Terrassen reiht er die Obstbäume aneinander, verbindet Gartenräume über Laubengänge, versieht Schutzmauern mit Pfirsichspalieren, sieht einen prominent gelegenen Gemüse­garten vor; Pavillons und Sitzplätze geben Ausblicke auf diesen spektakulär konstruierten Privatgarten frei, der ge­wissermassen die Schönheit der Nutzpflanze ­feiert. Nicht nur hier, sondern in nahezu allen Projekten des Rapperswiler Konvoluts zeigt sich Migges Leidenschaft für diese Pflanzengruppe, deren hohen Zierwert er immer wieder betonte.

TEC21, Fr., 2017.08.25



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2017|34 Leberecht Migges Erbe

25. August 2017Sophie von Schwerin
Gabi Lerch
TEC21

Gärten für alle

Der deutsche Landschaftsarchitekt Leberecht Migge war überzeugt, dass der Eigenanbau und die Freuden der Gartenarbeit die Menschen gesünder, glücklicher und unabhängiger machen. Was hat das heutige Urban Gardening damit zu tun?

Der deutsche Landschaftsarchitekt Leberecht Migge war überzeugt, dass der Eigenanbau und die Freuden der Gartenarbeit die Menschen gesünder, glücklicher und unabhängiger machen. Was hat das heutige Urban Gardening damit zu tun?

Der Trend zum Gärtnern in der Stadt hält sich nun schon seit einigen Jahren. Dabei geht es nicht um Gemüseanbau aus unmittelbarer Not, sondern vielmehr um eine neue Lust an der praktischen Gartenarbeit und an lokalen Produkten. Dass Gärtnern grundsätzlich eine positive Wirkung haben kann, schrieb der deutsche Landschaftsarchitekt und Gartenreformer Leberecht Migge (1881–1935) schon 1913: «[Der Garten] bietet etwas Seltenes und Unersetzliches: er ist lebendig. […] Die offensichtliche Vergänglichkeit auch des Kraftvollsten und Mächtigsten, wie sie sich besonders drastisch bei den Lebewesen des Gartens zeigt, spendet den ­Müden Trost und ruft in den Starken brüderliche Gesinnung wach.»

Ist diese Lebendigkeit des Gartens, die Lebenskraft einflösst und Gemeinschaft stiftet, mit ein Grund für das momentan so ­beliebte Stadtgärtnern? Ist Migge ein Vordenker? In­wiefern lassen sich die Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und das heutige Urban Gardening ­vergleichen?

Guerilla-Gartenbau und Pluralismus

Der Begriff Urban Gardening steht für die garten­bauliche Nutzung städtischer Freiflächen. Dazu zählen auch aktivistische Initiativen, die sich städtischen Raum aus idealistischen Gründen individuell oder als Gruppe aneignen – mit illegalen, temporären, zuweilen aber auch längerfristig angelegten Gärten. Die Bewegung ist facettenreich und umfasst verschiedene Projekte wie Gemeinschaftsgärten, Guerilla Gardening, Dachfarmen, Kinderbauernhöfe, Kleingärten, «essbare Spielplätze», vertikale Landwirtschaft und mobile ­Gärten. Zwar ­unterscheiden sich die Ansätze und ihre praktische Ausführung, ihr Hintergrund ist jedoch fast immer ­partizipativ und gemeinschaftsorientiert.

Erste Beispiele für den Urban-Gardening-Trend waren die community gardens in New York, die sich in den 1970er-Jahren aus einer aktivistischen Aneignung von brachliegendem Bauland in der Süd-Bronx entwickelten. In diesem damals sozial vergleichsweise schwachen Bezirk hatten Bewohnerinnen und Bewohner angefangen, das ungenutzte, verwüstete umliegende Land zu bebauen. Neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln entstanden hier – ungeplant und ungesteuert – Orte der Gemeinschaft sowie Impulse, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Das Community Gardening breitete sich aus und fand schliesslich auch in politischen Planungsinstrumenten einen gewissen Widerhall.

Seither sind zahlreiche weitere Beispiele für städtisches Gärtnern hinzugekommen: In Zürich etwa begann Maurice Maggi ab Mitte der 1980er-Jahre, in heimlichen nächtlichen Streifzügen Malvensamen (Alcea rosea) an Strassenbäumen, Bahnborden und auf Brachflächen auszusäen. Anfänglich von der Stadtverwaltung bekämpft, sind die Malven heute ein Kennzeichen der Stadt. Der auf einfachsten Mitteln basierenden Guerillataktik und der Kultivierung einer Ästhetik von «wilder» Stadtnatur stehen heute Projekte gegenüber, die auf hochtechnologische Methoden setzen: Die Firma Gotham Greens in New York zum Beispiel entwickelte zwei Jahre lang ein Gewächshaus, um auf Dachflächen unter Einbezug von Solarenergie möglichst nachhaltig und ökologisch Gemüse und Kräuter zu produzieren. Die Erzeugnisse daraus werden in einem Umkreis von höchstens sieben Meilen vertrieben.

Urban Gardening kann also auf unterschiedlichste Motive zurückgehen. Gleichwohl ist den Pro­jekten gemeinsam, dass sie grundsätzlich auf Selbst­initiative und einer Abkehr von der konventionellen Landwirtschaft basieren. Dass die gärtnernde Stadt­gesellschaft von zero waste und einer Kultur der Reparatur spricht, zeugt von einer gewissen Desillusionierung: Lieber glaubt man an eigene Anbaumethoden und kleinteiliges Handeln als an gerechte politische und demokratische Regelwerke. Zugleich ist die Urban-Gardening-Bewegung auch Ausdruck einer freien und pluralistischen Gesellschaft, die sich unbekümmert städtischen Raum aneignet und urbanes Leben mit ländlichem verbindet.

Aus der Not zur Volksgesundheit

Im Gegensatz dazu entsprang Leberecht Migges Ansatz aus der Not und dem reformerischen Geist seiner Zeit. Im frühen 20. Jahrhundert war das Elend in den sozial schwachen Quartieren der Städte offenkundig. Deshalb trat Migge für eine vielseitig nutzbare Gartenkultur ein, die allen die Möglichkeit eröffnen sollte, sich in der Natur zu erholen, zu gärtnern und Selbstversorgung zu betreiben. Dementsprechend entwickelte er seine Konzepte für Städte, Volksparks, Privat- und Siedlungsgärten, selbst für den einzelnen Schrebergarten, und beschrieb sie in zahlreichen Artikeln und Veröffentlichungen. Effiziente Flächenverteilung und technische Mittel zur Bodenverbesserung zeigen seinen pragmatischen und zukunftsgerichteten Ansatz, der romanti­sierenden Gartengedanken wenig Raum lässt. Vom Nutzen bringenden Gartenbau versprach er sich zudem auch eine Steigerung der körperlichen und mentalen Gesundheit, die langfristig positive Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben werde.

Wildwuchs statt Disziplin

Versucht man eine Gegenüberstellung zwischen Migges gartenreformerischen Theorien und dem aktuellen Urban Gardening, kann man vier Thesen formulieren. Die ersten zwei betreffen grundlegende Gemeinsamkeiten, die dritte und vierte zeigen markante Unterschiede.

Erstens: überall Gärten! Das 20. Jahrhundert ist die Epoche der Masterpläne, der grossen Parkanlagen, der städtischen Neuentwürfe und urbanen Visionen von Planungsfachleuten, die die Überwindung gesellschaftlicher Missstände zum Ziel hatten. Migge mischte zwar durchaus bei Grossprojekten mit, gleichzeitig lieferte er seiner Zeit aber bereits Alternativen; vor allem stand er auch dafür ein, unter der Devise «Alle brauchen Gärten!» «Gärten in Massen» bereitzustellen. Er schenkte dem Kleinen ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem Grossen. Heute sind die grünen Keimzellen noch kleinteiliger: Im omnipräsenten Wachsen und Wuchern von Dächern und Balkonen, bepflanzten Baumscheiben und berankten Wänden potenziert sich Migges Forderung, die Stadt mit Gärten gleichsam zu übersäen.

Zweitens: «Jedermann Selbstversorger». Gemüse-, Kräuter- und Obstgärten sind eine elementare und konstante menschliche Einrichtung. Migge bezeichnet den Nutzgarten als ersten typischen Garten. Gerade in der Zeit um den Ersten Weltkrieg war die Selbstversorgung lebensnotwendig. Doch auch die wohlhabende Gesellschaft liess schon vorher Nutzgärten anlegen, wie einige von Migges Entwürfen belegen. Dies deutet auf einen Wunsch nach Rückkehr zu einem einfachen und echten Leben als Gegenentwurf zu einer auf Ratio­nalisierung, Künstlichkeit und Massenproduktion getrimmten Arbeitswelt. Der aktuelle Trend des selbstversorgerischen Stadtgärtnerns, bei dem auch das gute Ökogewissen und der Globalierungsverdruss eine ­Rolle spielen, knüpft an diese reformerischen Ideen an: Ob Balkonnische oder Gemeinschaftsgarten, jeder Ort ist geeignet, um sich aktiv dem Eigenanbau zu widmen.

Drittens: vom Einzelgärtchen zum Gemeinschaftsgarten. So manche Konzeptidee Migges geht vom individualistischen Gärtnern der Stadtbewohner aus. Die von Zäunen umgrenzten Individualgärten der Reformzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind heute offeneren und pluralistischeren Strukturen gewichen: Gemeinschafts- und Friedensgärten etwa, bei denen die soziale Integration von sozial Benachteiligten oder Asylsuchenden, das Miteinander und das gemeinsame Lernen im Vordergrund stehen.

Viertens: Ästhetik der Ordnung versus Ästhetik der Wildnis. Migge plädiert bei der Planung seiner privaten Gärten und öffentlichen Anlagen für eine klare Struktur und Organisation: Einfachheit, Natürlichkeit, Brauchbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind dabei wichtige Kriterien. Im Kontrast dazu steht die anarchisch-experimentelle Ästhetik vieler Urban Gardeners, die versuchen, ein Stück Wildnis – und Wildheit – in eine von zu viel Ordnung, Uniformität und zu wenig Individualismus geprägte Stadt zurückzubringen.

Nutzen und Schönheit

Die auch heute aktuellste Forderung Migges ist also jene, überall Gärten für jedermann und in allen Massstäben zu bauen, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden und traditionelle Gartenformen wie Zier- und Nutzgarten zu kombinieren. Dass heutige Landschaftsarchitekten vergleichsweise zurückhaltend auf die ­hybriden und heterogenen Experimente des Urban ­Gardening reagieren, mag verschiedene Gründe haben. Eine Annäherung, wie sie bereits Migge wagte, wäre jedoch allemal wünschenswert.


Weiterführende Literatur:
Fachbereich Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel (Hrsg.): Leberecht Migge. 1881–1935. Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Worpsweder Verlag, Kassel 1981.
Leberecht Migge: Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Jena 1913.
Cornelia Müller: Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011.

TEC21, Fr., 2017.08.25



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TEC21 2017|34 Leberecht Migges Erbe

Presseschau 12

25. August 2017Sophie von Schwerin
TEC21

Jedermann Selbstversorger!

Leberecht Migge (1881–1935) zählt zu den führenden Vertretern der sozialen Freiraumplanung. Der konfrontationsbereite Reformer bestückte Arbeitergärten wie herrschaftliche Parks gern mit Nutzpflanzen. Seine Ideen beeinflussten auch die Schweizer Landschaftsarchitektur.

Leberecht Migge (1881–1935) zählt zu den führenden Vertretern der sozialen Freiraumplanung. Der konfrontationsbereite Reformer bestückte Arbeitergärten wie herrschaftliche Parks gern mit Nutzpflanzen. Seine Ideen beeinflussten auch die Schweizer Landschaftsarchitektur.

Die Gartenkunst sollte sozialer orientiert sein und allen Teilen der Gesellschaft dienen, postulierte der Gartenarchitekt, Theoretiker und Publizist Leberecht Migge. Er trat dezidiert für Reformen in der Gartenkunst ein: Im Garten bzw. in der Tätigkeit des Gärtnerns sah er eine wichtige Verbesserung der Lebensqualität, die er mit positiven Auswirkungen auf Körper und Geist begründete.

Mit dieser Position und mit seinen landschaftsarchitektonischen Konzepten erlangte Migge nach­haltige Bedeutung, auch für die Landschaftsarchitektur in der Schweiz. Bis heute gilt er als wichtiger Vertreter der sozialen Freiraumplanung, und bis heute verwenden wir Argumente, die er bereits vor 100 Jahren wie selbstverständlich anführte. Sichtbar sind seine Ideen vor allem auf seinen Plänen, die als Konvolut im Archiv für Schweizer Landschaftsarchitektur an der Hochschule für Technik Rapperswil HSR liegen; deutlich werden sie auch vor dem Hintergrund der damaligen Zeit und von Migges eigenwilligem Charakter.

Leberecht Migge wurde 1881 in Danzig als zwölftes von 13 Kindern einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater handelte u. a. mit ­Gewürzen, und eigentlich sollte auch der Sohn diesen Weg einschlagen. Doch es kam anders, Migge lernte den Gärtner­beruf in Hamburg. Dort arbeitete er ab 1904 im renommierten Gartenbaubetrieb Ochs und gründete 1913 sein eigenes Büro. Im gleichen Jahr veröffentlichte er sein Buch «Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts», in dem er bereits seine sozial orientierten Ansätze formulierte: «Das ist der Wille zur Gartenkultur. Um diese aber zu erleben, dafür müssen wir zuvor erst überhaupt einmal den Garten haben. Der Besitz eines Gartens darf in diesen Tagen von nichts anderem abhängig sein als von dem Wunsch nach ihm: Jedermann einen Garten! Der neue deutsche Garten ist eine soziale Angelegenheit oder ernsthaft überhaupt keine.»

Nutzgärten für Arm und Reich

Die Forderung, jeder solle unabhängig von seiner sozia­len Herkunft einen Garten haben können, entsprach Migges Überzeugung. Einen Grossteil seiner Aufträge in den Jahren 1913 bis 1920 erhielt er aber ­von einem wohlhabenden Kundenkreis. Dennoch entwickelte er bereits zu dieser Zeit Vorschläge für Gartenstädte, Siedlungen und Pachtgärten, und er gab praktische Vorschläge für die effizienten Nutzung bzw. Verbesserung des Bodens. Seine technischen Vorschläge testete und optimierte er im Selbstversuch, als er 1920 mit der eigenen Grossfamilie in die Künstlerkolonie Worps­wede bei Bremen zog. Dort gründete er die sogenannte ­Siedlerschule, in der anhand praktischer Ausführung das Potenzial des Gärtnerns gelehrt wurde.

Gleichzeitig wirkte Migge in den 1920er-Jahren auch an den grossen Bauvorhaben der Zeit mit. Dazu zählen Planungen zu den Aussenanlagen der Hufeisensiedlung in Berlin von Bruno Taut oder die Gärten der Römerstadt in Frankfurt am Main unter der Leitung von Ernst May. 1926 eröffnete er ein Büro in Berlin und veröffentlichte regelmässig Artikel.

Migge war konfrontationsbereit und blieb es bis zu seinem Tod 1935. Aufschlussreiche Hinweise auf seinen Charakter gibt ein Nachruf in der Fachzeitschrift «Die Gartenkunst»: «Angeborene Neigungen zu extremen Auffassungen und umwälzerischen Bestrebungen, dazu Veranlagung für rücksichtslose Kampfesart liessen jedoch seine Gaben nach Erreichung des Mannesalters nicht mehr recht zur Auswirkung kommen […] So kam es, dass Migge schliesslich von jeder beruflichen Zusammenarbeit ausgeschlossen blieb und in den Ruf geriet, marxistische Tendenzen zu begünstigen.»

Grünräume für Stadtmenschen

Migge war konsequent und direkt. Er stand kompromisslos für seine Vorstellungen ein, rief auf, provo­zierte und experimentierte. Damit folgte er auch einer allgemeinen Tendenz der Zeit, denn das beginnende 20. Jahrhundert war geprägt vom Wunsch nach Reform: Noch immer liess das politische System der Monarchie wenig Raum für gesellschaftliche und persönliche Entfaltung. Die Industrialisierung hatte ihre Spuren hinterlassen und schlug sich unter anderem in einem enormen Städtewachstum nieder. Soziale Unzufriedenheit und Spannungen, der sich ausbreitende Militarismus und die Suche nach einem sinnerfüllten Leben in einer beschleunigten Welt führten zu einem Drang nach Veränderung. Dieser manifestierte sich in Experimenten mit neuen Lebenskonzepten, in der Kleidung, in verschiedenen Bereichen der Kunst, im Handwerk, in der Architektur und auch im Garten.

Leberecht Migge reagierte hierauf mit seiner Theorie zu einer neuen Gartenkultur. Er sah den Handlungsbedarf besonders in den Städten, zu denen er 1913 feststellte: «Deutschland ist das Land der grossen ­Städte. Fünfzig Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern und einer Gesamtbevölkerung von rund 14 Millionen liegen auf einer Fläche zusammen, so eng wie in keinem anderen grossen Lande der Erde. Das bedeutet aber auch: Fast ein Viertel der Bevölkerung des Deutschen Reiches sind dem ausgesetzt, was wir als Nachtseiten des Großstadtlebens kennen: Wohnungen, in die zu wenig Sonne und Luft eindringen, unerschwingliche Mieten, teures Brot und teures Fleisch, Alkohol und lange Arbeitszeiten, der Mütter und der Kinder Not.»

Um solchen Lebensbedingungen entgegen­zuwirken, plädierte Migge dafür, den Eigenanbau zu stärken, Flächen für Gärten bereitzustellen und öffentliche Parks zur Bewegung und zum Spiel zu etablieren. Seine Pläne für den Volkspark Rüstringen – heute ein Teil von Wilhelmshaven – beispielsweise erfüllen mehrere Funktionen. Migge reihte im unmittelbaren Umfeld Sportwiese, Festwiese, Nutzviehweide, Stadtgärtnerei, einen Friedhof und Schrebergärten aneinander. Der Park selbst lag darin eingebettet und besass Tennisplätze sowie einen Spielrasen. Alleen zum Promenieren erschlossen die Anlage, ein L-förmiger Wasserkanal mit Karpfenteich erweiterte das Nutzungs- und Erholungsangebot. Bis heute ist der Park ein beliebter Freizeitort und zeigt die Funktionalität der offenen, gleichzeitig aber auch strukturierten und effizienten Gestaltung Leberecht Migges.

Die Schönheit der Nutzpflanze

Seine Vorstellungen für Siedlungen folgten dem Prinzip der Gartenstadt, wie er sie während seines Aufenthalts in England 1910 gesehen hatte. Vor diesem Hintergrund entwickelte er eigene Ideen. Die Pläne zur Steenkamp­siedlung in Hamburg-Altona von 1920 zeigen Strassenzüge mit Reihenhäusern, gesäumt von Obstbäumen. Nur die einheitlichen Vorgärten erfüllen den reinen Zierzweck. Die Hauswände sind mit Spalieren versehen, und in den rückwärtigen Gärten sind Gemüseanbau und Kleintierhaltung vorgesehen. Doch obwohl die Flächen maximal ausgenutzt sind, gibt es immer eine Bank oder einen Laubengang für Genuss und Erholung.

Dass Migge für den Anbau von Nutzpflanzen als Kulturpflanzen einstand, zeigen auch seine Planungen für aufwendige Villengärten. Deutlich wird dies etwa auf den Zeichnungen für den Pfirsichgarten Trunkhahn in Budapest von 1918/1919. Auf Terrassen reiht er die Obstbäume aneinander, verbindet Gartenräume über Laubengänge, versieht Schutzmauern mit Pfirsichspalieren, sieht einen prominent gelegenen Gemüse­garten vor; Pavillons und Sitzplätze geben Ausblicke auf diesen spektakulär konstruierten Privatgarten frei, der ge­wissermassen die Schönheit der Nutzpflanze ­feiert. Nicht nur hier, sondern in nahezu allen Projekten des Rapperswiler Konvoluts zeigt sich Migges Leidenschaft für diese Pflanzengruppe, deren hohen Zierwert er immer wieder betonte.

TEC21, Fr., 2017.08.25



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TEC21 2017|34 Leberecht Migges Erbe

25. August 2017Sophie von Schwerin
Gabi Lerch
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Gärten für alle

Der deutsche Landschaftsarchitekt Leberecht Migge war überzeugt, dass der Eigenanbau und die Freuden der Gartenarbeit die Menschen gesünder, glücklicher und unabhängiger machen. Was hat das heutige Urban Gardening damit zu tun?

Der deutsche Landschaftsarchitekt Leberecht Migge war überzeugt, dass der Eigenanbau und die Freuden der Gartenarbeit die Menschen gesünder, glücklicher und unabhängiger machen. Was hat das heutige Urban Gardening damit zu tun?

Der Trend zum Gärtnern in der Stadt hält sich nun schon seit einigen Jahren. Dabei geht es nicht um Gemüseanbau aus unmittelbarer Not, sondern vielmehr um eine neue Lust an der praktischen Gartenarbeit und an lokalen Produkten. Dass Gärtnern grundsätzlich eine positive Wirkung haben kann, schrieb der deutsche Landschaftsarchitekt und Gartenreformer Leberecht Migge (1881–1935) schon 1913: «[Der Garten] bietet etwas Seltenes und Unersetzliches: er ist lebendig. […] Die offensichtliche Vergänglichkeit auch des Kraftvollsten und Mächtigsten, wie sie sich besonders drastisch bei den Lebewesen des Gartens zeigt, spendet den ­Müden Trost und ruft in den Starken brüderliche Gesinnung wach.»

Ist diese Lebendigkeit des Gartens, die Lebenskraft einflösst und Gemeinschaft stiftet, mit ein Grund für das momentan so ­beliebte Stadtgärtnern? Ist Migge ein Vordenker? In­wiefern lassen sich die Reformbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und das heutige Urban Gardening ­vergleichen?

Guerilla-Gartenbau und Pluralismus

Der Begriff Urban Gardening steht für die garten­bauliche Nutzung städtischer Freiflächen. Dazu zählen auch aktivistische Initiativen, die sich städtischen Raum aus idealistischen Gründen individuell oder als Gruppe aneignen – mit illegalen, temporären, zuweilen aber auch längerfristig angelegten Gärten. Die Bewegung ist facettenreich und umfasst verschiedene Projekte wie Gemeinschaftsgärten, Guerilla Gardening, Dachfarmen, Kinderbauernhöfe, Kleingärten, «essbare Spielplätze», vertikale Landwirtschaft und mobile ­Gärten. Zwar ­unterscheiden sich die Ansätze und ihre praktische Ausführung, ihr Hintergrund ist jedoch fast immer ­partizipativ und gemeinschaftsorientiert.

Erste Beispiele für den Urban-Gardening-Trend waren die community gardens in New York, die sich in den 1970er-Jahren aus einer aktivistischen Aneignung von brachliegendem Bauland in der Süd-Bronx entwickelten. In diesem damals sozial vergleichsweise schwachen Bezirk hatten Bewohnerinnen und Bewohner angefangen, das ungenutzte, verwüstete umliegende Land zu bebauen. Neben der Erzeugung von Nahrungsmitteln entstanden hier – ungeplant und ungesteuert – Orte der Gemeinschaft sowie Impulse, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Das Community Gardening breitete sich aus und fand schliesslich auch in politischen Planungsinstrumenten einen gewissen Widerhall.

Seither sind zahlreiche weitere Beispiele für städtisches Gärtnern hinzugekommen: In Zürich etwa begann Maurice Maggi ab Mitte der 1980er-Jahre, in heimlichen nächtlichen Streifzügen Malvensamen (Alcea rosea) an Strassenbäumen, Bahnborden und auf Brachflächen auszusäen. Anfänglich von der Stadtverwaltung bekämpft, sind die Malven heute ein Kennzeichen der Stadt. Der auf einfachsten Mitteln basierenden Guerillataktik und der Kultivierung einer Ästhetik von «wilder» Stadtnatur stehen heute Projekte gegenüber, die auf hochtechnologische Methoden setzen: Die Firma Gotham Greens in New York zum Beispiel entwickelte zwei Jahre lang ein Gewächshaus, um auf Dachflächen unter Einbezug von Solarenergie möglichst nachhaltig und ökologisch Gemüse und Kräuter zu produzieren. Die Erzeugnisse daraus werden in einem Umkreis von höchstens sieben Meilen vertrieben.

Urban Gardening kann also auf unterschiedlichste Motive zurückgehen. Gleichwohl ist den Pro­jekten gemeinsam, dass sie grundsätzlich auf Selbst­initiative und einer Abkehr von der konventionellen Landwirtschaft basieren. Dass die gärtnernde Stadt­gesellschaft von zero waste und einer Kultur der Reparatur spricht, zeugt von einer gewissen Desillusionierung: Lieber glaubt man an eigene Anbaumethoden und kleinteiliges Handeln als an gerechte politische und demokratische Regelwerke. Zugleich ist die Urban-Gardening-Bewegung auch Ausdruck einer freien und pluralistischen Gesellschaft, die sich unbekümmert städtischen Raum aneignet und urbanes Leben mit ländlichem verbindet.

Aus der Not zur Volksgesundheit

Im Gegensatz dazu entsprang Leberecht Migges Ansatz aus der Not und dem reformerischen Geist seiner Zeit. Im frühen 20. Jahrhundert war das Elend in den sozial schwachen Quartieren der Städte offenkundig. Deshalb trat Migge für eine vielseitig nutzbare Gartenkultur ein, die allen die Möglichkeit eröffnen sollte, sich in der Natur zu erholen, zu gärtnern und Selbstversorgung zu betreiben. Dementsprechend entwickelte er seine Konzepte für Städte, Volksparks, Privat- und Siedlungsgärten, selbst für den einzelnen Schrebergarten, und beschrieb sie in zahlreichen Artikeln und Veröffentlichungen. Effiziente Flächenverteilung und technische Mittel zur Bodenverbesserung zeigen seinen pragmatischen und zukunftsgerichteten Ansatz, der romanti­sierenden Gartengedanken wenig Raum lässt. Vom Nutzen bringenden Gartenbau versprach er sich zudem auch eine Steigerung der körperlichen und mentalen Gesundheit, die langfristig positive Auswirkungen auf die Volkswirtschaft haben werde.

Wildwuchs statt Disziplin

Versucht man eine Gegenüberstellung zwischen Migges gartenreformerischen Theorien und dem aktuellen Urban Gardening, kann man vier Thesen formulieren. Die ersten zwei betreffen grundlegende Gemeinsamkeiten, die dritte und vierte zeigen markante Unterschiede.

Erstens: überall Gärten! Das 20. Jahrhundert ist die Epoche der Masterpläne, der grossen Parkanlagen, der städtischen Neuentwürfe und urbanen Visionen von Planungsfachleuten, die die Überwindung gesellschaftlicher Missstände zum Ziel hatten. Migge mischte zwar durchaus bei Grossprojekten mit, gleichzeitig lieferte er seiner Zeit aber bereits Alternativen; vor allem stand er auch dafür ein, unter der Devise «Alle brauchen Gärten!» «Gärten in Massen» bereitzustellen. Er schenkte dem Kleinen ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem Grossen. Heute sind die grünen Keimzellen noch kleinteiliger: Im omnipräsenten Wachsen und Wuchern von Dächern und Balkonen, bepflanzten Baumscheiben und berankten Wänden potenziert sich Migges Forderung, die Stadt mit Gärten gleichsam zu übersäen.

Zweitens: «Jedermann Selbstversorger». Gemüse-, Kräuter- und Obstgärten sind eine elementare und konstante menschliche Einrichtung. Migge bezeichnet den Nutzgarten als ersten typischen Garten. Gerade in der Zeit um den Ersten Weltkrieg war die Selbstversorgung lebensnotwendig. Doch auch die wohlhabende Gesellschaft liess schon vorher Nutzgärten anlegen, wie einige von Migges Entwürfen belegen. Dies deutet auf einen Wunsch nach Rückkehr zu einem einfachen und echten Leben als Gegenentwurf zu einer auf Ratio­nalisierung, Künstlichkeit und Massenproduktion getrimmten Arbeitswelt. Der aktuelle Trend des selbstversorgerischen Stadtgärtnerns, bei dem auch das gute Ökogewissen und der Globalierungsverdruss eine ­Rolle spielen, knüpft an diese reformerischen Ideen an: Ob Balkonnische oder Gemeinschaftsgarten, jeder Ort ist geeignet, um sich aktiv dem Eigenanbau zu widmen.

Drittens: vom Einzelgärtchen zum Gemeinschaftsgarten. So manche Konzeptidee Migges geht vom individualistischen Gärtnern der Stadtbewohner aus. Die von Zäunen umgrenzten Individualgärten der Reformzeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind heute offeneren und pluralistischeren Strukturen gewichen: Gemeinschafts- und Friedensgärten etwa, bei denen die soziale Integration von sozial Benachteiligten oder Asylsuchenden, das Miteinander und das gemeinsame Lernen im Vordergrund stehen.

Viertens: Ästhetik der Ordnung versus Ästhetik der Wildnis. Migge plädiert bei der Planung seiner privaten Gärten und öffentlichen Anlagen für eine klare Struktur und Organisation: Einfachheit, Natürlichkeit, Brauchbarkeit und Wirtschaftlichkeit sind dabei wichtige Kriterien. Im Kontrast dazu steht die anarchisch-experimentelle Ästhetik vieler Urban Gardeners, die versuchen, ein Stück Wildnis – und Wildheit – in eine von zu viel Ordnung, Uniformität und zu wenig Individualismus geprägte Stadt zurückzubringen.

Nutzen und Schönheit

Die auch heute aktuellste Forderung Migges ist also jene, überall Gärten für jedermann und in allen Massstäben zu bauen, das Nützliche mit dem Schönen zu verbinden und traditionelle Gartenformen wie Zier- und Nutzgarten zu kombinieren. Dass heutige Landschaftsarchitekten vergleichsweise zurückhaltend auf die ­hybriden und heterogenen Experimente des Urban ­Gardening reagieren, mag verschiedene Gründe haben. Eine Annäherung, wie sie bereits Migge wagte, wäre jedoch allemal wünschenswert.


Weiterführende Literatur:
Fachbereich Stadt- und Landschaftsplanung der Gesamthochschule Kassel (Hrsg.): Leberecht Migge. 1881–1935. Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Worpsweder Verlag, Kassel 1981.
Leberecht Migge: Die Gartenkultur des 20. Jahrhunderts. Jena 1913.
Cornelia Müller: Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011.

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