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17. Mai 2021Ernst Gruber
dérive

»… ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen«

Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung: Nur wenige Städte können gleich zwei so hohe Ansprüche zugleich erfüllen. Wien gehört dazu und das prägt die Stadt in ihrer Außenwahrnehmung und in ihrem Selbstverständnis. Doch es könnte noch besser gehen, wenn Kultur mit dem sozialen Anspruch in Stadtentwicklungsgebieten zusammen gedacht wird: ein Entwurf als Diskussionsbeitrag.

Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung: Nur wenige Städte können gleich zwei so hohe Ansprüche zugleich erfüllen. Wien gehört dazu und das prägt die Stadt in ihrer Außenwahrnehmung und in ihrem Selbstverständnis. Doch es könnte noch besser gehen, wenn Kultur mit dem sozialen Anspruch in Stadtentwicklungsgebieten zusammen gedacht wird: ein Entwurf als Diskussionsbeitrag.

Die hohe soziale Verantwortung Wiens steht in engem Zusammenhang mit dem geförderten Wohnbau und seinen Instrumenten. Dabei nehmen die Stadtentwicklungsgebiete eine besondere Bedeutung ein: Zum überwiegenden Teil in peripheren Lagen und damit komplementär zu den vorwiegend zentrumsnahen Kultureinrichtungen, bieten sie im Sinne einer polyzentralen Stadt eine große Chance um den sozialen Anspruch mit dem kulturellen Selbstverständnis der Stadt zu verknüpfen. Über die Bedeutung von Kultur und ihren Räumen in der Stadt wurde und wird vielfach diskutiert – im Diskurs um die Nordbahnhalle (siehe dérive 77 und 78), im Rahmen der jüngsten Bauträger-Wettbewerbe und der Frage nach Bauplatz-übergreifenden Wirksamkeiten, wie im Quartier An der Schanze in Floridsdorf.

Das Ankerzentrum: ein neuer sozialer Raum?

Geht es nach dem aktuellen Wiener Regierungsprogramm, so soll der »Ausbau von Ankerzentren als Basis für kulturelle Nahversorgung« stärker gefördert werden. »Mit den Mitteln der Kunst entstehen neue soziale Räume, die als »Anker« in den Bezirken Andockstellen für Neues und für das Weiterdenken von Bestehendem sein sollen« (Die Fortschrittskoalition für Wien, S. 93ff). Der in diesem Zusammenhang recht neue Begriff des Ankerzentrums bezieht sich auf Einrichtungen wie das Kulturhaus Brotfabrik in Favoriten, das Soho im Sandleitenhof in Ottakring oder das F23 in Liesing. Letzteres ist ein Beispiel für eine kulturelle Nutzung in einem sich stärker entwickelnden Gebiet. Als historisches Vorbild für den kulturellen Aspekt der sozialen Stadtentwicklung einer Smart City sieht Bürgermeister Michael Ludwig das Theater im Rabenhof (Ludwig 2020).

Das ist gut, denn Räume für Kunst und Kultur sind in der Stadtentwicklung keine Fixstarter. Doch bereits in der Zeit des Roten Wiens gab es visionäre Konzepte und konkrete Beispiele für dezentrale und multifunktionalere Räume: In Ihrem Text Ingenieure der Werkstatt für Massenform: Theater der Zukunft formulierte eine Gruppe Wiener Architekten bereits 1924 eine Neukonzeption von kleinen, sogenannten Raumbühnen als dezentrale Theaterräume, in denen Bühne und Zuschauerraum eins werden. Sie kamen zu dem Schluss, »In jedem Bezirk Wiens könnte eine solche [kleine Bühne] stehen. […] Hier will man es bequem haben. […] Im eigenen Bezirk, ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen.[…] Nicht zuletzt die Siedlerbewegung weist denselben Weg« (McFarland et al. 2020, S. 648).

Die Raumbühnen knüpfen damit an Räume wie die Genossenschaftshäuser der Wiener Siedlerbewegung an: kleine, dezentrale Zentren für Kultur, aber eben auch für Soziales. »Das Genossenschaftshaus ist das Herz und Hirn einer Siedlung. Rathaus, Erholungsheim, Klub, Theater, Konzerthaus, Volksuniversität zu gleicher Zeit« fasste es der Kunsthistoriker, Philosoph und Nationalökonom Max Ermers 1924 zusammen (Ermers nach: Zimmerl 2002, S.92). Organisiert und getragen wurden sie genossenschaftlich oder auf Vereinsbasis, im Sinne eines rechtsförmigen Tausches zwischen Staat und gemeinnützigen Trägern erhielten sie dafür finanzielle Unterstützung (vgl. Novy & Förster 1991, S. 90).

Das Ankerzentrum als soziokultureller Raum in neuen Stadtentwicklungsgebieten

Die neuen Ankerzentren können an diese Ideen anknüpfen und sie weiterdenken: In einer Kombination des sozialen Anspruchs von Stadtteil- oder Nachbarschaftszentren, eingebunden in Stadtentwicklungsgebiete mit guter Leistbarkeit als Raum für dezentrale, niederschwellige Kultur auf Augenhöhe, für und mit den Bewohner:innen.

Das Ziel müsste sein, die Menschen vor Ort für ein kulturelles Programm zu begeistern, indem sie »neue Kooperationen mit Partizipation von Bürger:innen vor Ort, Künstler:innen und Kulturinstitutionen« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 93) fördert. Kunst und Kultur sollte verstärkt auch dorthin gehen, wo die neuen Wiener und Wienerinnen wohnen – in die Gebiete der Stadtentwicklung: in die Seestadt oder nach Hirschstetten, nach Floridsdorf, Atzgersdorf oder nach Liesing und dabei soziales und nachbarschaftliches Augenmaß beibehalten. Dadurch ließe sich auch der Fokus von den klassischen aufsuchenden und unterstützenden Aufgaben der Stadtteil- oder Nachbarschaftszentren auf andere Zielgruppen erweitern.

Dazu bedarf es einer starken Verbindung des Kulturellen mit dem sozialen Anspruch, damit beide voneinander profitieren können. Neue soziale Räume sind demnach Räume großer Hybridität – in ihrer Architektur, ihrer Finanzierung und ihrer Trägerschaft. Vier Prinzipien als Entwurf für ein robustes Konzept von Ankerzentren als neue soziokulturelle Räume für Wien.

1) Umsetzungsprinzip: Prozess und Standortpolitik

Kultur ist eine klassische Querschnittsmaterie. Das macht sie resilient in ihrer gewachsenen Struktur, bedarf zugleich einer sehr interdisziplinären Herangehensweise in ihrer Entwicklung. Sie erfordert eine Hybridität der beteiligten Abteilungen und Verwaltungsstrukturen. Ein adäquater Prozess bindet die beteiligten Dienst­stellen der Stadt Wien von der Stadtentwicklung und Stadtplanung, über Kultur, Bildung, Soziales bis zum Wohnbau ein. Für eine strategische Kultur-Standortpolitik werden Aspekte der Standortwahl wie Dichte, Soziodemografie, Erreichbarkeit oder das Vorhandensein spezieller Angebote im Quartier herangezogen. An diese werden verpflichtende Vorgaben für die Einrichtung der neuen soziokul­turellen Ankerzentren festgeschrieben.

Für das »Orchestrieren der Prozesse« (Häberlin 2021, S. 52) werden ebenfalls im Regierungsprogramm zu findende »frühzeitige und bauplatzübergreifende Managementprozesse mit innovativen Nutzungskonzepten für Erdgeschosszonen« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 102) eingesetzt. Auch hierfür gibt es bereits gelungene Beispiele, wie die vernetzte Bespielung bauplatzübergreifender Gemeinschaftsräume.

Der Raumbedarf für die Etablierung von Zweigstellen etablierter Institutionen müsste in der Entwicklungsphase festgelegt und systematisch und möglichst früh in die Entwicklungen eingebunden werden.

2) Raumprinzip: Hybrides Raumprogramm für Kunst und Kultur auf Augenhöhe

Das Ankerzentrum als neuer sozialer Raum ist multifunktional und muss die Ergebnisoffenheit des Prozesses räumlich widerspiegeln. Es werden Räume für ­Menschen geplant, die mitunter noch gar nicht da sind. Es ermöglicht als Handlungs-Spiel-Raum Nutzungen von Kinder- und Erwachsenentheater, Lesungen, Tanz- und Infoveranstaltungen als Aufführungsort für die Freie Szene oder Konzerten – auch größerer Lautstärke und Frequenz. Bühne und Zuschauerbereich sind flexibel möblierbar. Abtrennbare Räume ermöglichen temporäre Anmietung bzw. Nutzung, wie als Proberäume. Ergänzt durch Nebenräume wie Bar, Lager und Sanitäreinheiten wird ein vollausgestatteter Veranstaltungsbetrieb mit Wirkung über das Grätzel hinaus ermöglicht. Wichtig für seine Relevanz ist demnach eine gewisse kritische Größe, 400–600m² erscheinen ein guter Richtwert für ein Ankerzentrum. Als neuer sozialer Raum bietet es nicht-programmierte Räume, zum Aufhalten, Lesen, als Treffpunkt oder zum Hausübung machen. Ein einfaches, kleines, günstiges Café kann die Niederschwelligkeit unterstützen.

Eine transparent gestaltete Erdgeschoßzone geht über in den öffentlichen Raum davor, der durch einladende Gestaltung eine Verlängerung des gebauten Raumes darstellt und so auch attraktiv wird. Diese bauliche Gestaltung, das Ineinanderfließen von halb-öffentlich und öffentlich spiegelt auch den Beitrag der sozio­kulturellen Nutzungen zur Quartiersbildung wider.

3) Prinzip des Public-Commons-Partnership

Das Ankerzentrum ist Gemeingut. Seine Trägerschaft muss transparent und effizient gestaltet sein und zudem ermöglichen, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur:innen damit identifizieren kann. Dazu eignet sich das Prinzip eines ­Public-Commons-Partnership[1], einer Partnerschaft zwischen Stadt, Zivilgesellschaft und Partner:innen aus dem Sozial- und dem Kulturbereich. Ziel sollte die Selbstverwaltung durch die Nachbarschaft sein. Dazu kann eine eigene Genossenschaft als rechtsverbindliche und langfristig stabile Struktur gegründet werden. In der Startphase können professionelle Konsulent:innen organisatorische und personelle Anschubhilfe leisten.

Eine solche Genossenschaft kann in weiterer Folge auch auf mehrere Ankerzentren übertragen werden, um stärkere Synergien zu bilden. Entsprechend dem Ziel von »starken Zivilgesellschaften zur Stabilisierung von Nachbarschaft und Zusammenleben« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 102) stärkt eine (sukzessive) Einbindung engagierter Personen aus der direkten Nachbarschaft bzw. dem Stadtteil und dem Bezirk in die Trägerschaft die Identifikation: Ein co-verwaltetes Ankerzentrum in der Nachbarschaft mit der Nachbarschaft.

Dazu bedarf es langfristiger Finanzierungszusagen jenseits eines punktuellen Sponsorings. Die Ankerzentren sind daher hybrid finanziert: Die Finanzierung des laufenden Betriebs erfolgt über eine eigene Abwicklung von Fördermitteln mehrerer zuständiger Ressorts wie Kunst und Kultur, Soziales, Bildung oder Sport. Mit dem Bezug von Fördermitteln ist zugleich das notwendige Maß an Transparenz verbunden sowie die Verpflichtung, über die Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen.

Zur Errichtung der Räume können Bauträger Mittel der Wohnbauförderung beziehen,[2] die Miete sollte dem Kostendeckungsprinzip unterliegen. Ebenso können bestehende Räumlichkeiten entsprechend adaptiert werden. Die Trägerorganisation mietet die Räumlichkeiten an und tritt als Betreiberin auf. Die Ausstattung wird über den Bauträger vorfinanziert und ist Mietbestandteil. Ein Ankerzentrum mit ca. 600m² Nutzfläche könnte sich mit jährlichen Personal-, Miet- und Betriebskosten von ca. € 150.000 pro Jahr finanzieren. Dazu können auch bauplatzübergreifende Kostenbeteiligungsschlüssel von Stadtentwicklungsgebieten beitragen, die im Vorfeld festzulegen sind. Die Beteiligung des freifinanzierten Wohnbausektors ist hier ebenfalls ein Thema, schlussendlich profitieren auch diese.

4) Prinzip der sozio-kulturellen Programmierung

Ein Ankerzentrum für soziale und kulturelle Nahversorgung ist auch ein Ort des Austausches und Empowerments aller sozialen Schichten und Gruppen der lokalen Gesellschaft. Das Ankerzentrum wird als nicht-kommerzieller Treffpunkt offen und niederschwellig konzipiert. Im Sinne einer modernen Demokratiekultur wird im und durch das Ankerzentrum die Mitgestaltung im Grätzel durch inklusive Teilhabe- und Mitsprachemöglichkeiten gestärkt. Dazu werden Beteiligungsformen genutzt, die direkt an der unmittelbaren Lebensrealität ansetzen: Im Gegensatz zur klassischen, aufsuchenden Gemeinwesenarbeit wird eine weitgehende Selbstverwaltung angestrebt, aktive Teilhabe, Partizipation und Mitgestaltung der benachbarten Bewohner*innenschaft gefördert und gestärkt.

Für eine nachhaltige Verankerung jeder Art von Zentrum ist die Akzeptanz in der Nachbarschaft essenziell. Die Identifikation mit den Genossenschaftshäusern der Siedlerbewegung entsprang der Arbeit, die von den späteren Bewohner:innen für ihre Siedlung geleistet wurde. Ein neues Ankerzentrum wird ebenfalls mit den Menschen vor Ort entwickelt: mit jenen, die schon da sind und mit jenen, die noch kommen. Über Beiräte bzw. soziokratische Organisationsstrukturen können unterschiedliche Nutzer*innengruppen eingebunden werden, um ein bedürfnisgerechtes, niederschwelliges Programm mit der Bevölkerung vor Ort zu entwickeln. So bekommt jedes Ankerzentrum seinen eigenen Charakter. Kernprogramme bestehender Träger bieten eine Ausgangsbasis, die auch zwischen den Ankerzentren wandern können. Die weitere Programmierung erfolgt über Formate wie Ideenwerkstätten, als bauplatzübergreifendes Beteiligungsangebot für Zielgruppen wie Kinder, Ältere oder Menschen mit Migrationshintergrund.

Ausblick

Das soziokulturelle Ankerzentrum ist Gemeingut. Es ist Anlass, um über eine effiziente Bündelung der verfügbaren Mittel und Ressourcen nachzudenken. Es eignet sich, um bestehende Funktionstrennung in der Verwaltung zu überwinden und die Instrumente von Wohnbau und Stadtentwicklung hinsichtlich ihrer Zeitgemäßheit zu überprüfen. Das soziokulturelle Ankerzentrum entspricht der Tradition einer Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung.


Anmerkungen:
[01] Tomaso Fattori (2012) verwendet den Begriff im Zusammenhang mit seinem Diskussionsbeitrag zur rechtlichen Verstetigung von Gemeingütern (Commons).

[02] Ansätze für diese Praxis bieten das Kulturhaus in der Sargfabrik in Wien 14. oder das WUK. Bspw. als Einrichtungen der kommunalen Infrastruktur oder als Gewerbebetrieb zur Deckung der sozialen Bedürfnisse der Wohnbevölkerung, vgl. aktuelles Wiener Wohnbauförderungs- und Wohnhaussanierungsgesetz, §1 und 2

Literatur:
Die Fortschrittskoalition für Wien (2020): Koalitionsprogramm. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/regierungsabkommen2020.
Fattori, Tomaso (2012): Towards a Legal Framework for the Commons. Verfügbar unter: wiki.p2pfoundation.net/Towards_a_Legal_Framework_for_the_Commons [Stand 20.3.2021]
Häberlin, Udo (2021): Öffentliche Räume als Plattform einer Solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung? In: dérive Nr. 82.
Ludwig, Michael (2020): Soziale Stadtentwicklung im Fokus. Verfügbar unter: https://www.michael-ludwig.wien/aktuelles/weltstadt/soziale-stadtentwicklung-im-fokus/ [Stand 20.3.2021]
McFarland, Rob; Spitaler, Georg & Zechner, Ingo (Hg.) (2020): Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne 1919–1934. Berlin: De Gruyter Oldenbourg.
Novy, Klaus & Förster, Wolfgang (1991): einfach bauen. Genossenschaftliche Selbsthilfe nach der Jahrhundertwende. Zur Rekonstruktion der Wiener Siedlerbewegung. Wien: Picus.
Zimmerl, Ulrike (2002): Kübeldörfer. Siedlung und Siedlerbewegung im Wien der Zwischenkriegszeit. Wien: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag.

[Ernst Gruber ist Architekt, Grafik- und Kommunikationsdesigner sowie Mitglied der Geschäftsführung von wohnbund:consult, Büro für Stadt.Raum.Entwicklung. Sein Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt sind Raum- und Stadtforschung sowie Wohnbau und Partizipation. Lehrtätigkeit am Institut für Städtebau der TU Wien, laufende Publikations- und Forschungstätigkeiten. Lebt und arbeitet in Wien.]

dérive, Mo., 2021.05.17



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dérive 83 Mobilität und Stadtplanung

29. Juli 2015Ernst Gruber
dérive

Zur Bewertung des Wohnens

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend...

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend...

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Mit dem ständig wachsenden Anteil der in Städten lebenden Weltbevölkerung ist dieser Anspruch zu einem globalen geworden. Wie lassen sich aber internationale Ansätze mit ihren regionalen Spezifika in ihren Unterschiedlichkeiten bewerten und miteinander vergleichen?

Das Buch Affordable Living – Housing for Everyone stellt anhand von sechs Essays und sechzehn Projektbeispielen internationale stadtplanerische und architektonische Lösungsansätze der jüngsten Zeit dar, die einen Beitrag zu diesem Thema leisten. Der Band stellt das Ergebnis einer mehrjährigen Auseinandersetzung im Rahmen eines akademischen Austausches zwischen der Universität Münster und dem Harbin Institute of Technology in Shenzen, China, dar.

Im Zentrum dessen, was leistbarer Wohnbau sein kann, stehen die an diesen Entwicklungsprozessen beteiligten AkteurInnen und die Abhängigkeiten zwischen Investition, Rechtsform und Regulativen. Die allerorts fortschreitende Liberalisierung der Märkte legt die Produktion sowie die Regelung des Zuganges zu Wohnraum und dessen Verwaltung vor allem im massenweise produzierten sozialen Wohnbau zusehends in die Hände von privaten InvestorInnen. Im indischen Bangalore, wo die Gentrifizierung innerstädtischer Gebiete eine starke Verdrängung der ärmeren Bevölkerung nach sich zieht, treten nunmehr mehrgeschossige Wohnbauten an die Stelle informeller, niedriger Strukturen.

Kostengünstiger Wohnraum als am stärksten nachgefragtes Marktsegment wird nach westlichem Vorbild durch PPP-Modelle oder allein durch private InvestorInnen gedeckt. Die Wohnraumproduktion dient dabei buchstäblich der Umverteilung von unten nach oben, selbst die SlumbewohnerInnen werden nunmehr vertikal geschichtet, die zentralen Fragen nach dem Zugang zu Mobilität und zu Land bleiben dabei im großen Maßstab ungelöst.

Gegensätzlich dazu gestaltet sich die Situation in China, wo ein Tandem aus staatlichen und informellen Maßnahmen kostengünstigen Wohnraum sichert. So sind es in Shenzen ehemalige Bauern, die einen Großteil des Bedarfes an leistbarem Wohnraum informell decken. Ihnen wurde vom Staat großflächig Bauland für die Errichtung von Wohngebäuden als Kompensation für ihre landwirtschaftlichen Flächen gegeben. Auf diesen dehnt sich nun die Stadt rings um die ehemaligen Dörfer aus. Aus den ehemaligen Bauern wurden notgedrungen Bauherren, die das in kollektivem Besitz stehende Land dicht bebauten, um den Wohnraum an zugezogene ArbeiterInnen zu vermieten. Diese so genannten Urban Villages decken gemeinsam mit dem staatlichen sozialen Wohnungsbau im Rahmen der regulierenden wirtschaftlichen Maßnahmen den Bedarf an kostengünstigem Wohnraum.

Gemeinschaftliches Eigentum steht auch im Zentrum der bottom-up organisierten Kooperativen und Baugenossenschaften, die sich in Westeuropa immer größerer Beliebtheit erfreuen. Sein eigener Bauherr zu werden kann mitunter bedeuten, für sich selbst die Standards zu definieren, nach denen Wohnraum noch einen Bedarf deckt und nicht Ausdruck einer Bedürfnisproduktion darstellt, frei nach der Frage „Wieviel ist genug?“

Den Hauptteil des Buches bilden die sechzehn Projektbeispiele, die in vier Themengebiete gegliedert sind: Standards/Participation, Mass Housing, Minimizing/Externalization und Prefabrication. Ihnen werden jeweils vier ausgesuchte Wohngebäude aus Europa, Asien und den USA zugeordnet, die einer Analyse im ökonomischen, sozialen und städtebaulichen Kontext unterzogen werden. Die Projekte werden dabei textlich kontextualisiert und anhand ihrer Entstehungsgeschichte und regionaler Besonderheiten erläutert. Den methodologischen Kern der Publikation bilden hierbei Diagramme zur Leistbarkeit, der Bebauungsdichte und charakteristischen Kostenwerten. Die Leistbarkeit der Projekte wird dabei im Verhältnis zum Anteil des Monatseinkommens definiert, der im Durchschnitt für Wohnen ausgegeben wird. Ergänzt werden diese Darstellungen durch einen grafisch übersetzten Qualitätenkatalog, der sich über mehrere Maßstabsebenen von gebäudebezogenen und bauphysikalischen Kennwerten bis zur städtebaulichen Integration erstreckt. Durch diese Abstraktion werden die Projekte weniger an eine relative Vergleichbarkeit herangeführt als vielmehr hinsichtlich des Zusammenhangs von architektonischen Stellschrauben und Kosten vergleichbar.

Der Blick auf die globalen Vorgänge ermöglicht die Kontextualisierung der Prozesse und Ansätze, und es zeigt sich erwartungsgemäß, dass sich das Kriterium der Leistbarkeit hervorragend als Lesart für die Kontextualisierung von Wohnbau und Politik eignet. Die Essays bieten Einblicke in städtebauliche, soziokulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge, wobei sich die Beschreibungen teils recht unabhängig voneinander hinsichtlich der zu Grunde liegenden Prozesse entwickeln, die die Leistbarkeit von Wohnraum prägen. Die diagrammatische Aufbereitung der Projektbeispiele wiederum knüpft an aktuelle Fragen der Repräsentation und Vermittelbarkeit von Wissen in Architektur und Städtebau an.

Dies überzeugt mehr als die Auswahl der Projektbeispiele, denen hinsichtlich der Vergleichbarkeit auch eine stärkere Fokussierung gut getan hätte, etwa ausschließlich auf Mietprojekte. Auch würde man sich eine Untersuchung der in den Essays erwähnten radikaleren Projekte wünschen, wie beispielsweise eines Wohnbaus aus den eingangs erwähnten Urban Villages von Shenzen. Die würden sich vielleicht nicht direkt in die mitteleuropäische Logik der Wohnraumproduktion übertragen lassen, könnten diese aber umso mehr in Frage stellen. Ebenso interessant wie die Diagramme in Bezug auf die Projekte wäre eine Darstellung der am Wohnbau beteiligten AkteurInnen, deren jeweiliger Einflussbereiche und ihrer Interessen.

Insgesamt wird das Handbuchhafte durch das Layout und das handliche Format der Publikation schlüssig umgesetzt. Das Buch stellt sowohl für praktizierende ArchitektInnen als auch für Studierende einen wertvollen Beitrag zu der Frage dar, welche Maßnahmen für kostengünstiges Bauen ausschlaggebend sind. Darüber hinaus leistet es auf der Ebene der Vermittlung einen wichtigen Beitrag zur einem Verständnis komplexer Zusammenhänge.


Klaus Dömer, Hans Drexler, Joachim Schultz-Granberg (Hg.)
Affordable Living – Housing for Everyone
Berlin: Jovis, 2014
272 Seiten, englisch, 19,80 Euro

dérive, Mi., 2015.07.29



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17. Mai 2021Ernst Gruber
dérive

»… ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen«

Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung: Nur wenige Städte können gleich zwei so hohe Ansprüche zugleich erfüllen. Wien gehört dazu und das prägt die Stadt in ihrer Außenwahrnehmung und in ihrem Selbstverständnis. Doch es könnte noch besser gehen, wenn Kultur mit dem sozialen Anspruch in Stadtentwicklungsgebieten zusammen gedacht wird: ein Entwurf als Diskussionsbeitrag.

Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung: Nur wenige Städte können gleich zwei so hohe Ansprüche zugleich erfüllen. Wien gehört dazu und das prägt die Stadt in ihrer Außenwahrnehmung und in ihrem Selbstverständnis. Doch es könnte noch besser gehen, wenn Kultur mit dem sozialen Anspruch in Stadtentwicklungsgebieten zusammen gedacht wird: ein Entwurf als Diskussionsbeitrag.

Die hohe soziale Verantwortung Wiens steht in engem Zusammenhang mit dem geförderten Wohnbau und seinen Instrumenten. Dabei nehmen die Stadtentwicklungsgebiete eine besondere Bedeutung ein: Zum überwiegenden Teil in peripheren Lagen und damit komplementär zu den vorwiegend zentrumsnahen Kultureinrichtungen, bieten sie im Sinne einer polyzentralen Stadt eine große Chance um den sozialen Anspruch mit dem kulturellen Selbstverständnis der Stadt zu verknüpfen. Über die Bedeutung von Kultur und ihren Räumen in der Stadt wurde und wird vielfach diskutiert – im Diskurs um die Nordbahnhalle (siehe dérive 77 und 78), im Rahmen der jüngsten Bauträger-Wettbewerbe und der Frage nach Bauplatz-übergreifenden Wirksamkeiten, wie im Quartier An der Schanze in Floridsdorf.

Das Ankerzentrum: ein neuer sozialer Raum?

Geht es nach dem aktuellen Wiener Regierungsprogramm, so soll der »Ausbau von Ankerzentren als Basis für kulturelle Nahversorgung« stärker gefördert werden. »Mit den Mitteln der Kunst entstehen neue soziale Räume, die als »Anker« in den Bezirken Andockstellen für Neues und für das Weiterdenken von Bestehendem sein sollen« (Die Fortschrittskoalition für Wien, S. 93ff). Der in diesem Zusammenhang recht neue Begriff des Ankerzentrums bezieht sich auf Einrichtungen wie das Kulturhaus Brotfabrik in Favoriten, das Soho im Sandleitenhof in Ottakring oder das F23 in Liesing. Letzteres ist ein Beispiel für eine kulturelle Nutzung in einem sich stärker entwickelnden Gebiet. Als historisches Vorbild für den kulturellen Aspekt der sozialen Stadtentwicklung einer Smart City sieht Bürgermeister Michael Ludwig das Theater im Rabenhof (Ludwig 2020).

Das ist gut, denn Räume für Kunst und Kultur sind in der Stadtentwicklung keine Fixstarter. Doch bereits in der Zeit des Roten Wiens gab es visionäre Konzepte und konkrete Beispiele für dezentrale und multifunktionalere Räume: In Ihrem Text Ingenieure der Werkstatt für Massenform: Theater der Zukunft formulierte eine Gruppe Wiener Architekten bereits 1924 eine Neukonzeption von kleinen, sogenannten Raumbühnen als dezentrale Theaterräume, in denen Bühne und Zuschauerraum eins werden. Sie kamen zu dem Schluss, »In jedem Bezirk Wiens könnte eine solche [kleine Bühne] stehen. […] Hier will man es bequem haben. […] Im eigenen Bezirk, ein paar Schritte weiter, und man ist schon drinnen.[…] Nicht zuletzt die Siedlerbewegung weist denselben Weg« (McFarland et al. 2020, S. 648).

Die Raumbühnen knüpfen damit an Räume wie die Genossenschaftshäuser der Wiener Siedlerbewegung an: kleine, dezentrale Zentren für Kultur, aber eben auch für Soziales. »Das Genossenschaftshaus ist das Herz und Hirn einer Siedlung. Rathaus, Erholungsheim, Klub, Theater, Konzerthaus, Volksuniversität zu gleicher Zeit« fasste es der Kunsthistoriker, Philosoph und Nationalökonom Max Ermers 1924 zusammen (Ermers nach: Zimmerl 2002, S.92). Organisiert und getragen wurden sie genossenschaftlich oder auf Vereinsbasis, im Sinne eines rechtsförmigen Tausches zwischen Staat und gemeinnützigen Trägern erhielten sie dafür finanzielle Unterstützung (vgl. Novy & Förster 1991, S. 90).

Das Ankerzentrum als soziokultureller Raum in neuen Stadtentwicklungsgebieten

Die neuen Ankerzentren können an diese Ideen anknüpfen und sie weiterdenken: In einer Kombination des sozialen Anspruchs von Stadtteil- oder Nachbarschaftszentren, eingebunden in Stadtentwicklungsgebiete mit guter Leistbarkeit als Raum für dezentrale, niederschwellige Kultur auf Augenhöhe, für und mit den Bewohner:innen.

Das Ziel müsste sein, die Menschen vor Ort für ein kulturelles Programm zu begeistern, indem sie »neue Kooperationen mit Partizipation von Bürger:innen vor Ort, Künstler:innen und Kulturinstitutionen« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 93) fördert. Kunst und Kultur sollte verstärkt auch dorthin gehen, wo die neuen Wiener und Wienerinnen wohnen – in die Gebiete der Stadtentwicklung: in die Seestadt oder nach Hirschstetten, nach Floridsdorf, Atzgersdorf oder nach Liesing und dabei soziales und nachbarschaftliches Augenmaß beibehalten. Dadurch ließe sich auch der Fokus von den klassischen aufsuchenden und unterstützenden Aufgaben der Stadtteil- oder Nachbarschaftszentren auf andere Zielgruppen erweitern.

Dazu bedarf es einer starken Verbindung des Kulturellen mit dem sozialen Anspruch, damit beide voneinander profitieren können. Neue soziale Räume sind demnach Räume großer Hybridität – in ihrer Architektur, ihrer Finanzierung und ihrer Trägerschaft. Vier Prinzipien als Entwurf für ein robustes Konzept von Ankerzentren als neue soziokulturelle Räume für Wien.

1) Umsetzungsprinzip: Prozess und Standortpolitik

Kultur ist eine klassische Querschnittsmaterie. Das macht sie resilient in ihrer gewachsenen Struktur, bedarf zugleich einer sehr interdisziplinären Herangehensweise in ihrer Entwicklung. Sie erfordert eine Hybridität der beteiligten Abteilungen und Verwaltungsstrukturen. Ein adäquater Prozess bindet die beteiligten Dienst­stellen der Stadt Wien von der Stadtentwicklung und Stadtplanung, über Kultur, Bildung, Soziales bis zum Wohnbau ein. Für eine strategische Kultur-Standortpolitik werden Aspekte der Standortwahl wie Dichte, Soziodemografie, Erreichbarkeit oder das Vorhandensein spezieller Angebote im Quartier herangezogen. An diese werden verpflichtende Vorgaben für die Einrichtung der neuen soziokul­turellen Ankerzentren festgeschrieben.

Für das »Orchestrieren der Prozesse« (Häberlin 2021, S. 52) werden ebenfalls im Regierungsprogramm zu findende »frühzeitige und bauplatzübergreifende Managementprozesse mit innovativen Nutzungskonzepten für Erdgeschosszonen« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 102) eingesetzt. Auch hierfür gibt es bereits gelungene Beispiele, wie die vernetzte Bespielung bauplatzübergreifender Gemeinschaftsräume.

Der Raumbedarf für die Etablierung von Zweigstellen etablierter Institutionen müsste in der Entwicklungsphase festgelegt und systematisch und möglichst früh in die Entwicklungen eingebunden werden.

2) Raumprinzip: Hybrides Raumprogramm für Kunst und Kultur auf Augenhöhe

Das Ankerzentrum als neuer sozialer Raum ist multifunktional und muss die Ergebnisoffenheit des Prozesses räumlich widerspiegeln. Es werden Räume für ­Menschen geplant, die mitunter noch gar nicht da sind. Es ermöglicht als Handlungs-Spiel-Raum Nutzungen von Kinder- und Erwachsenentheater, Lesungen, Tanz- und Infoveranstaltungen als Aufführungsort für die Freie Szene oder Konzerten – auch größerer Lautstärke und Frequenz. Bühne und Zuschauerbereich sind flexibel möblierbar. Abtrennbare Räume ermöglichen temporäre Anmietung bzw. Nutzung, wie als Proberäume. Ergänzt durch Nebenräume wie Bar, Lager und Sanitäreinheiten wird ein vollausgestatteter Veranstaltungsbetrieb mit Wirkung über das Grätzel hinaus ermöglicht. Wichtig für seine Relevanz ist demnach eine gewisse kritische Größe, 400–600m² erscheinen ein guter Richtwert für ein Ankerzentrum. Als neuer sozialer Raum bietet es nicht-programmierte Räume, zum Aufhalten, Lesen, als Treffpunkt oder zum Hausübung machen. Ein einfaches, kleines, günstiges Café kann die Niederschwelligkeit unterstützen.

Eine transparent gestaltete Erdgeschoßzone geht über in den öffentlichen Raum davor, der durch einladende Gestaltung eine Verlängerung des gebauten Raumes darstellt und so auch attraktiv wird. Diese bauliche Gestaltung, das Ineinanderfließen von halb-öffentlich und öffentlich spiegelt auch den Beitrag der sozio­kulturellen Nutzungen zur Quartiersbildung wider.

3) Prinzip des Public-Commons-Partnership

Das Ankerzentrum ist Gemeingut. Seine Trägerschaft muss transparent und effizient gestaltet sein und zudem ermöglichen, dass sich eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur:innen damit identifizieren kann. Dazu eignet sich das Prinzip eines ­Public-Commons-Partnership[1], einer Partnerschaft zwischen Stadt, Zivilgesellschaft und Partner:innen aus dem Sozial- und dem Kulturbereich. Ziel sollte die Selbstverwaltung durch die Nachbarschaft sein. Dazu kann eine eigene Genossenschaft als rechtsverbindliche und langfristig stabile Struktur gegründet werden. In der Startphase können professionelle Konsulent:innen organisatorische und personelle Anschubhilfe leisten.

Eine solche Genossenschaft kann in weiterer Folge auch auf mehrere Ankerzentren übertragen werden, um stärkere Synergien zu bilden. Entsprechend dem Ziel von »starken Zivilgesellschaften zur Stabilisierung von Nachbarschaft und Zusammenleben« (Die Fortschrittskoalition für Wien 2020, S. 102) stärkt eine (sukzessive) Einbindung engagierter Personen aus der direkten Nachbarschaft bzw. dem Stadtteil und dem Bezirk in die Trägerschaft die Identifikation: Ein co-verwaltetes Ankerzentrum in der Nachbarschaft mit der Nachbarschaft.

Dazu bedarf es langfristiger Finanzierungszusagen jenseits eines punktuellen Sponsorings. Die Ankerzentren sind daher hybrid finanziert: Die Finanzierung des laufenden Betriebs erfolgt über eine eigene Abwicklung von Fördermitteln mehrerer zuständiger Ressorts wie Kunst und Kultur, Soziales, Bildung oder Sport. Mit dem Bezug von Fördermitteln ist zugleich das notwendige Maß an Transparenz verbunden sowie die Verpflichtung, über die Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen.

Zur Errichtung der Räume können Bauträger Mittel der Wohnbauförderung beziehen,[2] die Miete sollte dem Kostendeckungsprinzip unterliegen. Ebenso können bestehende Räumlichkeiten entsprechend adaptiert werden. Die Trägerorganisation mietet die Räumlichkeiten an und tritt als Betreiberin auf. Die Ausstattung wird über den Bauträger vorfinanziert und ist Mietbestandteil. Ein Ankerzentrum mit ca. 600m² Nutzfläche könnte sich mit jährlichen Personal-, Miet- und Betriebskosten von ca. € 150.000 pro Jahr finanzieren. Dazu können auch bauplatzübergreifende Kostenbeteiligungsschlüssel von Stadtentwicklungsgebieten beitragen, die im Vorfeld festzulegen sind. Die Beteiligung des freifinanzierten Wohnbausektors ist hier ebenfalls ein Thema, schlussendlich profitieren auch diese.

4) Prinzip der sozio-kulturellen Programmierung

Ein Ankerzentrum für soziale und kulturelle Nahversorgung ist auch ein Ort des Austausches und Empowerments aller sozialen Schichten und Gruppen der lokalen Gesellschaft. Das Ankerzentrum wird als nicht-kommerzieller Treffpunkt offen und niederschwellig konzipiert. Im Sinne einer modernen Demokratiekultur wird im und durch das Ankerzentrum die Mitgestaltung im Grätzel durch inklusive Teilhabe- und Mitsprachemöglichkeiten gestärkt. Dazu werden Beteiligungsformen genutzt, die direkt an der unmittelbaren Lebensrealität ansetzen: Im Gegensatz zur klassischen, aufsuchenden Gemeinwesenarbeit wird eine weitgehende Selbstverwaltung angestrebt, aktive Teilhabe, Partizipation und Mitgestaltung der benachbarten Bewohner*innenschaft gefördert und gestärkt.

Für eine nachhaltige Verankerung jeder Art von Zentrum ist die Akzeptanz in der Nachbarschaft essenziell. Die Identifikation mit den Genossenschaftshäusern der Siedlerbewegung entsprang der Arbeit, die von den späteren Bewohner:innen für ihre Siedlung geleistet wurde. Ein neues Ankerzentrum wird ebenfalls mit den Menschen vor Ort entwickelt: mit jenen, die schon da sind und mit jenen, die noch kommen. Über Beiräte bzw. soziokratische Organisationsstrukturen können unterschiedliche Nutzer*innengruppen eingebunden werden, um ein bedürfnisgerechtes, niederschwelliges Programm mit der Bevölkerung vor Ort zu entwickeln. So bekommt jedes Ankerzentrum seinen eigenen Charakter. Kernprogramme bestehender Träger bieten eine Ausgangsbasis, die auch zwischen den Ankerzentren wandern können. Die weitere Programmierung erfolgt über Formate wie Ideenwerkstätten, als bauplatzübergreifendes Beteiligungsangebot für Zielgruppen wie Kinder, Ältere oder Menschen mit Migrationshintergrund.

Ausblick

Das soziokulturelle Ankerzentrum ist Gemeingut. Es ist Anlass, um über eine effiziente Bündelung der verfügbaren Mittel und Ressourcen nachzudenken. Es eignet sich, um bestehende Funktionstrennung in der Verwaltung zu überwinden und die Instrumente von Wohnbau und Stadtentwicklung hinsichtlich ihrer Zeitgemäßheit zu überprüfen. Das soziokulturelle Ankerzentrum entspricht der Tradition einer Kulturmetropole und Stadt mit hoher sozialer Verantwortung.


Anmerkungen:
[01] Tomaso Fattori (2012) verwendet den Begriff im Zusammenhang mit seinem Diskussionsbeitrag zur rechtlichen Verstetigung von Gemeingütern (Commons).

[02] Ansätze für diese Praxis bieten das Kulturhaus in der Sargfabrik in Wien 14. oder das WUK. Bspw. als Einrichtungen der kommunalen Infrastruktur oder als Gewerbebetrieb zur Deckung der sozialen Bedürfnisse der Wohnbevölkerung, vgl. aktuelles Wiener Wohnbauförderungs- und Wohnhaussanierungsgesetz, §1 und 2

Literatur:
Die Fortschrittskoalition für Wien (2020): Koalitionsprogramm. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/regierungsabkommen2020.
Fattori, Tomaso (2012): Towards a Legal Framework for the Commons. Verfügbar unter: wiki.p2pfoundation.net/Towards_a_Legal_Framework_for_the_Commons [Stand 20.3.2021]
Häberlin, Udo (2021): Öffentliche Räume als Plattform einer Solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung? In: dérive Nr. 82.
Ludwig, Michael (2020): Soziale Stadtentwicklung im Fokus. Verfügbar unter: https://www.michael-ludwig.wien/aktuelles/weltstadt/soziale-stadtentwicklung-im-fokus/ [Stand 20.3.2021]
McFarland, Rob; Spitaler, Georg & Zechner, Ingo (Hg.) (2020): Das Rote Wien. Schlüsseltexte der Zweiten Wiener Moderne 1919–1934. Berlin: De Gruyter Oldenbourg.
Novy, Klaus & Förster, Wolfgang (1991): einfach bauen. Genossenschaftliche Selbsthilfe nach der Jahrhundertwende. Zur Rekonstruktion der Wiener Siedlerbewegung. Wien: Picus.
Zimmerl, Ulrike (2002): Kübeldörfer. Siedlung und Siedlerbewegung im Wien der Zwischenkriegszeit. Wien: Österreichischer Kunst- und Kulturverlag.

[Ernst Gruber ist Architekt, Grafik- und Kommunikationsdesigner sowie Mitglied der Geschäftsführung von wohnbund:consult, Büro für Stadt.Raum.Entwicklung. Sein Forschungs- und Arbeitsschwerpunkt sind Raum- und Stadtforschung sowie Wohnbau und Partizipation. Lehrtätigkeit am Institut für Städtebau der TU Wien, laufende Publikations- und Forschungstätigkeiten. Lebt und arbeitet in Wien.]

dérive, Mo., 2021.05.17



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dérive 83 Mobilität und Stadtplanung

29. Juli 2015Ernst Gruber
dérive

Zur Bewertung des Wohnens

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend...

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend...

Lösungsansätze für erschwingliches Wohnen für alle zu finden – diese Aufgabe nimmt in Theorie und Praxis von Architektur und Städtebau einen zunehmend wichtigen Stellenwert ein. Mit dem ständig wachsenden Anteil der in Städten lebenden Weltbevölkerung ist dieser Anspruch zu einem globalen geworden. Wie lassen sich aber internationale Ansätze mit ihren regionalen Spezifika in ihren Unterschiedlichkeiten bewerten und miteinander vergleichen?

Das Buch Affordable Living – Housing for Everyone stellt anhand von sechs Essays und sechzehn Projektbeispielen internationale stadtplanerische und architektonische Lösungsansätze der jüngsten Zeit dar, die einen Beitrag zu diesem Thema leisten. Der Band stellt das Ergebnis einer mehrjährigen Auseinandersetzung im Rahmen eines akademischen Austausches zwischen der Universität Münster und dem Harbin Institute of Technology in Shenzen, China, dar.

Im Zentrum dessen, was leistbarer Wohnbau sein kann, stehen die an diesen Entwicklungsprozessen beteiligten AkteurInnen und die Abhängigkeiten zwischen Investition, Rechtsform und Regulativen. Die allerorts fortschreitende Liberalisierung der Märkte legt die Produktion sowie die Regelung des Zuganges zu Wohnraum und dessen Verwaltung vor allem im massenweise produzierten sozialen Wohnbau zusehends in die Hände von privaten InvestorInnen. Im indischen Bangalore, wo die Gentrifizierung innerstädtischer Gebiete eine starke Verdrängung der ärmeren Bevölkerung nach sich zieht, treten nunmehr mehrgeschossige Wohnbauten an die Stelle informeller, niedriger Strukturen.

Kostengünstiger Wohnraum als am stärksten nachgefragtes Marktsegment wird nach westlichem Vorbild durch PPP-Modelle oder allein durch private InvestorInnen gedeckt. Die Wohnraumproduktion dient dabei buchstäblich der Umverteilung von unten nach oben, selbst die SlumbewohnerInnen werden nunmehr vertikal geschichtet, die zentralen Fragen nach dem Zugang zu Mobilität und zu Land bleiben dabei im großen Maßstab ungelöst.

Gegensätzlich dazu gestaltet sich die Situation in China, wo ein Tandem aus staatlichen und informellen Maßnahmen kostengünstigen Wohnraum sichert. So sind es in Shenzen ehemalige Bauern, die einen Großteil des Bedarfes an leistbarem Wohnraum informell decken. Ihnen wurde vom Staat großflächig Bauland für die Errichtung von Wohngebäuden als Kompensation für ihre landwirtschaftlichen Flächen gegeben. Auf diesen dehnt sich nun die Stadt rings um die ehemaligen Dörfer aus. Aus den ehemaligen Bauern wurden notgedrungen Bauherren, die das in kollektivem Besitz stehende Land dicht bebauten, um den Wohnraum an zugezogene ArbeiterInnen zu vermieten. Diese so genannten Urban Villages decken gemeinsam mit dem staatlichen sozialen Wohnungsbau im Rahmen der regulierenden wirtschaftlichen Maßnahmen den Bedarf an kostengünstigem Wohnraum.

Gemeinschaftliches Eigentum steht auch im Zentrum der bottom-up organisierten Kooperativen und Baugenossenschaften, die sich in Westeuropa immer größerer Beliebtheit erfreuen. Sein eigener Bauherr zu werden kann mitunter bedeuten, für sich selbst die Standards zu definieren, nach denen Wohnraum noch einen Bedarf deckt und nicht Ausdruck einer Bedürfnisproduktion darstellt, frei nach der Frage „Wieviel ist genug?“

Den Hauptteil des Buches bilden die sechzehn Projektbeispiele, die in vier Themengebiete gegliedert sind: Standards/Participation, Mass Housing, Minimizing/Externalization und Prefabrication. Ihnen werden jeweils vier ausgesuchte Wohngebäude aus Europa, Asien und den USA zugeordnet, die einer Analyse im ökonomischen, sozialen und städtebaulichen Kontext unterzogen werden. Die Projekte werden dabei textlich kontextualisiert und anhand ihrer Entstehungsgeschichte und regionaler Besonderheiten erläutert. Den methodologischen Kern der Publikation bilden hierbei Diagramme zur Leistbarkeit, der Bebauungsdichte und charakteristischen Kostenwerten. Die Leistbarkeit der Projekte wird dabei im Verhältnis zum Anteil des Monatseinkommens definiert, der im Durchschnitt für Wohnen ausgegeben wird. Ergänzt werden diese Darstellungen durch einen grafisch übersetzten Qualitätenkatalog, der sich über mehrere Maßstabsebenen von gebäudebezogenen und bauphysikalischen Kennwerten bis zur städtebaulichen Integration erstreckt. Durch diese Abstraktion werden die Projekte weniger an eine relative Vergleichbarkeit herangeführt als vielmehr hinsichtlich des Zusammenhangs von architektonischen Stellschrauben und Kosten vergleichbar.

Der Blick auf die globalen Vorgänge ermöglicht die Kontextualisierung der Prozesse und Ansätze, und es zeigt sich erwartungsgemäß, dass sich das Kriterium der Leistbarkeit hervorragend als Lesart für die Kontextualisierung von Wohnbau und Politik eignet. Die Essays bieten Einblicke in städtebauliche, soziokulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge, wobei sich die Beschreibungen teils recht unabhängig voneinander hinsichtlich der zu Grunde liegenden Prozesse entwickeln, die die Leistbarkeit von Wohnraum prägen. Die diagrammatische Aufbereitung der Projektbeispiele wiederum knüpft an aktuelle Fragen der Repräsentation und Vermittelbarkeit von Wissen in Architektur und Städtebau an.

Dies überzeugt mehr als die Auswahl der Projektbeispiele, denen hinsichtlich der Vergleichbarkeit auch eine stärkere Fokussierung gut getan hätte, etwa ausschließlich auf Mietprojekte. Auch würde man sich eine Untersuchung der in den Essays erwähnten radikaleren Projekte wünschen, wie beispielsweise eines Wohnbaus aus den eingangs erwähnten Urban Villages von Shenzen. Die würden sich vielleicht nicht direkt in die mitteleuropäische Logik der Wohnraumproduktion übertragen lassen, könnten diese aber umso mehr in Frage stellen. Ebenso interessant wie die Diagramme in Bezug auf die Projekte wäre eine Darstellung der am Wohnbau beteiligten AkteurInnen, deren jeweiliger Einflussbereiche und ihrer Interessen.

Insgesamt wird das Handbuchhafte durch das Layout und das handliche Format der Publikation schlüssig umgesetzt. Das Buch stellt sowohl für praktizierende ArchitektInnen als auch für Studierende einen wertvollen Beitrag zu der Frage dar, welche Maßnahmen für kostengünstiges Bauen ausschlaggebend sind. Darüber hinaus leistet es auf der Ebene der Vermittlung einen wichtigen Beitrag zur einem Verständnis komplexer Zusammenhänge.


Klaus Dömer, Hans Drexler, Joachim Schultz-Granberg (Hg.)
Affordable Living – Housing for Everyone
Berlin: Jovis, 2014
272 Seiten, englisch, 19,80 Euro

dérive, Mi., 2015.07.29



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Profil

Seit 2019 Geschäftsführung wohnbund:consult e.G., Büro für Stadt.Raum.Entwicklung, Wien, Gründungs- und Vorstandsmitglied, seit 2016 Mitarbeiter bei wohnbund:consult
zuvor Projektarchitekt und Verfahrensbegleitung
laufende Publikations- und (Um)bauprojekte

Lehrtätigkeit

Seit 2015 Lehrtätigkeit an der TU Wien, Institut für Städtebau, seit 2019 auch am Institut für Wohnbau, TU Wien

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