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17. Oktober 2014Sonja Lüthi
TEC21

Grossflächige Vergoldung

Für eine lebendige Stadt ist die Durchmischung von Nutzungsarten und Bevölkerungskreisen entscheidend. Dies ist zwar seit geraumer Zeit bekannt, doch in Zürich klaffen Theorie und Praxis noch immer weit auseinander – es fehlen verbindliche Regelwerke.

Für eine lebendige Stadt ist die Durchmischung von Nutzungsarten und Bevölkerungskreisen entscheidend. Dies ist zwar seit geraumer Zeit bekannt, doch in Zürich klaffen Theorie und Praxis noch immer weit auseinander – es fehlen verbindliche Regelwerke.

In ihrer berühmt gewordenen Rede von 1988 postulierte Stadträtin Ursula Koch, die Stadt «als öffentlichen Begegnungsraum zu verstehen, sie nicht länger bloss als Kulisse zu gebrauchen». Ein Vierteljahrhundert später definiert der Zürcher Stadtrat in seiner räumlichen Entwicklungsstrategie den Erfolgsfaktor «Erlebbare Offenheit», womit im Grund genommen das Gleiche gemeint ist. Weiterhin strebt auch er den von Koch geforderten «Abschied vom Monokulturdenken» an, bei dem neben der Durchmischung der Nutzung nun allerdings explizit auch die soziale Durchmischung erwähnt wird. Dass diese beiden Ziele – Durchmischung und belebter öffentlicher Raum – in 25 Jahren die gleichen geblieben sind, überrascht wenig. Für eine gut funktionierende Stadt sind sie entscheidend. Aber wie realistisch ist ihre Umsetzung? Welche Vollzugsinstrumente stehen zur Verfügung, und wo stehen wir heute?

Sozialer Wohnungsbau unter Druck

Geändert hat sich seit 1988 ein wesentlicher Punkt: Forderte Koch noch rein qualitative Verbesserungen, ist die Stadt seit fast zwanzig Jahren wieder im Bau. Seit 2002 wurden 15 400 neue Wohnungen bewilligt, 4800 sind in Planung, weitere 7500 dürften gemäss der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner in den Entwicklungsgebieten entstehen.[1] Anfang 2014 wohnten erstmals seit 1973 wieder mehr als 400 000 Menschen in der Stadt; bis 2030 sollen rund 40 000 hinzukommen.

Die Umsetzung einer guten Durchmischung ist damit nicht einfacher geworden – im Gegenteil: Die enorme Nachfrage nach Wohnraum wird von einem ebenso grossen marktwirtschaftlichen Druck begleitet. Das wirksamste Mittel gegen eine flächendeckende Vergoldung ist ein hoher Anteil an gemeinnützigen Wohnungen, in Zürich beträgt er ein Viertel des Bestands. Mit den bisherigen Neubauten konnte er nach Beobachtungen der Zürcher Wohnbaugenossenschaften aber bestenfalls knapp gehalten werden. Die «Seefeldisierung», die vor rund 30 Jahren ihren Anfang nahm, hat längst die übrigen Stadtquartiere erfasst und dabei massiv an Tempo zugelegt. Spitzenreiter ist der Kreis 5, wo die Preise für Mietwohnungen auf dem freien Markt zwischen 2001 und 2013 um 59 % gestiegen sind.[2] Gefolgt wird er vom Kreis 4, bis dato eher bekannt für sein verruchtes Image. Die beiden Quartiere hinter dem Hauptbahnhof waren zu Kochs Zeiten noch Standort der offenen Drogenszene. Heute gilt das Gleisfeld als Zürichs neuer Fluss, an dem man gern wohnen möchte.

Unter Zürichs Entwicklungsgebieten[3] ist die Europaallee damit gleich in mehrfacher Hinsicht das Filetstück. Gleichzeitig ist das lang gezogene Grundstück zwischen Hauptbahnhof und Langstrasse mit 78 000 m² eines der beiden grössten städtischen Entwicklungsgebiete – neben dem Zollfreilager – in Privatbesitz. Noch bis zur Bewilligung des Gestaltungsplans 2008 hatten die SBB hier neben einer Mischnutzung auch eine soziale Durchmischung vorgesehen. Laut Andreas Steiger, Leiter Europaallee bei SBB Immobilien, scheiterte dieses Vorhaben jedoch schliesslich an dem von den Genossenschaften anvisierten hohen Wohnanteil von rund 90 %, der mit der hohen Dichte und den damit verbundenen Lichtverhältnissen nicht vereinbar gewesen sei. Allerdings räumt er ein, dass auch die Ertragskomponente eine Rolle gespielt hat. Andreas Wirz, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Verbands für Wohnungswesen (SVW Zürich), bestätigt zwar, dass Bedenken gegenüber einer allzu hybriden Nutzung im gleichen Haus bestanden hätten. Gescheitert sei das Vorhaben aber vor allem an der Mietpreisvorstellungen der SBB, die mit einem Ansatz von jährlich 345 Fr./m2 anderthalbmal so hoch gewesen seien als das, was die Genossenschaften hätten zahlen können. Die Wohnungen liegen nun alle im Hochpreissegment.

Carte blanche für Entwickler?

Das Beispiel Europaallee ist für die Stadtplanung des beginnenden Jahrtausends insofern typisch, als die Stadt das Gebiet zwar als wichtiges Entwicklungsgebiet klassifizierte, für den Gestaltungsplan aber kaum Auflagen machte. Dieser soll lediglich einen «Mehrwert für die Öffentlichkeit» generieren. Als ein «Ihr könnt machen was, ihr wollt» beschreibt Wirz denn auch die Planung. Bei den SBB tönt es nicht viel anders: Als einzige Restriktion nennt Steiger die Auflage, Detailhandel und Gastronomie mehrheitlich nicht in den Ober- oder Untergeschossen unterzubringen: «Das sollte verhindern, dass eine Shoppingmall entsteht.» Ein Grund für die mangelnden Vorgaben seitens der Stadt könnte die damals noch fehlende Erfahrung der öffentlichen Hand mit solchen Projekten sein. Darauf weisen nachträgliche Korrekturen hin: Auf dem aktuell von den SBB beplanten Areal Zollstrasse vis-à-vis des Gleisfelds ist ein Anteil an gemeinnützigen Wohnungen von 40 % geplant. Über diesen Entscheid freut sich Wirz zwar, da es sich dabei jedoch um lediglich rund 60 Genossenschaftswohnungen handelt, sieht er das Projekt in erster Linie als «Feigenblatt». Tatsache ist, dass die Stadt die Bewilligung des Gestaltungsplans hier von einem 33 %-Anteil an genossenschaftlichem Wohnen abhängig gemacht hatte.

Begünstigt wurde dieses Vorgehen durch die überwältigende Annahme der Volksinitiative «Bezahlbare Wohnungen für Zürich» im November 2011. Bis 2050 soll der Anteil gemeinnütziger Wohnungen nun schrittweise auf ein Drittel erhöht werden. Ob das realistisch ist, scheint derzeit weniger relevant, als dass eine Zielsetzung als Bezugsgrösse definiert wurde. Wie die öffentliche Hand den 33 %-Anteil an gemeinnützigen Wohnungen einfordern kann, ist allerdings noch nicht geregelt – ebenso wenig wie die Anforderungen an kooperative Planungen, wie sie in den meisten Entwicklungsgebieten bereits zur Anwendung gelangen. Der Ende 2013 veröffentlichte Entwurf für die Teilrevision der Bau- und Zonenordnung (BZO) enthielt zumindest einen Klärungsversuch zur Frage des Vollzugs. Da es sich beim umstrittenen Artikel 4b «Ziele der kooperativen Planung: Verdichtung und Kostenmiete im Wohnungsbau»[4] um eine Form des Mehrwertausgleichs handelt – bzw. gemäss Kanton um «einen Eingriff in die Grundeigentümerrechte» –, war er mangels kantonaler Gesetzesgrundlage nicht genehmigungsfähig. Mit der Annahme der Vorlage «Festlegung Mindestanteil preisgünstiger Wohnraum» am 28. September 2014 haben die Stimmberechtigten des Kantons Zürich nun zwar der dafür erforderlichen Änderung im Planungs- und Baugesetz (PBG) zugestimmt. Der Kanton muss nun aber zunächst eine Ausführungsverordnung ausarbeiten, die nach dem Vernehmlassungsverfahren schliesslich durch den Kantonsrat genehmigt werden muss. Wann das so weit sein wird, lässt sich nicht sagen, Anfang 2016 wäre aber laut gut informierten Quellen bereits sehr sportlich. So oder so wird das Abstimmungsergebnis die laufende Revision der BZO nicht tangieren. Der überarbeitete BZO-Entwurf – ohne «Mehrwertausgleich», aber vermutlich mit Klärungen zum Thema «kooperative Planungen» – wird am 29. Oktober dieses Jahres präsentiert.[5]

Geben und Nehmen

Auch ohne verbindliches Regelwerk gibt es für Grundstückseigentümer bereits genügend Motive, einen Mehrwert für die Öffentlichkeit einzuplanen – an einer derart zentralen Lage wie der Europaallee betrifft dies Alleen, Plätze und Erdgeschossnutzungen. Rotzler Krebs Landschaftsarchitekten gestalten die Freifläche; anschliessend geht der öffentliche Raum ins Eigentum der Stadt über. Für die Erdgeschosse entlang der Lagerstrasse liessen die SBB vom Immobilienunternehmen Fischer ein eigenes Nutzungskonzept erstellen. Als scharfer Bruch zum angrenzenden Kreis 4 stellt die Gestaltung dieser Strassenfront die grösste Herausforderung dar. Unter dem Titel «Markt Lagerstrasse» sollen quartiertypische Autorenshops – also keine Filialen einer Kette – nach und nach von den Flächen Besitz ergreifen. Um halbwegs bezahlbare Mietpreise bieten zu können (durchschnittlich 300 bis 400 Fr./m2 gegenüber dem derzeitigen Marktwert von 511 Fr./m2)[6], findet eine Quersubventionierung über die Obergeschosse statt; insbesondere Büros bringen laut Steiger an dieser Lage Geld. Über Fischer ist auch die Zusammenarbeit mit Bruno Deckert, dem Betreiber der Kulturbar «Sphères» an der Hardturmstrasse, und dem Filmemacher Samir entstanden. Ihr kulturelles Warenhaus «Kosmos» wird als Schlusspunkt an der Langstrasse zu liegen kommen; für die durchgehende Belebung des Areals ein Glücksfall. Die Projektentwicklung bis hin zu Vermietungen und Quersubventionen ist aber nicht etwa mit Sozialromantik zu verwechseln: «Spannende Angebote im EG bringen Leute in die Obergeschosse. Die Erdgeschossnutzungen wiederum haben nur Erfolg, wenn sie für die Leute im Obergeschoss oder, wie im Fall der Lagerstrasse, des Quartiers interessant sind», fasst Steiger zusammen.

Die Europaallee ist nur eines von rund zehn städtischen Entwicklungsgebieten. Auch wenn sich noch eine gewisse Unsicherheit bei der Gestaltung der Erdgeschosse und Skepsis gegenüber Gewerbeflächen zeige, wie Wüest & Partner feststellen, lasse sich bei den grösseren Arealentwicklungen ein verstärktes Bewusstsein für eine Nutzungsmischung beobachten. Vielleicht wird es also tatsächlich gelingen, dass in diesem Prozess des Gebens und Nehmens zumindest Teile der aktuellen Entwicklungsgebiete, wie von Ursula Koch postuliert, zu öffentlichen Begegnungsräumen werden. Ob die Bauten dabei «bloss als Kulisse» dienen werden, ist eine andere Geschichte. Sie handelt weniger von Stadtplanung als von einer Wettbewerbskultur, die auf Einzelobjekte und Namen fixiert ist.


Anmerkungen:
[01] Baugesuche und -bewilligungen 2002–2014, Documedia Schweiz, Wüest & Partner
[02] Gesamtschweizerisch betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum 11 %. Vgl.: Entwicklung der Angebotspreise für Mietwohnungen in der Stadt Zürich, Immo-Monitoring Wüest & Partner
[03] Vollständige Liste: www.stadt-zuerich.ch/entwicklungsgebiete
[04] Gemäss neuem Artikel 4b wären Grundeigentümer bei einer wertvermehrenden Um- oder Aufzonung verpflichtet gewesen, mittels kooperativer Planung bzw. Sondernutzungsplanung einen angemessenen Mindestwohnanteil für Kostenmiete, eine städtebauliche Aufwertung und eine qualitätvolle bauliche Verdichtung sicherzustellen. Dass damit weder die Bedingungen für eine kooperative Planung, etwa die Parzellengrösse, noch ein verbindlicher Mindestwohnanteil für Kostenmiete festgelegt wurden, erntete auch seitens der Wohnbaugenossenschaften Kritik.
[05] Nach rund 500 Einwendungen im Mitwirkungsverfahren wird die BZO momentan überarbeitet. Dieser Artikel bezieht sich auf die aktuelle Gesetzeslage. Die überarbeitete BZO wird ab 29. 10. öffentlich aufliegen.
[06] Angebote zwischen März 2013 und Februar 2014 in einem Umkreis der Lagerstrasse von 500 Metern, Wüest & Partner AG.

TEC21, Fr., 2014.10.17



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|42 Zürich II: Gegenwart und Zukunft

14. April 2014Sonja Lüthi
TEC21

Kluger Einsatz der Mittel

Der neue Kindergarten in Aadorf zeigt, dass ein knappes Budget die Schöpfungskraft beflügeln kann. Wie das Gebäude in Betrieb zu nehmen ist, scheinen die Kinder selbst am besten zu wissen.

Der neue Kindergarten in Aadorf zeigt, dass ein knappes Budget die Schöpfungskraft beflügeln kann. Wie das Gebäude in Betrieb zu nehmen ist, scheinen die Kinder selbst am besten zu wissen.

Wie ein Erstlingswerk wirkt er nicht, der Kindergarten Aadorf, geplant vom Zürcher Architekturbüro Karamuk Kuo und bezogen im Oktober 2013. Zu bewusst und durchdacht erscheint alles. Das klare Raumkonzept funktioniert nicht nur, sondern gewinnt durch das lebendige Spiel der Kinder noch dazu. Die Akustik in den Gängen ist auch während der Pause angenehm. Die Materialisierung und die Detaillierung wirken nirgends billig – und das, obwohl für die fünf Kindergartenräume und die Umgebungsgestaltung am Steilhang nur 4.25 Millionen Franken zur Verfügung standen.

Hinter dem Namen Karamuk Kuo Architekten stehen Ünal Karamuk und Jeannette Kuo. Karamuk hat türkische Wurzeln und ist in der Schweiz aufgewachsen, Kuo ist in Indonesien geboren und hat ihre Ausbildung bis zum Architekturstudium in den USA absolviert. Kennengelernt haben sich die beiden vor gut zehn Jahren in Harvard, wo Kuo ihren Master machte und Karamuk von der ETH Zürich aus ein Austauschjahr absolvierte. Dass sie sich 2009 entschieden, ihr eigenes Büro in der Schweiz zu gründen und nicht in den USA, liegt unter anderem an den enormen Hürden, mit denen junge Büros in Amerika konfrontiert sind, wie Kuo erklärt. Offene Wettbewerbe für Bauprojekte gebe es in den USA nicht, und bei Wettbewerben mit einer Form von Präqualifikation seien die Teilnahmebedingungen für junge Büros schlicht nicht einzuhalten. Architektur werde in den USA als Luxusprodukt wahrgenommen, fasst Kuo zusammen: «Entweder man kann sich einen Star leisten, oder man baut sich sein Haus gleich selber.»

Den Auftrag für den Kindergarten im thurgauischen Aadorf verdankt das junge Büro einem 2010 lancierten Wettbewerb mit Präqualifikation, zu dem zwei Nachwuchsbüros zugelassen wurden. Mit einer windmühlenartigen Anordnung der fünf Kindergartenräume um den Erschliessungsbereich, der so zum «vielseitig nutzbaren Erlebnisraum» wird, überzeugten sie die Jury und erhielten den ersten Preis. Bis das Bauprojekt genehmigt wurde, sollte es allerdings noch ein Jahr und zwei Volksabstimmungen dauern. Für Widerstand sorgte in der ländlichen Gemeinde insbesondere der politische Grundsatzentscheid, alle fünf Kindergärten in einem Gebäude zu konzentrieren. Kritik an der architektonischen Lösung gab es laut Kuo aber nie. Überhaupt waren sie vom Vertrauen überrascht, das ihnen durchwegs entgegengebracht wurde. Nach dem Wettbewerbserfolg wollte der Schulpräsident ihr Büro besichtigen. Damit schienen auch die letzten Zweifel beseitigt. Drei Jahre später die Bestätigung: «Super!» – so lautet die einstimmige Bewertung des neuen Kindergartens in Aadorf durch sechs Fünfjährige. Zu bemängeln haben die Kinder auch auf ein zweites Nachfragen hin nichts. Einzig die Lehrerin hätte sich eine Steckwand mehr gewünscht; das ist dann aber schon alles.

Befreiter Korridor

Der Neubau liegt nahe dem Zentrum von Aadorf, das allerdings nicht aus viel mehr besteht als einem Gemeindehaus, einer Durchfahrtsstrasse und einer Fussgängerunterführung. Im Osten schliesst der Kindergarten an die bestehende Schulanlage an und schafft zusammen mit dem alten Primarschulhaus einen kleinen Vorplatz und Eingangsbereich. Gegen Süden fällt das Gelände steil zum Bahntrassee hin ab und gibt den Blick auf die gegenüberliegenden bewaldeten Hügel frei. Da das Gebäude in den Hang eingebettet ist, ist vom Schulhof aus gesehen nur das obere von zwei Geschossen sichtbar. Die niedrige Gebäudehöhe, vor allem aber der metallisch graue Anstrich der Holzverkleidung verleiht dem Bau eine unscheinbare, allerdings auch etwas abweisende Erscheinung. Die für einen Kindergarten atypische Farbwahl erklärt die Architektin damit, dass der Bau in erster Linie «Hintergrund» sein soll. Im Farbton der nahen Wälder gehalten, schafft er den Rahmen für die Aneignung durch die jungen Nutzer.

Einzige Farbtupfer in der Fassade sind die Aussentüren aus perforiertem Metall. Von gelb bis grün abgestuft schaffen sie eine direkte Verbindung zwischen innen und aussen. Das ist entscheidend: Weil jeder der fünf Kindergartenräume einen eigenen Ausgang hat, ist der Korridor von seiner Funktion als Fluchtweg befreit und kann nach Belieben genutzt werden. Welchen Reichtum das eröffnet, lässt sich kaum über Fotos erahnen. Man muss es erlebt haben, am besten während einer Zehn-Uhr-Pause. Dann tummeln sich die Kinder in den vielfältigen Nischen des kreuzförmigen Korridors, auf und unter der einläufigen Treppe, wobei die Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten nahezu unbeschränkt scheint.

Die Wände dieser Begegnungszone sind mit geöltem Sperrholz verkleidet, der Boden ist ein simpler grobkörniger Unterlagsboden, eingefärbt, geschliffen und mit einer Schutzschicht versehen. Die Türen zu den Kindergartenräumen haben je eine andere Farbe, ebenso die «Infrastrukturwand», die jedem einzelnen Zimmer zugeordnet ist und Stauraum sowie Lüftung enthält. Die Böden in den Kindergartenräumen sind mit Kautschuk belegt. Hochwertigere Materialien kommen nur dort zum Einsatz, wo der Gebrauch dies erfordert, zum Beispiel Eiche auf dem Handlauf der Treppe oder in den Sitznischen der Fenster. Ansonsten ist die Materialwahl kostengünstig, wirkt aber trotzdem hochwertig; die Architekten scheinen das enge Budget weniger als Hindernis betrachtet zu haben denn als Inspirationsquelle. Das zieht sich bis nach aussen, wo die Spielplatzgestaltung zur Kunst deklariert und das Kunst-am-Bau-Budget entsprechend eingesetzt wurde. Die Projektverfasser betonen die exzellente Projektabwicklung durch das beigezogene Baumanagementbüro. Nur die behelfsmässigen Fugen im Kautschuk bereut Kuo. Über Nacht waren die Fenster nicht geschlossen worden, und ein Sturm warf den frisch verlegten Kautschuk auf. Doch das sind Details.

Heute zählt Karamuk Kuo Architekten insgesamt acht Mitarbeiter. Auf den Kindergarten Aadorf folgten zwei weitere Wettbewerbserfolge: eine Schulhauserweiterung mit Turnhalle in Rapperswil-Jona und ein Kompetenzzentrum der Sportwissenschaften auf dem Campus der Universität Lausanne – beide das Ergebnis offener Wettbewerbe. Angesichts dieser Erfolgsstory dürfte der persönliche Wunsch der Architekten zunächst überraschen: Sie würden gern ein Einfamilienhaus realisieren. Dass sie die dafür erforderliche Kompetenz besitzen, «Do-it-yourself» zu Luxus zu machen, beziehungsweise die Mitgestaltung durch die Nutzer zur Qualität, haben sie mit ihrem Erstlingswerk bereits bewiesen.

TEC21, Mo., 2014.04.14



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|15-16 Erstlingswerke

Presseschau 12

17. Oktober 2014Sonja Lüthi
TEC21

Grossflächige Vergoldung

Für eine lebendige Stadt ist die Durchmischung von Nutzungsarten und Bevölkerungskreisen entscheidend. Dies ist zwar seit geraumer Zeit bekannt, doch in Zürich klaffen Theorie und Praxis noch immer weit auseinander – es fehlen verbindliche Regelwerke.

Für eine lebendige Stadt ist die Durchmischung von Nutzungsarten und Bevölkerungskreisen entscheidend. Dies ist zwar seit geraumer Zeit bekannt, doch in Zürich klaffen Theorie und Praxis noch immer weit auseinander – es fehlen verbindliche Regelwerke.

In ihrer berühmt gewordenen Rede von 1988 postulierte Stadträtin Ursula Koch, die Stadt «als öffentlichen Begegnungsraum zu verstehen, sie nicht länger bloss als Kulisse zu gebrauchen». Ein Vierteljahrhundert später definiert der Zürcher Stadtrat in seiner räumlichen Entwicklungsstrategie den Erfolgsfaktor «Erlebbare Offenheit», womit im Grund genommen das Gleiche gemeint ist. Weiterhin strebt auch er den von Koch geforderten «Abschied vom Monokulturdenken» an, bei dem neben der Durchmischung der Nutzung nun allerdings explizit auch die soziale Durchmischung erwähnt wird. Dass diese beiden Ziele – Durchmischung und belebter öffentlicher Raum – in 25 Jahren die gleichen geblieben sind, überrascht wenig. Für eine gut funktionierende Stadt sind sie entscheidend. Aber wie realistisch ist ihre Umsetzung? Welche Vollzugsinstrumente stehen zur Verfügung, und wo stehen wir heute?

Sozialer Wohnungsbau unter Druck

Geändert hat sich seit 1988 ein wesentlicher Punkt: Forderte Koch noch rein qualitative Verbesserungen, ist die Stadt seit fast zwanzig Jahren wieder im Bau. Seit 2002 wurden 15 400 neue Wohnungen bewilligt, 4800 sind in Planung, weitere 7500 dürften gemäss der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner in den Entwicklungsgebieten entstehen.[1] Anfang 2014 wohnten erstmals seit 1973 wieder mehr als 400 000 Menschen in der Stadt; bis 2030 sollen rund 40 000 hinzukommen.

Die Umsetzung einer guten Durchmischung ist damit nicht einfacher geworden – im Gegenteil: Die enorme Nachfrage nach Wohnraum wird von einem ebenso grossen marktwirtschaftlichen Druck begleitet. Das wirksamste Mittel gegen eine flächendeckende Vergoldung ist ein hoher Anteil an gemeinnützigen Wohnungen, in Zürich beträgt er ein Viertel des Bestands. Mit den bisherigen Neubauten konnte er nach Beobachtungen der Zürcher Wohnbaugenossenschaften aber bestenfalls knapp gehalten werden. Die «Seefeldisierung», die vor rund 30 Jahren ihren Anfang nahm, hat längst die übrigen Stadtquartiere erfasst und dabei massiv an Tempo zugelegt. Spitzenreiter ist der Kreis 5, wo die Preise für Mietwohnungen auf dem freien Markt zwischen 2001 und 2013 um 59 % gestiegen sind.[2] Gefolgt wird er vom Kreis 4, bis dato eher bekannt für sein verruchtes Image. Die beiden Quartiere hinter dem Hauptbahnhof waren zu Kochs Zeiten noch Standort der offenen Drogenszene. Heute gilt das Gleisfeld als Zürichs neuer Fluss, an dem man gern wohnen möchte.

Unter Zürichs Entwicklungsgebieten[3] ist die Europaallee damit gleich in mehrfacher Hinsicht das Filetstück. Gleichzeitig ist das lang gezogene Grundstück zwischen Hauptbahnhof und Langstrasse mit 78 000 m² eines der beiden grössten städtischen Entwicklungsgebiete – neben dem Zollfreilager – in Privatbesitz. Noch bis zur Bewilligung des Gestaltungsplans 2008 hatten die SBB hier neben einer Mischnutzung auch eine soziale Durchmischung vorgesehen. Laut Andreas Steiger, Leiter Europaallee bei SBB Immobilien, scheiterte dieses Vorhaben jedoch schliesslich an dem von den Genossenschaften anvisierten hohen Wohnanteil von rund 90 %, der mit der hohen Dichte und den damit verbundenen Lichtverhältnissen nicht vereinbar gewesen sei. Allerdings räumt er ein, dass auch die Ertragskomponente eine Rolle gespielt hat. Andreas Wirz, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Verbands für Wohnungswesen (SVW Zürich), bestätigt zwar, dass Bedenken gegenüber einer allzu hybriden Nutzung im gleichen Haus bestanden hätten. Gescheitert sei das Vorhaben aber vor allem an der Mietpreisvorstellungen der SBB, die mit einem Ansatz von jährlich 345 Fr./m2 anderthalbmal so hoch gewesen seien als das, was die Genossenschaften hätten zahlen können. Die Wohnungen liegen nun alle im Hochpreissegment.

Carte blanche für Entwickler?

Das Beispiel Europaallee ist für die Stadtplanung des beginnenden Jahrtausends insofern typisch, als die Stadt das Gebiet zwar als wichtiges Entwicklungsgebiet klassifizierte, für den Gestaltungsplan aber kaum Auflagen machte. Dieser soll lediglich einen «Mehrwert für die Öffentlichkeit» generieren. Als ein «Ihr könnt machen was, ihr wollt» beschreibt Wirz denn auch die Planung. Bei den SBB tönt es nicht viel anders: Als einzige Restriktion nennt Steiger die Auflage, Detailhandel und Gastronomie mehrheitlich nicht in den Ober- oder Untergeschossen unterzubringen: «Das sollte verhindern, dass eine Shoppingmall entsteht.» Ein Grund für die mangelnden Vorgaben seitens der Stadt könnte die damals noch fehlende Erfahrung der öffentlichen Hand mit solchen Projekten sein. Darauf weisen nachträgliche Korrekturen hin: Auf dem aktuell von den SBB beplanten Areal Zollstrasse vis-à-vis des Gleisfelds ist ein Anteil an gemeinnützigen Wohnungen von 40 % geplant. Über diesen Entscheid freut sich Wirz zwar, da es sich dabei jedoch um lediglich rund 60 Genossenschaftswohnungen handelt, sieht er das Projekt in erster Linie als «Feigenblatt». Tatsache ist, dass die Stadt die Bewilligung des Gestaltungsplans hier von einem 33 %-Anteil an genossenschaftlichem Wohnen abhängig gemacht hatte.

Begünstigt wurde dieses Vorgehen durch die überwältigende Annahme der Volksinitiative «Bezahlbare Wohnungen für Zürich» im November 2011. Bis 2050 soll der Anteil gemeinnütziger Wohnungen nun schrittweise auf ein Drittel erhöht werden. Ob das realistisch ist, scheint derzeit weniger relevant, als dass eine Zielsetzung als Bezugsgrösse definiert wurde. Wie die öffentliche Hand den 33 %-Anteil an gemeinnützigen Wohnungen einfordern kann, ist allerdings noch nicht geregelt – ebenso wenig wie die Anforderungen an kooperative Planungen, wie sie in den meisten Entwicklungsgebieten bereits zur Anwendung gelangen. Der Ende 2013 veröffentlichte Entwurf für die Teilrevision der Bau- und Zonenordnung (BZO) enthielt zumindest einen Klärungsversuch zur Frage des Vollzugs. Da es sich beim umstrittenen Artikel 4b «Ziele der kooperativen Planung: Verdichtung und Kostenmiete im Wohnungsbau»[4] um eine Form des Mehrwertausgleichs handelt – bzw. gemäss Kanton um «einen Eingriff in die Grundeigentümerrechte» –, war er mangels kantonaler Gesetzesgrundlage nicht genehmigungsfähig. Mit der Annahme der Vorlage «Festlegung Mindestanteil preisgünstiger Wohnraum» am 28. September 2014 haben die Stimmberechtigten des Kantons Zürich nun zwar der dafür erforderlichen Änderung im Planungs- und Baugesetz (PBG) zugestimmt. Der Kanton muss nun aber zunächst eine Ausführungsverordnung ausarbeiten, die nach dem Vernehmlassungsverfahren schliesslich durch den Kantonsrat genehmigt werden muss. Wann das so weit sein wird, lässt sich nicht sagen, Anfang 2016 wäre aber laut gut informierten Quellen bereits sehr sportlich. So oder so wird das Abstimmungsergebnis die laufende Revision der BZO nicht tangieren. Der überarbeitete BZO-Entwurf – ohne «Mehrwertausgleich», aber vermutlich mit Klärungen zum Thema «kooperative Planungen» – wird am 29. Oktober dieses Jahres präsentiert.[5]

Geben und Nehmen

Auch ohne verbindliches Regelwerk gibt es für Grundstückseigentümer bereits genügend Motive, einen Mehrwert für die Öffentlichkeit einzuplanen – an einer derart zentralen Lage wie der Europaallee betrifft dies Alleen, Plätze und Erdgeschossnutzungen. Rotzler Krebs Landschaftsarchitekten gestalten die Freifläche; anschliessend geht der öffentliche Raum ins Eigentum der Stadt über. Für die Erdgeschosse entlang der Lagerstrasse liessen die SBB vom Immobilienunternehmen Fischer ein eigenes Nutzungskonzept erstellen. Als scharfer Bruch zum angrenzenden Kreis 4 stellt die Gestaltung dieser Strassenfront die grösste Herausforderung dar. Unter dem Titel «Markt Lagerstrasse» sollen quartiertypische Autorenshops – also keine Filialen einer Kette – nach und nach von den Flächen Besitz ergreifen. Um halbwegs bezahlbare Mietpreise bieten zu können (durchschnittlich 300 bis 400 Fr./m2 gegenüber dem derzeitigen Marktwert von 511 Fr./m2)[6], findet eine Quersubventionierung über die Obergeschosse statt; insbesondere Büros bringen laut Steiger an dieser Lage Geld. Über Fischer ist auch die Zusammenarbeit mit Bruno Deckert, dem Betreiber der Kulturbar «Sphères» an der Hardturmstrasse, und dem Filmemacher Samir entstanden. Ihr kulturelles Warenhaus «Kosmos» wird als Schlusspunkt an der Langstrasse zu liegen kommen; für die durchgehende Belebung des Areals ein Glücksfall. Die Projektentwicklung bis hin zu Vermietungen und Quersubventionen ist aber nicht etwa mit Sozialromantik zu verwechseln: «Spannende Angebote im EG bringen Leute in die Obergeschosse. Die Erdgeschossnutzungen wiederum haben nur Erfolg, wenn sie für die Leute im Obergeschoss oder, wie im Fall der Lagerstrasse, des Quartiers interessant sind», fasst Steiger zusammen.

Die Europaallee ist nur eines von rund zehn städtischen Entwicklungsgebieten. Auch wenn sich noch eine gewisse Unsicherheit bei der Gestaltung der Erdgeschosse und Skepsis gegenüber Gewerbeflächen zeige, wie Wüest & Partner feststellen, lasse sich bei den grösseren Arealentwicklungen ein verstärktes Bewusstsein für eine Nutzungsmischung beobachten. Vielleicht wird es also tatsächlich gelingen, dass in diesem Prozess des Gebens und Nehmens zumindest Teile der aktuellen Entwicklungsgebiete, wie von Ursula Koch postuliert, zu öffentlichen Begegnungsräumen werden. Ob die Bauten dabei «bloss als Kulisse» dienen werden, ist eine andere Geschichte. Sie handelt weniger von Stadtplanung als von einer Wettbewerbskultur, die auf Einzelobjekte und Namen fixiert ist.


Anmerkungen:
[01] Baugesuche und -bewilligungen 2002–2014, Documedia Schweiz, Wüest & Partner
[02] Gesamtschweizerisch betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum 11 %. Vgl.: Entwicklung der Angebotspreise für Mietwohnungen in der Stadt Zürich, Immo-Monitoring Wüest & Partner
[03] Vollständige Liste: www.stadt-zuerich.ch/entwicklungsgebiete
[04] Gemäss neuem Artikel 4b wären Grundeigentümer bei einer wertvermehrenden Um- oder Aufzonung verpflichtet gewesen, mittels kooperativer Planung bzw. Sondernutzungsplanung einen angemessenen Mindestwohnanteil für Kostenmiete, eine städtebauliche Aufwertung und eine qualitätvolle bauliche Verdichtung sicherzustellen. Dass damit weder die Bedingungen für eine kooperative Planung, etwa die Parzellengrösse, noch ein verbindlicher Mindestwohnanteil für Kostenmiete festgelegt wurden, erntete auch seitens der Wohnbaugenossenschaften Kritik.
[05] Nach rund 500 Einwendungen im Mitwirkungsverfahren wird die BZO momentan überarbeitet. Dieser Artikel bezieht sich auf die aktuelle Gesetzeslage. Die überarbeitete BZO wird ab 29. 10. öffentlich aufliegen.
[06] Angebote zwischen März 2013 und Februar 2014 in einem Umkreis der Lagerstrasse von 500 Metern, Wüest & Partner AG.

TEC21, Fr., 2014.10.17



verknüpfte Zeitschriften
TEC21 2014|42 Zürich II: Gegenwart und Zukunft

14. April 2014Sonja Lüthi
TEC21

Kluger Einsatz der Mittel

Der neue Kindergarten in Aadorf zeigt, dass ein knappes Budget die Schöpfungskraft beflügeln kann. Wie das Gebäude in Betrieb zu nehmen ist, scheinen die Kinder selbst am besten zu wissen.

Der neue Kindergarten in Aadorf zeigt, dass ein knappes Budget die Schöpfungskraft beflügeln kann. Wie das Gebäude in Betrieb zu nehmen ist, scheinen die Kinder selbst am besten zu wissen.

Wie ein Erstlingswerk wirkt er nicht, der Kindergarten Aadorf, geplant vom Zürcher Architekturbüro Karamuk Kuo und bezogen im Oktober 2013. Zu bewusst und durchdacht erscheint alles. Das klare Raumkonzept funktioniert nicht nur, sondern gewinnt durch das lebendige Spiel der Kinder noch dazu. Die Akustik in den Gängen ist auch während der Pause angenehm. Die Materialisierung und die Detaillierung wirken nirgends billig – und das, obwohl für die fünf Kindergartenräume und die Umgebungsgestaltung am Steilhang nur 4.25 Millionen Franken zur Verfügung standen.

Hinter dem Namen Karamuk Kuo Architekten stehen Ünal Karamuk und Jeannette Kuo. Karamuk hat türkische Wurzeln und ist in der Schweiz aufgewachsen, Kuo ist in Indonesien geboren und hat ihre Ausbildung bis zum Architekturstudium in den USA absolviert. Kennengelernt haben sich die beiden vor gut zehn Jahren in Harvard, wo Kuo ihren Master machte und Karamuk von der ETH Zürich aus ein Austauschjahr absolvierte. Dass sie sich 2009 entschieden, ihr eigenes Büro in der Schweiz zu gründen und nicht in den USA, liegt unter anderem an den enormen Hürden, mit denen junge Büros in Amerika konfrontiert sind, wie Kuo erklärt. Offene Wettbewerbe für Bauprojekte gebe es in den USA nicht, und bei Wettbewerben mit einer Form von Präqualifikation seien die Teilnahmebedingungen für junge Büros schlicht nicht einzuhalten. Architektur werde in den USA als Luxusprodukt wahrgenommen, fasst Kuo zusammen: «Entweder man kann sich einen Star leisten, oder man baut sich sein Haus gleich selber.»

Den Auftrag für den Kindergarten im thurgauischen Aadorf verdankt das junge Büro einem 2010 lancierten Wettbewerb mit Präqualifikation, zu dem zwei Nachwuchsbüros zugelassen wurden. Mit einer windmühlenartigen Anordnung der fünf Kindergartenräume um den Erschliessungsbereich, der so zum «vielseitig nutzbaren Erlebnisraum» wird, überzeugten sie die Jury und erhielten den ersten Preis. Bis das Bauprojekt genehmigt wurde, sollte es allerdings noch ein Jahr und zwei Volksabstimmungen dauern. Für Widerstand sorgte in der ländlichen Gemeinde insbesondere der politische Grundsatzentscheid, alle fünf Kindergärten in einem Gebäude zu konzentrieren. Kritik an der architektonischen Lösung gab es laut Kuo aber nie. Überhaupt waren sie vom Vertrauen überrascht, das ihnen durchwegs entgegengebracht wurde. Nach dem Wettbewerbserfolg wollte der Schulpräsident ihr Büro besichtigen. Damit schienen auch die letzten Zweifel beseitigt. Drei Jahre später die Bestätigung: «Super!» – so lautet die einstimmige Bewertung des neuen Kindergartens in Aadorf durch sechs Fünfjährige. Zu bemängeln haben die Kinder auch auf ein zweites Nachfragen hin nichts. Einzig die Lehrerin hätte sich eine Steckwand mehr gewünscht; das ist dann aber schon alles.

Befreiter Korridor

Der Neubau liegt nahe dem Zentrum von Aadorf, das allerdings nicht aus viel mehr besteht als einem Gemeindehaus, einer Durchfahrtsstrasse und einer Fussgängerunterführung. Im Osten schliesst der Kindergarten an die bestehende Schulanlage an und schafft zusammen mit dem alten Primarschulhaus einen kleinen Vorplatz und Eingangsbereich. Gegen Süden fällt das Gelände steil zum Bahntrassee hin ab und gibt den Blick auf die gegenüberliegenden bewaldeten Hügel frei. Da das Gebäude in den Hang eingebettet ist, ist vom Schulhof aus gesehen nur das obere von zwei Geschossen sichtbar. Die niedrige Gebäudehöhe, vor allem aber der metallisch graue Anstrich der Holzverkleidung verleiht dem Bau eine unscheinbare, allerdings auch etwas abweisende Erscheinung. Die für einen Kindergarten atypische Farbwahl erklärt die Architektin damit, dass der Bau in erster Linie «Hintergrund» sein soll. Im Farbton der nahen Wälder gehalten, schafft er den Rahmen für die Aneignung durch die jungen Nutzer.

Einzige Farbtupfer in der Fassade sind die Aussentüren aus perforiertem Metall. Von gelb bis grün abgestuft schaffen sie eine direkte Verbindung zwischen innen und aussen. Das ist entscheidend: Weil jeder der fünf Kindergartenräume einen eigenen Ausgang hat, ist der Korridor von seiner Funktion als Fluchtweg befreit und kann nach Belieben genutzt werden. Welchen Reichtum das eröffnet, lässt sich kaum über Fotos erahnen. Man muss es erlebt haben, am besten während einer Zehn-Uhr-Pause. Dann tummeln sich die Kinder in den vielfältigen Nischen des kreuzförmigen Korridors, auf und unter der einläufigen Treppe, wobei die Vielfalt an Nutzungsmöglichkeiten nahezu unbeschränkt scheint.

Die Wände dieser Begegnungszone sind mit geöltem Sperrholz verkleidet, der Boden ist ein simpler grobkörniger Unterlagsboden, eingefärbt, geschliffen und mit einer Schutzschicht versehen. Die Türen zu den Kindergartenräumen haben je eine andere Farbe, ebenso die «Infrastrukturwand», die jedem einzelnen Zimmer zugeordnet ist und Stauraum sowie Lüftung enthält. Die Böden in den Kindergartenräumen sind mit Kautschuk belegt. Hochwertigere Materialien kommen nur dort zum Einsatz, wo der Gebrauch dies erfordert, zum Beispiel Eiche auf dem Handlauf der Treppe oder in den Sitznischen der Fenster. Ansonsten ist die Materialwahl kostengünstig, wirkt aber trotzdem hochwertig; die Architekten scheinen das enge Budget weniger als Hindernis betrachtet zu haben denn als Inspirationsquelle. Das zieht sich bis nach aussen, wo die Spielplatzgestaltung zur Kunst deklariert und das Kunst-am-Bau-Budget entsprechend eingesetzt wurde. Die Projektverfasser betonen die exzellente Projektabwicklung durch das beigezogene Baumanagementbüro. Nur die behelfsmässigen Fugen im Kautschuk bereut Kuo. Über Nacht waren die Fenster nicht geschlossen worden, und ein Sturm warf den frisch verlegten Kautschuk auf. Doch das sind Details.

Heute zählt Karamuk Kuo Architekten insgesamt acht Mitarbeiter. Auf den Kindergarten Aadorf folgten zwei weitere Wettbewerbserfolge: eine Schulhauserweiterung mit Turnhalle in Rapperswil-Jona und ein Kompetenzzentrum der Sportwissenschaften auf dem Campus der Universität Lausanne – beide das Ergebnis offener Wettbewerbe. Angesichts dieser Erfolgsstory dürfte der persönliche Wunsch der Architekten zunächst überraschen: Sie würden gern ein Einfamilienhaus realisieren. Dass sie die dafür erforderliche Kompetenz besitzen, «Do-it-yourself» zu Luxus zu machen, beziehungsweise die Mitgestaltung durch die Nutzer zur Qualität, haben sie mit ihrem Erstlingswerk bereits bewiesen.

TEC21, Mo., 2014.04.14



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