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Texte

16. April 2017Katharina Held
dérive

Nahrungsmittel in der Stadt, Nahrungsmittel aus der Stadt

Food „emerges as something with phenomenal power to transform not just landscapes, but political structures, public spaces, social relationships, cities“ (Steel 2009).

Food „emerges as something with phenomenal power to transform not just landscapes, but political structures, public spaces, social relationships, cities“ (Steel 2009).

Nahrungsmittel sind als fundamentaler Bestandteil menschlichen Lebens auf vielfältige Weise in das städtische Alltagsleben eingebunden, sie verändern öffentliche Räume, das allgemeine Stadtbild, die Stadtpolitik, durchdringen städtisches Leben und produzieren Stadt und Urbanität: Als Orte der Nahversorgung sind Supermärkte, Kioske, Bäckereien etc. fester Bestandteil des Stadtbildes. Sie tragen zusammen mit Restaurants, Cafés und Imbissen zur Atmosphäre eines Stadtteils bei, bestimmen das öffentliche Leben. Im Konsumraum Stadt entfaltet Ernährung Wirkmacht, stellt doch die Nahrungsmittelindustrie einen großen Teil des Umsatzes und der Arbeitsplätze städtischer Wirtschaft.

Das Transportaufkommen für die Lebensmittelmassen verdichtet den Stadtverkehr. Auch für das Image einer Stadt sind Nahrungsangebot und lokale Spezialitäten von Bedeutung: Durch Stadtmarketing wird auch die Restaurant- und Gastronomieszene wichtiges Aushängeschild und das Essensangebot ein distinktiver Faktor von Städteprofilen.

Die Verbindung zwischen Essen und der Stadt ist aber zunächst vor allem eine historisch gewachsene, symbiotische Verknüpfung. Städtische Ernährungssysteme stellen eine der wichtigsten Infrastrukturen menschlicher Siedlungen und gleichzeitig auch die Voraussetzung für städtisches Wachstum dar. Vorindustrielle Städte versorgten sich zumeist autark aus der unmittelbaren Umgebung oder sogar aus dem eigenen Stadtgebiet heraus. Aufgrund schlechter Transportbedingungen und vor allem der wenigen und technisch nicht ausgereiften Konservierungsmöglichkeiten waren der Anbau von Obst und Gemüse sowie die Haltung von Vieh notwendigerweise städtische Praktiken (Stierand 2008): Überwiegend (urban)landwirtschaftlich genutzte Freiflächen bestimmten das Stadtbild, Märkte bildeten einen räumlichen und sozialen Mittelpunkt. Zunehmende Urbanisierung, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt (Erfindung neuer Konservier-Methoden wie der Konservendose) und mobiler Handel heben ab dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die räumlichen Beschränkungen des städtischen Ernährungssystems auf. Im Zuge der Globalisierung entkoppelt sich die Erzeugung der Lebensmittel vom Wohnort: Produktions-, Konsum- und Verbrauchsräume rücken noch weiter auseinander.

Seit den neunziger Jahren finden die gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Zusammenhänge des globalen Nahrungsmittelsystems stärkere Beachtung in urbanen Disziplinen, wobei viele der jüngsten Studien über Nahrungsmittel und Städte zumeist die gesicherte Versorgung und gesunde Ernährung der Bevölkerung in den Fokus rücken. Städtische Ernährungssysteme sind von zentraler Bedeutung in einer Welt, in der die Versorgung großer Teile der urbanen Bevölkerung aufgrund struktureller Probleme, in Folge von ökologischen und ökonomischen Notlagen und des Massenkonsums nicht gewährleistet werden kann. Urban food planning – beschrieben als „one of the most dynamic and rapidly expanding city-driven global social movements“ (Ilieva 2016) – erörtert Möglichkeiten lokaler Ernährungspolitik und neue Strategien in der Stadternährungsplanung. Aber nicht nur die Wissenschaft und Politik, vor allem auch selbstorganisierte Bürger und Bürgerinnen setzen sich mehr und mehr mit der Frage einer nachhaltigen und gesicherten Versorgung und Entwicklung von Städten auseinander.

Sie engagieren sich in Ernährungsräten, bauen in urbanen Gärten Gemüse an, erdenken Subsistenz-Szenarien und suchen Wege, Lebensmittelüberschüsse in neue städtische Ressourcenkreisläufe zu überführen.

All dies bringt im urbanen Alltag Praktiken hervor, die den Raum der Stadt aktiv mitgestalten. Im großen Themenfeld Nahrungsraum Stadt wirft der Schwerpunkt dieser dérive-Ausgabe einen Blick auf sozial-räumliche Zusammenhänge und Implikationen einiger dieser unterschiedlichen Praktiken von der Produktion bis zum Konsum von Nahrungsmitteln in und aus Städten.

Die Beiträge

In ihrem Artikel zu Urban-Farming in Havanna, Kuba, nimmt Carey Clouse die Besonderheiten des kubanischen Systems urbaner landwirtschaftlicher Produktion in den Blick. Zugeschnitten auf den Kontext, die kulturellen Werte und Restriktionen Havannas, bietet dieses dennoch Ansatzpunkte und Übersetzungspotential für die Versorgung von Städten in der Krise.

Urbane Landwirtschaft ist auch Thema im Beitrag von Sarah Kumnig, der den Kontext neoliberaler Stadtentwicklung hinterfragt. Analysiert wird hier ein Stadtentwicklungsprozess in Wien, dessen grünes Entwicklungsleitbild sowie die Partizipationsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger am Prozess.

Die Tätigkeiten des gemeinsamen Kochens und Essens greift Inga Reimers in ihrem Artikel zu Ess-Settings auf. Anhand zweier Beispiele denkt sie hier über die zentralen räumlichen Elemente solcher temporärer Settings und deren Einbindung in den urbanen Raum nach.

Dass Essen in der Stadt mittlerweile auch in den Medien, von Blogs und Magazinen, als Trend propagiert wird und die Rolle von authentischer Küche, Food Start-Ups und Essen als Kulturerfahrung im Zuge der Gentrifizierungsdebatte diskutiert werden (Zukin 2010, Boniface 2003), reflektieren zwei Beiträge in diesem Schwerpunkt. Miriam Stock spürt unter der Überschrift Falafel gentrified auf der Basis eines Vergleiches des kulinarischen Angebotes in Berlin und Beirut den sich verändernden Geschmackslandschaften dieser Städte und den dafür verantwortlichen Einflüssen nach. In Berlin bleibend widmet sich Katharina Held der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg und dem Diskurs um die Halle, der Widersprüche und Konfliktpotenziale des neuen Food-Trends aufzeigt.


Literatur:
Ilieva, Rositsa T. (2016): Urban Food Planning: Seeds of Transition in the Global North. London: Routledge.
Steel, Carolyn (2009): Hungry City. How Food Shapes Our Lives. London: Vintage.
Stierand, Philipp (2008): Stadt und Lebensmittel. Die Bedeutung des Städtischen Ernährungssystems für die Stadtentwicklung. Dissertation. Universität Dortmund. Verfügbar unter: http://speiseraeume.de/downloads/SPR_Dissertation_Stierand.pdf (Stand: 10.02.2017).
Zukin, Sharon (2010): Naked City: The Death and Life of Authentic Urban Places. Oxford & New York: Oxford University Press.
Boniface, Priscilla (2003): Tasting Tourism: Travelling for Food and Drink. Burlington: Ashgate.

dérive, So., 2017.04.16



verknüpfte Zeitschriften
dérive 67 Nahrungsraum Stadt

07. April 2014Katharina Held
dérive

Stadt der Gewinner, Stadt der Verlierer

Hamburg, die Perle an der Elbe, das Tor zur Welt, die Hafenstadt mit Metropolanspruch. Hamburg ist rau, aber schön – verregnet, aber schön – rot, aber schön.

Hamburg, die Perle an der Elbe, das Tor zur Welt, die Hafenstadt mit Metropolanspruch. Hamburg ist rau, aber schön – verregnet, aber schön – rot, aber schön.

Soweit die Klischees und Gemütsbewegungen, die mit der Hansestadt verbunden werden. Hamburg ist aber auch: eine Stadt, in der die Schere zwischen Reichtum und Armut extrem weit auseinander klafft. Tiefe Spaltungen bei Einkommen und Vermögen, bei Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen, ungleich verteilter Zugang zu (Aus-)Bildung, Pflege, Ernährung und, wie auch der Klappentext des Buches verrät, Spaltungen „zwischen den Geschlechtern, im Bereich der Migration, innerhalb der Generationen sowie zwischen sozialen Schichten und Klassen – und in den Stadtteilen und Quartieren“ kennzeichnen den städtischen Alltag. Im bundesweiten Vergleich der residentiellen Segregation nimmt Hamburg regelmäßig einen der obersten Plätze ein: Arm und Reich, diese Gegensätze liegen hier dicht beieinander.

Die zunehmende räumliche und soziale Polarisierung schafft neue urbane (Armuts-)Realitäten innerhalb der Hansestadt, die sich oftmals auch räumlich lokalisieren lassen. Aus dem Stadtgeflecht werden diese Problemstadtteile und –quartiere herausgeschält, definiert und bearbeitbar gemacht für die Stadtentwicklungspolitik.

Diese setzt in Hamburg nur fragmentär an – bisweilen gelingt es gar nicht, Armut und soziale Spaltung nachhaltig zu bekämpfen – und ist zu stark auf die Stärkung der lokalen Wirtschaft ausgerichtet, konstatieren die AutorInnen des Buches Hamburg: Gespaltene Stadt? Soziale Entwicklungen in der Metropole und fordern mehr soziale Gerechtigkeit, zivilgesellschaftliches Engagement, politische Regulierungen und eine gezielte Armutsbekämpfung.

Das Buch, das schon auf seinem Umschlag die Frage: „Warum ist die Metropole Hamburg trotz des Wirtschaftsaufschwungs der letzten Zeit sozial gespalten?“ aufwirft, versucht in elf Texten aktuelle Tendenzen und Entwicklungen in den Bereichen Armut, Chancengleichheit, soziale Verdrängung und Stadtentwicklungspolitik darzustellen und den aktuellen Forschungsstand zum Thema zu fassen.

Herausgeber des Sammelbandes sind Gerd Pohl (Sozialwirt und Soziologe) und Klaus Wicher (Betriebswirt und Handelslehrer), die zwei Jahre zuvor den Band Armes Reiches Hamburg –
in dem sie bereits auf die sozialen Schieflagen und Fehlentwicklungen in der Stadt „mit den meisten Millionären Deutschlands“ eingingen – aufgelegt haben.

Nicht nur thematisch bietet der Sammelband einen Querschnitt deutschlandweit relevanter sozialpolitischer Probleme; auch die Perspektiven und Standpunkte der einzelnen Texte sind von unterschiedlicher Qualität, was aufgrund der verschiedenen Hintergründe der AutorInnen jedoch wenig überrascht.

Unter der Überschrift „Kalkulierbare Segregation?“ beleuchtet Simon Günther, Professor für Sozialwissenschaften/Sozialpolitik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg/HAW, drei Perspektiven der sozialräumlichen Polarisierung (Sozialstatistik, Wohnungsmarkt, Integrationsleistung der Wohnquartiere), erläutert Eckpunkte einer sozialen Stadtentwicklung und versteht seinen Text als Plädoyer „für eine soziale Stadtpolitik [...], die ihr Verhältnis zur residentiellen Segregation klärt und sich nicht mit der oberflächlichen Bearbeitung von Symptomen zufrieden gibt“.

Der Text von Laura Crcic, Cordula Tillmann, Nicole Wegener und Johanna Wessels (alle im Arbeitskreis Angewandte Sozialpolitik der HAW) zu Menschen in Erwerbsarmut hingegen nimmt insbesondere deren Lebenslagen, die Armutssituation und Teilhabechancen am Wohnungsmarkt in den Blick und versucht die Frage zu klären, wie diese verbessert werden können.

Im Beitrag „Mittelschicht in Abstiegsangst?!“ der sozialpolitischen Sprecherin der Grünen Bürgerschaftsfraktion Katharina Fegebank setzt sich die Autorin zunächst neutral mit Ängsten vor Armut und Statusverlust auseinander, bewirbt in abschließenden Kapiteln jedoch ihr Parteiprogramm. Auch Heike Sudmanns (Sprecherin der Bürgerschaftsfraktion Die Linke für Stadtentwicklung, Verkehr und Wohnungspolitik) Analyse der Leitbilder der Stadt Hamburg seit 1983 und deren Zusammenhangs mit den Entwicklungen des Wohnungsmarktes und den Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen in Hamburg ist politisch gefärbt und übt massive Kritik an der Stadtentwicklung des SPD-Senats.

Gerd Pohls Ausführungen zu Ernährungsarmut betrachten diese aus einer wissenschaftlichen Perspektive – der Sozialwissenschaftler übt Kritik an Hamburgs „unsozialer Sparpolitik“. Ingrid Breckner, Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der HafenCity Universität Hamburg/HCU, ruft in ihrem Beitrag zu Effekten auf Spaltungsprozesse, die vom Stadtteil HafenCity ausgehen, zu konstruktiver und offener Kritik auf. Und Marion Fisch fordert eine sozial orientierte Stadtteilpolitik auch für den Osten Hamburgs.

Insgesamt liefert der Sammelband, der außerdem noch auf die Themen Sozialstaatsgebot und Schuldenbremse, seniorengerechte Stadt, Chancengerechtigkeit in der Bildung und soziale Verdrängung in Hamburg-St. Georg eingeht, einen fundierten Überblick über die Themen und Probleme der Stadtteil- und Sozialpolitik in Hamburg.

Teilweise ist jedoch die Grenze zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung und Information, eigener Meinung und politischen Zielen schwer zu definieren. Dennoch zeugen die Texte von einem (Armuts-)Problem, das in Hamburg nicht erst seit der letzten Finanzkrise Blüten treibt und auf unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen wird. Die Verbindung dieser Perspektiven innerhalb eines Bandes macht definitiv deutlich, dass es Veränderungen und neuer Wege in der Stadtpolitik und -entwicklung Hamburgs bedarf, um alle BewohnerInnen an der Stadt teilhaben zu lassen.

Gerd Pohl, Klaus Wicher (Hg.) Hamburg: Gespaltene Stadt?
Soziale Entwicklungen in der Metropole Hamburg: VSA, 2013
204 Seiten, EUR 16.80

dérive, Mo., 2014.04.07



verknüpfte Zeitschriften
dérive 55 Scarcity: Austerity Urbanism

Presseschau 12

16. April 2017Katharina Held
dérive

Nahrungsmittel in der Stadt, Nahrungsmittel aus der Stadt

Food „emerges as something with phenomenal power to transform not just landscapes, but political structures, public spaces, social relationships, cities“ (Steel 2009).

Food „emerges as something with phenomenal power to transform not just landscapes, but political structures, public spaces, social relationships, cities“ (Steel 2009).

Nahrungsmittel sind als fundamentaler Bestandteil menschlichen Lebens auf vielfältige Weise in das städtische Alltagsleben eingebunden, sie verändern öffentliche Räume, das allgemeine Stadtbild, die Stadtpolitik, durchdringen städtisches Leben und produzieren Stadt und Urbanität: Als Orte der Nahversorgung sind Supermärkte, Kioske, Bäckereien etc. fester Bestandteil des Stadtbildes. Sie tragen zusammen mit Restaurants, Cafés und Imbissen zur Atmosphäre eines Stadtteils bei, bestimmen das öffentliche Leben. Im Konsumraum Stadt entfaltet Ernährung Wirkmacht, stellt doch die Nahrungsmittelindustrie einen großen Teil des Umsatzes und der Arbeitsplätze städtischer Wirtschaft.

Das Transportaufkommen für die Lebensmittelmassen verdichtet den Stadtverkehr. Auch für das Image einer Stadt sind Nahrungsangebot und lokale Spezialitäten von Bedeutung: Durch Stadtmarketing wird auch die Restaurant- und Gastronomieszene wichtiges Aushängeschild und das Essensangebot ein distinktiver Faktor von Städteprofilen.

Die Verbindung zwischen Essen und der Stadt ist aber zunächst vor allem eine historisch gewachsene, symbiotische Verknüpfung. Städtische Ernährungssysteme stellen eine der wichtigsten Infrastrukturen menschlicher Siedlungen und gleichzeitig auch die Voraussetzung für städtisches Wachstum dar. Vorindustrielle Städte versorgten sich zumeist autark aus der unmittelbaren Umgebung oder sogar aus dem eigenen Stadtgebiet heraus. Aufgrund schlechter Transportbedingungen und vor allem der wenigen und technisch nicht ausgereiften Konservierungsmöglichkeiten waren der Anbau von Obst und Gemüse sowie die Haltung von Vieh notwendigerweise städtische Praktiken (Stierand 2008): Überwiegend (urban)landwirtschaftlich genutzte Freiflächen bestimmten das Stadtbild, Märkte bildeten einen räumlichen und sozialen Mittelpunkt. Zunehmende Urbanisierung, wissenschaftlicher und technischer Fortschritt (Erfindung neuer Konservier-Methoden wie der Konservendose) und mobiler Handel heben ab dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die räumlichen Beschränkungen des städtischen Ernährungssystems auf. Im Zuge der Globalisierung entkoppelt sich die Erzeugung der Lebensmittel vom Wohnort: Produktions-, Konsum- und Verbrauchsräume rücken noch weiter auseinander.

Seit den neunziger Jahren finden die gesellschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Zusammenhänge des globalen Nahrungsmittelsystems stärkere Beachtung in urbanen Disziplinen, wobei viele der jüngsten Studien über Nahrungsmittel und Städte zumeist die gesicherte Versorgung und gesunde Ernährung der Bevölkerung in den Fokus rücken. Städtische Ernährungssysteme sind von zentraler Bedeutung in einer Welt, in der die Versorgung großer Teile der urbanen Bevölkerung aufgrund struktureller Probleme, in Folge von ökologischen und ökonomischen Notlagen und des Massenkonsums nicht gewährleistet werden kann. Urban food planning – beschrieben als „one of the most dynamic and rapidly expanding city-driven global social movements“ (Ilieva 2016) – erörtert Möglichkeiten lokaler Ernährungspolitik und neue Strategien in der Stadternährungsplanung. Aber nicht nur die Wissenschaft und Politik, vor allem auch selbstorganisierte Bürger und Bürgerinnen setzen sich mehr und mehr mit der Frage einer nachhaltigen und gesicherten Versorgung und Entwicklung von Städten auseinander.

Sie engagieren sich in Ernährungsräten, bauen in urbanen Gärten Gemüse an, erdenken Subsistenz-Szenarien und suchen Wege, Lebensmittelüberschüsse in neue städtische Ressourcenkreisläufe zu überführen.

All dies bringt im urbanen Alltag Praktiken hervor, die den Raum der Stadt aktiv mitgestalten. Im großen Themenfeld Nahrungsraum Stadt wirft der Schwerpunkt dieser dérive-Ausgabe einen Blick auf sozial-räumliche Zusammenhänge und Implikationen einiger dieser unterschiedlichen Praktiken von der Produktion bis zum Konsum von Nahrungsmitteln in und aus Städten.

Die Beiträge

In ihrem Artikel zu Urban-Farming in Havanna, Kuba, nimmt Carey Clouse die Besonderheiten des kubanischen Systems urbaner landwirtschaftlicher Produktion in den Blick. Zugeschnitten auf den Kontext, die kulturellen Werte und Restriktionen Havannas, bietet dieses dennoch Ansatzpunkte und Übersetzungspotential für die Versorgung von Städten in der Krise.

Urbane Landwirtschaft ist auch Thema im Beitrag von Sarah Kumnig, der den Kontext neoliberaler Stadtentwicklung hinterfragt. Analysiert wird hier ein Stadtentwicklungsprozess in Wien, dessen grünes Entwicklungsleitbild sowie die Partizipationsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger am Prozess.

Die Tätigkeiten des gemeinsamen Kochens und Essens greift Inga Reimers in ihrem Artikel zu Ess-Settings auf. Anhand zweier Beispiele denkt sie hier über die zentralen räumlichen Elemente solcher temporärer Settings und deren Einbindung in den urbanen Raum nach.

Dass Essen in der Stadt mittlerweile auch in den Medien, von Blogs und Magazinen, als Trend propagiert wird und die Rolle von authentischer Küche, Food Start-Ups und Essen als Kulturerfahrung im Zuge der Gentrifizierungsdebatte diskutiert werden (Zukin 2010, Boniface 2003), reflektieren zwei Beiträge in diesem Schwerpunkt. Miriam Stock spürt unter der Überschrift Falafel gentrified auf der Basis eines Vergleiches des kulinarischen Angebotes in Berlin und Beirut den sich verändernden Geschmackslandschaften dieser Städte und den dafür verantwortlichen Einflüssen nach. In Berlin bleibend widmet sich Katharina Held der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg und dem Diskurs um die Halle, der Widersprüche und Konfliktpotenziale des neuen Food-Trends aufzeigt.


Literatur:
Ilieva, Rositsa T. (2016): Urban Food Planning: Seeds of Transition in the Global North. London: Routledge.
Steel, Carolyn (2009): Hungry City. How Food Shapes Our Lives. London: Vintage.
Stierand, Philipp (2008): Stadt und Lebensmittel. Die Bedeutung des Städtischen Ernährungssystems für die Stadtentwicklung. Dissertation. Universität Dortmund. Verfügbar unter: http://speiseraeume.de/downloads/SPR_Dissertation_Stierand.pdf (Stand: 10.02.2017).
Zukin, Sharon (2010): Naked City: The Death and Life of Authentic Urban Places. Oxford & New York: Oxford University Press.
Boniface, Priscilla (2003): Tasting Tourism: Travelling for Food and Drink. Burlington: Ashgate.

dérive, So., 2017.04.16



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dérive 67 Nahrungsraum Stadt

07. April 2014Katharina Held
dérive

Stadt der Gewinner, Stadt der Verlierer

Hamburg, die Perle an der Elbe, das Tor zur Welt, die Hafenstadt mit Metropolanspruch. Hamburg ist rau, aber schön – verregnet, aber schön – rot, aber schön.

Hamburg, die Perle an der Elbe, das Tor zur Welt, die Hafenstadt mit Metropolanspruch. Hamburg ist rau, aber schön – verregnet, aber schön – rot, aber schön.

Soweit die Klischees und Gemütsbewegungen, die mit der Hansestadt verbunden werden. Hamburg ist aber auch: eine Stadt, in der die Schere zwischen Reichtum und Armut extrem weit auseinander klafft. Tiefe Spaltungen bei Einkommen und Vermögen, bei Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Gesundheitswesen, ungleich verteilter Zugang zu (Aus-)Bildung, Pflege, Ernährung und, wie auch der Klappentext des Buches verrät, Spaltungen „zwischen den Geschlechtern, im Bereich der Migration, innerhalb der Generationen sowie zwischen sozialen Schichten und Klassen – und in den Stadtteilen und Quartieren“ kennzeichnen den städtischen Alltag. Im bundesweiten Vergleich der residentiellen Segregation nimmt Hamburg regelmäßig einen der obersten Plätze ein: Arm und Reich, diese Gegensätze liegen hier dicht beieinander.

Die zunehmende räumliche und soziale Polarisierung schafft neue urbane (Armuts-)Realitäten innerhalb der Hansestadt, die sich oftmals auch räumlich lokalisieren lassen. Aus dem Stadtgeflecht werden diese Problemstadtteile und –quartiere herausgeschält, definiert und bearbeitbar gemacht für die Stadtentwicklungspolitik.

Diese setzt in Hamburg nur fragmentär an – bisweilen gelingt es gar nicht, Armut und soziale Spaltung nachhaltig zu bekämpfen – und ist zu stark auf die Stärkung der lokalen Wirtschaft ausgerichtet, konstatieren die AutorInnen des Buches Hamburg: Gespaltene Stadt? Soziale Entwicklungen in der Metropole und fordern mehr soziale Gerechtigkeit, zivilgesellschaftliches Engagement, politische Regulierungen und eine gezielte Armutsbekämpfung.

Das Buch, das schon auf seinem Umschlag die Frage: „Warum ist die Metropole Hamburg trotz des Wirtschaftsaufschwungs der letzten Zeit sozial gespalten?“ aufwirft, versucht in elf Texten aktuelle Tendenzen und Entwicklungen in den Bereichen Armut, Chancengleichheit, soziale Verdrängung und Stadtentwicklungspolitik darzustellen und den aktuellen Forschungsstand zum Thema zu fassen.

Herausgeber des Sammelbandes sind Gerd Pohl (Sozialwirt und Soziologe) und Klaus Wicher (Betriebswirt und Handelslehrer), die zwei Jahre zuvor den Band Armes Reiches Hamburg –
in dem sie bereits auf die sozialen Schieflagen und Fehlentwicklungen in der Stadt „mit den meisten Millionären Deutschlands“ eingingen – aufgelegt haben.

Nicht nur thematisch bietet der Sammelband einen Querschnitt deutschlandweit relevanter sozialpolitischer Probleme; auch die Perspektiven und Standpunkte der einzelnen Texte sind von unterschiedlicher Qualität, was aufgrund der verschiedenen Hintergründe der AutorInnen jedoch wenig überrascht.

Unter der Überschrift „Kalkulierbare Segregation?“ beleuchtet Simon Günther, Professor für Sozialwissenschaften/Sozialpolitik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg/HAW, drei Perspektiven der sozialräumlichen Polarisierung (Sozialstatistik, Wohnungsmarkt, Integrationsleistung der Wohnquartiere), erläutert Eckpunkte einer sozialen Stadtentwicklung und versteht seinen Text als Plädoyer „für eine soziale Stadtpolitik [...], die ihr Verhältnis zur residentiellen Segregation klärt und sich nicht mit der oberflächlichen Bearbeitung von Symptomen zufrieden gibt“.

Der Text von Laura Crcic, Cordula Tillmann, Nicole Wegener und Johanna Wessels (alle im Arbeitskreis Angewandte Sozialpolitik der HAW) zu Menschen in Erwerbsarmut hingegen nimmt insbesondere deren Lebenslagen, die Armutssituation und Teilhabechancen am Wohnungsmarkt in den Blick und versucht die Frage zu klären, wie diese verbessert werden können.

Im Beitrag „Mittelschicht in Abstiegsangst?!“ der sozialpolitischen Sprecherin der Grünen Bürgerschaftsfraktion Katharina Fegebank setzt sich die Autorin zunächst neutral mit Ängsten vor Armut und Statusverlust auseinander, bewirbt in abschließenden Kapiteln jedoch ihr Parteiprogramm. Auch Heike Sudmanns (Sprecherin der Bürgerschaftsfraktion Die Linke für Stadtentwicklung, Verkehr und Wohnungspolitik) Analyse der Leitbilder der Stadt Hamburg seit 1983 und deren Zusammenhangs mit den Entwicklungen des Wohnungsmarktes und den Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen in Hamburg ist politisch gefärbt und übt massive Kritik an der Stadtentwicklung des SPD-Senats.

Gerd Pohls Ausführungen zu Ernährungsarmut betrachten diese aus einer wissenschaftlichen Perspektive – der Sozialwissenschaftler übt Kritik an Hamburgs „unsozialer Sparpolitik“. Ingrid Breckner, Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der HafenCity Universität Hamburg/HCU, ruft in ihrem Beitrag zu Effekten auf Spaltungsprozesse, die vom Stadtteil HafenCity ausgehen, zu konstruktiver und offener Kritik auf. Und Marion Fisch fordert eine sozial orientierte Stadtteilpolitik auch für den Osten Hamburgs.

Insgesamt liefert der Sammelband, der außerdem noch auf die Themen Sozialstaatsgebot und Schuldenbremse, seniorengerechte Stadt, Chancengerechtigkeit in der Bildung und soziale Verdrängung in Hamburg-St. Georg eingeht, einen fundierten Überblick über die Themen und Probleme der Stadtteil- und Sozialpolitik in Hamburg.

Teilweise ist jedoch die Grenze zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung und Information, eigener Meinung und politischen Zielen schwer zu definieren. Dennoch zeugen die Texte von einem (Armuts-)Problem, das in Hamburg nicht erst seit der letzten Finanzkrise Blüten treibt und auf unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen wird. Die Verbindung dieser Perspektiven innerhalb eines Bandes macht definitiv deutlich, dass es Veränderungen und neuer Wege in der Stadtpolitik und -entwicklung Hamburgs bedarf, um alle BewohnerInnen an der Stadt teilhaben zu lassen.

Gerd Pohl, Klaus Wicher (Hg.) Hamburg: Gespaltene Stadt?
Soziale Entwicklungen in der Metropole Hamburg: VSA, 2013
204 Seiten, EUR 16.80

dérive, Mo., 2014.04.07



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