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25. März 2021Udo Häberlin
dérive

Öffentliche Räume als Plattform einer solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung?

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind...

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind...

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind Elemente der aufgeklärten Stadtgesellschaft und ihres kollektiven Bewusstseins. Angesichts der Bemühungen um Smart-City-Konzepte wird deutlich, dass die gesellschaftliche Dimension der Städte im Vergleich dazu bisher vernachlässigt wurde. Wien ist eine besonders attraktive Stadt, doch auch hier ist der Fokus auf die soziale Lebenswelt der Menschen nicht selbstverständlich. Das, obwohl in Publikationen der Stadt Wien »die leistbare Stadt als rote[r] Faden der Stadtentwicklung« gesehen wird (STEP 2025, S. 27). Auch die solidarische Stadt wird seit über 100 Jahren immer wieder prominent postuliert. Mit Vorhaben wie »niemanden zurücklassen – in Stadteile investieren« oder »sozialer Durchmischung« strebt die Stadt Wien dieses Ziel an (ebd., S. 30–31). Die ausdifferenzierten Realitäten bleiben bei solchen am anvisierten Durchschnitt orientierten Ansätzen unerwähnt und sind nicht kohärent implementiert.

Neue Ansprüche der Bürger*innengesellschaft und die Bedeutung der Demokratie

Wien als wichtigster Bildungsstandort im deutschsprachigen Raum mit rund 190.000 Studierenden besitzt 20 Universitäten und Hochschulen sowie viele betriebliche Ausbildungsstätten. Diese sind ein Garant für stetigen Zuzug und gleichzeitig eine Ursache für die Verjüngung der Bevölkerung und ein Ausgleich zur immer größer werdenden Gruppe (sehr) alter Bewohner:innen. Damit ist die Stadt auf dem Weg zu einer hoch gebildeten Bürger*innengesellschaft. Historische Entwicklungen im öffentlichen Raum der ehemaligen Residenzstadt sowie im Umgang mit ihm (Untertanengeist) waren für die Bevölkerung Wiens über sechs Jahrhunderte bestimmend. Dieser Bewusstseinslage folgt eine Betrachtungsweise von Stadträumen – vom repräsentativen Heldenplatz bis hin zu charakteristischen Märkten – oder auch der Identifikation mit dem Platz vor der eigenen Haustüre, die für die Haltung der Menschen prägend war und zum Teil noch ist. Auch die Mentalität im Roten Wien sowie die Politik der sozialen Fürsorge bedeuteten kaum einen Bruch.

Seit den Hausbesetzungen und Protesten für Kulturräume der Generationen ab den 1970er-Jahren werden bis heute (basis-)demokratische Ansprüche artikuliert, werden mehr Teilhabechancen am und im öffentlichen Raum öfter konkret eingefordert. Im Sinne einer deliberativen Demokratie reagiert auch die Stadtpolitik und -verwaltung mit mehr öffentlichen Foren, Beratung sowie Teilhabemöglichkeiten für Bürger:innen in Entscheidungsprozessen und teilweise auch bei Bezirksbudgets. Beispiele anderer Städte zeigen, dass diese bereits Aktionsfonds zur Förderung von Aktivitäten sowie zur Unterstützung des ehrenamtlichen und nachbarschaftlichen Engagements gegründet oder Quartiersräte eingesetzt haben. Öffentliche Räume repräsentieren wie Schaufenster in Gebäuden die Offenheit einer Stadt und besitzen Interaktions- und Kommunikationsfunktionen für die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft. Sie sind der Ort, an dem sich Menschen zufällig begegnen. Damit sie belebt sind, brauchen sie Qualitäten, die Menschen bereichernd und attraktiv finden. Doch die Nutzungsbedürfnisse werden nicht für alle Menschen gleichberechtigt gewichtet. Nicht nur ökonomische Mechanismen verhindern die Aneignung von Freiräumen, auch fehlende soziale Kompetenzen, die rechtliche Stellung oder zu leise Stimmen wirken hier. Daher sind Gleichstellung, Aufklärung und bildungspolitische Maßnahmen[1] wichtig, um die Wahrung und Entwicklung des öffentlichen Raums als Ort des Gemeinwohls, der zwischenmenschlichen Begegnung, des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft zu stärken. Um den künftigen Anforderungen einer individualistischen, aber demokratischen Gesellschaft gerecht zu werden, sollten Freiräume so weit wie möglich als entwicklungsoffene Lebenswelt einer neuen Urbanität umgebaut werden (Häusermann & Siebel 1987). Da öffentliche Räume auch als Bühne dienen, können kreative Ideengeber:innen als Unterstützer:innen einer offenen und friedlichen Gesellschaft gesehen werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Inklusionskraft dieser Gemeinschaftsorte für die urbane Ambivalenz, die zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz in öffentlichen Räumen Spannung erzeugt. Besonders bei Konflikten und deren Aushandlungen wird sich bei künftigen Generationen zeigen, wie sehr urbane Kompetenz und soziales Kapital durch (politische) Bildung und eine Weiterentwicklung der demokratischen Positionen erhöht werden konnten.

Teilhabe und Lebenschancen der Wiener:innen

Auch in Wien sind eine weltweite Polarisierung und rasante Veränderungen durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft spürbar. Die positiven Entwicklungen durch Freiheiten und die Renaissance der Städte können die steigende soziale Ungleichheit und Spannungen jedoch nicht überdecken. Nicht alle dieser Entwicklungen sind überall gleichermaßen 
zu erleben, die Lebenswelten in einer Stadt verändern sich ungleich dynamisch. Das Monitoring von kleinräumiger Heterogenität und Segregationstendenzen (Stadtentwicklung Wien 2018) zeigt die Gefahr der Verbreitung von abgehängten Gebieten auf.

Ein wesentlicher, jedoch fragiler Faktor ist die qualitätsvolle Dichte. Die großflächigen Areale der Wiener Gründerzeit[2] sind hierbei markant. Was als Stadtstruktur zunächst uniformiert aussieht, erweist sich bei konkreter Betrachtung des Sozialraums als von kurzen Wegen geprägt, teilweise jedoch ohne ausreichende (grüne) Freiräume. Die kompakte Stadtstruktur besteht aus einem Kaleidoskop unterschiedlicher Baublöcke, aus verschiedenen Wohnformen, Kleingewerbe, Büros, Praxen und vielem mehr. Vom Erdgeschoss bis zum Dachgeschoss ergibt sich oft eine vertikale Durchmischung. Dabei ist die gewachsene und stetig adaptierte Struktur ein flexibler physischer Baustein, der auch für die Zukunft mehr Resilienz und systemische Stabilität ermöglicht.

Nachteile wie schlechte Luft oder fehlende Infrastrukturen, wie beispielsweise Freiräume, betreffen schon alleine aufgrund der hohen Zahl der Bewohnerschaft viele Menschen in diesen Stadtquartieren. Studien zu sozialen Veränderungen sowie der Lebensqualität in unterschiedlichen Vierteln, die Themen wie innerstädtische sozialräumliche Peripherisierung, Quartiere als Integrationsmaschine, Fragmentierungsprozesse, Inselurbanismus oder sozialräumliche Verwerfungen untersuchen (Reinprecht et al. 2010), zeigen die Unterschiede in der Zufriedenheit hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche und dichter Stadträume. Eine umfassende aktuelle Analyse aus diesem Datensatz zur Wahrnehmung von Lebenslagen, Orientierungsverlust, sozialen Unsicherheiten wie Abstiegsängsten ist in Vielfalt und Sicherheit im Quartier (Häberlin & Kopetzky 2015; Häberlin 2020) beschrieben. Hinzu kommt der demografische Wandel: in ganz Europa weist die immer größere Zahl alter Menschen neben einer höheren körperlichen Verletzlichkeit auch eine höhere Risikosensibilität auf.

Schrieb Heinz Bude 2014 noch, »die Zeiten in denen die individuelle Tüchtigkeit und gemeinschaftliche Bindung in der Mentalität der Mitte zusammengehören, sind offensichtlich vorbei« (S. 73), registriert man in Zeiten der Covid-Pandemie erstaunt eine doch vorhandene Solidarität und anerkennt die Leistung von Menschen in den sogenannten systemrelevanten Berufen. Die Frage nach der Systemrelevanz von Leistungen für das Gemeinwesen der Gesellschaft oder für das (gesunde) Leben des Einzelnen hatte durch einen reibungslosen Verlauf im Wohlfahrtsstaat keine Grundlage.

Orientierungsverlust und Konkurrenzdruck dürften sich nach der Covid-Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen noch verstärken. Menschen projizieren Ängste der Schutzlosigkeit auf den öffentlichen Raum. So finden oft Zuschreibungen bezüglich Gefährlichkeit und Risiko statt, deren Gültigkeit kaum überprüft wird. Diffuse Projektionen bleiben oft als leichtfertig gezeichnete Bilder und Verbindungen in den Köpfen zahlreicher Menschen hängen und werden selten revidiert oder korrigiert (vgl. Baumann 2016).

Quartiersentwicklung ist physisch und sozial nötig

Eine explizite Quartiersentwicklung gibt es in Wien nicht. Einer der Wiener Planungsgrundsätze ist, die Stadtviertel lebenswert zu gestalten und kompakt weiter zu entwickeln.[3] Das Fachkonzept Mittelpunkte des städtischen Lebens – Polyzentrales Wien (Stadtentwicklung Wien 2020) will jedoch städtische Zentren als attraktive Orte in der Stadt fördern. So sollen sich Orte der Vielfalt von Funktionen, Versorgungs- und Konsumangeboten, von Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten, Orte der Orientierung, der Kultur und der städtischen Identität neu entwickeln sowie vorhandene städtische Zentren gestärkt werden. Zusätzlich gibt es von den Gebietsbetreuungen zahlreiche Bestrebungen, lokale Netzwerke zu schaffen und eine Quartiersidentität auch bei benachteiligten Gruppen zu fördern.[4] Denn sozialräumliche Disparitäten führten in der Stadt zu gebietsbezogener Politik in der Quartierserneuerung sowie zu einer Neuformulierung der Integrationsarbeit durch mehr Empowerment und Partizipation. »Stadtforscher:innen (…) zeigten, dass eher die soziale Lage als die ethnische Zugehörigkeit für die Positionierung der Menschen in der Stadt und Stadtgesellschaft bedeutend waren (Reimann 2018; Roth & Gesemann 2018) und dass sich ›hybride Identitäten‹ mit vielfältigen Lebensentwürfen herausgebildet hatten«, so Hillemann (2020) zur Erforschung der kosmopolitischen und offenen Stadt. Vor dem Hintergrund, dass das unmittelbare Wohnumfeld mit der langsamen Auflösung anderer sozialer Zugehörigkeiten – z. B. Familien, Glaubensgemeinschaften oder Parteien – wieder an Bedeutung gewinnt, besteht hier auch für die Stadtplanung und -entwicklung ein wichtiges Interventionsmoment. Mit einem Bedeutungsgewinn des Quartiers wird auch die Lebensqualität, die im eigenen Wohnumfeld erfahren wird, wichtig und damit auch die Vertrautheit in diesem Sozialraum als ein Aspekt von Wohlbefinden und Lebensqualität. Ein vertrautes Umfeld bietet gute Voraussetzungen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und Gemeinschaftsempfindens. Dies kann die Verbundenheit mit dem Quartier erhöhen sowie soziale Prozesse wie ein Miteinander fördern (vgl. Stadtentwicklung wien 2016). Als Basis für Nachbarschaften kann die Auseinandersetzung mit Fragen der Vertrautheit in vielfältig gemischten Quartieren bedeutungsvoll sein. Soziales Vertrauen kann sich im Quartier erhöhen und sogar das Sicherheitsempfinden vor Ort zu verbessern. (DIfU-Impulse 2020). Das kann dem Auseinanderdriften der Wahrnehmungen und einer gespaltenen Gesellschaft entgegenwirken.

Wie lassen sich städtische Lebenswelten – Quartiere und Wohnumfeld – stärken?

Die städtische Lebenswelt setzt sich aus den Ebenen der Quartiere, des Maßstabs des Wohnumfelds und der individuellen Aktionsradien zusammen. Für die Wiener Lebensqualitätsstudien werden die Menschen gezielt nach der Zufriedenheit mit dem Wohngebiet, beispielsweise dem öffentlichen Freiraum und der Nähe zu Grünanlagen gefragt. Dabei gibt es interessante Unterschiede auf kleinteiliger Stadtteilebene sowie bei unterschiedlichen Menschen und deren Erwartungshaltung. Die große Mehrheit der Wiener Bevölkerung ist mit der Nähe zu Grünanlagen zufrieden, außer in einigen dichter bebauten Gebieten. Weniger große Unterschiede in der Zufriedenheit gibt es hinsichtlich der Plätze und anderer öffentlicher Freiräume; rund 78 Prozent der Wiener:innen sind mit den öffentlichen Freiräumen in ihrem Wohngebiet zufrieden. Trotz der hohen Zufriedenheit stehen der Wunsch nach mehr Grünflächen und nach »angenehmeren Plätze und anderen öffentlichen Freiräumen« ganz oben auf der Liste zur Frage nach Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensqualität im Wohngebiet. Auch hier sind die lokalen Unterschiede interessant (siehe Tabelle auf S. 50).

Was ist zu tun, wo es nicht gut funktioniert: Benachteiligte Quartiere?

Wien besitzt eine dichte Siedlungsstruktur. Im Durchschnitt leben 4.502 Menschen auf einem Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte in (ehemaligen) Arbeiterinnen*bezirken ist rund fünf Mal so hoch. In solchen Stadtteilen kann sich die Bevölkerung oft weniger leisten, beispielsweise in der Lebenshaltung, im Wohnkomfort oder in der Freizeitgestaltung. Es lohnt daher, die Lebensverhältnisse benachteiligter Gruppen (größere Familien, Haushaltsformen, Alterskohorten) unter und über dem jeweiligen städtischen Durchschnitt zu analysieren. Auch Differenzen zwischen Eigentumswohnungen, privatem Wohnungsmarkt und sozial geförderten Mietwohnungen sind zu erkennen. Neben der Wohnlage ist natürlich die Wohnungsgröße für die Lebensqualität relevant. 6 Prozent der Befragten der repräsentativen Umfrage[5] in Wien leben in einer Wohnung mit nur einem Raum, 24 Prozent haben zwei Wohnräume, 35 Prozent leben in Wohnungen mit drei Räumen. Die restlichen 21 Prozent haben vier oder mehr Wohnräume (vgl. Häberlin 2020). Die Ungleichheit spiegelt sich in den Wohnungsgrößen, den Wohnkosten, der Wohnungsausstattung und dem Zugang zu privatem Freiraum wider. Hier zeigt sich, dass insbesondere in benachteiligten Quartieren im Verhältnis mehr Miete für geringen Wohnraum gezahlt werden muss. Angesichts der Lebensrealitäten und des Alltags in solch dichten Lebensverhältnissen wird klar, dass öffentliche Freiräume hier einiges kompensieren müssen und das auf eine differenzierte Art und Weise, denn Kinder und Jugendliche sowie alte und arbeitslose Menschen haben nochmals speziellere Bedürfnisse für ihre Freizeit und Erholung. Hinzu kommt, dass in den meisten dicht besiedelten Arbeiter*innenquartieren[6] auch die Freiraumversorgung knapp und somit äußerst kostbar ist. Denn größere Grünräume oder Freizeitareale versorgen die Stadt nicht gleichmäßig gut. De facto besteht ein Großteil des öffentlichen Raums im dicht bebauten Siedlungsgebiet aus Straßen, deren Raum zu einem hohen Anteil für Privatautos verwendet wird, die dort fast 23 Stunden pro Tag ohne Nutzung abgestellt werden (Häberlin 2017). Im Gegensatz zu den Bundesländern sinkt der Motorisierungsgrad in Wien seit etlichen Jahren, was hoffen lässt, »dass wir in Zukunft auch mehr Möglichkeiten haben, den öffentlichen Raum anderweitig zu nutzen« (Madreiter 2020).

Manche sehen den öffentlichen Raum als Wohnzimmer der Stadt. Bei einer nüchternen Betrachtung ist jedoch leider der überwiegende Teil der öffentlichen Flächen doch eher Garage – also eher private (Keller-)Nutzung. Die Straßen werden jedoch ebenso für das Gemeinwesen, das Leben für alle gebraucht. Denn »die Straßen und Bürgersteige sind die wichtigsten Orte einer Stadt, sind ihre lebenskräftigsten Organe.« Also: »wenn die Straßen einer Großstadt uninteressant sind, ist die ganze Stadt uninteressant; wenn sie langweilig sind, ist die ganze Stadt langweilig« (Jacobs 1961, S. 27). Daher müssen soziale Funktionen wieder gleichberechtigt Platz finden. Viele Straßen bieten das Potenzial, das Gemeinwesen zu stärken, indem die Verweilqualität ausgebaut wird und sich damit die Nutzbarkeit für alle erhöht (Gehl 2013). Eine »[f]aire Gestaltung des öffentlichen Raums wird wichtiger«, benötigt werden »geeignete Rahmenbedingungen und eine gezielte Steuerung dieser Entwicklung durch die Stadt« (Schechtner 2020, S. 67). Dazu gilt es, in benachteiligten Quartieren sowie in sämtlichen dicht bevölkerten Wohnquartieren die Ansätze der Freiraumgerechtigkeit zu verbessern und eine fair geteilte Straße für alle Gruppen zu ermöglichen. 67 Prozent des Raums stehen hier den Autos zur Verfügung, obwohl diese nur 27 Prozent der Mobilität ausmachen.

73 Prozent der Wege werden in Wien mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt (Stadtentwicklung Wien 2016). Die Raumverteilung von privaten PKWs ist demnach nicht nur eine Frage des Mobilitätskomforts einiger Menschen, sondern der Urbanität und Lebensqualität aller. Die Umgestaltung von Straßenräumen ist auch »im Sinne einer klimaresilienten Stadt – d. h. mehr Grün und Bäume, mehr Wasserelemente, mehr Beschattung 
für mehr Aufenthaltsqualität für die Weiterentwicklung des Straßenraums zu einem Aufenthaltsraum für alle«. 
(STEP 2025; 2020, S. 67)

Bedeutung der öffentlichen Räume für die Verbesserung der Lebensqualität

Die Bezirke Neubau und Margareten entwickelten in den letzten Jahren viele Verbesserungen zur Begrünung und Nutzbarmachung von öffentlichen Räumen. Altruistisch wird dabei der Aufheizung von dicht bebauten Stadtteilen ohne wesentliche Grünräume begegnet. Im Sinne der Stadtklimaanalyse werden Begrünungsmaßnahmen, Verdunstungsflächen und mehr Schatten geschaffen. Auch die Möglichkeit einer Entsiegelung wird immer öfter geprüft und führte zu einem der ersten Coolen Parks in Wien. Auch Luftströme für die bessere Durchlüftung werden vor allem angesichts der nächtlichen Abkühlung berücksichtigt. Das neue Leitbild der temperatursenkenden Maßnahmen, Investitionen in das Gewässermanagement und urbane Begrünungen (blaue und grüne Infrastruktur) sind im Hinblick auf die Klimakrise wesentlich, um das Leben in der dichten Stadt und auch künftig den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu ermöglichen und die Urbanität weiterhin gesund zu erleben.

Die öffentlichen Räume zählen zu den direktesten kommunalen Handlungsfeldern zur Verbesserung der Lebensqualität. Zum einen hat die Stadtverwaltung und Politik die unmittelbare Gestaltungsmacht und zum anderen ist dies der Ort, an dem alle Gruppen einer Stadt partizipieren.

Bedeutung der öffentlichen Räume für Sozialkontakte und das Zusammenleben

Öffentliche Räume sind Orte der Begegnung mit dem Fremden, Orte des selbstbestimmten Austauschs und Experimentierfeld der Gesellschaft. Diese kulturellen und sozialen Funktionen sind wesentlich für die Bildung von speziellen Lebensstilen und urbane Kompetenzen. Da diese Funktionen in der Phase der flächenintensiven Autoorientierung der Städte verdrängt wurden, soll mit jeder größeren Baumaßnahme geprüft und verhandelt werden, ob die öffentlichen Räume diese Funktionen, etwa als Begegnungszonen sukzessive zurückbekommen können. Die Corona-Pandemie hat diese Notwendigkeit noch einmal verstärkt gezeigt. Beim künftigen Umbau der Stadtstruktur und der Transformation des Sozialraums gilt es, die Bedürfnisse der Menschen noch stärker einzubeziehen.

Ältere Menschen, Pensionist:innen[7] oder Personen mit höheren Einkommen äußern sich über ihre Sozialkontakte häufig zufrieden. Seltener zufrieden sind hingegen Frauen bis 29 Jahre ohne Matura, Männer zwischen 30 und 45 ohne Matura, Menschen unter 60 Jahre in Einzelhaushalten, Männer unter 60 Jahre, Personen in Untermiete, Arbeitslose und Menschen mit geringen Einkommen. Für Letztere besteht also ein Bedarf an Möglichkeiten zur persönlichen Begegnung im öffentlichen Raum, auch um Tendenzen zur Vereinsamung entgegenzuwirken. Eine Verbesserung kultureller und sozialer Angebote zur organisierten Begegnung im Quartier ermöglicht es, diesem Bedarf entgegenzukommen.
Will man die Nachbarschaft und die zufällige Begegnung fördern, sind einladende öffentliche Freiräume ein wichtiger Schlüssel. Die Zugänglichkeit der Freiräume und die Teilhabe an Aktivitäten in diesen sollte die Vielfalt der Bewohner:innen, die Diversität der Gesellschaft repräsentieren. Eine resiliente Stadt setzt kooperative und kommunikative Offenheit bei Verbesserungen oder einer Konfliktbewältigung voraus. Hierzu sind (sprach-)barrierefreie Methoden der Mitsprache und Partizipation wichtig. Die Vorteile an mehr Teilhabe am und im öffentlichen Raum sind evident: Er kann nachhaltig und effizient genutzt werden, kann zukunftsfähig für alle Lebensformen oder -stile entwickelt werden, und so schließlich einer breiten Akzeptanz gerecht werden. Die Erwartungen der Menschen lassen sich im lokalen Umfeld hinsichtlich der Möglichkeitsräume und der Modelle menschlichen Zusammenlebens am besten verdeutlichen. Um die Bürger:innen tatsächlich stärker in den Mittelpunkt zu stellen, helfen im Rahmen von Beteiligungsverfahren Icons mit grafischen Symbolen, um die jeweiligen Nutzungsbedürfnisse in einem Raum zu visualisieren. Die Wünsche lassen sich damit besser artikulieren und niederschwellig ohne (sprachliche) Zugangsbarrieren in Partizipationsprozesse einbringen.

Hochwertige Freiraumgestaltung zur Förderung partizipativer Quartiersentwicklung und urbaner Vielfalt

Verfügbarkeit und selbstbestimmter Gebrauch von Raum sind heute ein wichtiges Qualitätskriterium für die urbane Gesellschaft. Dies schließt auch das Selbermachen und Stadtentwicklung von unten ein, was zur Mehrfachnutzung für die vielfältigen Gruppen der Stadtgesellschaft beiträgt. Damit mehr Spielräume geöffnet werden, sind Stadtlabore (futurelabs) geeignete Initiativen dafür, gewohnte Denkmuster zu hinterfragen und ein what if zu erforschen. Das lenkt die Perspektive darauf, was lokale Raumverbundenheit bei den einzelnen Teilhabenden der Stadtgesellschaft schafft: eigene Möglichkeiten der Einflussnahme, demokratische Mitsprache sowie lokale Verbundenheit. Sie sind Voraussetzung und Ergebnis einer gelingenden Nachbarschaft und für soziales Vertrauen. Auch in benachteiligten Quartieren können sie zur Förderung der subjektiven Lebensqualität vor Ort beitragen. Wichtig ist, dass den jeweiligen konkreten lokalen Ansprüchen nicht mit Patentrezepten begegnet wird. Dabei besteht das Geheimnis lediglich in der passenden Transformation von (fachlich) bekannten Lösungen.

Im Rahmen dieser neuen Möglichkeiten der Teilhabe können sich lokale Netzwerke sowie eine Identifikation mit dem eigenen Quartier als Lebenswelt und Ort der direkten Demokratie entwickeln. Darüber hinaus kann ein möglichst konstruktiver Dialog zwischen Verwaltung, Bewohner*innenschaft und den diversen Gruppen der Stadtgesellschaft angestoßen werden, in dem gegenseitiges Vertrauen und Verständnis möglich werden. In den Quartieren lassen sich partizipative Formate zur Stärkung des Gemeinwesens, eines friedlichen Zusammenlebens und urbaner Kompetenzen sowie das Orchestrieren der Prozesse erproben.

Mit diesen Experimenten in der Zivilgesellschaft und lokalen und (sub-)kulturellen Laboren wie Amerlinghaus oder WUK gewinnt die Qualität des Zusammenlebens in Stadt(-teil) und Grätzel eine besondere Beachtung (vgl. dérive 81). Der Stadtteil als sozialer Lebensmittelpunkt, als Ort der direkten Teilhabe wird zunehmend bei der Mitgestaltung und Aneignung verfeinert – und eine stärkere Bemühung in Richtung humane Architektur und ökologische Urbanität entsteht.

Ein homöopathischer Anfang: Grätzloasen, wo immer Zivilgesellschaft erstarkt

Mit wachsender Bevölkerung, und weiter angestrebter Innenverdichtung wird in dichter verbauten Stadtgebieten der Raum kostbarer sowie der öffentliche Raum intensiver genutzt. Bewohner:innen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen teilen sich vorhandene Flächen der Bestandsstadt im Sinne einer multifunktionalen Gemeinschaftsfläche. Familien mit Kleinkindern, Kinder, Jugendliche, Singles, ältere Menschen und Bürger:innen mit geringerem Einkommen verbringen viel Freizeit im städtischen Nahraum. Um gemeinschaftliches Zusammenleben im Stadtraum zu sichern, wird es immer wichtiger im öffentlichen Raum inklusive räumliche Identifikation für alle zu schaffen. Zentral in diesem Prozess ist es, jene Menschen in die Gestaltung und Belebung einzubinden, die diese Freiräume (in Zukunft) nutzen wollen. Damit wird Bürger*innennähe sichergestellt und der Austausch der Menschen im Grätzel aktiv gestärkt.

Stadtbewohner:innen sind lokale Expert:innen ihres Umfelds. Sie wissen gut Bescheid, was (nicht) funktioniert und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Jung und Alt haben viele Gestaltungsideen und fordern zunehmend Mitgestaltung vor der eigenen Haustüre ein. Ein besonders Beispiel hierzu bilden die Grätzloasen zur Belebung und Aufwertung öffentlicher Räume, die vom Verein Lokale Agenda 21 und mit einer finanziellen Förderung unterstützt werden. Aktive Bewohner:innen werden unterstützt, ihre Ideen zur Gestaltung ihrer Umwelt als Parklets zu verwirklichen. So entstehen wienweit temporäre Kontaktzonen, Spielflächen, Straßen­feste in der einst monofunktionalen Parkspur stehender Autokolonnen; offen für alle und frei von gewerblichem Interessen. Die Gesellschaft bekommt damit mehr Möglichkeit der direkten Teilhabe an einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Somit können auch neue Formen der Zusammenarbeit und der Erweiterung von Raum-Ressourcen für eine solidarische und resiliente Stadt initiiert werden.

Global wird relevant sein, wie sich die soziale Ungleichheit entwickelt, ob zunehmende Kommerzialisierung den öffentlichen Raum wirklich für alle zugänglich belässt und ob Überwachungsgelüste sowie eine neue Straffreudigkeit ein friedliches Nebeneinander aushöhlen.

Ebenso wichtig ist, wie sich die Bürgerschaft im öffentlichen Raum präsentiert und welche Werte gelebt werden. In den Tagen nach dem Terroranschlag letzten November in Wien zeigten tausende Menschen mit Kerzen und Blumen ihr solidarisches Mitgefühl sowie ihren Wunsch nach einer freien und demokratischen Gesellschaft und setzten damit ein wichtiges Zeichen im öffentlichen Raum. Das trug auch dazu bei, den medialen Diskurs zu verbreitern. Aufgabe von Planung ist es auch, mit ihren Werkzeugen der Zivilgesellschaft Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe zu bieten, um räumliche Identität in den jeweiligen Stadtquartieren zu stärken. Die Stadtplanung kann hierzu auf das Gemeinwesen in der Bürgerschaft wirken und somit auch die soziale Lage und Zukunftsfähigkeit verbessern.

Anmerkungen:
[01] Siehe als Beispiel die 2020 verabschiedete Kinder- und Jugendstrategie der Stadt Wien.
[02] In der »ersten Gründerzeit« in Wien erfolgte eine epochale Entwicklung, die wir ganz ähnlich heute wieder erleben. Zwischen 1848 und dem Börsenkrach 1873 entwickelte sich Wien mit der Weltausstellung von einer beschaulichen Residenzstadt zur Großstadt. Politisch war die Zeit bis 1895 von der Dominanz des Liberalismus geprägt; der Freihandel, die liberale Verwaltung und Gewerbe-Gesetze führten zu zahlreichen Neugründungen, die von Spekulationen in Börse- und Bankgeschäften begleitet waren. Die einengenden Mauern der Stadtbefestigungen fielen. Das Glacis wurde mit Ringstraßen-Monumentalbauten bebaut, Eisenbahntrassen sowie Kasernen errichtet. Die Stadterweiterung mit eingegliederten Vorstädten sowie die Donauregulierung kamen hinzu. Die Altstadt wurde umgewandelt, bei gleichzeitiger baulicher Verdichtung der Vorstädte und Erweiterungen mit rasterförmigen Baublöcken aus Mietskasernen. Hinzu kamen »Bassena-Wohnungen« der zugewanderten Arbeiter*innenschaft mit extremen Alltagsbedingungen in der Hinterhofindustrie. Der damalige Umbruch zur urbanen Gesellschaft rief eventuell ähnliche Bruchstellen von Verlust an Überblick und Vertrautheit hervor wie die Dynamik heute. Die globalen Phänomene verschwimmen dabei zusehends und erzeugen eine neue Orientierungslosigkeit, die zusätzlich durch neue Informationstechnologien und Medien auch in den Echokammern des virtuellen Raums verstärkt werden.
[03] »So werden Lücken in der lokalen Versorgung mit Grünraum, Bildung, Gesundheit und Dienstleistungen geschlossen, Arbeitsplätze und neue Wohnungen geschaffen und die Wege zu Alltagspunkten bleiben kurz« (Grundlagen der Wiener Stadtplanung).
[04] Die Palette reicht von Freizeitangeboten, mehr Empowerment (Frauen, Migrant:innen) über Rechtsberatung, bis hin zur Stadtanleitung – Do it Yourself (Magistrat der Stadt Wien 2016).
[05] Wiener Lebensqualitätsstudien: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/grundlagen/stadtforschung/soziologie-oekonomie/lebensqualitaetsstudien/
[06] Eine genauere Analyse und die Beschreibung des »potentiellen Nutzungsdrucks«: Stadt Wien – Integration und Diversität (2020).
[07] Entgegen dieser Werte besteht dennoch die Gefahr von Vereinsamung in der Gesellschaft, vor allem wenn (alte) Menschen von biographischen Brüchen oder gesundheitlichen Schwierigkeiten betroffen sind.

Literatur:
Baumann, Zygmund (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin: Suhrkamp
Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition
Bartl, Gabriel; Creemers, Niklas & Floeting, Holger (2020): DIfU-Impulse, 2020; Vielfalt und Sicherheit im 
Quartier – Konflikte, Vertrauen und sozialer Zusammenhalt in europäischen Städten. Berlin
Gehl, Jan & Birgitte Svarre (2013): How to Study Public Life. Washington/Cavelo/London; Island Press
Häberlin, Udo & Kopetzky, Barbara (2015) Die sichere Stadt – Sicherheit und Lebensqualität in Wien. In: Floeting, Holger: Sicherheit in der Stadt – Rahmenbedingungen – Praxisbeispiele – Internationale Erfahrungen. Edition Difu, Bd. 14, 201, Deutsches Institut für Urbanistik
Häberlin, Udo & Furchtlehner, Jürgen (2017): Öffentlicher Raum für alle? In: Hauck, Thomas; Hennecke, Stefanie & Körner, Stefan: Aneignung urbaner Freiräume. Ein Diskurs über städtischen Raum (Urban Studies). Bielfeld: Transcript
Häberlin, Udo (2020): Soziale Prozesse, urbane Sicherheit und Zukunftshoffnung. Difu-Impulse, 2020 Vielfalt und Sicherheit im Quartier – Konflikte, Vertrauen und sozialer Zusammenhalt in europäischen Städten
Häberlin Udo; Mückstein, Gerlinde, Peters, Nils; Stratil-Sauer, Gregor; Troger, Tobias; Wasserburger, Maria & Suitner, Johannes (2020): Fachpapier Stadtplanung 02 Covid-19 und die Wiener Stadtplanung. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008581.pdf
Häusermann, Hartmut & Siebel, Walter (1987): Neue Urbanität. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Berlin/Frankfurt/M./Wien: Ullstein
Madreiter, Thomas (2020): Stadt ist die Lösung, nicht das Problem!. In: Wiener Zeitung, 20.09.2020
Magistrat der Stadt Wien (2016): Do it Yourself – Stadtanleitung. Verfügbar unter: www.gbstern.at/fileadmin/redaktion/Presse_und_ Downloads/Downloads/PDF-Dokumente/DIY_Stadtanleitung_2016.pdf
Magistrat der Stadt Wien (2019): Smart City Wien – Rahmenstrategie 2019 – 2050; Die Wiener Strategie für eine nachhaltige Entwicklung; Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008551.pdf
Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung (2011): Perspektive Erdgeschoss. Werkstattbericht Nr. 121; Verfügbar unter www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008355.pdf
Reinprecht, Christoph (2010): Soziale Dynamik im Stadtraum. Ein Projekt am Institut für Soziologie, Universität Wien im Auftrag der Stadt Wien (MA18)
Schechtner, Katja (2020): Faire Gestaltung des öffentlichen Raums wird wichtiger. In: Stadt Wien, Stadtentwicklung und Stadtplanung (Magistratsabteilung 18): STEP 2025; Positionsbestimmung – der STEP 2025 aus heutiger Sicht; aktuelle Einblicke und Ausblicke, S. 67
Stadtentwicklung Wien (2016): Identität und Raum. Werkstattbericht 161 Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008481.pdf
Stadtentwicklung Wien (2018): Segregationstendenzen in Wien? Sozioökonomische Durchmischung 1981–2016. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008541.pdf
Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadt-planung (2020): Mittelpunkte des städtischen Lebens – Polyzentrales Wien, Fachkonzept
Stadt Wien – Integration und Diversität (2020): 5. Wiener Integrationsmonitor, S. 162 f
Stadt Wien (2020): Integrationsmonitor 2020. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/spezial/integrationsmonitor2020/oeffentlicher-raum-und-zusammenleben/potenzieller-nutzungsdruck

[Udo Häberlin studierte Stadt- und Raumplanung u. a. bei Detlef Ipsen, Ulla Terlinden und Lucius Burckhardt in Kassel. Er arbeitet bei der Stadt Wien, Abteilung Stadtplanung und -entwicklung im Themenfeld öffentlicher Raum und transdisziplinärer, urbaner Prozesse.
Mit einem empathisch-kreativen Zugang versucht er, Lebenslagen zu erfassen und holistisch die urbanen Lebenswelten zu verstehen.]

dérive, Do., 2021.03.25



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Udo W. Häberlin

Von New York lernen ist eine leicht lesbare, erfrischend unprätentiöse (Bilder-)Geschichte über New Yorker Plätze und Parks und ambitionierte AkteurInnen, die ihre Handschrift darin hinterließen. Die Beiträge von Susanne Lehmann-Reupert lesen sich wie ein unterhaltsames Tagebuch und beinhalten dennoch wertvolle Informationen für die Stadtentwicklung (-spolitik). Jahrzehntelange Vorurteile gegenüber Amerikanern und ihrer Global City mit der einstigen Wolkenkratzer-Ära habe ich beim Lesen dieses Buches revidiert! Wie kam’s?

Bekannt ist, dass Städte weltweit an Bevölkerung zunehmen und auch wenn New York nicht die größte Stadt ist, dürfte es kaum eine andere Metropole auf der Welt geben, »in der so viele Menschen aus unterschiedlichen Einkommensklassen, Nationen, Religionen, Kulturen und Sprachen so friedlich nebeneinander leben und sich ständig in dem von allen genutzten öffentlichen Raum begegnen«. Gleichzeitig wird in den urbanen Agglomerationen ein Großteil der erzeugten Energie verbraucht. Die internationale Energieagentur warnt vor einem neuerlichen Ansteigen des fossilen Brennstoffverbrauchs und verlangt deutliche Maßnahmen, um Klimawandel und Erderwärmung einzudämmen. »Doch ist dies auch schon bei uns Bürgern angekommen?«, fragt die Autorin und meint: »In NY habe ich erfahren, dass eine Stadt aber nicht nur das soziale Verhalten ihrer BewohnerInnen, sondern auch deren nachhaltiges Handeln zu beeinflussen vermag.« Dazu passend zitiert sie Jan Gehl: »Erst formen wir die Städte, dann formen sie uns.«

Warum New York 2012 die Auszeichnung, die nachhaltigste Stadt der Welt zu sein, erhalten hatte, wird mit der Lektüre anschaulich erläutert. Die Stadt an der Ostküste der Vereinigten Staaten wird als Vorbild einer nachhaltigen Stadtentwicklung und als beispielhafte Bottom-up-Bewegung durch bürgerschaftliches Engagement dargestellt. Denn ausgerechnet New York möbliert die Straßenschluchten gemütlich mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm. Und ausgerechnet hier (und nach Rudolph Giuliani) funktioniert eine Strategie der Rückbesinnung auf zivilgesellschaftliches Engagement?

Klar, mit 15.000 BewohnerInnen pro Quadratkilometer ist die größte Stadt der USA prädestiniert für urbanes Leben. »Die große Dichte fordert permanente Bereitschaft zum Wandel, zur Umgewöhnung und Neuorientierung.« Doch erst Bürgermeister Bloomberg wagte 127 neue Schritte zur Lebensqualität, die im ehrgeizigen Leitbild plaNYC beschlossen wurden. Die Autorin nennt sieben konkrete Ansätze für eine nachhaltige Stadtentwicklung einer wachsenden Stadt: Darunter die Qualifizierung des öffentlichen Raums, ein schlüssiges Mobilitätskonzept, insbesondere kurze Wege, d.h. Siedlungsstrukturen mit Funktionsmischung, die auch lokale Nahrungsmittelproduktion integriert, Energieeffizienz und die Einbeziehung bürgerschaftlichen Engagements. Damit wird die lebenswichtige Verbindung zur Natur wieder hergestellt bzw. werden Ökokreisläufe mit Urbanität verknüpft.

Umgesetzt sind bereits eine City-Maut, die Umstellung der Taxis auf Hybrid-Antrieb, die Vervierfachung vorbildlicher Fahrradwege, neue Grün- und Verweilräume und begrünte Dächer. Diese Maßnahmen dokumentieren einen smarten Gesellschaftswandel. Denn es entstanden Initiativen, die den öffentlichen Raum als »wichtigsten Bestandteil des urbanen Alltags« in der Millionenmetropole grüner und gemeinschaftlicher gestalten.

Die Autorin berichtet von ihren Streif-zügen, etwa über den Brooklyn Bridge Park nach Red Hook und vom High Line Park, der durch die Umnutzung der 2,3 Kilometer langen ehemaligen Hochbahntrasse (nach Pariser Vorbild) entstand, und von weiteren aufsehenerregenden Veränderungen im öffentlichen Raum. Sie entdeckt neue Erholungsflächen an Hudson und East River oder anderswo Pocket Parks, Gemeinschaftsgärten und Stadtfarmen, zum Teil auf Dächern. Diese zeugen von sichtbaren Qualitätsverbesserungen.

Lehmann-Reupert macht Lust auf Umgestaltungen und schürt die Hoffnungen für Urban Farming und »sustainable Streets«. Doch sie stellt ebenso soziale Pioniere und engagierte ExpertInnen wie Janette Sadik-Khan vor, die Leiterin der Verkehrsabteilung. Diese treibt die rasante Einrichtung von bisher 450 km Fahrrad-routen ebenso voran, wie den Rückbau von Straßen – selbst am Broadway entstanden breitere Gehwege für Stühle und Tische und Pflanzkübel. Außerdem wird beispielsweise Liz Christy präsentiert, die der Gemeinschaftsgarten-Bewegung Vorschub leistete.

Und scheinbar nebenbei legt die Autorin mustergültige Grundsätze einer nachhaltigen Stadtentwicklung dar, wie die Begrünung von Flachdächern für die Nahrungsmittelproduktion in der Stadt. Den Schlüssel für diese Erfolge sieht Lehmann- Reupert im Zusammenspiel zweier Kräfte: »zum einen die mit einer übergreifenden Entwicklungsstrategie ausgerüsteten Entscheidungsträger der New Yorker Stadtverwaltung, zum anderen die Bürgerinitiativen.« Dieses Zusammenwirken von öffentlicher Hand und privaten Initiativen wird anhand der Entwicklungsprozesse vorgestellt. Deren Ergebnisse nützt die Autorin, um zur Nachahmung aufzurufen und ein motivierendes Plädoyer für Nachhaltigkeit und Eigeninitiative zu halten: »If I can make it there, I’ll make it anywhere!« So zeitgemäß und aufregend alternativ kann New York sein.

Spätestens mit der Vermehrung (und kreativen Ersteigerung) von Parks wie im Fall des »Clinton Community Garden« schwanken die Fundamente der Logik einer einst autogerechten Stadt, und das Ziel Michael Bloombergs – jede New Yorkerin, jeder New Yorker soll künftig nicht mehr als zehn Gehminuten von einem Park entfernt wohnen – rückt in vorstellbare Nähe. Jetzt müsste es New York nur mehr schaffen die Gentrifizierung zu stoppen, günstige Wohnungen zu errichten und die Überwachung und Kontrolle seiner vor allem afro- und hispanoamerikanischen BürgerInnen zurückzuschrauben. Bloombergs Nachfolger, Bill De Blasio, hat diese Vorhaben zumindest im Wahlkampf angekündigt.


Susanne Lehmann-Reupert
Von New York lernen
Mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm
Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2013
192 Seiten, 16,80 Euro

dérive, Mi., 2014.07.23



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dérive 56 Smart Cities

06. Mai 2013Udo Häberlin
dérive

Einladende Orte für soziale Aktivitäten - Wie öffentliche Räume entstehen...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des dänischen Architekten und Stadtplaners Jan Gehl ist die sensible Begründung der „belebenden“ Funktionsweisen durch Aktivitäten in öffentlichen Räumen. Diese Aktivitäten sind auf drei aufeinander aufbauenden Ebenen bedeutsam. Die anspruchslosesten sind die notwendigen Aktivitäten. Darauf folgen die freiwilligen, doch erst die nächste Ebene der sozialen Aktivitäten stellt die Herausforderung dar. Diese funktionale Bedeutung ist fundamentale Voraussetzung und ein Grundprinzip für lebendige Straßen und Plätze. Es müssen nicht Häuser, sondern Menschen und Ereignisse versammelt werden, um belebte Treffpunkte beziehungsweise eine urbane Stadt zu erhalten. Der Wirkungsmechanismus „Es passiert nichts, weil nichts passiert“ ist ein gestaltbarer Prozess. Hierbei ist die Dauer der Aufenthalte der relevanteste Indikator für das tatsächliche Aktivitätsniveau.

Vorausschauend sollte die Planung in allen Maßstabsebenen für ein reibungsloses Funktionieren von Stadt sorgen. Ziel sind einladende Orte; ob über einen integrationsorientierten Bauleitplan oder der Aufwertung von Mikrofreiräumen mit höherem Identifikationswert – es gibt viele planerische Wege. Basis ist ein möglichst kompaktes System öffentlicher Räume, damit die Distanzen für FußgängerInnen und Sinneswahrnehmungen so kurz wie möglich sind. Dazu setzt sich der Jan Gehl mit den Begrenzungen der menschlichen Fortbewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit auseinander. Beispielsweise analysiert er die Situation von PassantInnen, deren Austauschzonen mit AutoinsassInnen durch fragmentarische Begegnungen zu klein sind. Menschen, die bereits auf der Straße unterwegs sind, können nicht am Straßenleben teilnehmen, da es an ihnen vorbeifährt. In zeitgemäßen Siedlungen werden Sammelparkplätze in 100-200 m Entfernung zu den Wohnungen angelegt, um öffentliche Räume zu beleben. Da mehr Menschen unterwegs sind, werden die Straßen unterhaltsamer und der gegenseitige Schutz höher.

Es gilt die grundlegenden psychologisch wirksamen Elemente der Planung und Gestaltung zu erkennen. Im Zuge dessen behandelt Gehl die Dichotomie öffnen oder abschotten. Es geht um den Kontakt zwischen dem, was in öffentlichen Räumen passiert, und dem, was in angrenzenden Gebäuden vor sich geht. Hierbei ist der Erfahrungsaustausch nicht nur eine Frage von Distanzen, sondern auch von Fenstern und Gardinen. Beispielsweise lässt sich architektonisch zwischen einer wie auch immer designten Fassade oder einer interessanten Werkstatt, belebten Sporthalle, einem Kindergarten und anderem unterscheiden, wenn das Innenleben von Gebäuden durch Transparenz visuell zugänglich wird. Gegenbeispiele sind Einkaufszentren, die dem Umfeld die Funktionen von öffentlichen Räumen streitig machen und sich nach außen abschotten.

Auch die Gegenpole integrieren oder ausgrenzen, einladen oder abweisen sollen die Basis für umsichtiges und bewusstes Planen erklären. Unter versammeln oder zerstreuen wird ebenso die Platzierung der Gebäude wie auch die Ausrichtung von Zugängen auf Transit- und Aufenthaltsräume erforscht. Das Buch versucht anhand der Räume zwischen den Gebäuden aufzuzeigen, dass die Organisation von Stadt(leben) bereits von der Standortpolitik von Schulen (oder passiven Elementen wie Büros) abhängt. Die Frage der Erschließung hin zu öffentlichen Räumen durch die Verortung von Zugängen (Haustüren) sowie deren Erzeugung von Gehlinien oder der Motivation zum Gehen wie Sichtbeziehungen baut darauf auf. Selbst auf die subjektiv erlebten Wege für FußgängerInnen geht das Kapitel ein. Auch ihre Entfernung und Breite sowie Frequenz sind sensibel zu dimensionieren. Akzeptable Entfernungen (ca. 400-500 m) sind ein Zusammenspiel von Länge und Qualität unter Berücksichtigung von Schutz und Stimulation. Für Kinder und Alte ist die Geschwindigkeit geringer, somit ist die individuell erlebte Länge der Strecke höher. Es könnte der Eindruck von langweiligen Orten oder gar unangenehmen (Angst-)Räumen hervorgerufen werden. Diese existiert beispielsweise, wenn Parkplätze große Löcher und Leerräume in der Stadtfläche darstellen. Ebenso ist für den zwischenmenschlichen Kontakt ein Übergang von der privaten Umgebung (Vorgarten, Loggia) zu öffentlichen Räumen wichtig. In einem Wohngebiet kann alleine ein Autoabstellplatz vor der Haustüre diesen Kontakt zum Gehsteig behindern. Gehen, Sitzen und Stehen werden ebenso erforscht wie psychologische Effekte des Sozialraums und Empfehlungen für mehr Verweil- und Lebensqualität.

Wichtig ist die Summe der gesamten auf der Straße verbrachten Zeit, wie in der Sonne Ausrasten, Herumspazieren und Spielen. Hingegen weist Gehl (für Wohngebiete) nach, dass die Teilnahme am Leben im öffentlichen Raum nicht durch das notwendige häufige Kommen und Gehen bestimmt wird, sondern durch die freiwilligen, spontanen und oft improvisierten Freizeitaktivitäten.

Grundsätzlich erhöht die Nutzungsquantität die Qualität öffentlicher Räume. Das verbesserte Raumgefühl lädt auch andere ein, hinaus zu gehen. In öffentlichen Räumen werden zum Teil Bedürfnisse nach Kontakt, Wissen und Anregung befriedigt. So können auch an und für sich unschöne zu angenehmen Orten werden. Wenn Details stimmen und die Räume zum zu Fuß gehen oder Verweilen einladen und die Zahl der physischen, psychologischen und sozialen Nachteile auf ein Minimum reduziert ist, lässt sich der Sprung von den notwendigen hin zu den entscheidenden freiwilligen Aktivitäten schaffen. Weitere Details sind Attraktivität, das Mikroklima und die Ästhetik und zusammenfassend solche, die die (belebende) Funktion unterstützen.

Für mich ist Leben zwischen den Häusern, das nicht ohne Grund in 50 Sprachen übersetzt worden ist, 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch immer für eine wertvolle Fachfibel für alle PlanerInnen, Einkaufsstraßenvereine sowie GemeinwesenarbeiterInnen. In der Neuauflage wären Ergänzungen etwa zu neuen Rahmenbedingungen, z. B. durch die Technisierung der Lebenswelt, wünschenswert gewesen. Mobiltelefone haben nicht nur Kommunikationsformen verändert, sondern zeigen, dass neue Herausforderungen im öffentlichen Raum existieren. Rückzug in Medienwelten oder Abschottungstendenzen (Kopfhörer) halten UserInnen vom direkten Gemeinschaftsleben fern. Andererseits bieten WLAN-Zonen neue Anlässe, Zeit an der frischen Luft und im öffentlichen Raum zu verbringen.

Diese Kritik gilt nicht dem Autor, sondern einer Stadtforschung, die den Sozialraum noch viel zu wenig anwendungsorientiert ergründet hat. Über gelungene Planung durch gute Raum-Zeit-Verhältnisse, inspirierende, attraktive Verweilqualitäten oder einzelne Interessen am urbanen, städtischen Leben wissen wir noch recht wenig.

Umbaumaßnahmen sollten uns Anlass genug sein, um mit Hilfe von Sozialraumanalysen bestehende Funktionsweisen zu ergründen und durch Neuplanungen Stadträume wie z. B. den Wiener Schwedenplatz zu verbessern.


Jan Gehl
Leben zwischen den Häusern
Berlin: Jovis, 2012
199 S., 28,- Euro

dérive, Mo., 2013.05.06



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Presseschau 12

25. März 2021Udo Häberlin
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Öffentliche Räume als Plattform einer solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientierung?

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind...

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind...

Chancen und Gelegenheiten, Intensität und menschlicher Austausch, Erleben von großen Gemeinschaften, aber auch das gemeinsame Bewältigen von Krisen sind Elemente der aufgeklärten Stadtgesellschaft und ihres kollektiven Bewusstseins. Angesichts der Bemühungen um Smart-City-Konzepte wird deutlich, dass die gesellschaftliche Dimension der Städte im Vergleich dazu bisher vernachlässigt wurde. Wien ist eine besonders attraktive Stadt, doch auch hier ist der Fokus auf die soziale Lebenswelt der Menschen nicht selbstverständlich. Das, obwohl in Publikationen der Stadt Wien »die leistbare Stadt als rote[r] Faden der Stadtentwicklung« gesehen wird (STEP 2025, S. 27). Auch die solidarische Stadt wird seit über 100 Jahren immer wieder prominent postuliert. Mit Vorhaben wie »niemanden zurücklassen – in Stadteile investieren« oder »sozialer Durchmischung« strebt die Stadt Wien dieses Ziel an (ebd., S. 30–31). Die ausdifferenzierten Realitäten bleiben bei solchen am anvisierten Durchschnitt orientierten Ansätzen unerwähnt und sind nicht kohärent implementiert.

Neue Ansprüche der Bürger*innengesellschaft und die Bedeutung der Demokratie

Wien als wichtigster Bildungsstandort im deutschsprachigen Raum mit rund 190.000 Studierenden besitzt 20 Universitäten und Hochschulen sowie viele betriebliche Ausbildungsstätten. Diese sind ein Garant für stetigen Zuzug und gleichzeitig eine Ursache für die Verjüngung der Bevölkerung und ein Ausgleich zur immer größer werdenden Gruppe (sehr) alter Bewohner:innen. Damit ist die Stadt auf dem Weg zu einer hoch gebildeten Bürger*innengesellschaft. Historische Entwicklungen im öffentlichen Raum der ehemaligen Residenzstadt sowie im Umgang mit ihm (Untertanengeist) waren für die Bevölkerung Wiens über sechs Jahrhunderte bestimmend. Dieser Bewusstseinslage folgt eine Betrachtungsweise von Stadträumen – vom repräsentativen Heldenplatz bis hin zu charakteristischen Märkten – oder auch der Identifikation mit dem Platz vor der eigenen Haustüre, die für die Haltung der Menschen prägend war und zum Teil noch ist. Auch die Mentalität im Roten Wien sowie die Politik der sozialen Fürsorge bedeuteten kaum einen Bruch.

Seit den Hausbesetzungen und Protesten für Kulturräume der Generationen ab den 1970er-Jahren werden bis heute (basis-)demokratische Ansprüche artikuliert, werden mehr Teilhabechancen am und im öffentlichen Raum öfter konkret eingefordert. Im Sinne einer deliberativen Demokratie reagiert auch die Stadtpolitik und -verwaltung mit mehr öffentlichen Foren, Beratung sowie Teilhabemöglichkeiten für Bürger:innen in Entscheidungsprozessen und teilweise auch bei Bezirksbudgets. Beispiele anderer Städte zeigen, dass diese bereits Aktionsfonds zur Förderung von Aktivitäten sowie zur Unterstützung des ehrenamtlichen und nachbarschaftlichen Engagements gegründet oder Quartiersräte eingesetzt haben. Öffentliche Räume repräsentieren wie Schaufenster in Gebäuden die Offenheit einer Stadt und besitzen Interaktions- und Kommunikationsfunktionen für die unterschiedlichen Teile der Gesellschaft. Sie sind der Ort, an dem sich Menschen zufällig begegnen. Damit sie belebt sind, brauchen sie Qualitäten, die Menschen bereichernd und attraktiv finden. Doch die Nutzungsbedürfnisse werden nicht für alle Menschen gleichberechtigt gewichtet. Nicht nur ökonomische Mechanismen verhindern die Aneignung von Freiräumen, auch fehlende soziale Kompetenzen, die rechtliche Stellung oder zu leise Stimmen wirken hier. Daher sind Gleichstellung, Aufklärung und bildungspolitische Maßnahmen[1] wichtig, um die Wahrung und Entwicklung des öffentlichen Raums als Ort des Gemeinwohls, der zwischenmenschlichen Begegnung, des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft zu stärken. Um den künftigen Anforderungen einer individualistischen, aber demokratischen Gesellschaft gerecht zu werden, sollten Freiräume so weit wie möglich als entwicklungsoffene Lebenswelt einer neuen Urbanität umgebaut werden (Häusermann & Siebel 1987). Da öffentliche Räume auch als Bühne dienen, können kreative Ideengeber:innen als Unterstützer:innen einer offenen und friedlichen Gesellschaft gesehen werden. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist die Inklusionskraft dieser Gemeinschaftsorte für die urbane Ambivalenz, die zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz in öffentlichen Räumen Spannung erzeugt. Besonders bei Konflikten und deren Aushandlungen wird sich bei künftigen Generationen zeigen, wie sehr urbane Kompetenz und soziales Kapital durch (politische) Bildung und eine Weiterentwicklung der demokratischen Positionen erhöht werden konnten.

Teilhabe und Lebenschancen der Wiener:innen

Auch in Wien sind eine weltweite Polarisierung und rasante Veränderungen durch die zunehmende Ökonomisierung der Gesellschaft spürbar. Die positiven Entwicklungen durch Freiheiten und die Renaissance der Städte können die steigende soziale Ungleichheit und Spannungen jedoch nicht überdecken. Nicht alle dieser Entwicklungen sind überall gleichermaßen 
zu erleben, die Lebenswelten in einer Stadt verändern sich ungleich dynamisch. Das Monitoring von kleinräumiger Heterogenität und Segregationstendenzen (Stadtentwicklung Wien 2018) zeigt die Gefahr der Verbreitung von abgehängten Gebieten auf.

Ein wesentlicher, jedoch fragiler Faktor ist die qualitätsvolle Dichte. Die großflächigen Areale der Wiener Gründerzeit[2] sind hierbei markant. Was als Stadtstruktur zunächst uniformiert aussieht, erweist sich bei konkreter Betrachtung des Sozialraums als von kurzen Wegen geprägt, teilweise jedoch ohne ausreichende (grüne) Freiräume. Die kompakte Stadtstruktur besteht aus einem Kaleidoskop unterschiedlicher Baublöcke, aus verschiedenen Wohnformen, Kleingewerbe, Büros, Praxen und vielem mehr. Vom Erdgeschoss bis zum Dachgeschoss ergibt sich oft eine vertikale Durchmischung. Dabei ist die gewachsene und stetig adaptierte Struktur ein flexibler physischer Baustein, der auch für die Zukunft mehr Resilienz und systemische Stabilität ermöglicht.

Nachteile wie schlechte Luft oder fehlende Infrastrukturen, wie beispielsweise Freiräume, betreffen schon alleine aufgrund der hohen Zahl der Bewohnerschaft viele Menschen in diesen Stadtquartieren. Studien zu sozialen Veränderungen sowie der Lebensqualität in unterschiedlichen Vierteln, die Themen wie innerstädtische sozialräumliche Peripherisierung, Quartiere als Integrationsmaschine, Fragmentierungsprozesse, Inselurbanismus oder sozialräumliche Verwerfungen untersuchen (Reinprecht et al. 2010), zeigen die Unterschiede in der Zufriedenheit hinsichtlich verschiedener Lebensbereiche und dichter Stadträume. Eine umfassende aktuelle Analyse aus diesem Datensatz zur Wahrnehmung von Lebenslagen, Orientierungsverlust, sozialen Unsicherheiten wie Abstiegsängsten ist in Vielfalt und Sicherheit im Quartier (Häberlin & Kopetzky 2015; Häberlin 2020) beschrieben. Hinzu kommt der demografische Wandel: in ganz Europa weist die immer größere Zahl alter Menschen neben einer höheren körperlichen Verletzlichkeit auch eine höhere Risikosensibilität auf.

Schrieb Heinz Bude 2014 noch, »die Zeiten in denen die individuelle Tüchtigkeit und gemeinschaftliche Bindung in der Mentalität der Mitte zusammengehören, sind offensichtlich vorbei« (S. 73), registriert man in Zeiten der Covid-Pandemie erstaunt eine doch vorhandene Solidarität und anerkennt die Leistung von Menschen in den sogenannten systemrelevanten Berufen. Die Frage nach der Systemrelevanz von Leistungen für das Gemeinwesen der Gesellschaft oder für das (gesunde) Leben des Einzelnen hatte durch einen reibungslosen Verlauf im Wohlfahrtsstaat keine Grundlage.

Orientierungsverlust und Konkurrenzdruck dürften sich nach der Covid-Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen noch verstärken. Menschen projizieren Ängste der Schutzlosigkeit auf den öffentlichen Raum. So finden oft Zuschreibungen bezüglich Gefährlichkeit und Risiko statt, deren Gültigkeit kaum überprüft wird. Diffuse Projektionen bleiben oft als leichtfertig gezeichnete Bilder und Verbindungen in den Köpfen zahlreicher Menschen hängen und werden selten revidiert oder korrigiert (vgl. Baumann 2016).

Quartiersentwicklung ist physisch und sozial nötig

Eine explizite Quartiersentwicklung gibt es in Wien nicht. Einer der Wiener Planungsgrundsätze ist, die Stadtviertel lebenswert zu gestalten und kompakt weiter zu entwickeln.[3] Das Fachkonzept Mittelpunkte des städtischen Lebens – Polyzentrales Wien (Stadtentwicklung Wien 2020) will jedoch städtische Zentren als attraktive Orte in der Stadt fördern. So sollen sich Orte der Vielfalt von Funktionen, Versorgungs- und Konsumangeboten, von Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten, Orte der Orientierung, der Kultur und der städtischen Identität neu entwickeln sowie vorhandene städtische Zentren gestärkt werden. Zusätzlich gibt es von den Gebietsbetreuungen zahlreiche Bestrebungen, lokale Netzwerke zu schaffen und eine Quartiersidentität auch bei benachteiligten Gruppen zu fördern.[4] Denn sozialräumliche Disparitäten führten in der Stadt zu gebietsbezogener Politik in der Quartierserneuerung sowie zu einer Neuformulierung der Integrationsarbeit durch mehr Empowerment und Partizipation. »Stadtforscher:innen (…) zeigten, dass eher die soziale Lage als die ethnische Zugehörigkeit für die Positionierung der Menschen in der Stadt und Stadtgesellschaft bedeutend waren (Reimann 2018; Roth & Gesemann 2018) und dass sich ›hybride Identitäten‹ mit vielfältigen Lebensentwürfen herausgebildet hatten«, so Hillemann (2020) zur Erforschung der kosmopolitischen und offenen Stadt. Vor dem Hintergrund, dass das unmittelbare Wohnumfeld mit der langsamen Auflösung anderer sozialer Zugehörigkeiten – z. B. Familien, Glaubensgemeinschaften oder Parteien – wieder an Bedeutung gewinnt, besteht hier auch für die Stadtplanung und -entwicklung ein wichtiges Interventionsmoment. Mit einem Bedeutungsgewinn des Quartiers wird auch die Lebensqualität, die im eigenen Wohnumfeld erfahren wird, wichtig und damit auch die Vertrautheit in diesem Sozialraum als ein Aspekt von Wohlbefinden und Lebensqualität. Ein vertrautes Umfeld bietet gute Voraussetzungen zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und Gemeinschaftsempfindens. Dies kann die Verbundenheit mit dem Quartier erhöhen sowie soziale Prozesse wie ein Miteinander fördern (vgl. Stadtentwicklung wien 2016). Als Basis für Nachbarschaften kann die Auseinandersetzung mit Fragen der Vertrautheit in vielfältig gemischten Quartieren bedeutungsvoll sein. Soziales Vertrauen kann sich im Quartier erhöhen und sogar das Sicherheitsempfinden vor Ort zu verbessern. (DIfU-Impulse 2020). Das kann dem Auseinanderdriften der Wahrnehmungen und einer gespaltenen Gesellschaft entgegenwirken.

Wie lassen sich städtische Lebenswelten – Quartiere und Wohnumfeld – stärken?

Die städtische Lebenswelt setzt sich aus den Ebenen der Quartiere, des Maßstabs des Wohnumfelds und der individuellen Aktionsradien zusammen. Für die Wiener Lebensqualitätsstudien werden die Menschen gezielt nach der Zufriedenheit mit dem Wohngebiet, beispielsweise dem öffentlichen Freiraum und der Nähe zu Grünanlagen gefragt. Dabei gibt es interessante Unterschiede auf kleinteiliger Stadtteilebene sowie bei unterschiedlichen Menschen und deren Erwartungshaltung. Die große Mehrheit der Wiener Bevölkerung ist mit der Nähe zu Grünanlagen zufrieden, außer in einigen dichter bebauten Gebieten. Weniger große Unterschiede in der Zufriedenheit gibt es hinsichtlich der Plätze und anderer öffentlicher Freiräume; rund 78 Prozent der Wiener:innen sind mit den öffentlichen Freiräumen in ihrem Wohngebiet zufrieden. Trotz der hohen Zufriedenheit stehen der Wunsch nach mehr Grünflächen und nach »angenehmeren Plätze und anderen öffentlichen Freiräumen« ganz oben auf der Liste zur Frage nach Maßnahmen für die Verbesserung der Lebensqualität im Wohngebiet. Auch hier sind die lokalen Unterschiede interessant (siehe Tabelle auf S. 50).

Was ist zu tun, wo es nicht gut funktioniert: Benachteiligte Quartiere?

Wien besitzt eine dichte Siedlungsstruktur. Im Durchschnitt leben 4.502 Menschen auf einem Quadratkilometer. Die Bevölkerungsdichte in (ehemaligen) Arbeiterinnen*bezirken ist rund fünf Mal so hoch. In solchen Stadtteilen kann sich die Bevölkerung oft weniger leisten, beispielsweise in der Lebenshaltung, im Wohnkomfort oder in der Freizeitgestaltung. Es lohnt daher, die Lebensverhältnisse benachteiligter Gruppen (größere Familien, Haushaltsformen, Alterskohorten) unter und über dem jeweiligen städtischen Durchschnitt zu analysieren. Auch Differenzen zwischen Eigentumswohnungen, privatem Wohnungsmarkt und sozial geförderten Mietwohnungen sind zu erkennen. Neben der Wohnlage ist natürlich die Wohnungsgröße für die Lebensqualität relevant. 6 Prozent der Befragten der repräsentativen Umfrage[5] in Wien leben in einer Wohnung mit nur einem Raum, 24 Prozent haben zwei Wohnräume, 35 Prozent leben in Wohnungen mit drei Räumen. Die restlichen 21 Prozent haben vier oder mehr Wohnräume (vgl. Häberlin 2020). Die Ungleichheit spiegelt sich in den Wohnungsgrößen, den Wohnkosten, der Wohnungsausstattung und dem Zugang zu privatem Freiraum wider. Hier zeigt sich, dass insbesondere in benachteiligten Quartieren im Verhältnis mehr Miete für geringen Wohnraum gezahlt werden muss. Angesichts der Lebensrealitäten und des Alltags in solch dichten Lebensverhältnissen wird klar, dass öffentliche Freiräume hier einiges kompensieren müssen und das auf eine differenzierte Art und Weise, denn Kinder und Jugendliche sowie alte und arbeitslose Menschen haben nochmals speziellere Bedürfnisse für ihre Freizeit und Erholung. Hinzu kommt, dass in den meisten dicht besiedelten Arbeiter*innenquartieren[6] auch die Freiraumversorgung knapp und somit äußerst kostbar ist. Denn größere Grünräume oder Freizeitareale versorgen die Stadt nicht gleichmäßig gut. De facto besteht ein Großteil des öffentlichen Raums im dicht bebauten Siedlungsgebiet aus Straßen, deren Raum zu einem hohen Anteil für Privatautos verwendet wird, die dort fast 23 Stunden pro Tag ohne Nutzung abgestellt werden (Häberlin 2017). Im Gegensatz zu den Bundesländern sinkt der Motorisierungsgrad in Wien seit etlichen Jahren, was hoffen lässt, »dass wir in Zukunft auch mehr Möglichkeiten haben, den öffentlichen Raum anderweitig zu nutzen« (Madreiter 2020).

Manche sehen den öffentlichen Raum als Wohnzimmer der Stadt. Bei einer nüchternen Betrachtung ist jedoch leider der überwiegende Teil der öffentlichen Flächen doch eher Garage – also eher private (Keller-)Nutzung. Die Straßen werden jedoch ebenso für das Gemeinwesen, das Leben für alle gebraucht. Denn »die Straßen und Bürgersteige sind die wichtigsten Orte einer Stadt, sind ihre lebenskräftigsten Organe.« Also: »wenn die Straßen einer Großstadt uninteressant sind, ist die ganze Stadt uninteressant; wenn sie langweilig sind, ist die ganze Stadt langweilig« (Jacobs 1961, S. 27). Daher müssen soziale Funktionen wieder gleichberechtigt Platz finden. Viele Straßen bieten das Potenzial, das Gemeinwesen zu stärken, indem die Verweilqualität ausgebaut wird und sich damit die Nutzbarkeit für alle erhöht (Gehl 2013). Eine »[f]aire Gestaltung des öffentlichen Raums wird wichtiger«, benötigt werden »geeignete Rahmenbedingungen und eine gezielte Steuerung dieser Entwicklung durch die Stadt« (Schechtner 2020, S. 67). Dazu gilt es, in benachteiligten Quartieren sowie in sämtlichen dicht bevölkerten Wohnquartieren die Ansätze der Freiraumgerechtigkeit zu verbessern und eine fair geteilte Straße für alle Gruppen zu ermöglichen. 67 Prozent des Raums stehen hier den Autos zur Verfügung, obwohl diese nur 27 Prozent der Mobilität ausmachen.

73 Prozent der Wege werden in Wien mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder zu Fuß bewältigt (Stadtentwicklung Wien 2016). Die Raumverteilung von privaten PKWs ist demnach nicht nur eine Frage des Mobilitätskomforts einiger Menschen, sondern der Urbanität und Lebensqualität aller. Die Umgestaltung von Straßenräumen ist auch »im Sinne einer klimaresilienten Stadt – d. h. mehr Grün und Bäume, mehr Wasserelemente, mehr Beschattung 
für mehr Aufenthaltsqualität für die Weiterentwicklung des Straßenraums zu einem Aufenthaltsraum für alle«. 
(STEP 2025; 2020, S. 67)

Bedeutung der öffentlichen Räume für die Verbesserung der Lebensqualität

Die Bezirke Neubau und Margareten entwickelten in den letzten Jahren viele Verbesserungen zur Begrünung und Nutzbarmachung von öffentlichen Räumen. Altruistisch wird dabei der Aufheizung von dicht bebauten Stadtteilen ohne wesentliche Grünräume begegnet. Im Sinne der Stadtklimaanalyse werden Begrünungsmaßnahmen, Verdunstungsflächen und mehr Schatten geschaffen. Auch die Möglichkeit einer Entsiegelung wird immer öfter geprüft und führte zu einem der ersten Coolen Parks in Wien. Auch Luftströme für die bessere Durchlüftung werden vor allem angesichts der nächtlichen Abkühlung berücksichtigt. Das neue Leitbild der temperatursenkenden Maßnahmen, Investitionen in das Gewässermanagement und urbane Begrünungen (blaue und grüne Infrastruktur) sind im Hinblick auf die Klimakrise wesentlich, um das Leben in der dichten Stadt und auch künftig den Aufenthalt im öffentlichen Raum zu ermöglichen und die Urbanität weiterhin gesund zu erleben.

Die öffentlichen Räume zählen zu den direktesten kommunalen Handlungsfeldern zur Verbesserung der Lebensqualität. Zum einen hat die Stadtverwaltung und Politik die unmittelbare Gestaltungsmacht und zum anderen ist dies der Ort, an dem alle Gruppen einer Stadt partizipieren.

Bedeutung der öffentlichen Räume für Sozialkontakte und das Zusammenleben

Öffentliche Räume sind Orte der Begegnung mit dem Fremden, Orte des selbstbestimmten Austauschs und Experimentierfeld der Gesellschaft. Diese kulturellen und sozialen Funktionen sind wesentlich für die Bildung von speziellen Lebensstilen und urbane Kompetenzen. Da diese Funktionen in der Phase der flächenintensiven Autoorientierung der Städte verdrängt wurden, soll mit jeder größeren Baumaßnahme geprüft und verhandelt werden, ob die öffentlichen Räume diese Funktionen, etwa als Begegnungszonen sukzessive zurückbekommen können. Die Corona-Pandemie hat diese Notwendigkeit noch einmal verstärkt gezeigt. Beim künftigen Umbau der Stadtstruktur und der Transformation des Sozialraums gilt es, die Bedürfnisse der Menschen noch stärker einzubeziehen.

Ältere Menschen, Pensionist:innen[7] oder Personen mit höheren Einkommen äußern sich über ihre Sozialkontakte häufig zufrieden. Seltener zufrieden sind hingegen Frauen bis 29 Jahre ohne Matura, Männer zwischen 30 und 45 ohne Matura, Menschen unter 60 Jahre in Einzelhaushalten, Männer unter 60 Jahre, Personen in Untermiete, Arbeitslose und Menschen mit geringen Einkommen. Für Letztere besteht also ein Bedarf an Möglichkeiten zur persönlichen Begegnung im öffentlichen Raum, auch um Tendenzen zur Vereinsamung entgegenzuwirken. Eine Verbesserung kultureller und sozialer Angebote zur organisierten Begegnung im Quartier ermöglicht es, diesem Bedarf entgegenzukommen.
Will man die Nachbarschaft und die zufällige Begegnung fördern, sind einladende öffentliche Freiräume ein wichtiger Schlüssel. Die Zugänglichkeit der Freiräume und die Teilhabe an Aktivitäten in diesen sollte die Vielfalt der Bewohner:innen, die Diversität der Gesellschaft repräsentieren. Eine resiliente Stadt setzt kooperative und kommunikative Offenheit bei Verbesserungen oder einer Konfliktbewältigung voraus. Hierzu sind (sprach-)barrierefreie Methoden der Mitsprache und Partizipation wichtig. Die Vorteile an mehr Teilhabe am und im öffentlichen Raum sind evident: Er kann nachhaltig und effizient genutzt werden, kann zukunftsfähig für alle Lebensformen oder -stile entwickelt werden, und so schließlich einer breiten Akzeptanz gerecht werden. Die Erwartungen der Menschen lassen sich im lokalen Umfeld hinsichtlich der Möglichkeitsräume und der Modelle menschlichen Zusammenlebens am besten verdeutlichen. Um die Bürger:innen tatsächlich stärker in den Mittelpunkt zu stellen, helfen im Rahmen von Beteiligungsverfahren Icons mit grafischen Symbolen, um die jeweiligen Nutzungsbedürfnisse in einem Raum zu visualisieren. Die Wünsche lassen sich damit besser artikulieren und niederschwellig ohne (sprachliche) Zugangsbarrieren in Partizipationsprozesse einbringen.

Hochwertige Freiraumgestaltung zur Förderung partizipativer Quartiersentwicklung und urbaner Vielfalt

Verfügbarkeit und selbstbestimmter Gebrauch von Raum sind heute ein wichtiges Qualitätskriterium für die urbane Gesellschaft. Dies schließt auch das Selbermachen und Stadtentwicklung von unten ein, was zur Mehrfachnutzung für die vielfältigen Gruppen der Stadtgesellschaft beiträgt. Damit mehr Spielräume geöffnet werden, sind Stadtlabore (futurelabs) geeignete Initiativen dafür, gewohnte Denkmuster zu hinterfragen und ein what if zu erforschen. Das lenkt die Perspektive darauf, was lokale Raumverbundenheit bei den einzelnen Teilhabenden der Stadtgesellschaft schafft: eigene Möglichkeiten der Einflussnahme, demokratische Mitsprache sowie lokale Verbundenheit. Sie sind Voraussetzung und Ergebnis einer gelingenden Nachbarschaft und für soziales Vertrauen. Auch in benachteiligten Quartieren können sie zur Förderung der subjektiven Lebensqualität vor Ort beitragen. Wichtig ist, dass den jeweiligen konkreten lokalen Ansprüchen nicht mit Patentrezepten begegnet wird. Dabei besteht das Geheimnis lediglich in der passenden Transformation von (fachlich) bekannten Lösungen.

Im Rahmen dieser neuen Möglichkeiten der Teilhabe können sich lokale Netzwerke sowie eine Identifikation mit dem eigenen Quartier als Lebenswelt und Ort der direkten Demokratie entwickeln. Darüber hinaus kann ein möglichst konstruktiver Dialog zwischen Verwaltung, Bewohner*innenschaft und den diversen Gruppen der Stadtgesellschaft angestoßen werden, in dem gegenseitiges Vertrauen und Verständnis möglich werden. In den Quartieren lassen sich partizipative Formate zur Stärkung des Gemeinwesens, eines friedlichen Zusammenlebens und urbaner Kompetenzen sowie das Orchestrieren der Prozesse erproben.

Mit diesen Experimenten in der Zivilgesellschaft und lokalen und (sub-)kulturellen Laboren wie Amerlinghaus oder WUK gewinnt die Qualität des Zusammenlebens in Stadt(-teil) und Grätzel eine besondere Beachtung (vgl. dérive 81). Der Stadtteil als sozialer Lebensmittelpunkt, als Ort der direkten Teilhabe wird zunehmend bei der Mitgestaltung und Aneignung verfeinert – und eine stärkere Bemühung in Richtung humane Architektur und ökologische Urbanität entsteht.

Ein homöopathischer Anfang: Grätzloasen, wo immer Zivilgesellschaft erstarkt

Mit wachsender Bevölkerung, und weiter angestrebter Innenverdichtung wird in dichter verbauten Stadtgebieten der Raum kostbarer sowie der öffentliche Raum intensiver genutzt. Bewohner:innen mit unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen teilen sich vorhandene Flächen der Bestandsstadt im Sinne einer multifunktionalen Gemeinschaftsfläche. Familien mit Kleinkindern, Kinder, Jugendliche, Singles, ältere Menschen und Bürger:innen mit geringerem Einkommen verbringen viel Freizeit im städtischen Nahraum. Um gemeinschaftliches Zusammenleben im Stadtraum zu sichern, wird es immer wichtiger im öffentlichen Raum inklusive räumliche Identifikation für alle zu schaffen. Zentral in diesem Prozess ist es, jene Menschen in die Gestaltung und Belebung einzubinden, die diese Freiräume (in Zukunft) nutzen wollen. Damit wird Bürger*innennähe sichergestellt und der Austausch der Menschen im Grätzel aktiv gestärkt.

Stadtbewohner:innen sind lokale Expert:innen ihres Umfelds. Sie wissen gut Bescheid, was (nicht) funktioniert und wo es Verbesserungspotenzial gibt. Jung und Alt haben viele Gestaltungsideen und fordern zunehmend Mitgestaltung vor der eigenen Haustüre ein. Ein besonders Beispiel hierzu bilden die Grätzloasen zur Belebung und Aufwertung öffentlicher Räume, die vom Verein Lokale Agenda 21 und mit einer finanziellen Förderung unterstützt werden. Aktive Bewohner:innen werden unterstützt, ihre Ideen zur Gestaltung ihrer Umwelt als Parklets zu verwirklichen. So entstehen wienweit temporäre Kontaktzonen, Spielflächen, Straßen­feste in der einst monofunktionalen Parkspur stehender Autokolonnen; offen für alle und frei von gewerblichem Interessen. Die Gesellschaft bekommt damit mehr Möglichkeit der direkten Teilhabe an einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Somit können auch neue Formen der Zusammenarbeit und der Erweiterung von Raum-Ressourcen für eine solidarische und resiliente Stadt initiiert werden.

Global wird relevant sein, wie sich die soziale Ungleichheit entwickelt, ob zunehmende Kommerzialisierung den öffentlichen Raum wirklich für alle zugänglich belässt und ob Überwachungsgelüste sowie eine neue Straffreudigkeit ein friedliches Nebeneinander aushöhlen.

Ebenso wichtig ist, wie sich die Bürgerschaft im öffentlichen Raum präsentiert und welche Werte gelebt werden. In den Tagen nach dem Terroranschlag letzten November in Wien zeigten tausende Menschen mit Kerzen und Blumen ihr solidarisches Mitgefühl sowie ihren Wunsch nach einer freien und demokratischen Gesellschaft und setzten damit ein wichtiges Zeichen im öffentlichen Raum. Das trug auch dazu bei, den medialen Diskurs zu verbreitern. Aufgabe von Planung ist es auch, mit ihren Werkzeugen der Zivilgesellschaft Möglichkeiten der demokratischen Teilhabe zu bieten, um räumliche Identität in den jeweiligen Stadtquartieren zu stärken. Die Stadtplanung kann hierzu auf das Gemeinwesen in der Bürgerschaft wirken und somit auch die soziale Lage und Zukunftsfähigkeit verbessern.

Anmerkungen:
[01] Siehe als Beispiel die 2020 verabschiedete Kinder- und Jugendstrategie der Stadt Wien.
[02] In der »ersten Gründerzeit« in Wien erfolgte eine epochale Entwicklung, die wir ganz ähnlich heute wieder erleben. Zwischen 1848 und dem Börsenkrach 1873 entwickelte sich Wien mit der Weltausstellung von einer beschaulichen Residenzstadt zur Großstadt. Politisch war die Zeit bis 1895 von der Dominanz des Liberalismus geprägt; der Freihandel, die liberale Verwaltung und Gewerbe-Gesetze führten zu zahlreichen Neugründungen, die von Spekulationen in Börse- und Bankgeschäften begleitet waren. Die einengenden Mauern der Stadtbefestigungen fielen. Das Glacis wurde mit Ringstraßen-Monumentalbauten bebaut, Eisenbahntrassen sowie Kasernen errichtet. Die Stadterweiterung mit eingegliederten Vorstädten sowie die Donauregulierung kamen hinzu. Die Altstadt wurde umgewandelt, bei gleichzeitiger baulicher Verdichtung der Vorstädte und Erweiterungen mit rasterförmigen Baublöcken aus Mietskasernen. Hinzu kamen »Bassena-Wohnungen« der zugewanderten Arbeiter*innenschaft mit extremen Alltagsbedingungen in der Hinterhofindustrie. Der damalige Umbruch zur urbanen Gesellschaft rief eventuell ähnliche Bruchstellen von Verlust an Überblick und Vertrautheit hervor wie die Dynamik heute. Die globalen Phänomene verschwimmen dabei zusehends und erzeugen eine neue Orientierungslosigkeit, die zusätzlich durch neue Informationstechnologien und Medien auch in den Echokammern des virtuellen Raums verstärkt werden.
[03] »So werden Lücken in der lokalen Versorgung mit Grünraum, Bildung, Gesundheit und Dienstleistungen geschlossen, Arbeitsplätze und neue Wohnungen geschaffen und die Wege zu Alltagspunkten bleiben kurz« (Grundlagen der Wiener Stadtplanung).
[04] Die Palette reicht von Freizeitangeboten, mehr Empowerment (Frauen, Migrant:innen) über Rechtsberatung, bis hin zur Stadtanleitung – Do it Yourself (Magistrat der Stadt Wien 2016).
[05] Wiener Lebensqualitätsstudien: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/grundlagen/stadtforschung/soziologie-oekonomie/lebensqualitaetsstudien/
[06] Eine genauere Analyse und die Beschreibung des »potentiellen Nutzungsdrucks«: Stadt Wien – Integration und Diversität (2020).
[07] Entgegen dieser Werte besteht dennoch die Gefahr von Vereinsamung in der Gesellschaft, vor allem wenn (alte) Menschen von biographischen Brüchen oder gesundheitlichen Schwierigkeiten betroffen sind.

Literatur:
Baumann, Zygmund (2016): Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache. Berlin: Suhrkamp
Bude, Heinz (2014): Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition
Bartl, Gabriel; Creemers, Niklas & Floeting, Holger (2020): DIfU-Impulse, 2020; Vielfalt und Sicherheit im 
Quartier – Konflikte, Vertrauen und sozialer Zusammenhalt in europäischen Städten. Berlin
Gehl, Jan & Birgitte Svarre (2013): How to Study Public Life. Washington/Cavelo/London; Island Press
Häberlin, Udo & Kopetzky, Barbara (2015) Die sichere Stadt – Sicherheit und Lebensqualität in Wien. In: Floeting, Holger: Sicherheit in der Stadt – Rahmenbedingungen – Praxisbeispiele – Internationale Erfahrungen. Edition Difu, Bd. 14, 201, Deutsches Institut für Urbanistik
Häberlin, Udo & Furchtlehner, Jürgen (2017): Öffentlicher Raum für alle? In: Hauck, Thomas; Hennecke, Stefanie & Körner, Stefan: Aneignung urbaner Freiräume. Ein Diskurs über städtischen Raum (Urban Studies). Bielfeld: Transcript
Häberlin, Udo (2020): Soziale Prozesse, urbane Sicherheit und Zukunftshoffnung. Difu-Impulse, 2020 Vielfalt und Sicherheit im Quartier – Konflikte, Vertrauen und sozialer Zusammenhalt in europäischen Städten
Häberlin Udo; Mückstein, Gerlinde, Peters, Nils; Stratil-Sauer, Gregor; Troger, Tobias; Wasserburger, Maria & Suitner, Johannes (2020): Fachpapier Stadtplanung 02 Covid-19 und die Wiener Stadtplanung. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008581.pdf
Häusermann, Hartmut & Siebel, Walter (1987): Neue Urbanität. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. Berlin/Frankfurt/M./Wien: Ullstein
Madreiter, Thomas (2020): Stadt ist die Lösung, nicht das Problem!. In: Wiener Zeitung, 20.09.2020
Magistrat der Stadt Wien (2016): Do it Yourself – Stadtanleitung. Verfügbar unter: www.gbstern.at/fileadmin/redaktion/Presse_und_ Downloads/Downloads/PDF-Dokumente/DIY_Stadtanleitung_2016.pdf
Magistrat der Stadt Wien (2019): Smart City Wien – Rahmenstrategie 2019 – 2050; Die Wiener Strategie für eine nachhaltige Entwicklung; Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008551.pdf
Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung (2011): Perspektive Erdgeschoss. Werkstattbericht Nr. 121; Verfügbar unter www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008355.pdf
Reinprecht, Christoph (2010): Soziale Dynamik im Stadtraum. Ein Projekt am Institut für Soziologie, Universität Wien im Auftrag der Stadt Wien (MA18)
Schechtner, Katja (2020): Faire Gestaltung des öffentlichen Raums wird wichtiger. In: Stadt Wien, Stadtentwicklung und Stadtplanung (Magistratsabteilung 18): STEP 2025; Positionsbestimmung – der STEP 2025 aus heutiger Sicht; aktuelle Einblicke und Ausblicke, S. 67
Stadtentwicklung Wien (2016): Identität und Raum. Werkstattbericht 161 Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008481.pdf
Stadtentwicklung Wien (2018): Segregationstendenzen in Wien? Sozioökonomische Durchmischung 1981–2016. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008541.pdf
Magistratsabteilung 18 – Stadtentwicklung und Stadt-planung (2020): Mittelpunkte des städtischen Lebens – Polyzentrales Wien, Fachkonzept
Stadt Wien – Integration und Diversität (2020): 5. Wiener Integrationsmonitor, S. 162 f
Stadt Wien (2020): Integrationsmonitor 2020. Verfügbar unter: www.wien.gv.at/spezial/integrationsmonitor2020/oeffentlicher-raum-und-zusammenleben/potenzieller-nutzungsdruck

[Udo Häberlin studierte Stadt- und Raumplanung u. a. bei Detlef Ipsen, Ulla Terlinden und Lucius Burckhardt in Kassel. Er arbeitet bei der Stadt Wien, Abteilung Stadtplanung und -entwicklung im Themenfeld öffentlicher Raum und transdisziplinärer, urbaner Prozesse.
Mit einem empathisch-kreativen Zugang versucht er, Lebenslagen zu erfassen und holistisch die urbanen Lebenswelten zu verstehen.]

dérive, Do., 2021.03.25



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dérive 82 Sampler

23. Juli 2014Udo Häberlin
dérive

New Yorks nachhaltige Stadtentwicklung

Udo W. Häberlin

Von New York lernen ist eine leicht lesbare, erfrischend unprätentiöse (Bilder-)Geschichte über New Yorker Plätze und Parks und ambitionierte...

Udo W. Häberlin

Von New York lernen ist eine leicht lesbare, erfrischend unprätentiöse (Bilder-)Geschichte über New Yorker Plätze und Parks und ambitionierte...

Udo W. Häberlin

Von New York lernen ist eine leicht lesbare, erfrischend unprätentiöse (Bilder-)Geschichte über New Yorker Plätze und Parks und ambitionierte AkteurInnen, die ihre Handschrift darin hinterließen. Die Beiträge von Susanne Lehmann-Reupert lesen sich wie ein unterhaltsames Tagebuch und beinhalten dennoch wertvolle Informationen für die Stadtentwicklung (-spolitik). Jahrzehntelange Vorurteile gegenüber Amerikanern und ihrer Global City mit der einstigen Wolkenkratzer-Ära habe ich beim Lesen dieses Buches revidiert! Wie kam’s?

Bekannt ist, dass Städte weltweit an Bevölkerung zunehmen und auch wenn New York nicht die größte Stadt ist, dürfte es kaum eine andere Metropole auf der Welt geben, »in der so viele Menschen aus unterschiedlichen Einkommensklassen, Nationen, Religionen, Kulturen und Sprachen so friedlich nebeneinander leben und sich ständig in dem von allen genutzten öffentlichen Raum begegnen«. Gleichzeitig wird in den urbanen Agglomerationen ein Großteil der erzeugten Energie verbraucht. Die internationale Energieagentur warnt vor einem neuerlichen Ansteigen des fossilen Brennstoffverbrauchs und verlangt deutliche Maßnahmen, um Klimawandel und Erderwärmung einzudämmen. »Doch ist dies auch schon bei uns Bürgern angekommen?«, fragt die Autorin und meint: »In NY habe ich erfahren, dass eine Stadt aber nicht nur das soziale Verhalten ihrer BewohnerInnen, sondern auch deren nachhaltiges Handeln zu beeinflussen vermag.« Dazu passend zitiert sie Jan Gehl: »Erst formen wir die Städte, dann formen sie uns.«

Warum New York 2012 die Auszeichnung, die nachhaltigste Stadt der Welt zu sein, erhalten hatte, wird mit der Lektüre anschaulich erläutert. Die Stadt an der Ostküste der Vereinigten Staaten wird als Vorbild einer nachhaltigen Stadtentwicklung und als beispielhafte Bottom-up-Bewegung durch bürgerschaftliches Engagement dargestellt. Denn ausgerechnet New York möbliert die Straßenschluchten gemütlich mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm. Und ausgerechnet hier (und nach Rudolph Giuliani) funktioniert eine Strategie der Rückbesinnung auf zivilgesellschaftliches Engagement?

Klar, mit 15.000 BewohnerInnen pro Quadratkilometer ist die größte Stadt der USA prädestiniert für urbanes Leben. »Die große Dichte fordert permanente Bereitschaft zum Wandel, zur Umgewöhnung und Neuorientierung.« Doch erst Bürgermeister Bloomberg wagte 127 neue Schritte zur Lebensqualität, die im ehrgeizigen Leitbild plaNYC beschlossen wurden. Die Autorin nennt sieben konkrete Ansätze für eine nachhaltige Stadtentwicklung einer wachsenden Stadt: Darunter die Qualifizierung des öffentlichen Raums, ein schlüssiges Mobilitätskonzept, insbesondere kurze Wege, d.h. Siedlungsstrukturen mit Funktionsmischung, die auch lokale Nahrungsmittelproduktion integriert, Energieeffizienz und die Einbeziehung bürgerschaftlichen Engagements. Damit wird die lebenswichtige Verbindung zur Natur wieder hergestellt bzw. werden Ökokreisläufe mit Urbanität verknüpft.

Umgesetzt sind bereits eine City-Maut, die Umstellung der Taxis auf Hybrid-Antrieb, die Vervierfachung vorbildlicher Fahrradwege, neue Grün- und Verweilräume und begrünte Dächer. Diese Maßnahmen dokumentieren einen smarten Gesellschaftswandel. Denn es entstanden Initiativen, die den öffentlichen Raum als »wichtigsten Bestandteil des urbanen Alltags« in der Millionenmetropole grüner und gemeinschaftlicher gestalten.

Die Autorin berichtet von ihren Streif-zügen, etwa über den Brooklyn Bridge Park nach Red Hook und vom High Line Park, der durch die Umnutzung der 2,3 Kilometer langen ehemaligen Hochbahntrasse (nach Pariser Vorbild) entstand, und von weiteren aufsehenerregenden Veränderungen im öffentlichen Raum. Sie entdeckt neue Erholungsflächen an Hudson und East River oder anderswo Pocket Parks, Gemeinschaftsgärten und Stadtfarmen, zum Teil auf Dächern. Diese zeugen von sichtbaren Qualitätsverbesserungen.

Lehmann-Reupert macht Lust auf Umgestaltungen und schürt die Hoffnungen für Urban Farming und »sustainable Streets«. Doch sie stellt ebenso soziale Pioniere und engagierte ExpertInnen wie Janette Sadik-Khan vor, die Leiterin der Verkehrsabteilung. Diese treibt die rasante Einrichtung von bisher 450 km Fahrrad-routen ebenso voran, wie den Rückbau von Straßen – selbst am Broadway entstanden breitere Gehwege für Stühle und Tische und Pflanzkübel. Außerdem wird beispielsweise Liz Christy präsentiert, die der Gemeinschaftsgarten-Bewegung Vorschub leistete.

Und scheinbar nebenbei legt die Autorin mustergültige Grundsätze einer nachhaltigen Stadtentwicklung dar, wie die Begrünung von Flachdächern für die Nahrungsmittelproduktion in der Stadt. Den Schlüssel für diese Erfolge sieht Lehmann- Reupert im Zusammenspiel zweier Kräfte: »zum einen die mit einer übergreifenden Entwicklungsstrategie ausgerüsteten Entscheidungsträger der New Yorker Stadtverwaltung, zum anderen die Bürgerinitiativen.« Dieses Zusammenwirken von öffentlicher Hand und privaten Initiativen wird anhand der Entwicklungsprozesse vorgestellt. Deren Ergebnisse nützt die Autorin, um zur Nachahmung aufzurufen und ein motivierendes Plädoyer für Nachhaltigkeit und Eigeninitiative zu halten: »If I can make it there, I’ll make it anywhere!« So zeitgemäß und aufregend alternativ kann New York sein.

Spätestens mit der Vermehrung (und kreativen Ersteigerung) von Parks wie im Fall des »Clinton Community Garden« schwanken die Fundamente der Logik einer einst autogerechten Stadt, und das Ziel Michael Bloombergs – jede New Yorkerin, jeder New Yorker soll künftig nicht mehr als zehn Gehminuten von einem Park entfernt wohnen – rückt in vorstellbare Nähe. Jetzt müsste es New York nur mehr schaffen die Gentrifizierung zu stoppen, günstige Wohnungen zu errichten und die Überwachung und Kontrolle seiner vor allem afro- und hispanoamerikanischen BürgerInnen zurückzuschrauben. Bloombergs Nachfolger, Bill De Blasio, hat diese Vorhaben zumindest im Wahlkampf angekündigt.


Susanne Lehmann-Reupert
Von New York lernen
Mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm
Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2013
192 Seiten, 16,80 Euro

dérive, Mi., 2014.07.23



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06. Mai 2013Udo Häberlin
dérive

Einladende Orte für soziale Aktivitäten - Wie öffentliche Räume entstehen...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des...

Das Wichtigste an der – 40 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun endlich auch auf deutsch erhältlichen – Publikation Leben zwischen den Häusern des dänischen Architekten und Stadtplaners Jan Gehl ist die sensible Begründung der „belebenden“ Funktionsweisen durch Aktivitäten in öffentlichen Räumen. Diese Aktivitäten sind auf drei aufeinander aufbauenden Ebenen bedeutsam. Die anspruchslosesten sind die notwendigen Aktivitäten. Darauf folgen die freiwilligen, doch erst die nächste Ebene der sozialen Aktivitäten stellt die Herausforderung dar. Diese funktionale Bedeutung ist fundamentale Voraussetzung und ein Grundprinzip für lebendige Straßen und Plätze. Es müssen nicht Häuser, sondern Menschen und Ereignisse versammelt werden, um belebte Treffpunkte beziehungsweise eine urbane Stadt zu erhalten. Der Wirkungsmechanismus „Es passiert nichts, weil nichts passiert“ ist ein gestaltbarer Prozess. Hierbei ist die Dauer der Aufenthalte der relevanteste Indikator für das tatsächliche Aktivitätsniveau.

Vorausschauend sollte die Planung in allen Maßstabsebenen für ein reibungsloses Funktionieren von Stadt sorgen. Ziel sind einladende Orte; ob über einen integrationsorientierten Bauleitplan oder der Aufwertung von Mikrofreiräumen mit höherem Identifikationswert – es gibt viele planerische Wege. Basis ist ein möglichst kompaktes System öffentlicher Räume, damit die Distanzen für FußgängerInnen und Sinneswahrnehmungen so kurz wie möglich sind. Dazu setzt sich der Jan Gehl mit den Begrenzungen der menschlichen Fortbewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeit auseinander. Beispielsweise analysiert er die Situation von PassantInnen, deren Austauschzonen mit AutoinsassInnen durch fragmentarische Begegnungen zu klein sind. Menschen, die bereits auf der Straße unterwegs sind, können nicht am Straßenleben teilnehmen, da es an ihnen vorbeifährt. In zeitgemäßen Siedlungen werden Sammelparkplätze in 100-200 m Entfernung zu den Wohnungen angelegt, um öffentliche Räume zu beleben. Da mehr Menschen unterwegs sind, werden die Straßen unterhaltsamer und der gegenseitige Schutz höher.

Es gilt die grundlegenden psychologisch wirksamen Elemente der Planung und Gestaltung zu erkennen. Im Zuge dessen behandelt Gehl die Dichotomie öffnen oder abschotten. Es geht um den Kontakt zwischen dem, was in öffentlichen Räumen passiert, und dem, was in angrenzenden Gebäuden vor sich geht. Hierbei ist der Erfahrungsaustausch nicht nur eine Frage von Distanzen, sondern auch von Fenstern und Gardinen. Beispielsweise lässt sich architektonisch zwischen einer wie auch immer designten Fassade oder einer interessanten Werkstatt, belebten Sporthalle, einem Kindergarten und anderem unterscheiden, wenn das Innenleben von Gebäuden durch Transparenz visuell zugänglich wird. Gegenbeispiele sind Einkaufszentren, die dem Umfeld die Funktionen von öffentlichen Räumen streitig machen und sich nach außen abschotten.

Auch die Gegenpole integrieren oder ausgrenzen, einladen oder abweisen sollen die Basis für umsichtiges und bewusstes Planen erklären. Unter versammeln oder zerstreuen wird ebenso die Platzierung der Gebäude wie auch die Ausrichtung von Zugängen auf Transit- und Aufenthaltsräume erforscht. Das Buch versucht anhand der Räume zwischen den Gebäuden aufzuzeigen, dass die Organisation von Stadt(leben) bereits von der Standortpolitik von Schulen (oder passiven Elementen wie Büros) abhängt. Die Frage der Erschließung hin zu öffentlichen Räumen durch die Verortung von Zugängen (Haustüren) sowie deren Erzeugung von Gehlinien oder der Motivation zum Gehen wie Sichtbeziehungen baut darauf auf. Selbst auf die subjektiv erlebten Wege für FußgängerInnen geht das Kapitel ein. Auch ihre Entfernung und Breite sowie Frequenz sind sensibel zu dimensionieren. Akzeptable Entfernungen (ca. 400-500 m) sind ein Zusammenspiel von Länge und Qualität unter Berücksichtigung von Schutz und Stimulation. Für Kinder und Alte ist die Geschwindigkeit geringer, somit ist die individuell erlebte Länge der Strecke höher. Es könnte der Eindruck von langweiligen Orten oder gar unangenehmen (Angst-)Räumen hervorgerufen werden. Diese existiert beispielsweise, wenn Parkplätze große Löcher und Leerräume in der Stadtfläche darstellen. Ebenso ist für den zwischenmenschlichen Kontakt ein Übergang von der privaten Umgebung (Vorgarten, Loggia) zu öffentlichen Räumen wichtig. In einem Wohngebiet kann alleine ein Autoabstellplatz vor der Haustüre diesen Kontakt zum Gehsteig behindern. Gehen, Sitzen und Stehen werden ebenso erforscht wie psychologische Effekte des Sozialraums und Empfehlungen für mehr Verweil- und Lebensqualität.

Wichtig ist die Summe der gesamten auf der Straße verbrachten Zeit, wie in der Sonne Ausrasten, Herumspazieren und Spielen. Hingegen weist Gehl (für Wohngebiete) nach, dass die Teilnahme am Leben im öffentlichen Raum nicht durch das notwendige häufige Kommen und Gehen bestimmt wird, sondern durch die freiwilligen, spontanen und oft improvisierten Freizeitaktivitäten.

Grundsätzlich erhöht die Nutzungsquantität die Qualität öffentlicher Räume. Das verbesserte Raumgefühl lädt auch andere ein, hinaus zu gehen. In öffentlichen Räumen werden zum Teil Bedürfnisse nach Kontakt, Wissen und Anregung befriedigt. So können auch an und für sich unschöne zu angenehmen Orten werden. Wenn Details stimmen und die Räume zum zu Fuß gehen oder Verweilen einladen und die Zahl der physischen, psychologischen und sozialen Nachteile auf ein Minimum reduziert ist, lässt sich der Sprung von den notwendigen hin zu den entscheidenden freiwilligen Aktivitäten schaffen. Weitere Details sind Attraktivität, das Mikroklima und die Ästhetik und zusammenfassend solche, die die (belebende) Funktion unterstützen.

Für mich ist Leben zwischen den Häusern, das nicht ohne Grund in 50 Sprachen übersetzt worden ist, 40 Jahre nach der Erstveröffentlichung noch immer für eine wertvolle Fachfibel für alle PlanerInnen, Einkaufsstraßenvereine sowie GemeinwesenarbeiterInnen. In der Neuauflage wären Ergänzungen etwa zu neuen Rahmenbedingungen, z. B. durch die Technisierung der Lebenswelt, wünschenswert gewesen. Mobiltelefone haben nicht nur Kommunikationsformen verändert, sondern zeigen, dass neue Herausforderungen im öffentlichen Raum existieren. Rückzug in Medienwelten oder Abschottungstendenzen (Kopfhörer) halten UserInnen vom direkten Gemeinschaftsleben fern. Andererseits bieten WLAN-Zonen neue Anlässe, Zeit an der frischen Luft und im öffentlichen Raum zu verbringen.

Diese Kritik gilt nicht dem Autor, sondern einer Stadtforschung, die den Sozialraum noch viel zu wenig anwendungsorientiert ergründet hat. Über gelungene Planung durch gute Raum-Zeit-Verhältnisse, inspirierende, attraktive Verweilqualitäten oder einzelne Interessen am urbanen, städtischen Leben wissen wir noch recht wenig.

Umbaumaßnahmen sollten uns Anlass genug sein, um mit Hilfe von Sozialraumanalysen bestehende Funktionsweisen zu ergründen und durch Neuplanungen Stadträume wie z. B. den Wiener Schwedenplatz zu verbessern.


Jan Gehl
Leben zwischen den Häusern
Berlin: Jovis, 2012
199 S., 28,- Euro

dérive, Mo., 2013.05.06



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