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23. März 2009Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Auf der Seitenbühne des globalen Architekturspektakels

Obwohl in Norwegen das Öl sprudelt, stellt man den neuen Reichtum nicht mit prahlerischen Architekturen zur Schau. Vielmehr versucht man subtile Akzente in Stadt und Landschaft zu setzen.

Obwohl in Norwegen das Öl sprudelt, stellt man den neuen Reichtum nicht mit prahlerischen Architekturen zur Schau. Vielmehr versucht man subtile Akzente in Stadt und Landschaft zu setzen.

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04. August 2000Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Zentrale Peripherie?

Natur- und Menschengewalten formten das Stadtbild Hamburgs in den letzten beiden Jahrhunderten stets neu. Nun plant die Hansestadt, den Freihafen wieder dem Stadtzentrum zuzuschlagen. Ein entsprechender Wettbewerb wurde schon durchgeführt und der Masterplan durch das von Kees Christiaanse und Astoc gebildete Team «Hamburgplan» erarbeitet.

Natur- und Menschengewalten formten das Stadtbild Hamburgs in den letzten beiden Jahrhunderten stets neu. Nun plant die Hansestadt, den Freihafen wieder dem Stadtzentrum zuzuschlagen. Ein entsprechender Wettbewerb wurde schon durchgeführt und der Masterplan durch das von Kees Christiaanse und Astoc gebildete Team «Hamburgplan» erarbeitet.

Für Hamburg ist der Handel das Mass aller Dinge. Der weltweite Güteraustausch wurde für die Hansestadt seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Quell von Reichtum und Wohlstand. Die Hafenanlage, die mit den technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Schritt halten musste, bestimmt die Stadtgestaltung bis heute. Als die Eingliederung Hamburgs ins Deutsche Reich und in dessen Zollgebiet für 1888 beschlossen wurde, sah sich die Stadt gezwungen, ihre Stellung als Freihafen aufzugeben - unter der ausbedungenen Wahrung eines Freihafenbezirks. Zur Errichtung der Zollanschlussbauten in der Speicherstadt am südlichen Rand der Innenstadt wurde ein barockes Wohnquartier, in dem rund 24 000 Menschen lebten, kurzerhand abgerissen. Wie aus einem Guss reihten sich danach die gotisierenden Klinkerbauten zu einem dichten Speicherkomplex. Die Zollgrenzen verwandelten die faszinierende, fast menschenleere Stadt in der Stadt in eine geschlossene Welt.


Suche nach architektonischer Identität

Grossmassstäbliche Neuplanungen waren für Hamburg seit dem Brand von 1842, der die barocke Innenstadt weitgehend zerstört hatte, kein Novum mehr. Dabei galt das Augenmerk immer den Handelsbauten. Fragen der Stadthygiene - etwa der Bau einer dringend benötigten Sandfiltrationsanlage - wurden vernachlässigt. Erst nachdem 1892 eine Choleraepidemie 8000 Menschenleben hinweggerafft hatte, nahm die Stadt entsprechende Modernisierungen in Angriff. Anfang des 20. Jahrhunderts gab Oberbaudirektor Fritz Schumacher der Stadt eine neue architektonische Identität, indem er auf den örtlichen Backstein und die traditionelle Architektursprache zurückgriff. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt 1943 im Rahmen der Operation «Gomorrha» durch Brandbomben der Alliierten weitgehend zerstört. Obwohl die öffentlichen Bauten und einige Siedlungen rekonstruiert wurden, blieb Schumachers zusammenhängendes Stadtgeflecht als Ganzes verloren.

Nach Jahrzehnten willkürlichen und traditionsverhafteten Bauens ohne gesamtstädtische Vision erlebte Hamburg erst unter Oberbaudirektor Egbert Kossak zwischen 1981 und 1998 wieder einen - wenn auch nur zaghaften - stadtplanerischen und architektonischen Aufschwung. War die erste Dekade seines Wirkens noch dem traditionellen Bauen - dem Backstein und den Blockrändern - verpflichtet und der Reichtum der Stadt so diskret wie möglich repräsentiert, so versuchte er die Stadt in der zweiten Dekade zu öffnen. Architekturimporte, Berücksichtigung jüngerer Architekten, aber auch Veranstaltungen wie der im Dreijahresrhythmus stattfindende «Architektursommer» sollten der Hansestadt helfen, auf der internationalen Architekturbühne eine Rolle zu spielen. Der erste Bau, der definitiv mit der traditionellen Architektur brach, war das für Gruner + Jahr errichtete Gebäude der Münchner Architekten Steidle und Kiessler: eine Medienwerft aus Blech und Glas (1990).

Erst ein knappes Jahrzehnt später versuchte Hamburg erneut als Medienstadt architektonisch Aufmerksamkeit zu erregen. Auf dem Gelände eines ehemaligen Fussballplatzes im noblen Viertel Rotherbaum baute Norman Foster 1999 ein «Multimedia Center», das aber kaum als Werk des englischen Meisters auffällt. Unmittelbar daneben schufen die Architekten vom Atelier 5 eine Wohnanlage, bei der sie die traditionelle Hofform der Hamburger Mietshäuser gelungen verdichteten. Und vom jüngst verstorbenen Enric Miralles stammt die vor zwei Monaten eingeweihte Jugendmusikschule. Im stadtnahen Hafenbereich entstanden im Rahmen sukzessiver Umbauten der obsoleten Mälzerei- und Speicheranlagen am Elbufer Möbelläden und Büroräume in der grossenteils erhaltenen Bausubstanz. Dass die Speicherstadt weitgehend von derartigen Eingriffen verschont geblieben ist und damit ihre Authentizität bewahren konnte, verdankt sie dem auch heute noch bestehenden Freihafenbezirk, der ihre ursprüngliche Nutzung sichert.

Die Speicherstadt liegt wie eine Gabel mit drei nach Westen, also in Richtung der Elbströmung, zeigenden Zinken südlich der Altstadt auf der Kehrwieder-Wandrahm-Insel. Zunehmende Dimensionen und der stärkere Tiefgang der Handelsschiffe sowie die Rationalisierung der Transportlogistik durch den Containerumschlag erforderten eine stete Vergrösserung der Hafenanlage. Südlich der Elbe drängte sich ihr Astwerk aus Häfen und Kanälen immer weiter ins Land vor. Mit dem technischen Wandel geht aber immer auch ein morphologischer einher, und somit liegen einst blühende Industrieareale irgendwann brach. So wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veraltete Hafenanlagen in der westlichen Welt in attraktive Wohn-, Büro- und Erholungsgebiete umfunktioniert. Nach den bedeutenden Restrukturierungen in Barcelona, London und Rotterdam soll nun in Hamburg die Innenstadt um 50 Prozent ausgedehnt werden. Die Speicherstadt bleibt erhalten und bildet die Schweissnaht zwischen dem Zentrum und deren 155 Hektaren grosser Erweiterung im Freihafen unmittelbar südlich der neugotischen Speicherbauten. Gelingt dieses städtebauliche Unternehmen, so gewinnt Hamburg das vor 100 Jahren abgetretene Gebiet zurück und gleichzeitig rückt das Stadtzentrum wieder zur Elbe hin.


Das Wagnis der Identitätsfindung

Aus dem internationalen Wettbewerb für den Masterplan der «Hafen City» ging 1999 «Hamburgplan», das vom international bekannten niederländischen Architekten Kees Christiaanse und Astoc gebildete Planungsteam, als Sieger hervor. Geschickt reagierte es auf die notgedrungen lange Bauzeit (voraussichtlich soll die Stadterweiterung 25 Jahre dauern), indem es das Areal in acht einzelne Quartiere unterteilte, die nach unterschiedlichen Bautypen und Nutzungen sukzessive entstehen sollen. Von eigener Identität ist im Bericht der Jury die Rede, von zukunftsorientierten Typologien und Flexibilität.

Ob diese Schlagwörter eine entsprechende Umsetzung in die Wirklichkeit erfahren werden, wird sich anhand der anstehenden Projektwettbewerbe erweisen müssen. Am Westende der lang gezogenen Speicherstadt, der Kehrwiederspitze, entstanden bereits in den späten neunziger Jahren Kontorhäuser von Kohn, Pedersen, Fox, GMP und Kieffel, Köhnholdt, Gundermann - ein Ensemble, das in Hamburger Manier kommerziellen Aspekten den Vorrang gab und in seiner historisch wichtigen Lage als Mahnmal für Hamburgs unsensiblen Umgang mit seinem baulichen Erbe betrachtet werden kann. - Der überarbeitete Masterplan des Siegerteams wurde Ende Februar vom Senat verabschiedet. Die einzelnen Viertel auf der Insel muten darin wie ein Musterkatalog verschiedener Stadtstrukturen an, in denen der Blockrand als Leitmotiv variiert wird. Obwohl der erste Direktor der Kunsthalle, Alfred Lichtwark, vor einem Jahrhundert noch verlauten liess: «Es lässt sich nicht sagen, ob in Hamburg das Wasser oder das Land sich als das weniger stabile Element erwiesen hat», bleiben die einst nach funktionalen Kriterien angelegten Häfen und Kanäle unberührt. Unspektakulär wurden die einzelnen Parzellen auf die Insel verteilt, die sich in ihrer gewachsenen Form etwas gegen die starren Geometrien des Masterplans zu sträuben scheint. Mit den geplanten 5500 Wohnungen, 20 000 Arbeitsplätzen, Läden, Parks, Cafés und Unterhaltungszentren, mit einem «Sea Science Center» und dem Kreuzfahrt-Terminal können zweifellos breite Kundenkreise angezogen werden.

Der Rentabilität kommt bei diesem Projekt eine besondere Bedeutung zu. Denn der durch die notwendige Verlagerung der jetzigen Hafenanlagen verursachte Schuldenberg muss durch den Verkauf des Hafengeländes mitfinanziert werden. Ob dabei auch Einzelinvestoren und Kleinunternehmen zum Zuge kommen - wie in den Leitzielen des Masterplans formuliert -, um der neuen Stadt die notwendige soziale Durchmischung und somit ein vielfältiges Leben zu garantieren, wird sich zeigen. Shopping-Malls und Vergnügungszentren ziehen immer eine grosse Klientel in ihren Bann - ein Garant für städtisches Leben sind sie aber auch in zentraler Lage nicht.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.08.04

19. Januar 2000Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Der Keuschheitsgürtel der Architektur

Internationaler Architekturimport bestimmt das Stadtbild von Frankfurt. Um das Grossstädtische, das die Skyline verspricht, einzulösen, werden Architekturkoryphäen nun auch mit kleineren Aufträgen betraut. Jean Nouvels Beitrag zur Geschäftsmetropole scheiterte aber an den Auflagen des Denkmalamts, das eine Politik strikten Konservierens von bestehenden Bauhüllen verfolgt.

Internationaler Architekturimport bestimmt das Stadtbild von Frankfurt. Um das Grossstädtische, das die Skyline verspricht, einzulösen, werden Architekturkoryphäen nun auch mit kleineren Aufträgen betraut. Jean Nouvels Beitrag zur Geschäftsmetropole scheiterte aber an den Auflagen des Denkmalamts, das eine Politik strikten Konservierens von bestehenden Bauhüllen verfolgt.

«Das Neue Frankfurt» spielte in den zwanziger und dreissiger Jahren unter dem Stadtbaurat Ernst May eine Vorreiterrolle im Siedlungsbau. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Wiederaufbauarbeiten zur Linderung der Wohnungsnot im Vordergrund, und in den siebziger Jahren wurden die architektonischen Grundsteine der heutigen Finanzkapitale gelegt. Die sozialpolitischen Planungsaspekte, die einst die Stadtentwicklung prägten, wichen den marktwirtschaftlichen von heute. Doch erst in den achtziger Jahren löste sich Frankfurt am Main vom Ruf des Unwirtlichen. Mit regem Architekturimport sollte die Stadt eine neue Identität erhalten. Architektenkoryphäen aus aller Welt flochten eine Stadtsilhouette nach dem Vorbild amerikanischer Metropolen. Sobald man jedoch von der Skyline weg auf den urbanen Raum blickt, verblasst das Grossstädtische. Dem könnte die Stadt mit einer Architekturpolitik des kleinen Massstabs begegnen, bewahrte sie auch abseits der prestigeträchtigen Grossprojekte ihre Grosszügigkeit im Umgang mit der bestehenden Bausubstanz.


Die architektonische Erblast

1991 erhielt der Architekt Jean Nouvel, der mit dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern einmal mehr demonstrierte, dass sein Name Garant für gute Architektur ist, von der Victoria Lebensversicherung den Direktauftrag für ein repräsentatives Büro- und Geschäftshaus im Zentrum von Frankfurt. Auf dem 1500 Quadratmeter grossen Grundstück am Goetheplatz, der an die zentrale Einkaufsmeile angrenzt, stand der Torso eines zu Beginn dieses Jahrhunderts errichteten Sandsteinbaus. Da der Goetheplatz vor dem Zweiten Weltkrieg eine schmale Gasse war, erhielt allein dessen gut sichtbare Gebäudeecke ein stattliches Dekor. Das Bombardement der Alliierten verschonte lediglich den Rumpf des klassizistischen Baus; die gegenüberliegende Gebäudezeile wurde vollständig zerstört. Erst während der Wiederaufbauarbeiten entstand der neue, grosszügige Platz, der der Längsfassade ihre heutige städtische Prominenz verliehen hat. Das erhaltene Gebäudefragment wurde unter Denkmalschutz gestellt, bildete den Ausgangspunkt des Nouvelschen Entwurfs und begründete später den Rücktritt des französischen Architekten.

Seinen kritischen Umgang mit alter Bausubstanz hatte Nouvel schon mehrfach, im besonderen beim Umbau der Oper in Lyon, bewiesen. Klemmte er dort den Opernsaal wie einen Monolithen in die alte Fassadenstruktur, so sollte das Baurelikt in Frankfurt museal in einer Vitrine ausgestellt werden. Das Denkmalamt stemmte sich aber gegen den aus seiner Sicht respektlosen Umgang mit dem baulichen Erbe und verlangte eine Überarbeitung des Projekts. Der zweite Entwurf erfuhr dann aus finanziellen Gründen derartige Abänderungen, dass sich Nouvel vom Projekt zurückzog. Auch das Angebot der Bauherrschaft, er möge die künstlerische Leitung übernehmen, lehnte Nouvel ab. Mit der Zustimmung Nouvels wurde 1997 ein neuer Vertrag abgeschlossen, und so fiel das 40 Millionen Mark teure Bauprojekt zur Überarbeitung und Ausführung ganz unter die Obhut der Frankfurter Projektpartner Hommel & Rodrian, die von Nouvel schon früh als Kontaktarchitekten vor Ort beigezogen worden waren.

Im August 1999 erhielt Frankfurt also seinen «Nouvel-Bau» - wenn auch einen gebändigten. Die klassizistische Fassade wurde konventionell in die neue Glasfassade integriert. Die Handschrift des Meisters ist dabei zwar noch lesbar, die Grosszügigkeit in der kritischen Ausformulierung ging aber verloren. Der sensible Umgang mit dem klassizistischen Erbe lässt sich am Aufbau des vollständig verglasten Bürobaus erahnen: Das die Krümmung der Strasse aufnehmende, in der Mitte leicht geknickte Bauwerk wird in seiner Zentralachse erschlossen und deutet dort einen hohlen, innenliegenden Mittelrisaliten an. Beschützend ragt eine abgespeckte Variation der monumentalen Luzerner Dachkonstruktion über die erhaltene Gebäudeschale hinaus, indem sie die eine Gerade des Grundstücks unbeirrt fortführt und sie scharf in den davorliegenden Platz stechen lässt. Die horizontale Fassadengliederung des Altbaus bildet sich leicht versetzt in den Sonnenblenden der regelmässigen Glashaut fort und unterteilt die sechs unterhalb des Daches liegenden Etagen. Darüber befindet sich eine Art Attikageschoss, das vom Platz her aber kaum wahrnehmbar ist. Das für Läden reservierte Erdgeschoss dehnt sich in den Keller und ins erste Obergeschoss aus. Die Unterteilung der einzelnen Büroräume innerhalb des Stützenrasters obliegt den jeweiligen Benutzern.

Konservieren von Schalen
In Anbetracht der geschehenen und anstehenden baulichen Umwälzungen im und am Stadtzentrum - die Deutsche Bahn nimmt nun nach langem Hin und Her mit der Deutschen Bank, nach verschiedenen geplatzten Bauprojekten und einigen Wettbewerben auf dem 90 Hektar grossen Gelände des Hauptgüterbahnhofs den ersten Bauabschnitt des «Europa-Viertels» mit Urban Entertainment Center und Millennium-Turm in Angriff (NZZ 6. 11. 98) - überrascht dieser keusche Umgang Frankfurts mit seinem architektonischen Erbe. Dass die Stadt am Boden eine andere Architekturpolitik verfolgt als in der Luft, erfuhr schon Norman Foster beim Bau der Commerzbank (NZZ 4. 4. 97), deren untere Geschosse die Struktur und die Materialien der baulichen Umgebung aufnehmen mussten.

Während der Wolkenkratzer das ganze Augenmerk auf seine imposante Vertikalität lenkt, muss sich der Bau der Victoria Versicherung in der Horizontalen des Stadtgeflechts behaupten. Er bildet dabei aber keineswegs die Ausnahme. Auf der Baustelle gegenüber dem «Nouvel-Bau» stehen noch die sich an Stahlkrücken festhaltenden, herausgeschälten Fassaden des Vorgängers, und an der Stirnseite des Platzes wölbt sich ein Dachausbau wie ein metallenes Geschwür aus seinem klassizistischen Gebäuderumpf. Die Reduktion des architektonischen Erbes auf eine oberflächliche Erscheinung im Stadtbild wird zum hypokritischen Ausdruck unserer Epoche und hindert die Baukunst daran, als identitätsstiftender Pfeiler einer Kultur ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Mit dem zurechtgestutzten «Nouvel-Bau» als kritischer Stellungnahme zu dieser Thematik hat Frankfurt die Chance verpasst, auch im Kleinmassstäblichen urbanistische Zeichen zu setzen. Die von Nouvel geforderten Rätsel, die jedes Bauwerk aufwerfen sollte, sind im Geschäftshaus am Goetheplatz nicht wiederzufinden - dies mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb er sich vom Bau distanziert hat.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.01.19



verknüpfte Bauwerke
Victoria Versicherung - Büro- und Geschäftshaus

05. Januar 1999Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Inszenierte Demokratie

Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit...

Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit...

Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit Brüssel konnte die Stadt im Elsass ihre Position als europäische Metropole sichern. Das Pariser Architektenteam Architecture Studio schuf einen Glaspalast, der zwischen Anonymität und zur Schau gestellter Demokratie oszilliert.

Der Streit um den Sitz des Europäischen Parlamentes ist vorläufig geschlichtet. 1989 wurde die heutige französische Kulturministerin, Catherine Trautmann, Bürgermeisterin von Strassburg. Ein Jahr später liess sie in der Funktion der Präsidentin der «Société d'Equipement de la Région de Strasbourg» (SERS), aber ohne die Unterstützung des Europäischen Parlamentes einen internationalen Architekturwettbewerb für den Bau eines Parlamentssaales ausschreiben, den das Pariser Architektenteam Architecture Studio gewann. Am 12. Dezember 1992 bestätigte das EU-Parlament am Gipfeltreffen von Edinburg den neuen Sitz für die Sessionen und verpflichtete sich auf 20 Jahre als Mieter für das Projekt mit 200 000 Quadratmetern Geschossfläche in der elsässischen Hauptstadt. Das Kriegsbeil der «bataille du siège», wie Trautmann das Ringen um den Sitz des EU-Parlamentes bezeichnete, wurde begraben: In Strassburg finden künftig allmonatlich die Plenarsitzungen, in Brüssel hingegen die ausserordentlichen Sitzungen statt. Dort tagen zudem die parlamentarischen Kommissionen. Luxemburg hingegen beherbergt das Generalsekretariat.

Ein gläserner Schiffsbug

Nordöstlich des historischen Stadtkerns von Strassburg ragt das «Immeuble du Parlement Européen Nº 4» (IPE 4) wie ein riesiger Schiffsbug aus der gekrümmten Flussgabelung, wo der Ill und der Kanal Marne-au-Rhin zusammenlaufen. Die leicht ansteigende und dann wieder abfallende Glasfassade zeichnet die geschwungene Form des Uferbogens nach. Von aussen kaum erkennbar, durchstösst die Kuppel des Parlamentssaales – der volumetrische und funktionale Kern der Anlage – die glatte Dachfläche aus perforierten Blechplatten, die unter der Sonne wie ein geneigtes Eisfeld erscheint. An der Rückseite wölbt sich die Westfassade auf den grossen Eingangsbereich, der die Parzelle gegenüber einer aus den zwanziger Jahren stammenden Gartenstadt abgrenzt. In der Mitte dieser Glasfront reckt sich der 18geschossige Zylinder des von messerscharfen Sonnenblenden umwundenen, gedrungenen Turms aus dem bogenförmigen Bauvolumen, das ihn zur Hälfte umschliesst. Darin finden 1133 Büroräume Platz, von denen etwas mehr als die Hälfte für die Abgeordneten reserviert sind. Das Innerste des Turms ist ellipsenförmig ausgekernt und als zentraler, den ganzen Komplex erschliessender Eingangshof gestaltet. Dorthin gelangt man über eine breite Treppe. Diese bildet auch den Anfang des Korridors, der diagonal alle Gebäudezonen durchsticht und über eine Passerelle zum bestehenden Parlamentsgebäude auf der anderen Ill-Seite führt. Ein gekurvter Spalt, in dem sich die Rampe zum Parkhaus in die Untergeschosse windet, trennt die zwei Hauptvolumen.

Das von Trautmann als «triangle magique» bezeichnete Ensemble, das aus der «Cour des Droits de l'Homme» – Richard Rogers' Arche für Menschenrechte –, aus dem alten «Parlement Européen» und dem neuen IPE 4 besteht, gruppiert sich um das Bassin de l'Ill. Als wäre er die Fortsetzung der Strasse, die zum alten Parlamentsgebäude führt, durchschneidet ein 200 Meter langer Lichthof in der Form einer «rue jardin» den bogenförmigen Neubau, ohne dabei die Symmetrie des Komplexes zu stören. Kletterpflanzen ranken sich an Stahlseilen zu den Glaselementen im Dach. Funktional trennt diese «rue jardin» den öffentlichen Bereich von jenem der Parlamentarier, wo fünf kleine Sitzungssäle untergebracht sind. Zwei Einschnitte mit Vertikalerschliessungen flankieren die Kuppel symmetrisch. Trotz ihrer Eichenholzverkleidung ist sie wie ein Monolith in den Glaskörper geklemmt. – Die komplexe Wegführung für die verschiedenen Benutzergruppen gewinnt durch die grosszügig bemessenen Zirkulationsräume an Übersicht. In der Überlagerung der Wegbereiche für die verschiedenen Benutzer werden Piranesis «Carceri» – ihrer düsteren Stimmung entledigt – Wirklichkeit. Als Aufenthaltsbereich dient der um den Plenarsaal fliessende, von natürlichem Licht erfüllte Bereich. Dort ermöglichen tulpenförmige Sitzgruppen von Avant-Travaux, die wie Blumen auf freiem Feld verstreut sind, den Gedankenaustausch. Im Inneren des ovalen Plenarsaals selbst schaffen das gleichmässig durch die rundum laufenden Milchglaslamellen einfallende Licht und die unzähligen Lämpchen auf den nach akustischen Kriterien wellenförmig gestalteten Deckenstreifen eine ruhige Beleuchtung. Unter der Parlamentskuppel finden bis zu 750 Abgeordnete im Saal und mehr als 600 Zuschauer auf den oberen Rängen Platz. Hier wird deutlich, wie sehr das Thema der Politik als Spektakel den als Bühne der Demokratie gedachten Bau durchzieht.

Der spielerische Umgang mit geometrischen Formen und Körpern ist typisch für Architecture Studio; in Strassburg thematisierten die Architekten Kreis und Ellipse als Sinnbilder der abendländischen Kultur. Steht der Kreis für das Perfekte, so verweist die Ellipse, auch etymologisch, auf das Mangelhafte. Mit der Überschneidung beider Formen wollte das Architektenteam der Dialektik von Zentralmacht und bewegter Demokratie im Parlamentsgebäude symbolisch Ausdruck verleihen. Während dem kreisförmigen Büroturm ein Oval eingeschrieben ist, sind die Parlamentariersitze kreisförmig unter der elliptischen Kuppel des Plenarsaales angeordnet.

Urbanistische Aspekte

Die Frage der Massstäblichkeit, wie sie aus dem Bauprogramm erwächst, bildete einen Kernpunkt der urbanistischen Aufgabenstellung. Während im Inneren des IPE 4 die «Polis» Europas unter einem Dach bar jeglicher Monumentalität auf den Menschen zugeschnitten ist, erscheinen die beiden Bauvolumen von aussen in ihrer Morphologie und der Anonymität der die Umgebung spiegelnden Glashaut massstabslos. Darüber kann auch das Aufbrechen der einzelnen Gebäudeschichten im Büroturm nicht hinwegtäuschen. Obwohl Martin Robain, einer der sieben Partner von Architecture Studio, betont, dass «die wahre Revolution der Informatik auf der Baustelle geschieht», tritt der architektonische Ausdruck einer informatisierten Ästhetik zutage. Doch nur dank der computerisierten Einzelanfertigung der meisten Bauelemente konnte der gesamthaft knapp drei Milliarden Francs teure Bau in nur vier Jahren entstehen. Die Architekten fanden hier zu einer wahren Meisterschaft darin, wie man eine Baustelle führt.

Die heiter anmutende Inschrift auf Bruno Tauts Glashaus von 1914 – «Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last» – findet hier zum zweitenmal eine zeitgenössische Interpretation in Strassburg, wurde doch kürzlich erst Adrien Fainsilbers Musée d'art moderne et contemporain eröffnet (NZZ 11. 11. 98). Im kommenden Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im neuen Gebäude abhalten. Bleibt das Pulsieren des Politspektakels tagsüber von aussen auch verborgen, werden doch die unzähligen Lämpchen in der Holzkuppel, die auf die Hitze der parlamentarischen Diskussionen reagieren, den nächtlichen Himmel der elsässischen Europa-Metropole lebendig erhellen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.01.05



verknüpfte Bauwerke
Europaparlament

06. November 1998Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Basler Spuren in Paris

Paris bemüht sich um qualitativen Architekturimport aus dem Ausland. Unmittelbar beim Cimetière du Père Lachaise konnte das Basler Architekturbüro Diener & Diener in einem Direktauftrag einen Wohnbau erstellen. Als Ikone der «Neuen Sachlichkeit» vertritt er im heterogenen Strassenbild die Position einer Deutschschweizer Architekturvorstellung.

Paris bemüht sich um qualitativen Architekturimport aus dem Ausland. Unmittelbar beim Cimetière du Père Lachaise konnte das Basler Architekturbüro Diener & Diener in einem Direktauftrag einen Wohnbau erstellen. Als Ikone der «Neuen Sachlichkeit» vertritt er im heterogenen Strassenbild die Position einer Deutschschweizer Architekturvorstellung.

In Paris sind die Zeiten der monumentalen, im Geist des französischen Zentralismus konzipierten Stadteingriffe einstweilen vorüber. Die Seinestadt, in den achtziger Jahren ein architektonisches Dorado, ist heute eine Architekturlandschaft im Wandel. Während zurzeit die meisten Grossprojekte französischer Provenienz im Ausland entstehen, konzentrieren sich die Architekten in Paris wieder vermehrt auf architektonische Innovation. Vor allem kleinere Arbeiten verändern abseits der grossen Strassenachsen die Metropole langsam. Hier findet man oft aber auch Architekturimport. Vor allem die Régie Immobilière de la Ville de Paris (RIVP) bemüht sich um eine architektonische Öffnung, indem sie internationale Wettbewerbe ausschreibt und auch Direktaufträge an ausländische Architekten erteilt. Nachdem die Schweiz bereits mit Aurelio Galfetti und Livio Vacchini vertreten ist, beginnen demnächst Herzog & de Meuron auf Grund eines gewonnenen Wettbewerbs an der Rue des Suisses zu bauen.

Schon jetzt aber fügt sich ein Beispiel der neuen Deutschschweizer Architektur im elften Arrondissement gleich unterhalb des Cimetière du Père Lachaise diskret in die Strassenfront ein. Mit der vor rund einem Jahr vollendeten Bebauung lieferte das Basler Architekturbüro Diener & Diener einen Beitrag an die Umgestaltung der Metropole, der in der Klarheit der Kubatur, der Präzision der Proportionen und der Strukturierung des Stadtraumes seinesgleichen sucht. Der Neubau ist das zweitletzte Gebäude an der Rue de la Roquette, der die Achse zum westlichen Haupteingang des berühmten Friedhofs bildet. Der Ort ist von der Heterogenität jener Pariser Strassenzüge geprägt, die ausserhalb von Haussmanns Fassadendiktat entstanden. Die beiden neuen Baukörper, die in ihrer einheitlichen Fassadengestaltung als ein Gebäude gelesen werden können, sind auf der Parzelle etwas zurückversetzt. In dichter Bebauung erstrecken sich die 37 Wohnungen, die für das medizinische Personal der Assistance Publique reserviert sind, an der Strassenseite über sieben bzw. acht leicht versetzte Etagen, die ab der sechsten zurückspringen.

Um der intimen Situation des Innenhofes gerecht zu werden, verringerten die Architekten die Gebäude hier auf fünf Geschosse. Im traditionellen Sockelgeschoss öffnen sich Läden mit zugehörigem Mezzanin zur Strasse hin. Langwierige Diskussionen mit der Denkmalpflege ergaben sich einerseits, weil die Architekten anstelle eines traditionellen Einzelbaus zwei autonome, in engem Dialog zueinander stehende Körper nahe zusammen auf die Parzelle stellten. Andererseits bildete jenes Merkmal den Stein des Anstosses, das sich wie ein roter Faden durch die Arbeit von Diener & Diener zieht: die Transzendierung des Gewöhnlichen. Roger Diener verwirft die auf einer Polarisierung zwischen Alt und Neu basierende Stadtvorstellung vehement als «naive Position» - er sieht sich vielmehr der Kontinuität in der Stadtentwicklung ohne prätentiöse Gesten verpflichtet.

Von der Strasse her kann man den Innenhof am Ende des schmalen, die Gebäude trennenden Spalts nur am Schattenspiel auf den fensterlosen Kalksteinwänden erahnen - ein an die Pittura metafisica erinnerndes Bild. Dort biegt der Gang in einer Querachse in den Hof ab. Auf dieser liegen sich die beiden Eingänge gegenüber und binden das Ensemble von sich ergänzenden Hof- und Gebäudefiguren zusammen. Über diesen versetzten Spalt fliesst der urbane Strassenraum in den Innenhof. Diese kontinuierliche Entwicklung verschiedener Raumzustände - ein Paradigma dezidierter Raumsequenz - setzt sich denn im Innern des Zwillingsbaus auch fort. Die einzelnen Wohnungen widerspiegeln die urbane Situation, die das Gebäude als spezifischer Ort im Stadtraum bildet. So hatten die Architekten auch keine Scheu vor langen Korridoren, die zu den einzelnen Zimmern führen: Der Wohnraum öffnet sich entweder wie eine Erweiterung des Gangs oder wird von diesem abrupt übereck erschlossen.

Den Innenhof gestaltete Dani Karavan, Entwerfer der «Axe Majeur» zwischen Paris und Cergy-Pontoise. Die Natursteinmauer des Nachbargebäudes, in grossen weissen Lettern mit einem Gedichtfragment Paul Verlaines bemalt, schliesst den Hofbereich nach hinten ab. Davor steht ein Ahorn, der zeichenhaft auf die vorüberziehenden Jahreszeiten verweist. Die übrigen drei Seiten des rechteckigen Plätzchens schmücken drei einfache geometrische Skulpturen. Mittels bunter Vorhänge und einiger Geranien hauchen die Bewohner den Hoffassaden, die die Architekten in der gleichen Kargheit wie die Strassenseite hielten, Leben ein. Diese zufälligen Farbtupfer nimmt Roger Diener bewusst in Kauf: «Sie sind Teil der Realität, die sich abbildet; das Haus muss dies ertragen.» Die freitragenden Kalksteinmauern, die beide Bauvolumen umhüllen, betonen - im Gegensatz zu den andernorts meist nur vorgehängten Steinplatten - die Authentizität der Wand.

Unter wechselndem Licht ändert der warme Naturstein aus der Gegend um Paris ständig seine Erscheinung. Im Hof mit seinen glatten Mauern wähnt man sich schon fast in einer mediterranen Umgebung. Das bei Diener & Diener immer wiederkehrende semiotische Spiel der Fenster hinterfragt die pragmatische Bedeutung des Hauses in der Stadt, ohne sich in postmoderner Selbstgefälligkeit zu verlieren. Als wären es die Augen der Häuser, verknüpfen die Fenster, aus denen weitgehend die Identität der Gebäude von Diener & Diener erwächst, Innen und Aussen. Die im Frühling an der ETH Zürich organisierte Ausstellung «Stadtansichten» war ganz diesem Thema im Schaffen von Diener & Diener gewidmet (NZZ 19. 5. 98). Obwohl die Öffnungen an der Rue de la Roquette ursprünglich grösser geplant waren und so der Persönlichkeit des Objektes vielleicht besser entsprochen hätten, bleibt die präzise Komposition der Fassaden für Paris einzigartig. Die versteckte Schönheit dieses Gebäudepaars eröffnet sich im urbanen Bilderrausch nur aufmerksamen Betrachtern. Dabei können die im Amsterdamer Hafen entstehenden Wohnbauten und die dem Baubeginn entgegensehende Schweizer Botschaft in Berlin als weitere Lehrstücke in der Dienerschen Schule der Wahrnehmung betrachtet werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1998.11.06



verknüpfte Bauwerke
Wohnbau

Presseschau 12

23. März 2009Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Auf der Seitenbühne des globalen Architekturspektakels

Obwohl in Norwegen das Öl sprudelt, stellt man den neuen Reichtum nicht mit prahlerischen Architekturen zur Schau. Vielmehr versucht man subtile Akzente in Stadt und Landschaft zu setzen.

Obwohl in Norwegen das Öl sprudelt, stellt man den neuen Reichtum nicht mit prahlerischen Architekturen zur Schau. Vielmehr versucht man subtile Akzente in Stadt und Landschaft zu setzen.

Hinweis: Leider können Sie den vollständigen Artikel nicht in nextroom lesen. Sie haben jedoch die Möglichkeit, diesen im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv abzurufen. Vollständigen Artikel anssehen

04. August 2000Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Zentrale Peripherie?

Natur- und Menschengewalten formten das Stadtbild Hamburgs in den letzten beiden Jahrhunderten stets neu. Nun plant die Hansestadt, den Freihafen wieder dem Stadtzentrum zuzuschlagen. Ein entsprechender Wettbewerb wurde schon durchgeführt und der Masterplan durch das von Kees Christiaanse und Astoc gebildete Team «Hamburgplan» erarbeitet.

Natur- und Menschengewalten formten das Stadtbild Hamburgs in den letzten beiden Jahrhunderten stets neu. Nun plant die Hansestadt, den Freihafen wieder dem Stadtzentrum zuzuschlagen. Ein entsprechender Wettbewerb wurde schon durchgeführt und der Masterplan durch das von Kees Christiaanse und Astoc gebildete Team «Hamburgplan» erarbeitet.

Für Hamburg ist der Handel das Mass aller Dinge. Der weltweite Güteraustausch wurde für die Hansestadt seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Quell von Reichtum und Wohlstand. Die Hafenanlage, die mit den technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Schritt halten musste, bestimmt die Stadtgestaltung bis heute. Als die Eingliederung Hamburgs ins Deutsche Reich und in dessen Zollgebiet für 1888 beschlossen wurde, sah sich die Stadt gezwungen, ihre Stellung als Freihafen aufzugeben - unter der ausbedungenen Wahrung eines Freihafenbezirks. Zur Errichtung der Zollanschlussbauten in der Speicherstadt am südlichen Rand der Innenstadt wurde ein barockes Wohnquartier, in dem rund 24 000 Menschen lebten, kurzerhand abgerissen. Wie aus einem Guss reihten sich danach die gotisierenden Klinkerbauten zu einem dichten Speicherkomplex. Die Zollgrenzen verwandelten die faszinierende, fast menschenleere Stadt in der Stadt in eine geschlossene Welt.


Suche nach architektonischer Identität

Grossmassstäbliche Neuplanungen waren für Hamburg seit dem Brand von 1842, der die barocke Innenstadt weitgehend zerstört hatte, kein Novum mehr. Dabei galt das Augenmerk immer den Handelsbauten. Fragen der Stadthygiene - etwa der Bau einer dringend benötigten Sandfiltrationsanlage - wurden vernachlässigt. Erst nachdem 1892 eine Choleraepidemie 8000 Menschenleben hinweggerafft hatte, nahm die Stadt entsprechende Modernisierungen in Angriff. Anfang des 20. Jahrhunderts gab Oberbaudirektor Fritz Schumacher der Stadt eine neue architektonische Identität, indem er auf den örtlichen Backstein und die traditionelle Architektursprache zurückgriff. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt 1943 im Rahmen der Operation «Gomorrha» durch Brandbomben der Alliierten weitgehend zerstört. Obwohl die öffentlichen Bauten und einige Siedlungen rekonstruiert wurden, blieb Schumachers zusammenhängendes Stadtgeflecht als Ganzes verloren.

Nach Jahrzehnten willkürlichen und traditionsverhafteten Bauens ohne gesamtstädtische Vision erlebte Hamburg erst unter Oberbaudirektor Egbert Kossak zwischen 1981 und 1998 wieder einen - wenn auch nur zaghaften - stadtplanerischen und architektonischen Aufschwung. War die erste Dekade seines Wirkens noch dem traditionellen Bauen - dem Backstein und den Blockrändern - verpflichtet und der Reichtum der Stadt so diskret wie möglich repräsentiert, so versuchte er die Stadt in der zweiten Dekade zu öffnen. Architekturimporte, Berücksichtigung jüngerer Architekten, aber auch Veranstaltungen wie der im Dreijahresrhythmus stattfindende «Architektursommer» sollten der Hansestadt helfen, auf der internationalen Architekturbühne eine Rolle zu spielen. Der erste Bau, der definitiv mit der traditionellen Architektur brach, war das für Gruner + Jahr errichtete Gebäude der Münchner Architekten Steidle und Kiessler: eine Medienwerft aus Blech und Glas (1990).

Erst ein knappes Jahrzehnt später versuchte Hamburg erneut als Medienstadt architektonisch Aufmerksamkeit zu erregen. Auf dem Gelände eines ehemaligen Fussballplatzes im noblen Viertel Rotherbaum baute Norman Foster 1999 ein «Multimedia Center», das aber kaum als Werk des englischen Meisters auffällt. Unmittelbar daneben schufen die Architekten vom Atelier 5 eine Wohnanlage, bei der sie die traditionelle Hofform der Hamburger Mietshäuser gelungen verdichteten. Und vom jüngst verstorbenen Enric Miralles stammt die vor zwei Monaten eingeweihte Jugendmusikschule. Im stadtnahen Hafenbereich entstanden im Rahmen sukzessiver Umbauten der obsoleten Mälzerei- und Speicheranlagen am Elbufer Möbelläden und Büroräume in der grossenteils erhaltenen Bausubstanz. Dass die Speicherstadt weitgehend von derartigen Eingriffen verschont geblieben ist und damit ihre Authentizität bewahren konnte, verdankt sie dem auch heute noch bestehenden Freihafenbezirk, der ihre ursprüngliche Nutzung sichert.

Die Speicherstadt liegt wie eine Gabel mit drei nach Westen, also in Richtung der Elbströmung, zeigenden Zinken südlich der Altstadt auf der Kehrwieder-Wandrahm-Insel. Zunehmende Dimensionen und der stärkere Tiefgang der Handelsschiffe sowie die Rationalisierung der Transportlogistik durch den Containerumschlag erforderten eine stete Vergrösserung der Hafenanlage. Südlich der Elbe drängte sich ihr Astwerk aus Häfen und Kanälen immer weiter ins Land vor. Mit dem technischen Wandel geht aber immer auch ein morphologischer einher, und somit liegen einst blühende Industrieareale irgendwann brach. So wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veraltete Hafenanlagen in der westlichen Welt in attraktive Wohn-, Büro- und Erholungsgebiete umfunktioniert. Nach den bedeutenden Restrukturierungen in Barcelona, London und Rotterdam soll nun in Hamburg die Innenstadt um 50 Prozent ausgedehnt werden. Die Speicherstadt bleibt erhalten und bildet die Schweissnaht zwischen dem Zentrum und deren 155 Hektaren grosser Erweiterung im Freihafen unmittelbar südlich der neugotischen Speicherbauten. Gelingt dieses städtebauliche Unternehmen, so gewinnt Hamburg das vor 100 Jahren abgetretene Gebiet zurück und gleichzeitig rückt das Stadtzentrum wieder zur Elbe hin.


Das Wagnis der Identitätsfindung

Aus dem internationalen Wettbewerb für den Masterplan der «Hafen City» ging 1999 «Hamburgplan», das vom international bekannten niederländischen Architekten Kees Christiaanse und Astoc gebildete Planungsteam, als Sieger hervor. Geschickt reagierte es auf die notgedrungen lange Bauzeit (voraussichtlich soll die Stadterweiterung 25 Jahre dauern), indem es das Areal in acht einzelne Quartiere unterteilte, die nach unterschiedlichen Bautypen und Nutzungen sukzessive entstehen sollen. Von eigener Identität ist im Bericht der Jury die Rede, von zukunftsorientierten Typologien und Flexibilität.

Ob diese Schlagwörter eine entsprechende Umsetzung in die Wirklichkeit erfahren werden, wird sich anhand der anstehenden Projektwettbewerbe erweisen müssen. Am Westende der lang gezogenen Speicherstadt, der Kehrwiederspitze, entstanden bereits in den späten neunziger Jahren Kontorhäuser von Kohn, Pedersen, Fox, GMP und Kieffel, Köhnholdt, Gundermann - ein Ensemble, das in Hamburger Manier kommerziellen Aspekten den Vorrang gab und in seiner historisch wichtigen Lage als Mahnmal für Hamburgs unsensiblen Umgang mit seinem baulichen Erbe betrachtet werden kann. - Der überarbeitete Masterplan des Siegerteams wurde Ende Februar vom Senat verabschiedet. Die einzelnen Viertel auf der Insel muten darin wie ein Musterkatalog verschiedener Stadtstrukturen an, in denen der Blockrand als Leitmotiv variiert wird. Obwohl der erste Direktor der Kunsthalle, Alfred Lichtwark, vor einem Jahrhundert noch verlauten liess: «Es lässt sich nicht sagen, ob in Hamburg das Wasser oder das Land sich als das weniger stabile Element erwiesen hat», bleiben die einst nach funktionalen Kriterien angelegten Häfen und Kanäle unberührt. Unspektakulär wurden die einzelnen Parzellen auf die Insel verteilt, die sich in ihrer gewachsenen Form etwas gegen die starren Geometrien des Masterplans zu sträuben scheint. Mit den geplanten 5500 Wohnungen, 20 000 Arbeitsplätzen, Läden, Parks, Cafés und Unterhaltungszentren, mit einem «Sea Science Center» und dem Kreuzfahrt-Terminal können zweifellos breite Kundenkreise angezogen werden.

Der Rentabilität kommt bei diesem Projekt eine besondere Bedeutung zu. Denn der durch die notwendige Verlagerung der jetzigen Hafenanlagen verursachte Schuldenberg muss durch den Verkauf des Hafengeländes mitfinanziert werden. Ob dabei auch Einzelinvestoren und Kleinunternehmen zum Zuge kommen - wie in den Leitzielen des Masterplans formuliert -, um der neuen Stadt die notwendige soziale Durchmischung und somit ein vielfältiges Leben zu garantieren, wird sich zeigen. Shopping-Malls und Vergnügungszentren ziehen immer eine grosse Klientel in ihren Bann - ein Garant für städtisches Leben sind sie aber auch in zentraler Lage nicht.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.08.04

19. Januar 2000Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Der Keuschheitsgürtel der Architektur

Internationaler Architekturimport bestimmt das Stadtbild von Frankfurt. Um das Grossstädtische, das die Skyline verspricht, einzulösen, werden Architekturkoryphäen nun auch mit kleineren Aufträgen betraut. Jean Nouvels Beitrag zur Geschäftsmetropole scheiterte aber an den Auflagen des Denkmalamts, das eine Politik strikten Konservierens von bestehenden Bauhüllen verfolgt.

Internationaler Architekturimport bestimmt das Stadtbild von Frankfurt. Um das Grossstädtische, das die Skyline verspricht, einzulösen, werden Architekturkoryphäen nun auch mit kleineren Aufträgen betraut. Jean Nouvels Beitrag zur Geschäftsmetropole scheiterte aber an den Auflagen des Denkmalamts, das eine Politik strikten Konservierens von bestehenden Bauhüllen verfolgt.

«Das Neue Frankfurt» spielte in den zwanziger und dreissiger Jahren unter dem Stadtbaurat Ernst May eine Vorreiterrolle im Siedlungsbau. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Wiederaufbauarbeiten zur Linderung der Wohnungsnot im Vordergrund, und in den siebziger Jahren wurden die architektonischen Grundsteine der heutigen Finanzkapitale gelegt. Die sozialpolitischen Planungsaspekte, die einst die Stadtentwicklung prägten, wichen den marktwirtschaftlichen von heute. Doch erst in den achtziger Jahren löste sich Frankfurt am Main vom Ruf des Unwirtlichen. Mit regem Architekturimport sollte die Stadt eine neue Identität erhalten. Architektenkoryphäen aus aller Welt flochten eine Stadtsilhouette nach dem Vorbild amerikanischer Metropolen. Sobald man jedoch von der Skyline weg auf den urbanen Raum blickt, verblasst das Grossstädtische. Dem könnte die Stadt mit einer Architekturpolitik des kleinen Massstabs begegnen, bewahrte sie auch abseits der prestigeträchtigen Grossprojekte ihre Grosszügigkeit im Umgang mit der bestehenden Bausubstanz.


Die architektonische Erblast

1991 erhielt der Architekt Jean Nouvel, der mit dem Kultur- und Kongresszentrum Luzern einmal mehr demonstrierte, dass sein Name Garant für gute Architektur ist, von der Victoria Lebensversicherung den Direktauftrag für ein repräsentatives Büro- und Geschäftshaus im Zentrum von Frankfurt. Auf dem 1500 Quadratmeter grossen Grundstück am Goetheplatz, der an die zentrale Einkaufsmeile angrenzt, stand der Torso eines zu Beginn dieses Jahrhunderts errichteten Sandsteinbaus. Da der Goetheplatz vor dem Zweiten Weltkrieg eine schmale Gasse war, erhielt allein dessen gut sichtbare Gebäudeecke ein stattliches Dekor. Das Bombardement der Alliierten verschonte lediglich den Rumpf des klassizistischen Baus; die gegenüberliegende Gebäudezeile wurde vollständig zerstört. Erst während der Wiederaufbauarbeiten entstand der neue, grosszügige Platz, der der Längsfassade ihre heutige städtische Prominenz verliehen hat. Das erhaltene Gebäudefragment wurde unter Denkmalschutz gestellt, bildete den Ausgangspunkt des Nouvelschen Entwurfs und begründete später den Rücktritt des französischen Architekten.

Seinen kritischen Umgang mit alter Bausubstanz hatte Nouvel schon mehrfach, im besonderen beim Umbau der Oper in Lyon, bewiesen. Klemmte er dort den Opernsaal wie einen Monolithen in die alte Fassadenstruktur, so sollte das Baurelikt in Frankfurt museal in einer Vitrine ausgestellt werden. Das Denkmalamt stemmte sich aber gegen den aus seiner Sicht respektlosen Umgang mit dem baulichen Erbe und verlangte eine Überarbeitung des Projekts. Der zweite Entwurf erfuhr dann aus finanziellen Gründen derartige Abänderungen, dass sich Nouvel vom Projekt zurückzog. Auch das Angebot der Bauherrschaft, er möge die künstlerische Leitung übernehmen, lehnte Nouvel ab. Mit der Zustimmung Nouvels wurde 1997 ein neuer Vertrag abgeschlossen, und so fiel das 40 Millionen Mark teure Bauprojekt zur Überarbeitung und Ausführung ganz unter die Obhut der Frankfurter Projektpartner Hommel & Rodrian, die von Nouvel schon früh als Kontaktarchitekten vor Ort beigezogen worden waren.

Im August 1999 erhielt Frankfurt also seinen «Nouvel-Bau» - wenn auch einen gebändigten. Die klassizistische Fassade wurde konventionell in die neue Glasfassade integriert. Die Handschrift des Meisters ist dabei zwar noch lesbar, die Grosszügigkeit in der kritischen Ausformulierung ging aber verloren. Der sensible Umgang mit dem klassizistischen Erbe lässt sich am Aufbau des vollständig verglasten Bürobaus erahnen: Das die Krümmung der Strasse aufnehmende, in der Mitte leicht geknickte Bauwerk wird in seiner Zentralachse erschlossen und deutet dort einen hohlen, innenliegenden Mittelrisaliten an. Beschützend ragt eine abgespeckte Variation der monumentalen Luzerner Dachkonstruktion über die erhaltene Gebäudeschale hinaus, indem sie die eine Gerade des Grundstücks unbeirrt fortführt und sie scharf in den davorliegenden Platz stechen lässt. Die horizontale Fassadengliederung des Altbaus bildet sich leicht versetzt in den Sonnenblenden der regelmässigen Glashaut fort und unterteilt die sechs unterhalb des Daches liegenden Etagen. Darüber befindet sich eine Art Attikageschoss, das vom Platz her aber kaum wahrnehmbar ist. Das für Läden reservierte Erdgeschoss dehnt sich in den Keller und ins erste Obergeschoss aus. Die Unterteilung der einzelnen Büroräume innerhalb des Stützenrasters obliegt den jeweiligen Benutzern.

Konservieren von Schalen
In Anbetracht der geschehenen und anstehenden baulichen Umwälzungen im und am Stadtzentrum - die Deutsche Bahn nimmt nun nach langem Hin und Her mit der Deutschen Bank, nach verschiedenen geplatzten Bauprojekten und einigen Wettbewerben auf dem 90 Hektar grossen Gelände des Hauptgüterbahnhofs den ersten Bauabschnitt des «Europa-Viertels» mit Urban Entertainment Center und Millennium-Turm in Angriff (NZZ 6. 11. 98) - überrascht dieser keusche Umgang Frankfurts mit seinem architektonischen Erbe. Dass die Stadt am Boden eine andere Architekturpolitik verfolgt als in der Luft, erfuhr schon Norman Foster beim Bau der Commerzbank (NZZ 4. 4. 97), deren untere Geschosse die Struktur und die Materialien der baulichen Umgebung aufnehmen mussten.

Während der Wolkenkratzer das ganze Augenmerk auf seine imposante Vertikalität lenkt, muss sich der Bau der Victoria Versicherung in der Horizontalen des Stadtgeflechts behaupten. Er bildet dabei aber keineswegs die Ausnahme. Auf der Baustelle gegenüber dem «Nouvel-Bau» stehen noch die sich an Stahlkrücken festhaltenden, herausgeschälten Fassaden des Vorgängers, und an der Stirnseite des Platzes wölbt sich ein Dachausbau wie ein metallenes Geschwür aus seinem klassizistischen Gebäuderumpf. Die Reduktion des architektonischen Erbes auf eine oberflächliche Erscheinung im Stadtbild wird zum hypokritischen Ausdruck unserer Epoche und hindert die Baukunst daran, als identitätsstiftender Pfeiler einer Kultur ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Mit dem zurechtgestutzten «Nouvel-Bau» als kritischer Stellungnahme zu dieser Thematik hat Frankfurt die Chance verpasst, auch im Kleinmassstäblichen urbanistische Zeichen zu setzen. Die von Nouvel geforderten Rätsel, die jedes Bauwerk aufwerfen sollte, sind im Geschäftshaus am Goetheplatz nicht wiederzufinden - dies mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb er sich vom Bau distanziert hat.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.01.19



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Victoria Versicherung - Büro- und Geschäftshaus

05. Januar 1999Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Inszenierte Demokratie

Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit...

Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit...

Im Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im eben fertiggestellten Neubau in Strassburg abhalten. Nach der «bataille du siège» mit Brüssel konnte die Stadt im Elsass ihre Position als europäische Metropole sichern. Das Pariser Architektenteam Architecture Studio schuf einen Glaspalast, der zwischen Anonymität und zur Schau gestellter Demokratie oszilliert.

Der Streit um den Sitz des Europäischen Parlamentes ist vorläufig geschlichtet. 1989 wurde die heutige französische Kulturministerin, Catherine Trautmann, Bürgermeisterin von Strassburg. Ein Jahr später liess sie in der Funktion der Präsidentin der «Société d'Equipement de la Région de Strasbourg» (SERS), aber ohne die Unterstützung des Europäischen Parlamentes einen internationalen Architekturwettbewerb für den Bau eines Parlamentssaales ausschreiben, den das Pariser Architektenteam Architecture Studio gewann. Am 12. Dezember 1992 bestätigte das EU-Parlament am Gipfeltreffen von Edinburg den neuen Sitz für die Sessionen und verpflichtete sich auf 20 Jahre als Mieter für das Projekt mit 200 000 Quadratmetern Geschossfläche in der elsässischen Hauptstadt. Das Kriegsbeil der «bataille du siège», wie Trautmann das Ringen um den Sitz des EU-Parlamentes bezeichnete, wurde begraben: In Strassburg finden künftig allmonatlich die Plenarsitzungen, in Brüssel hingegen die ausserordentlichen Sitzungen statt. Dort tagen zudem die parlamentarischen Kommissionen. Luxemburg hingegen beherbergt das Generalsekretariat.

Ein gläserner Schiffsbug

Nordöstlich des historischen Stadtkerns von Strassburg ragt das «Immeuble du Parlement Européen Nº 4» (IPE 4) wie ein riesiger Schiffsbug aus der gekrümmten Flussgabelung, wo der Ill und der Kanal Marne-au-Rhin zusammenlaufen. Die leicht ansteigende und dann wieder abfallende Glasfassade zeichnet die geschwungene Form des Uferbogens nach. Von aussen kaum erkennbar, durchstösst die Kuppel des Parlamentssaales – der volumetrische und funktionale Kern der Anlage – die glatte Dachfläche aus perforierten Blechplatten, die unter der Sonne wie ein geneigtes Eisfeld erscheint. An der Rückseite wölbt sich die Westfassade auf den grossen Eingangsbereich, der die Parzelle gegenüber einer aus den zwanziger Jahren stammenden Gartenstadt abgrenzt. In der Mitte dieser Glasfront reckt sich der 18geschossige Zylinder des von messerscharfen Sonnenblenden umwundenen, gedrungenen Turms aus dem bogenförmigen Bauvolumen, das ihn zur Hälfte umschliesst. Darin finden 1133 Büroräume Platz, von denen etwas mehr als die Hälfte für die Abgeordneten reserviert sind. Das Innerste des Turms ist ellipsenförmig ausgekernt und als zentraler, den ganzen Komplex erschliessender Eingangshof gestaltet. Dorthin gelangt man über eine breite Treppe. Diese bildet auch den Anfang des Korridors, der diagonal alle Gebäudezonen durchsticht und über eine Passerelle zum bestehenden Parlamentsgebäude auf der anderen Ill-Seite führt. Ein gekurvter Spalt, in dem sich die Rampe zum Parkhaus in die Untergeschosse windet, trennt die zwei Hauptvolumen.

Das von Trautmann als «triangle magique» bezeichnete Ensemble, das aus der «Cour des Droits de l'Homme» – Richard Rogers' Arche für Menschenrechte –, aus dem alten «Parlement Européen» und dem neuen IPE 4 besteht, gruppiert sich um das Bassin de l'Ill. Als wäre er die Fortsetzung der Strasse, die zum alten Parlamentsgebäude führt, durchschneidet ein 200 Meter langer Lichthof in der Form einer «rue jardin» den bogenförmigen Neubau, ohne dabei die Symmetrie des Komplexes zu stören. Kletterpflanzen ranken sich an Stahlseilen zu den Glaselementen im Dach. Funktional trennt diese «rue jardin» den öffentlichen Bereich von jenem der Parlamentarier, wo fünf kleine Sitzungssäle untergebracht sind. Zwei Einschnitte mit Vertikalerschliessungen flankieren die Kuppel symmetrisch. Trotz ihrer Eichenholzverkleidung ist sie wie ein Monolith in den Glaskörper geklemmt. – Die komplexe Wegführung für die verschiedenen Benutzergruppen gewinnt durch die grosszügig bemessenen Zirkulationsräume an Übersicht. In der Überlagerung der Wegbereiche für die verschiedenen Benutzer werden Piranesis «Carceri» – ihrer düsteren Stimmung entledigt – Wirklichkeit. Als Aufenthaltsbereich dient der um den Plenarsaal fliessende, von natürlichem Licht erfüllte Bereich. Dort ermöglichen tulpenförmige Sitzgruppen von Avant-Travaux, die wie Blumen auf freiem Feld verstreut sind, den Gedankenaustausch. Im Inneren des ovalen Plenarsaals selbst schaffen das gleichmässig durch die rundum laufenden Milchglaslamellen einfallende Licht und die unzähligen Lämpchen auf den nach akustischen Kriterien wellenförmig gestalteten Deckenstreifen eine ruhige Beleuchtung. Unter der Parlamentskuppel finden bis zu 750 Abgeordnete im Saal und mehr als 600 Zuschauer auf den oberen Rängen Platz. Hier wird deutlich, wie sehr das Thema der Politik als Spektakel den als Bühne der Demokratie gedachten Bau durchzieht.

Der spielerische Umgang mit geometrischen Formen und Körpern ist typisch für Architecture Studio; in Strassburg thematisierten die Architekten Kreis und Ellipse als Sinnbilder der abendländischen Kultur. Steht der Kreis für das Perfekte, so verweist die Ellipse, auch etymologisch, auf das Mangelhafte. Mit der Überschneidung beider Formen wollte das Architektenteam der Dialektik von Zentralmacht und bewegter Demokratie im Parlamentsgebäude symbolisch Ausdruck verleihen. Während dem kreisförmigen Büroturm ein Oval eingeschrieben ist, sind die Parlamentariersitze kreisförmig unter der elliptischen Kuppel des Plenarsaales angeordnet.

Urbanistische Aspekte

Die Frage der Massstäblichkeit, wie sie aus dem Bauprogramm erwächst, bildete einen Kernpunkt der urbanistischen Aufgabenstellung. Während im Inneren des IPE 4 die «Polis» Europas unter einem Dach bar jeglicher Monumentalität auf den Menschen zugeschnitten ist, erscheinen die beiden Bauvolumen von aussen in ihrer Morphologie und der Anonymität der die Umgebung spiegelnden Glashaut massstabslos. Darüber kann auch das Aufbrechen der einzelnen Gebäudeschichten im Büroturm nicht hinwegtäuschen. Obwohl Martin Robain, einer der sieben Partner von Architecture Studio, betont, dass «die wahre Revolution der Informatik auf der Baustelle geschieht», tritt der architektonische Ausdruck einer informatisierten Ästhetik zutage. Doch nur dank der computerisierten Einzelanfertigung der meisten Bauelemente konnte der gesamthaft knapp drei Milliarden Francs teure Bau in nur vier Jahren entstehen. Die Architekten fanden hier zu einer wahren Meisterschaft darin, wie man eine Baustelle führt.

Die heiter anmutende Inschrift auf Bruno Tauts Glashaus von 1914 – «Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last» – findet hier zum zweitenmal eine zeitgenössische Interpretation in Strassburg, wurde doch kürzlich erst Adrien Fainsilbers Musée d'art moderne et contemporain eröffnet (NZZ 11. 11. 98). Im kommenden Februar wird das Europäische Parlament seine erste Session im neuen Gebäude abhalten. Bleibt das Pulsieren des Politspektakels tagsüber von aussen auch verborgen, werden doch die unzähligen Lämpchen in der Holzkuppel, die auf die Hitze der parlamentarischen Diskussionen reagieren, den nächtlichen Himmel der elsässischen Europa-Metropole lebendig erhellen.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 1999.01.05



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Europaparlament

06. November 1998Serge von Arx
Neue Zürcher Zeitung

Basler Spuren in Paris

Paris bemüht sich um qualitativen Architekturimport aus dem Ausland. Unmittelbar beim Cimetière du Père Lachaise konnte das Basler Architekturbüro Diener & Diener in einem Direktauftrag einen Wohnbau erstellen. Als Ikone der «Neuen Sachlichkeit» vertritt er im heterogenen Strassenbild die Position einer Deutschschweizer Architekturvorstellung.

Paris bemüht sich um qualitativen Architekturimport aus dem Ausland. Unmittelbar beim Cimetière du Père Lachaise konnte das Basler Architekturbüro Diener & Diener in einem Direktauftrag einen Wohnbau erstellen. Als Ikone der «Neuen Sachlichkeit» vertritt er im heterogenen Strassenbild die Position einer Deutschschweizer Architekturvorstellung.

In Paris sind die Zeiten der monumentalen, im Geist des französischen Zentralismus konzipierten Stadteingriffe einstweilen vorüber. Die Seinestadt, in den achtziger Jahren ein architektonisches Dorado, ist heute eine Architekturlandschaft im Wandel. Während zurzeit die meisten Grossprojekte französischer Provenienz im Ausland entstehen, konzentrieren sich die Architekten in Paris wieder vermehrt auf architektonische Innovation. Vor allem kleinere Arbeiten verändern abseits der grossen Strassenachsen die Metropole langsam. Hier findet man oft aber auch Architekturimport. Vor allem die Régie Immobilière de la Ville de Paris (RIVP) bemüht sich um eine architektonische Öffnung, indem sie internationale Wettbewerbe ausschreibt und auch Direktaufträge an ausländische Architekten erteilt. Nachdem die Schweiz bereits mit Aurelio Galfetti und Livio Vacchini vertreten ist, beginnen demnächst Herzog & de Meuron auf Grund eines gewonnenen Wettbewerbs an der Rue des Suisses zu bauen.

Schon jetzt aber fügt sich ein Beispiel der neuen Deutschschweizer Architektur im elften Arrondissement gleich unterhalb des Cimetière du Père Lachaise diskret in die Strassenfront ein. Mit der vor rund einem Jahr vollendeten Bebauung lieferte das Basler Architekturbüro Diener & Diener einen Beitrag an die Umgestaltung der Metropole, der in der Klarheit der Kubatur, der Präzision der Proportionen und der Strukturierung des Stadtraumes seinesgleichen sucht. Der Neubau ist das zweitletzte Gebäude an der Rue de la Roquette, der die Achse zum westlichen Haupteingang des berühmten Friedhofs bildet. Der Ort ist von der Heterogenität jener Pariser Strassenzüge geprägt, die ausserhalb von Haussmanns Fassadendiktat entstanden. Die beiden neuen Baukörper, die in ihrer einheitlichen Fassadengestaltung als ein Gebäude gelesen werden können, sind auf der Parzelle etwas zurückversetzt. In dichter Bebauung erstrecken sich die 37 Wohnungen, die für das medizinische Personal der Assistance Publique reserviert sind, an der Strassenseite über sieben bzw. acht leicht versetzte Etagen, die ab der sechsten zurückspringen.

Um der intimen Situation des Innenhofes gerecht zu werden, verringerten die Architekten die Gebäude hier auf fünf Geschosse. Im traditionellen Sockelgeschoss öffnen sich Läden mit zugehörigem Mezzanin zur Strasse hin. Langwierige Diskussionen mit der Denkmalpflege ergaben sich einerseits, weil die Architekten anstelle eines traditionellen Einzelbaus zwei autonome, in engem Dialog zueinander stehende Körper nahe zusammen auf die Parzelle stellten. Andererseits bildete jenes Merkmal den Stein des Anstosses, das sich wie ein roter Faden durch die Arbeit von Diener & Diener zieht: die Transzendierung des Gewöhnlichen. Roger Diener verwirft die auf einer Polarisierung zwischen Alt und Neu basierende Stadtvorstellung vehement als «naive Position» - er sieht sich vielmehr der Kontinuität in der Stadtentwicklung ohne prätentiöse Gesten verpflichtet.

Von der Strasse her kann man den Innenhof am Ende des schmalen, die Gebäude trennenden Spalts nur am Schattenspiel auf den fensterlosen Kalksteinwänden erahnen - ein an die Pittura metafisica erinnerndes Bild. Dort biegt der Gang in einer Querachse in den Hof ab. Auf dieser liegen sich die beiden Eingänge gegenüber und binden das Ensemble von sich ergänzenden Hof- und Gebäudefiguren zusammen. Über diesen versetzten Spalt fliesst der urbane Strassenraum in den Innenhof. Diese kontinuierliche Entwicklung verschiedener Raumzustände - ein Paradigma dezidierter Raumsequenz - setzt sich denn im Innern des Zwillingsbaus auch fort. Die einzelnen Wohnungen widerspiegeln die urbane Situation, die das Gebäude als spezifischer Ort im Stadtraum bildet. So hatten die Architekten auch keine Scheu vor langen Korridoren, die zu den einzelnen Zimmern führen: Der Wohnraum öffnet sich entweder wie eine Erweiterung des Gangs oder wird von diesem abrupt übereck erschlossen.

Den Innenhof gestaltete Dani Karavan, Entwerfer der «Axe Majeur» zwischen Paris und Cergy-Pontoise. Die Natursteinmauer des Nachbargebäudes, in grossen weissen Lettern mit einem Gedichtfragment Paul Verlaines bemalt, schliesst den Hofbereich nach hinten ab. Davor steht ein Ahorn, der zeichenhaft auf die vorüberziehenden Jahreszeiten verweist. Die übrigen drei Seiten des rechteckigen Plätzchens schmücken drei einfache geometrische Skulpturen. Mittels bunter Vorhänge und einiger Geranien hauchen die Bewohner den Hoffassaden, die die Architekten in der gleichen Kargheit wie die Strassenseite hielten, Leben ein. Diese zufälligen Farbtupfer nimmt Roger Diener bewusst in Kauf: «Sie sind Teil der Realität, die sich abbildet; das Haus muss dies ertragen.» Die freitragenden Kalksteinmauern, die beide Bauvolumen umhüllen, betonen - im Gegensatz zu den andernorts meist nur vorgehängten Steinplatten - die Authentizität der Wand.

Unter wechselndem Licht ändert der warme Naturstein aus der Gegend um Paris ständig seine Erscheinung. Im Hof mit seinen glatten Mauern wähnt man sich schon fast in einer mediterranen Umgebung. Das bei Diener & Diener immer wiederkehrende semiotische Spiel der Fenster hinterfragt die pragmatische Bedeutung des Hauses in der Stadt, ohne sich in postmoderner Selbstgefälligkeit zu verlieren. Als wären es die Augen der Häuser, verknüpfen die Fenster, aus denen weitgehend die Identität der Gebäude von Diener & Diener erwächst, Innen und Aussen. Die im Frühling an der ETH Zürich organisierte Ausstellung «Stadtansichten» war ganz diesem Thema im Schaffen von Diener & Diener gewidmet (NZZ 19. 5. 98). Obwohl die Öffnungen an der Rue de la Roquette ursprünglich grösser geplant waren und so der Persönlichkeit des Objektes vielleicht besser entsprochen hätten, bleibt die präzise Komposition der Fassaden für Paris einzigartig. Die versteckte Schönheit dieses Gebäudepaars eröffnet sich im urbanen Bilderrausch nur aufmerksamen Betrachtern. Dabei können die im Amsterdamer Hafen entstehenden Wohnbauten und die dem Baubeginn entgegensehende Schweizer Botschaft in Berlin als weitere Lehrstücke in der Dienerschen Schule der Wahrnehmung betrachtet werden.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1998.11.06



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