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06. Juli 2020Markus Jakob
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Reizvolle Ruheinsel

Auf den ersten Blick erscheint er als eine ornamentale Übung auf dem Gelände des Hospital de Sant Pau, einem zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Jugendstil-Komplex. Doch der Pavillon des ersten Maggie’s Centre auf dem Kontinent besticht durch die liebliche Präzision, mit der er sich in seine diffizile Umgebung fügt, und mehr noch durch seine hoch differenzierten Innenräume auf bescheidener Fläche.

Auf den ersten Blick erscheint er als eine ornamentale Übung auf dem Gelände des Hospital de Sant Pau, einem zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Jugendstil-Komplex. Doch der Pavillon des ersten Maggie’s Centre auf dem Kontinent besticht durch die liebliche Präzision, mit der er sich in seine diffizile Umgebung fügt, und mehr noch durch seine hoch differenzierten Innenräume auf bescheidener Fläche.

Irritierend zunächst der Name: Kàlida, mit befremdlichem K, der das katalanische Wort für warm (càlid) evoziert und entfernt auch die calidad (Qualität) anklingen lässt – letztlich aber wohl gewählt wurde, um eine fürsorgliche, vielleicht sogar mütterliche Wärme auszudrücken und gleichzeitig offen für vielerlei Assoziationen zu sein. Aber hier geht es ja nicht um Sprachkritik.

Sant Pau und Maggie’s

Der Krankenhaus-Komplex Sant Pau umfasst neun Häuserblöcke des Cerdà-Rasters unweit der Sagrada Família. Die Avenida Gaudí verbindet beide Weltkulturerbe-Stätten. Doch während Gaudís Tempel immer frenetischer zur monumentalen Groteske ausgebaut wird, sind die fantastisch durchstilisierten Jugendstilgebäude seines Zeitgenossen Domènech i Montaner sorgsam renoviert worden, und 1999-2010 entstand am Nordostrand des Areals das neue Krankenhaus, entworfen von Bonell Gil + Rius, Canosa y Barberà. Der Vergleich mit der Berliner Charité ist naheliegend – flächenmäßig zumindest und was die diversen Bauabschnitte betrifft. Sant Pau ist zwar nicht das wichtigste Hospital Barcelonas, aber seine Gliederung – der zentrierten Bettenburg fundamental entgegengesetzt – bleibt doch eine Referenz.

Zwischen dem fingerförmig ausgreifenden Neubau, den unterirdisch miteinander verbundenen Preziosen von Domènech i Montaner und einigen weniger ansehnlichen Behelfsbauten blieb ein »terrain vague«, das der Gestaltung harrte. Der Pavillon von EMBT mit seinem Garten ist ein erstes Element, das auf diesem schmalen Streifen auf abschüssigem Gelände für eine liebliche Ordnung sorgt.

Er wurde nach den Prinzipien von »Maggie’s« gebaut. Der Name steht für ein Konzept, das die schottische Schriftstellerin und Landschaftsgestalterin ­Maggie Keswick Jencks erdacht hat: Krebspatienten eine Umgebung nahe der oft feindlich erscheinenden Krankenhäuser zu bieten, in der sie sich wohlfühlen, entspannen und (mit Psychologen z. B.) unterhalten können, stets von einem Garten umgeben. 1996, kurz nach Maggies Tod, wurde der erste Pavillon in Edinburgh eröffnet. Seither sind über 20 davon hinzugekommen, und die Liste der Entwerfer ist ein You-name-it der Weltarchitektur. Barcelona ist nach Hongkong und Tokio der erste Ableger außerhalb Großbritanniens, obwohl die Baufinanzierung wie der Betrieb hier durch lokale Stiftungen übernommen wurde. Daher auch der Name Kàlida (und nicht Maggie’s). Die Generosität vieler der beitragenden Firmen – zuvorderst der Architekten und der Innengestalterin Patricia Urquiola – verleiht dem Projekt eine umso größere Liebenswürdigkeit.

Benedetta und Patricia

Der Pavillon liegt zweigeschossig vor dem am schroffsten wirkenden Teil des Neubaus: der onkologischen Abteilung, die ins Parkhaus überleitet. Er hat zwei Eingänge: nordseitig von der Krebsabteilung aus erschlossen, von dieser aber entschieden durch eine gerundete Mauer getrennt; der andere über eine sich in den Garten hinunter kurvende Rampe zugänglich. Die Hanglage ­wurde genutzt, um diesen versenkten Garten zu schaffen: Das OG liegt auf der Höhe der noch ungestalteten unmittelbaren Umgebung; das EG und der Garten, darin eingebettet, einige Meter tiefer. 

Dieser in mehrerlei Hinsicht verborgene, wiewohl frei zugängliche Garten ist eine Delizie. Jasminblütiger Nachtschatten und Bougainvilleas ranken sich an den Pfeilern der rostroten stählernen Pergola empor und werden sie dereinst weitgehend überdecken, um dem Außenraum Schatten und eine noch intimere Stimmung zu verleihen. Ein Gingko, eine Trauerweide, ein Spitzahorn u. a., alle außer einem verknorpelten Ölbaum jetzt noch jung, setzen die Hauptzeichen der Bepflanzung. Nur das Lüftungsgebrumm vom neuen Krankenhaus her stört dieses Idyll ein wenig.

So wie der Garten und darin die Pergola, im Grundriss organisch, blütenartig erscheinen, wurde auch der Pavillon selbst fächerartig entworfen. Die Aufsicht aus dem höherliegenden Krankenhausneubau zeigt ein Dach, das in drei Grün- und Gelbtönen seinerseits Natur evoziert.

Es mag an eins der späten Projekte von Enric Miralles (1955-2000) erinnern, den Mercat de Santa Caterina: Dort ist die bunte Dachlandschaft zwar nur für einige Anwohner in voller Pracht sichtbar – dennoch gehört sie zu den Ikonen der jüngeren Architektur Barcelonas.

Nun hat Miralles’ Witwe Benedetta Tagliabue – mit ihr zusammen firmierte das Studio als EMBT, und sie leitet es unter demselben Namen erfolgreich weiter – fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod diese Ideen in kleinerem Maßstab aufgenommen und variiert. (Erstaunlich bleibt, wie die beiden Lebens- und Arbeitspartnerinnen des kometenhaften Architekten, Carme Pinós und die in Mailand geborene Benedetta Tagliabue, in ihren Karrieren Miralles’ Werk weiterzuentwickeln vermochten.) Kommt hinzu die spanische Innen­architektin Patricia Urquiola, die ihrerseits in Mailand arbeitet. Die Möblierung des Pavillons spielt mit der Architektur auf bemerkenswerte Weise zusammen. Es ist konstruierte Behaglichkeit, freundlich ausgestattetes Wohlbefinden, gemäß dem Auftrag – laut Benedetta Tagliabue einem der schönsten ihres Lebens.

Gebaute Wonne

Als Reminiszenz an die Pavillons von Domènech i Montaner präsentiert sich der Bau von außen in sorgfältig durchgestaltetem, teilweise emailliertem Ziegelstein. Einige Jugendstil-Ornamentationen der historischen Bauten, die gotisierend von abstrahiert floral bis hin zu figürlich reichen, wurden nachempfunden; das in Dreiecke geteilte Hexagon ist ein klassisches Motiv des ­katalanischen Modernisme, ebenso die Emaillierung und die vorkragenden Ziegel. Zugleich filtern Durchbrechungen spielerisch Licht ins Innere. (Man könnte bei dieser Backstein-Feingliederung auch an die Amsterdam-Schule denken.)

Die Dreiecke werden in der Horizontalen der Pergola in edelhölzerner Gestalt aufgenommen. Die schrägen Sprossen der Fensterrahmen im EG und die Brisesoleils vor den großen Fenstern im OG sind gestalterische Elemente, die erst im Innern ihre ganze Zauberkraft entfalten. Wie die ganze Fassade überhaupt ihren Charme vorwiegend aus dem Innern bezieht. Von außen kann sie zunächst ein wenig überkandidelt, fast absurd wirken. So nimmt man die südseits vorkragende Außenmauer zwar als willkommene Schattenspenderin wahr; der ästhetische Sinn der Doppelfassade ist jedoch erst vom geräumigen Bürotriangel im OG aus zu erkennen, wo sie zwar keine Außenblicke erlaubt, aber ein wirklich bezauberndes Licht schafft.

Unten öffnet sich der Eingang von der Neubauseite auf den doppelstöckigen Zentralraum mit seinem großen Tisch; darüber hängen Leuchten, deren Form nun fatalerweise an das Coronavirus erinnert. Interessanter sind die Nebenräume – denn im Grunde besteht der Bau nur aus teils offenen, teils durch Schiebetüren abgrenzbaren Kompartimenten, in denen man es sich auf Sitzgruppen – ihrer acht oder zehn, jede anders – bequem machen kann.

Die Architektin beschreibt Kàlida im Gespräch als ein »aus Fragmenten fabriziertes Gebäude« und nennt es »ein wenig surrealistisch: wo Träume in Wirklichkeit verwandelt werden und vice versa«. Bodenbeläge variieren (das Parkett ist ein Meisterwerk für sich), die Wände sind neutral hellgrau (bis auf die ungestrichenen vertikalen Streifen, die Benedetta durchsetzte, obwohl Patricia mit dem neutralen Grau ihre überreiche Möblierung konterkarierte), die Decken wiederum verspielt aus Katalanischen Gewölben (flache Ziegelgewölbe) gebildet.

Es gibt einen winzigen Raum, vor dem ein ebenso winziges Innengärtchen liegt: Man könnte sich in Japan wähnen. Laut einer Kàlida-Mitarbeiterin wird er jedoch selten aufgesucht; die Patienten ziehen die offenen Räume vor. Der leuchtendste davon liegt auf der Westseite im OG, mit seinen von EMBT entworfenen Leuchten. Patricia Urquiola hat das Haus mit eigenen, aber auch vielen anderen Elementen mitgestaltet. Die Korridore beider Geschosse zieren indische Tapisserien, die ihre Firma herstellen lässt. Der Möbelreichtum konfiguriert sich hier, in Konsonanz mit dem räumlichen Reichtum, zu einem großartigen kleinen Ganzen.
Bleibt die Frage, wie klug die Zentralisierung der Krankenhäuser in riesigen Bettenburgen je war. Sant Pau ist das perfekte Gegenbeispiel – war es seit jeher, und der Kàlida-Pavillon liefert dazu einen frischen Beitrag.

db, Mo., 2020.07.06



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db 2020|07-08 Ornament

18. Januar 2015Markus Jakob
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Der vertikal verlängerte Platz

Das neue Seminargebäude der katalanischen Wirtschaftskammer hat eine für viele Barcelonesen sentimental besetzte Ecke so unterkühlt wie hochherzig in Beschlag genommen. Die großflächig verglasten Foyers der übereinander gestapelten Seminarräume bilden »vertikale Plätze«, die den aufgeweiteten Stadtraum vor dem Haus gewissermaßen ins Gebäudeinnere fortführen. Dank dieses Klimapuffers und des kompakten Baukörpers gelingt es den Architekten zudem, den Energiebedarf des Gebäudes stark zu reduzieren.

Das neue Seminargebäude der katalanischen Wirtschaftskammer hat eine für viele Barcelonesen sentimental besetzte Ecke so unterkühlt wie hochherzig in Beschlag genommen. Die großflächig verglasten Foyers der übereinander gestapelten Seminarräume bilden »vertikale Plätze«, die den aufgeweiteten Stadtraum vor dem Haus gewissermaßen ins Gebäudeinnere fortführen. Dank dieses Klimapuffers und des kompakten Baukörpers gelingt es den Architekten zudem, den Energiebedarf des Gebäudes stark zu reduzieren.

Für die einen bedeutet »Bildung« das reine Ansammeln von Faktenwissen, für die anderen bezeichnet der Begriff eine glückhafte Verbindung von allseitiger Offenheit und der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und nutzbar zu machen. Für Letztere haben die Architekten Roldán + Berengué mit ihrem Neubau für die Wirtschaftskammer einen Ort geschaffen, der nicht einfach nur einen weiteren Stadtbaustein darstellt, sondern durchlässige Räume bildet, die das öffentliche Leben einsaugen, reflektieren und auch in dieses hinauswirken.

Anknüpfungspunkte und Verbindungen, v. a. historischer Art, gibt es einige: Der Platz, dessen nördliches Ende das Seminar- und Verwaltungsgebäude belegt, ist nach Galla Placidia, der letzten römischen Kaiserin benannt. In ihrem bewegten Leben bekam sie es zwischen ihrer Geburtsstadt Konstantinopel und Spanien mit Goten und Hunnen zu tun. Im Jahr 414 brachte sie, entführt und zwangsverheiratet, in Barcelona ein Kind des Westgotenkönigs Athaulf zur Welt. Daher die ehrenhafte Benennung des Platzes, den man im Grunde als eine, wenn auch beträchtliche, Aufweitung der Via Augusta ansehen kann, die ihrerseits wiederum auf das römische Straßennetz verweist.

Viele Barcelonesen hatten zu diesem Winkel in der oberen Stadtmitte, zwischen den Quartieren Gràcia und Sant Gervasi, eine sentimentale Beziehung: Hier befand sich innerhalb einer alten Industriestruktur ein kleiner Rummelplatz – sein Karussell unter dem Namen El Caspolino war stadtbekannt. Dem trägt der Neubau im Eingangsbereich mit Druckmotiven auf den Glasfassaden Rechnung, deren Vokabular zwar den Wirtschaftswissenschaften entliehen ist, aber zugleich auch die Pferdchen des alten Karussells diskret nachbildet. Ähnlich gestaltet sind die Sonnenschutzaufdrucke der Verglasungen in den OGs, wo Texte zu dekorativen Streifen zusammengebunden sind und – so heißt es – die Hälfte des einfallenden Sonnenlichts reflektieren.

Vom obersten Stockwerk mit prachtvoller Aussicht aus reicht der Blick auf der einen Seite zu Bofills umstrittenem Segel des Hotel W vor dem Meereshorizont, auf der anderen zu Fosters Kommunikationsturm hoch oben auf der Serra de Collserola. Zu Füßen breitet sich eine zum reinen Fußgängerbereich umgestaltete Fläche von 150 x 45 m aus.

Schmal, aber weit

Von dem schmalen, 380 m² messenden Grundstück nimmt sich das ebenso unterkühlt wie hochherzig auftretende Gebäude 32 m entlang der Platzkante und gerade einmal 10,5 m in der Tiefe. Von außen präsentiert es sich als von Vertikalen geprägter Abschluss des Platzes; seitlich – an der Via Augusta – gibt es sich bis auf einen verglasten Streifen hermetisch. Die Geschosseinteilung wird dabei verschleiert, indem eine übergeordnete Geometrie mit nach oben hin zunehmenden Höhen von etwa 4, dann 7 und schließlich 13 m mitunter zwei Geschosse zusammengefasst und somit eine scheinbare Dreistöckigkeit erzeugt. Dieses Spiel mit den Fassadenflächen thematisiert den Übergang vom durchschnittlich dreigeschossig bebauten Viertel Gràcia in das wesentlich höher aufragende Viertel Sant Gervasi, den der Platz markiert. Der schmale Bereich über dem EG ist vom Mehrzwecksaal belegt, im mittleren Bereich sind die Seminarräume versammelt und hinter den fast turmartig aufragenden Stufen ganz oben befinden sich kleinere Räume und die Verwaltung.

Das Innere ist v. a. von Holzoberflächen geprägt und wird dadurch zu einer Art städtischem Wohnzimmer. Durch die Mischung edlerer mit sehr günstigen Materialien und z. T. vorfabrizierten Elementen konnte man im Kostenrahmen bleiben. Erstaunlich ist, auf wie einfache Weise – übrigens durchweg mit marktgängigen Materialien und Objekten ausgestattet – ein solches Kleinod ein anderes, dem viele Barcelonesen nachtrauerten, würdig ersetzen kann.

Es finden sich subtile Details wie z. B. die seitlich zwischen den Gebäudestützen eingelassenen Sitznischen des Auditoriums im 1. UG, deren modisch abgeschrägte Holzvertäfelung den Blick aufs Podium erweitert.

Kaum prägnanter hätte die Trennung zwischen den Schulungsräumen und den vorgelagerten Vestibülen mit hölzernen, in den Pausen weit zu öffnenden Zwischenwänden ausfallen können. Der massive Wechsel von den hermetisch wirkenden, ganz in Weiß gehaltenen Seminarräumen zu den warmtonigen, sonnendurchfluteten Flurzonen muss jedem Seminaristen wie eine Offenbarung vorkommen.

Mit dieser längsseitigen Zweiteilung wurden auf allen sechs Geschossen sich wiederholende Räume geschaffen. Die kommunikativen Flure dienen dabei als klimatische und akustische Pufferzonen. Man darf sie getrost als Balkone ansehen. Sie liegen zwar hinter der doppelten, das Klima kontrollierenden und – zumindest rechnerisch – fast drei Viertel der eingestrahlten Energie abwehrenden Glasfassade, nehmen zum Platz aber dennoch eine symbiotische Beziehung auf, quasi als dessen vertikale Verlängerung. Ein Vergleich mit den Terrassen japanischer Tempel erscheint nicht abwegig. Japanische Einflüsse, etwa die in Tatami-Manier ausgelegten keramischen Bodenbeläge, werden weder verleugnet noch hochgespielt. Die stützenfreien Geschosse sind wie Räume eines japanischen Hauses frei konfigurierbar gedacht. Auch die Verwandtschaft der bedruckten Gläser mit Papierwänden darf man anerkennen, wenngleich sie eher einer Neuinterpreation altbekannter Brise-Soleils gleichkommen, wie sie traditionell zum Bild Barcelonas gehören. Die Architektin Mercè Berengué meint dazu: »Das Lattenfenster ist Buchstabe geworden.«

Trotz der beengten Verhältnisse nimmt das Gebäude von den rückseitig angrenzenden Bauten etwa einen Meter Abstand. Große Teile der Innenräume lassen sich somit beidseitig belüften und von Norden her belichten. Fenster zu den Nachbargebäuden und zu einem Innenhof hin erlauben ein Minimum an Licht in den unteren Stockwerken, ausreichend davon in den vom Platz abgewandt liegenden Räumen und in den obersten beiden Geschossen. Durch den kompakten Baukörper, die großen Glasflächen der Doppelfassade und den Sonnenschutz erhofft man sich eine Energieeinsparung von 45 % gegenüber dem spanischen Standard.

Tagsüber reflektiert das Glas der Fassaden den Himmel und das Treiben auf dem Platz, nachts wird es durchsichtig und das Gebäude nimmt den Charakter eines Setzkastens an. Mit seiner Offenheit und der Art, wie es je nach Beleuchtung von seinem Innenleben erzählt, bietet das Gebäude den Nutzern die Gelegenheit, nicht nur physikalisch ihren Blick in die Stadt hinein zu weiten, sondern auch ihre Gedanken aus der Innensicht in die Außenwelt zu übertragen.

Mit diesem Werk haben die Architekten bereits eine ganze Reihe regionaler und auch internationaler Preise eingeheimst – angesichts der Vielzahl guter Ideen und der hochästhetischen Gestaltung völlig zu Recht.

db, So., 2015.01.18



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db 2015|01-02 Bildungsbauten

05. Oktober 2014Markus Jakob
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Die Kunst der gescheiten Bescheidenheit

Die Artefakte eines beim katalanischen Dorf Seró entdeckten Steintischs werden in einem minimalistischen Gebäude präsentiert, das durch die gekonnte Kombination von denkbar primitiven Baumaterialien einen gleichermaßen unprätentiösen wie eleganten Charakter erhält und die annähernd 5 000 Jahre alten Fundstücke stimmungsvoll in Szene setzt.

Die Artefakte eines beim katalanischen Dorf Seró entdeckten Steintischs werden in einem minimalistischen Gebäude präsentiert, das durch die gekonnte Kombination von denkbar primitiven Baumaterialien einen gleichermaßen unprätentiösen wie eleganten Charakter erhält und die annähernd 5 000 Jahre alten Fundstücke stimmungsvoll in Szene setzt.

Heute liegt die Gegend abseits der Hauptverkehrslinien, die Barcelona mit Madrid verbinden – man hat hier aber Hannibal vorbeiziehen sehen, wie auch die Blüte und die Zurückdrängung der arabischen Kultur, und Archäologen stießen in der Umgebung des Río Segre wiederholt auf zahlreiche stein- und bronzezeitliche Reste Jahrtausende alter Siedlungen, die in Verbindung mit weit entfernten Orten des Neolithikums standen.

Im Jahr 2007, beim Bau eines Bewässerungskanals, entdeckte man die Trümmer eines Dolmens (Steintisch), den die Archäologen der Universität Lleida sogleich als einzigartig erkannten; sind in die Steine doch geometrische Muster eingraviert, die sich als Umrisse menschlicher Figuren deuten lassen. Einer der Steine muss beinahe 9 m gemessen haben – höher als alle bisher bekannten Monumente jener Zeit. Man hat den anscheinend (wer weiß wann und warum) absichtlich zerteilten Megalithen nach vielen Diskussionen in seinen Teilstücken belassen und dergestalt in dem eigens dafür geschaffenen Besucherzentrum in Seró ausgestellt, kaum einen Kilometer von der Fundstätte entfernt.

Es war die (nur etwa 50-köpfige) örtliche Bevölkerung, die darauf drängte, die Steine nicht, wie im Normalfall, in ein Museum in Barcelona verfrachten zu lassen. Stattdessen wurde, um die sieben gravierten Felsstücke zu beherbergen und dem Dorf zugleich das bisher fehlende Gemeindezentrum zu bescheren, mit einem minimalen Gesamtbudget von 652 000 Euro (die Hälfte davon aus dem örtlichen Kulturetat) ein 500 m² umfassender Neubau geschaffen.

Ziegel-Erfindungen

Nähert man sich dem winzigen, wie in dieser Gegend üblich an einen Hügel geklammerten Dorf, so fragt man sich zunächst, welcher der rundherum verstreuten Ziegelsteinbauten, seien es Getreidescheunen oder Viehställe, nun der 2013 mit dem wichtigsten katalanischen Architekturpreis, dem FAD, ausgezeichnete Bau sein mag. Seine Unscheinbarkeit ist zweifellos das erste Qualitätsmerkmal des »Espai Transmissor« (Übermittlungsraum), wie er sich etwas geheimnistuerisch nennt. Aber die – zumindest scheinbare – Einfachheit der Konstruktion nimmt tatsächlich einige Charakteristika der umliegenden Scheunen auf, insbesondere deren Skelett, wenn auch die Ziegelausfachung dazwischen, wie auch die Raumverteilung, wesentlich kunstvoller ausfällt.

Das Gebäude verschwindet in der Senke unterhalb des Dorfplatzes; die Esplanade bildet einen Teil des Dachs, sichtbar bleiben allein die Lichtschächte und die Rampen, die zum Eingang hinunterführen – der freilich auch ebenerdig zugänglich ist, wo Ziegelmauern, um einen Hof gruppiert, dem Bau sein bescheidenes Gesicht verleihen.

Es ist ein aus denkbar gewöhnlichen Materialien erbautes Ganzes. Das Äußere zeigt dennoch großes Raffinement, das insbesondere auf die vielfältige Verwendung von Ziegeln zurückgeht. Neben roh belassenen Beton treten Armierungseisen, die an die Halme der umliegenden Weizenfelder erinnern und die das Gebäude von außen als Geländer, teils sogar als schwebende Rampe charakterisieren. Das Unfertige, das ihm daher anhaftet, macht einen Teil seines Charmes aus.

Noch raffinierter gestaltet sind die Innenräume. Der Eingangsbereich mag recht konventionell anmuten; es schließt jedoch ein Saal an, der dem Dorf Seró für alle möglichen Zwecke und Gelegenheiten dient – nicht zuletzt als eine Art Klassenzimmer. Unter dem Hauptstrang der Dachrampen öffnet er sich zu einer Fensterfront hin, vor der bei Bedarf eine Leinwand herabgelassen werden kann. Die ansteigende Dachschräge ergibt einen perspektivischen Effekt, der die hohe Glaswand weniger enorm erscheinen lässt, als sie wirklich ist. Die Wirkung ist stupend, sobald sich eine Person an die riesenhafte Hoftür stellt.

Zumal die Gegend auch als Weingebiet – Appellation Costers del Segre – an Ruf gewonnen hat, ließ man sich die Chance nicht entgehen, einen Raum eigens für die Präsentation lokaler Produkte zu schaffen, insbesondere der Weinkooperativen. Es ist eines der »Prunkstücke« der mit so bescheidenen Mitteln gebauten Anlage. Wird hier doch der Trickreichtum, mit dem die Architekten zu Werke gingen, besonders deutlich: Die Lochziegel sind mit (leeren) Weinflaschen gefüllt, die in dem im Sommer heißen, im Winter oft frostigen Klima für Wärmeausgleich sorgen – wobei sogar die (je nach Saison) Verkorkung der Flaschen eine Rolle spielt: im Sommer werden einige Flaschen entfernt, etliche entkorkt, im Winter wieder verpfropft. Es wird berichtet, im Winter dringe öfter einmal Nebel in die Innenräume ein, den der Autor im August freilich nicht erleben konnte und der hoffentlich nicht auf die gelegentliche Nutzung des Wein-Raums als Dorfpinte zurückgeht.

Die Nebenräume – Technik, Lager, Toiletten – sind clever um diese Eingangspartie herum gruppiert. Überraschend ist der Übergang in das eigentliche »Museum«. Hier wird an Wandtafeln und in Vitrinen die Geschichte des archäologischen Funds erklärt. Der fensterlose Raum wird von zahlreichen Lichtschächten – wandseits quadratisch, in der Mitte rund – erhellt: dieses Zenitallicht schafft ein nachgerade magisches Ambiente.

Im Labyrinth des Steingartens

Doch das ist erst der Auftakt zur eigentlichen Attraktion. Toni Gironès hat sie – in aller Bescheidenheit – auf eine Weise inszeniert, die die Aufmerksamkeit nicht nur der lokalen Architekturkritiker erregte. Fast unmerklich sich senkend, führt ein quadratischer Spiralgang in stetig enger werdenden Windungen in den 3 m tiefer liegenden Steingarten hinunter, umrahmt von zunächst einer, dann zwei, schließlich drei Mauerschichten aus Lochziegeln, auf einem sich zunehmend verfeinernden Ziegelboden, dessen Geknirsch zur Atmosphäre beiträgt, und der übrigens als Dachbelag auch seine thermische Funktion hat. Für die Verwendung derselben großen Lochziegel, für die Decken-, Wand- und Bodenbekleidungen teils zerschnitten, teils zerstampft, hat der Architekt zu Recht viel Bewunderung geerntet. Man muss ein wenig geometrisches Verständnis mitbringen, um die erstaunlich einfache Lösung zu begreifen, wie die rechteckige Doppelspirale sanft in den eigentlichen Hauptraum hinunter- und wieder aus diesem herausführt, dabei durch die in der Überlagerung zunehmend sich verdichtenden Lochziegelwände in eine Art Sanktuarium leitet, wo die seltenen Steine unter ihren Tageslichtschächten (die mit LED-Leuchten ausgestattet auch nächtliche Besuche gestatten) einen Steingarten bilden.

Wenn die Lichtschächte im vorangegangenen Saal ein fast fantastisches Licht verbreiten, so ist ihre Wirkung in diesem Raum höchst präzis: Sie sind auf die Felsen ausgerichtet, deren Ausmaßen entsprechend, und stehen ihnen an Perfektion natürlich nicht nach; erstaunlicher ist die geometrische Exaktheit sowohl des abgerundeten Zuschnitts der Steine als auch der hineingeritzten Muster, die vermutlich menschliche (oder göttliche) Figuren darstellen.

Seró selbst mag ein Leichtgewicht unter den neolithischen Fundstätten Europas sein, aber dies im besten Sinn des Wortes: Da sind bloß sieben erstaunlich gravierte Steintrümmer, um die herum einige unscheinbar raffinierte Mauern gebaut wurden.

Man wundert sich, woher Toni Gironès' »Händchen« für die gleichermaßen simplen und poetischen Konstruktionen stammt, für die er nicht erst seit dem Projekt in Seró bekannt ist. Wer das Büro der Architekten in Barcelona besucht, findet sich in einer (von einem kurzzeitigen Bürgermeister der Stadt 1935 eingerichteten) Prunkwohnung mit Aussicht bis zum Meer, in der selbst die Böden teilweise vergoldet sind, und in der eine kleine Privatbar für dessen Geliebte nur ein Detail unter vielen ist. Vielleicht schärft aber gerade eine solche Umgebung den Blick dafür, welche Kraft einzelnen Materialien, Details und Überlegungen jeweils innewohnt.

db, So., 2014.10.05



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db 2014|10 Besucherzentren

03. Juni 2013Markus Jakob
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Landpartie mit einem Hauch von Zen

Das überregional bekannte Restaurant in einem ausgebauten Gehöft im Vulkangebiet der Garrotxa wurde um einen überdachten Freibereich erweitert, für dessen Gestaltung das Bild eines Picknicks im Grünen Pate stand. Transluzente Kunststoff-Bahnen dienen als Wetterschutz, zonieren den Raum und bilden schmale Atrien, aus denen Bäume emporwachsen. Die nahezu ganz entmaterialisierte Architektur lässt die Frage nach Drinnen oder Draußen nebensächlich werden.

Das überregional bekannte Restaurant in einem ausgebauten Gehöft im Vulkangebiet der Garrotxa wurde um einen überdachten Freibereich erweitert, für dessen Gestaltung das Bild eines Picknicks im Grünen Pate stand. Transluzente Kunststoff-Bahnen dienen als Wetterschutz, zonieren den Raum und bilden schmale Atrien, aus denen Bäume emporwachsen. Die nahezu ganz entmaterialisierte Architektur lässt die Frage nach Drinnen oder Draußen nebensächlich werden.

Nach dem Umbau eines alten Bauernhofs in ein Restaurant, dessen minimalistischer Prunk auch in New York Furore machen würde, und den fünf Pavillons, die als rundum gläserne Behälter zu den eigentümlichsten Hotelzimmern der Welt gehören (vgl. db 3/2007, S. 32), hat das katalanische Architekturbüro RCR den Komplex »Les Cols« im Städtchen Olot nun um ein Bankettzelt erweitert. Es destilliert das architektonische Denken dieser Baukünstler auf seine Essenz und offenbart es damit in seiner Wundersamkeit wie in seiner Trickhaftigkeit.

Die Grundidee basiert auf der Vorstellung einer Landpartie: Man spaziert in eine Aue hinab, lässt sich an einem lauschigen Ufer nieder und breitet sein Picknick aus. Wer will, darf an Manets »Déjeuner sur l’herbe« denken. Nun aber die Wirklichkeit: Der Fluss, der streckenweise tatsächlich lauschige Fluvià, durchquert hier ein vorstädtisch verunstaltetes Gebiet. Das Grundstück selbst grenzt nicht an das Gewässer; und so haben die Architekten das Gelände neben dem Restaurant und den Pavillons gefahrlos absenken können, um darin jene Stätte zu schaffen, die man kaum ein Gebäude, aber auch nicht Bierzelt nennen kann – eher eine Ruine aus der Zukunft?

Uneindeutigkeit

Die Architektengruppe Aranda Pigem Vilalta, nach den Initialen ihrer Vornamen RCR genannt, hat weltweit Kultstatus erlangt. Rafael, Carme und Ramón stammen alle aus dem Städtchen Olot, 150 km nordöstlich von Barcelona. In und um Olot haben sie ein Œuvre aus Einfamilienhäusern, öffentlichen Bauten und landschaftlichen Interventionen geschaffen, das unverkennbar ihre Handschrift trägt. Über den Wert dieser Handschrift wird auch dieser Artikel keine gültige Antwort anbieten können.

Hält RCR daran fest, nur lokal tätig zu sein und Shanghai Shanghai sein zu lassen? Jein, so könnte man die Antwort Rafael Arandas wohl übersetzen. Jüngste Projekte in Barcelona – eine Bibliothek, ein Bürohaus – und in Südfrankeich – etwa das Musée Soulages in Rodez – können zwar noch zum natürlichen »Einzugsbereich« der Architekten zählen; ein Hotel in Dubai hingegen schwerlich. Dennoch sind RCR ein mit 14 Mitarbeitern überschaubares Büro geblieben (s. Erfahrungsbericht einer Mitarbeiterin in db 4/2007, S. 20), dessen Arbeitsräume in einer einstigen Glockengießerei im Zentrum des Städtchens gewiss eines der schönsten Beispiele dafür sind, was Rafael Aranda als ihr vorderstes Anliegen nennt: den Außenraum nach innen zu holen.

Eben eine solche Zwielichtigkeit oder Durchdringung von Außen und Innen kennzeichnet das Projekt Les Cols. In struktureller Hinsicht könnte man von einem künstlichen Tal sprechen. Das beim Aushub geförderte vulkanische Gestein wurde in unterschiedlichen Körnungen sowohl für den Boden als auch für die Bekleidung der z. T. zu Halden geformten Stützmauern verwendet. Mit diesem basaltenen, rauen, tektonischen Grund kontrastiert das schwebende, luftige, transparente Dach, welches das Erscheinungsbild auf dem Zugangsweg in das »Tal« bestimmt. Im Hintergrund erhebt sich, perfekt gerundet, einer der zahlreichen die Stadt Olot überragenden Vulkankegel.

Ist der Talgrund erreicht, so tritt man unter die metallenen Gestänge, die durchhängend, als wären sie Bambus, das Dach tragen. Einige Schritte noch, und man trifft auf den ersten Außen und Innen voneinander trennenden Vorhang. Es sind dies 30 cm breite, von der Decke hängende, durch ihre Bodenverankerung verstellbare PVC-Lamellen, die den Raum kaum sichtbar strukturieren. Sie bilden eine Art Zickzackweg durch die für den Ablauf eines Festbanketts typischen Stationen – Aperitif, Diner, Tanzfläche.

Dabei kommt den dazwischen gefügten schmalen »Patios« die entscheidende Rolle zu. Als nicht überdachte Intervalle dienen sie der Entwässerung, v. a. aber nehmen sie die (vorläufig noch jungen) almeces auf, auf Deutsch Zürgelbaum genannt – ein autochthones Gewächs, dessen Kronen dereinst ihren Schatten über das große Festzelt werfen werden. Laut den Architekten filtert die ETFE-Doppelmembran (mit 100 mm Zwischenraum), die auch akustischen Problemen mit der Nachbarschaft abhilft, das Sonnenlicht bereits zu 50 %. Das ist eine zuversichtliche Rechnung: Die Winter in der Garrotxa sind kalt, der Sommer ist heiß, und schon an einem milden Frühlingstag wird deutlich, dass es sich hier um eine Art Treibhaus handelt. Klimatisierung ist denn auch, wie diskret auch immer angebracht, unvermeidlich. Die entsprechenden Anlagen bekommt natürlich nur das Personal zu sehen: Sie befinden sich dort, wo auch etwa die Anlieferung mittels hydraulischer Aufzüge stattfindet. Denn das durchsichtige Traumreich hat – obwohl RCR sich nach dem Grundsatz richtet, Komplexität »in einer Einheit, einem räumlichen Fluss« zu lösen, seine Schattenseiten.

Die carpa – so der spanische Ausdruck für ein Festzelt – ist, wie schon die Pavillons, eine höchst seltsame Abstraktion: von Natur oder eher von Architektur? Versuchen wir, uns der Anlage ein zweites Mal zu nähern: Sie ist offensichtlich von den grundlegenden Elementen des Lichts und des Materials her konstruiert. Wie jedes Bauwerk von RCR hat sie den Anspruch, ein sinnliches Lehrstück zu sein – mit minimalen Mitteln maximale Wirkung zu erzielen. RCR-typisch, bildet eine dem Terrain genau angepasste Kubatur eine Art Chassis, über dem die niedrige Dachlinie schwebt. Für diese Architekten müsste man den Begriff der »angewandten Land Art« erfinden. Man kann die Carpa introvertiert oder extrovertiert nennen – beides trifft zu.

Oder ein dritter, ganz sachlicher Anlauf: Der Partygast – es sind überwiegend Hochzeiten, die hier stattfinden – wird sich (und soll sich, so Rafael Aranda) zunächst fragen, »warum da eigentlich nichts ist«. Selbst Glas erschien den Architekten als zu »materiell« – daher die PVC-Lamellen, und daher auch die eigentlich aberwitzige Plexiglas-Möblierung für maximal knapp 300 Gäste: so gut wie unsichtbar – bis sich ein Dickwanst darauf setzt und den Stuhl vermutlich nicht besonders bequem findet.

Ein Picknick-Platz nach alter Väter Sitte sieht so gewiss nicht aus. Aber wir haben selber kein Fest dort erlebt; und können uns daher nur vorstellen, wie gut die in die Metallrohrdecke integrierten LED-Leuchtschienen funktionieren, wie wunderbar das mittlerweile zwei Michelin-Sterne verdienende Essen in Les Cols ist, und ob die sehr großzügigen, scheinbar im Freien liegenden und wie die gnadenlos sachlich geordnete Küche als Extra-Geviert an die Carpa anschließenden Toiletten ganz einfach benutzbar sind.

db, Mo., 2013.06.03



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db 2013|06 Essen und Trinken

22. August 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Fata Morgana der Moderne

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung...

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung...

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung des katalanischen Architektenverbandes veranschaulicht dies mit präzis gewählten Dokumenten und einem Dutzend eigens dafür gefertigten Modellen, ergänzt durch einen exzellenten Katalog. Dem Vergessen entrissen wird in erster Linie das Wirken des 1950 geschaffenen Development Board, der auf Initiative des irakischen Architekten Rifat Chadirji einige der renommiertesten Baukünstler der Zeit nach Bagdad einlud. Ein dezidiert auf die Symbolkraft der Architektur setzendes Vorhaben, sollten doch sieben Meister der Moderne ebenso vielen Kultur- und Lebensbereichen architektonische Form verleihen: Alvar Aalto der Kunst, Frank Lloyd Wright der Musik, Le Corbusier dem Sport, Walter Gropius dem Wissen, Willem Marinus Dudok der Justiz, Constantino Doxiadis dem Wohnen und Gio Ponti dem Ministerium für Planung und Entwicklung. Pontis aus zwei gegensätzlichen Volumen komponiertes Monument wurde 2003 im Irak-Krieg stark beschädigt.

Die Baugeschichte der sieben Projekte erweist sich als höchst unterschiedlich. Wie ein Fatum erscheint die Tatsache, dass für jeden der sieben Architekten der Bagdader Entwurf der letzte seiner Laufbahn war. Sollte die Moderne ihren Schwanengesang im Irak angestimmt haben? Als der 90-jährige Frank Lloyd Wright 1957 den Auftrag für das Musiktheater erhielt, lieferte er ungebeten – offenbar aus Faszination für eine Stadt, die er zunächst für Babylon hielt – eine ganze Reihe von Plänen für weitere Kulturbauten, Park- und Uferanlagen ab. Sie blieben genauso Papier wie das Opernhaus, das auf einer Insel im Tigris die ihm fast heilig gewordene Zikkuratform abwandelt – wie sein damals im Bau befindliches Guggenheim Museum.

Der Staatsstreich, bei dem 1958 der junge König Faisal II. gestürzt und getötet wurde, vereitelte nicht nur Wrights Projekte. In den Machtkämpfen der folgenden Jahre erlahmte der Erneuerungselan, Verwestlichungstendenzen wurden abgewürgt. Zu Aaltos Museum wurde nie auch nur der Grundstein gelegt. Gropius konnte zu Lebzeiten immerhin das zentrale Hochhaus seines Universitätsviertels vollenden, und in seinen Grundzügen trägt der mittlerweile grösste Campus des Nahen Ostens noch immer seine Handschrift. Hingegen ist unter den Zehntausenden von Wohnungen, die der griechische Urbanist Doxiadis im Irak plante, gerade sein Musterquartier für Bagdad kein Glücksfall: Sadr City wurde zum Inbegriff der Gewalttätigkeit. Und von Le Corbusiers ein 50 000-plätziges Stadion einschliessendem Sportkomplex haben selbst manche Kenner seines Werks noch nie gehört, obwohl Teile davon von seinem Partner George Marc Présenté realisiert wurden – ein Vierteljahrhundert nach Aufnahme der Planung.

Denn um 1980, nun unter dem Regime Saddam Husseins, wurde Bagdad von einer neuen, freilich bald wieder in Kriegswirren sich verlaufenden Welle urbanistischer Ambitionen erfasst, auch diesmal unter Beiziehung schillernder Namen wie Robert Venturi und Ricardo Bofill. Rivalen im Wettbewerb für die bis heute ungebaute grösste Moschee der Welt, führten sie die Postmoderne schliesslich in den irakischen Wohnungs- und Geschäftsbau ein.

Die Ausstellung versäumt es nicht, neben Bofills Projekten ein Werk eines andern einst in den Irak berufenen Sohns Barcelonas zu präsentieren. José Luis Serts 1959 vollendete amerikanische Botschaft ist heute wohl das tristeste architektonische Wahrzeichen Bagdads. Während die USA bereits ihre übernächste, durch keinerlei baukünstlerische Ansprüche sich auszeichnende Botschaftsfestung errichten, ist Serts zwischendurch von Saddam Hussein als Empfangspalais genutztes, später durch amerikanische Bomben beschädigtes Baujuwel eine verlassene Ruine.

Ein merkwürdiges, spiegelverkehrtes Pendant zu Bagdads verlorenen Idealen ist derzeit, nur einige Schritte vom COAC entfernt, im barcelonesischen Stadtgeschichtsmuseum zu entdecken. Denn aus der Erinnerung verdrängt wurden nicht nur die nahöstlichen Architekturvisionen, sondern ebenso das Elend der Einwanderer in Barcelonas Slums, in welchen in denselben fünfziger und sechziger Jahren bis zu 200 000 Menschen hausten. Unter dem Titel «Barraques. La ciutat informal» werden erstmals ihre Lebensbedingungen in den Bidonvilles dokumentiert, die sich den heute von den skulpturalen Körpern der Euro-Jugend überfüllten Stränden entlangzogen und in kaum mehr vorstellbarem Ausmass andere Stadtlücken, selbst den späteren Olympiaberg Montjuïc, überzogen. Ziemlich perplex lässt einen der Vergleich der seitherigen Geschicke und Entwicklungen der beiden Städte zurück.

[ Die Bagdad-Ausstellung ist bis zum 13. September im COAC Barcelona zu sehen, anschliessend in Madrid. Katalog: Bagdad. Ciudad del espejismo (spanisch, französisch, englisch). Hrsg. Pedro Azara, UPC Barcelona 2008. 368 S., € 30.–. Die Ausstellung «Barraques. La ciutat informal» im Museu d'Història de la Ciutat dauert bis zum 22. Februar 2009. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.08.22

23. Juni 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ökostadt an den Ufern des Ebro

Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ressource Wasser ist von weltweiter Bedeutung. Ein klug gewähltes Thema mithin für die internationale Ausstellung, mit der sich die Ebro-Stadt Saragossa ins Gespräch bringen will. Ihr Erneuerungswille findet auf dem Expo-Gelände in einer Windung von Spaniens wasserreichstem Fluss auch architektonisch Ausdruck.

Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ressource Wasser ist von weltweiter Bedeutung. Ein klug gewähltes Thema mithin für die internationale Ausstellung, mit der sich die Ebro-Stadt Saragossa ins Gespräch bringen will. Ihr Erneuerungswille findet auf dem Expo-Gelände in einer Windung von Spaniens wasserreichstem Fluss auch architektonisch Ausdruck.

Wenig mehr als ein Feldlager, am Ebro-Ufer aus strategischen Gründen errichtet, war das römische Caesaraugusta, dessen Name sich zum kastilischen Zaragoza abgeschliffen hat. Und etwas von einer riesigen Kaserne haftet laut bösen Zungen der 660 000 Einwohner zählenden Stadt noch heute an. Oder sollte man in ihr das Gegenbild jener ausgestorbenen Dörfer Aragoniens sehen, deren einstige Bewohner sich hier nun mit Einwanderern aus aller Welt mischen? Reizlos als städtischer Körper, weder anmutig noch herb im Charakter, dumpf eher als beschwingt erscheint Saragossa, in dessen Gassen aufputschende Wirkstoffe schwach dosiert sind. Nicht dass die 1808 durch napoleonische Truppen schwer in Mitleidenschaft gezogene Stadt der architektonischen Pracht oder charmanter Winkel ganz entbehrte; doch eine gewisse Vierschrötigkeit kennzeichnet selbst die in jüngerer Zeit erfolgte Erneuerung so repräsentativer Stadträume wie der Plaza del Pilar und der Avenida de la Independencia.

Profane und pharaonische Pläne

So ist Saragossa unter Spaniens Grossstädten das Aschenbrödel nicht allein deshalb, weil ihm die andern zuvorgekommen sind beim Versuch, sich international zu profilieren. Ob die Expo 2008 daran etwas zu ändern vermag? Wirtschaftlich hat der Aufschwung schon vor längerer Zeit eingesetzt, die Region gehört zu den wohlhabendsten des Landes. Nur scheinbar ein blinder Fleck auf der iberischen Landkarte, nimmt die Stadt heute die einst von den Römern erkannten Vorteile ihrer Lage wahr. Halbwegs zwischen der katalanischen Küste und dem Zentrum der Halbinsel, zwischen der Levante und dem Golf von Biskaya im Fadenkreuz der vier dynamischsten Regionen Spaniens gelegen, ist sie dank neuen, schnellen Verkehrsverbindungen ein attraktiver Standort. Madrid und Barcelona sind per Bahn in anderthalb Stunden erreichbar, Valencia und Bilbao liegen im Umkreis von 300 Kilometern, und jenseits der Grenze sind Toulouse und Bordeaux nicht allzu fern.

Die erste diese Voraussetzungen nutzende Massnahme war der Bau des Logistikzentrums «Plaza», das dereinst mit zwölf Millionen Quadratmetern eine in Europa unübertroffene Grösse erreichen soll und von dem aus jetzt schon Zara, ein weltweit führender Kleiderhersteller, operiert. Ein zweiter, wesentlich publizitätsträchtigerer Schritt war die Ausrichtung der vor wenigen Tagen eröffneten Expo (NZZ 16. 6. 08). Noch während deren Aufbau kündigte die Regionalregierung ein drittes, wahrlich pharaonisches Projekt an. Es klang so märchenhaft, dass man geneigt war, es für einen Scherz zu halten. Und ein solcher ist das «europäische Las Vegas» wohl auch, das eine Investorengruppe namens International Leisure Development in den Monegros – einer der dürrsten, aber auch faszinierendsten Landschaften Spaniens – zu errichten gedenkt. In den auf www.ild-plc.com zu betrachtenden Computeranimationen hat sich die Steppe östlich von Saragossa in ein blühendes Eden mit Dutzenden von Kasinos und Hotels, mehreren Golfplätzen und Erlebniswelten namens «Pharaoland» und «Spyworld» sowie einer Stierkampfarena und einer Galopprennbahn verwandelt: allerhand für eine Gegend, welche die meisten bisher nur durch das Zug- oder Autofenster wie eine Halluzination wahrnahmen.

Vor den Augen geflimmert haben muss es auch Aragoniens Politikern, die sich freudig zur Finanzierung der nötigen Infrastrukturen bereit erklärten: der Erschliessung ebenso wie der Wasserversorgung für die 25 Millionen spielfreudigen Besucher, welche die Promoter bald schon jährlich in die Halbwüste zu locken verheissen. (Zum Vergleich: 2007 lag Saragossa unter Spaniens Flughäfen mit 500 000 Passagieren auf dem dreissigsten Rang.) Rund 17 Milliarden Euro ist das Konsortium mit Sitz in Jersey angeblich in die architektonische Kitschorgie namens «Gran Scala» zu investieren gewillt. Bisher hat es jedoch noch nicht einmal die Bürgschaft von 20 Millionen aufgebracht, und das Ganze dürfte sich über kurz oder lang als Schaumschlägerei erweisen. Peinlicher als ihre Blauäugigkeit den Finanzjongleuren gegenüber ist die Begeisterung, mit der die politisch Verantwortlichen ein Projekt aufnahmen, das allen Grundsätzen Hohn spricht, die sie gerade anlässlich der Expo 2008 zu predigen nicht müde werden. Deren Motto nämlich lautet: «Wasser und nachhaltige Entwicklung».

Neue Ufer – neue Achsen

Wie bei derlei Grossveranstaltungen üblich, verwischt auch bei der Expo in Saragossa der temporäre Tingeltangel die urbanistischen Strategien, auf welche die Planer nebst dem kurzfristigen Imagegewinn für die Stadt gesetzt haben. Es soll ja hier – anders als etwa nach der Weltausstellung 1992 in Sevilla – nicht lediglich ein abgeräumter Rummelplatz zurückbleiben. Vorbild war in dieser Hinsicht eher Barcelona, das die Olympischen Spiele 1992 unter anderem für seine Öffnung zum Meer nutzte und diese Jahre später in der einstigen Schmuddelecke der Stadt mit dem Parc del Fòrum zur Vollendung brachte. Der Anlass dazu – das «Weltkulturforum 2004» – war ein Flop, und die anfänglich skeptische Einwohnerschaft freundete sich mit den neuen, auch neuartigen Stadträumen erst mit der Zeit an.

In Saragossa hingegen dämpft lediglich das manchenorts auch während der Expo anhaltende Bauchaos die durch diese ausgelöste Hochstimmung. Als Schönheitsfehler empfunden wird insbesondere, dass die urbanistische Einbindung des Bahnhofs nicht rechtzeitig zum Abschluss gebracht werden konnte. Dabei wurde die Estación de Delicias schon 2003 eröffnet und bildet den Ausgangspunkt der architektonisch ambitioniertesten Achse, die sich Saragossa seit der klassizistischen, vor 1850 angelegten Avenida de la Independencia zugetraut hat. Der von Carlos Ferrater entworfene Bahnhof darf – Rafael Moneos Atocha-Umbau in Madrid und die nach den Plänen von Cruz & Ortiz in Sevilla realisierte Estación de Santa Justa in Ehren – als das eindrücklichste bisher für Spaniens Hochgeschwindigkeitsnetz AVE angelegte Gebäude bezeichnet werden. Von aussen ein flacher, weisser Quader, der am westlichen Stadtrand vor den Karsthorizont gestellt wurde, empfängt der neue Bahnhof die Reisenden unter einer aus Dreiecken komponierten Lichtgeometrie, die dank der puristischen Ausstattung der Halle fabelhaft zur Geltung kommt.

Chaotisch wirkt hingegen derzeit noch die unmittelbare Umgebung. Doch kann man sich nun über das Baugetümmel, über Autobahnen, Besucherparkplätze und den Ebro hinweg per Gondelbahn direkt zu einem der drei Expo-Eingänge unweit der 76 Meter hohen Torre del Agua befördern lassen. Dieser gläserne Turm bildet den Abschluss der auch zu Fuss leicht zu bewältigenden, zum und durch das Ausstellungsgelände führenden Achse, als deren emblematisches Mittelstück die Pavillonbrücke von Zaha Hadid fungiert: zwiespältiges Wahrzeichen der Expo und der erneuten Zuwendung Saragossas zu seinem Fluss.

Froschkönige im Ebro-Mäander

Der Meandro de Ranillas – zu Deutsch: der Mäander der Frösche – umfliesst eine gut zwei Kilometer westlich des Stadtzentrums gelegene Halbinsel, deren Wahl zum Expo-Gelände nicht unumstritten war. Als eigentliches Ausstellungsareal zur Überbauung freigegeben wurden lediglich 25 Hektaren des stadtnahen Naturraums. Auf rund vier Fünfteln der Fläche schaffen neue Park- und Uferanlagen, sequenzartig gestaltet von bestens ausgewiesenen Landschaftsarchitekten wie Iñaki Alday, Margarita Jover und Christine Dalnoky, dem Grünmanko der Stadt Abhilfe. Darüber hinaus verbinden sie die Stadt mit dem Fluss und klären die auf der Nordseite des Ebro besonders prekäre und verworrene Stadtentwicklung.

Der besseren Anbindung Saragossas an das privilegierte Südufer dienen zunächst drei neue Brücken. Zwischen den zuvor isolierten Stadtteilen La Almozara und El Actur überspannt nun eine Fussgängerpasserelle den Ebro, und weiter westlich erschliesst der Puente del Tercer Milenio – ein spätes Hauptwerk des grossen Brückenbauers Juan José Arenas – die Halbinsel für den Fahrverkehr. Zwischen diesen beiden Übergängen konnte Zaha Hadid ihr Brückenprojekt ausführen. Ihr Puente Pabellón ist zugleich Spaniens erste gedeckte Brücke. Wie blendend sie ihre Bestimmung zum baukünstlerischen Bravourstück der Expo erfüllt, darf diskutiert werden. Auf jeden Fall ist sie das Resultat eines konstruktiven Kraftakts, trägt doch ein einziger Betonpfeiler das 270 Meter lange, zwischen 8 und 30 Meter breite Gehäuse. Südseitig ist dessen «Landnahme» eleganter geglückt als am gegenüberliegenden Ufer, an dem die fliessenden Formen – Hadids obsessives Anliegen – ein etwas abruptes Ende finden. Unterwegs in drei «Kelche» sich verzweigend, evoziert die Struktur aufgrund ihrer schuppenartigen Metallverkleidung einen janusköpfigen Fisch, der seine Mäuler in parabolischen Dreiecken aufsperrt, um die Besuchermassen zu verschlingen. Im Innern der Brücke mutet Hadid den Besuchern zunächst ein ungewohntes Höhlenerlebnis zu, ehe sie ihnen nach dem Gang über die ins Obergeschoss führenden Rampen vereinzelte Ausblicke auf den Fluss gestattet. Introvertiert und die 7000 Tonnen nicht verhehlend, die es wiegt, konnte «Zahas verteufeltes Puzzle», wie es der Expo-Leiter Roque Gistau genannt hat, mit knapper Not termingerecht zu Ende gebracht werden. Als einer der drei Expo-Zugänge nimmt die Pavillonbrücke nun zunächst eine Ausstellung auf, deren Thematik – der verantwortungsvolle Umgang mit der beschränkten Ressource Wasser – den Besuchern in der Folge noch auf tausenderlei Weise nahegebracht wird.

Baulich findet die vom Delicias-Bahnhof über die Hadid-Passerelle führende Achse auf der Halbinsel ihre Fortsetzung im Kongresszentrum der Madrider Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano. Gleichfalls ein metallverkleideter Körper, spricht er formal doch eine ganz andere Sprache: Während sich bei Hadid das Dreieck als strukturelles Grundelement in sanfte Kurvaturen auflöst, wird hier das unregelmässig gezackte Profil des langgestreckten Volumens trotz seiner bescheidenen Höhe als Skyline lesbar, deren Schlussakkord die schon erwähnte Torre del Agua setzt. Noch harmonischer wirkt diese Architektur bei Nacht, wenn das kunstvolle Gitterwerk der Kongresshaus-Fassade schimmernd zum abschliessenden, rundum verglasten Leuchtturm von Enrique de Teresa überleitet.

Im Innern bildet sich die verspielte Silhouette des Centro de Congresos als bewusst karg ausgestaltete Raumsequenz ab – es sind die Besucher, die diese Bühne beleben sollen. Unter den Expo-Architekten sind Nieto-Sobejano mit dieser Attitüde eine Ausnahme. Sie gehören übrigens auch zu den wenigen, die sich ihr Projekt durch keinerlei vom Ausstellungsthema inspirierte Metaphern verwässern liessen.

Die Gestalt der benachbarten Torre del Agua, die sich aus ihrem tropfenförmigen Grundriss ergab, ist gewiss attraktiv; besonders praktisch aber ist sie leider nicht. Der aus der Ferne scharf konturierte Glasturm erscheint beim Näherkommen zusehends immaterieller; bis sich auch die zwanzig Geschosse, die seine Brisesoleil-Umkränzung vorgaukelt, im Innern als Illusion erweisen. In Wirklichkeit ist es vorläufig ein durch ein einziges Zwischengeschoss unterteilter Hohlraum, beherrscht von zwei entsprechend gigantischen, selbstverständlich aquatischen Motiven verpflichteten künstlerischen Beiträgen. Die umlaufende Rampe, über die man das Aussichtsdach erwandert, soll zwei Kilometer messen. Dennoch wird der Bau – eventuell auf 90 Meter aufgestockt, gewiss aber auch horizontal unterteilt – künftig der Gegenwartskunst Raum bieten, der Saragossa anders als manch kleinere spanische Provinzkapitale bisher die kalte Schulter zeigte.

Cool ist anders

Mit einem Schulterzucken hat die Kritik die Torre del Agua aufgenommen. Und während der Kongressbau von Nieto-Sobejano und Zaha Hadids Brücke von Spaniens Fachwelt eher kühl betrachtet wurden, erkor diese den spanischen Pavillon von Francisco Mangado zur eigentlichen Ikone der Expo. Das Renommee des aus Navarra stammenden Architekten beruhte bisher einzig auf der Vernünftigkeit seiner Bauten. Als unfreiwilliger Gegenspieler von Zaha Hadid triumphiert er nun auf deren ureigenem Feld. Hie eine liegende Gladiole, da ein aus dunklen Teichen aufragender Pappelhain: Jenseits aller Geschmacksfragen ist Mangados Entwurf, eben weil er ein ebenso einprägsames Bild schafft, mit Hadids Pavillonbrücke zu vergleichen. Auch wenn man Mangados hinter einem Wald schlanker, keramikumhüllter Säulen verborgenen Glaspavillon trotz seiner scharfkantigen Form als Kitsch betrachten kann, so führt er doch vor, wie Räume ohne energieverschwenderische Klimaanlagen um etliche Grade gekühlt werden können.

Selbstverständlich findet man an der Expo 2008 ein ganzes Sortiment an Lösungen für dasselbe Problem. So rühmen sich die fünf unter der Regie der Katalanen Batllé-Roig entworfenen «plazas temáticas» genauso ihrer nachhaltigen, auch Aussenräume kühlenden Systeme wie das einem Tonkrug nachempfundene, aber absurderweise «Leuchtturm» genannte Gebilde, in dem über 300 Nichtregierungsorganisationen ihre Anliegen verbreiten. Mit Wasser, das auf ein als Projektionsfläche dienendes Dachsegel plätschert, wird auch der Schweizer Pavillon «natürlich» temperiert. Mit Afghanistan hat die Schweiz übrigens einen interessanten Nachbarn erhalten, weil topografische Verwandtschaften unter den einheitlichen Dächern, unter denen über hundert Staaten und die dreizehn autonomen Regionen Spaniens ihren pfleglichen Umgang mit dem kostbaren Gut inszenieren, den Vorrang vor ihrer geografischen Nähe hatten.

Dass die USA und Grossbritannien auf eine Teilnahme verzichteten, glaubt die Expo dank der starken, als zukunftsträchtiger erachteten asiatischen Präsenz verschmerzen zu können. In technologischer Hinsicht setzt gleichwohl das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit seinen «digital water walls» das Highlight, während die Schweiz konsequent dem Understatement huldigt. Gewiss nicht die übelste Option in einem Umfeld, in dem sich die aragonesischen Gastgeber in Gestalt eines sechsgeschossigen schwebenden Flechtkörbchens präsentieren (Entwurf: Daniel Olano), auf dem aufblasbare Feigen und Pfirsiche aus Plastic für Stimmung sorgen, bevor auch dieses Bauwerk seinem Endzweck als Sitz einer Lokalbehörde zugeführt wird. Die architektonisch belanglose Hülle der Länderpavillons soll künftig als Business-Park vermarktet werden. An die ewige Wasserproblematik wird man sich dann wohl auch hier nur erinnern, wenn der Ebro – wie eben dieser Tage – über die Ufer zu treten droht oder aber die Stadt als beunruhigend spärliches Rinnsal durchfliesst. Denn Saragossa fühlt sich seit je als Verwalterin der Wasserreserven eines durch sein extremes hydrografisches Ungleichgewicht gekennzeichneten Landes, das gerade in dieser Hinsicht freilich auch ein verkleinertes Abbild der Erde ist.

[ Die Expo Zaragoza 2008 dauert bis 14. September. Informationen zu den rund 3000 programmierten «Spektakeln» und Kolloquien: www.expozaragoza2008.es. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.06.23

15. April 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Lückenbüsser und Lückennutzer

Jede Stadt besitzt Restgrundstücke und Freiräume, die auf unterschiedlichste Weise spontan genutzt werden. Wie formenreich diese Interventionen nicht nur in den Schwellen- und Drittweltländern sind, zeigt derzeit die Ausstellung «Post-it City» im CCCB in Barcelona.

Jede Stadt besitzt Restgrundstücke und Freiräume, die auf unterschiedlichste Weise spontan genutzt werden. Wie formenreich diese Interventionen nicht nur in den Schwellen- und Drittweltländern sind, zeigt derzeit die Ausstellung «Post-it City» im CCCB in Barcelona.

Im Drehbuch, das sich Barcelona auf den Leib geschrieben hat, spielt der öffentliche Raum die Starrolle. Doch das flimmernde Bild einer freizügigen, gut gestylten Partystadt, in der permanent die Sonne scheint, hat sich für ihre Einwohner nicht erst durch die Aussicht getrübt, dass dank der Lieblichkeit des Klimas das Wasser demnächst per Schiff oder Bahn herbeigeschafft werden muss. Das «Modell Barcelona», touristisch erfolgreich ausgebeutet und lange ein urbanistischer Exportschlager, ist längst mit den ihm selbst innewohnenden Widersprüchen kollidiert und wird trotz der fortgesetzten Selbstbejubelung zunehmend in Frage gestellt.

In diese Kontroverse schreibt sich auch eine Ausstellung im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) ein, obwohl nur 12 der 78 hier präsentierten «Feldarbeiten» die Stadt selbst zum Schauplatz haben. Denn die spontane Nutzung städtischer Freiräume und Restgrundstücke zwecks kommerzieller, spielerischer oder sexueller Aktivitäten – so lässt sich das Thema umreissen – ist ein weltweites Phänomen.

Morphologie des Ephemeren

Der Begriff «Post-it City», vom Mailänder Architekten Giovanni La Varra geprägt, meint städtische Provisorien, in denen sich die dringlichsten Bedürfnisse einer Stadt fortlaufend neu manifestieren, um sich ebenso schnell wieder von deren Körper zu lösen, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Daher ist auch die «Post-it City» genannte Recherche, die Martí Peran 2005 in Barcelona mit einem Workshop initiierte, potenziell endlos, und die derzeitige, von Peran, La Varra, Filippo Poli und Federico Zanfi kuratierte Schau versteht sich lediglich als Zwischenbilanz.

Den Prolog bildet das heute fast vergessene Bravourstück des jungen Deutschen Mathias Rust, der 1987 mit einer Cessna auf dem Roten Platz in Moskau landete: paradigmatischer Extremfall einer kurzfristigen, von keiner Obrigkeit vorgesehenen Inbeschlagnahme des öffentlichen Raums. Unspektakulär, ja monoton wirkt hingegen auf den ersten Blick die Präsentation der mehrheitlich eigens für diese Ausstellung geschaffenen Arbeiten. Auf je zwei Tischen, wandseitig ergänzt durch Videos oder anderes Bildmaterial, dokumentieren sie so diverse Phänomene wie mobile Garküchen in Hanoi, bewohnte Friedhöfe in Kairo oder von orthodoxen Juden zur Erinnerung an den Exodus an ihre Häuser gezimmerte, jeweils während Sukkot acht Tage lang bewohnte Laubhütten in Brooklyn. Ebenso Wissens- und Staunenswertes erfährt man über die Organisationsmuster gigantischer Märkte wie der «Salada» in Buenos Aires oder des Warschauer «Jarmark», beide vom Untergang bedroht, obwohl sie Tausenden ein Auskommen sichern.

Notgeborene Stadtlust

Es sind fast durchweg lokale Künstler, Architekten und Anthropologen, die – oft im Kollektiv – zum Materialreichtum dieser Ausstellung ihr Scherflein beigetragen haben. Fremdblicke sind die Ausnahme; zugleich jedoch, in der strengen Ordnung schon durch ihr Grossformat distinguiert, auch künstlerische Highlights. Das Baustellen-Triptychon des holländischen Fotografen Bas Princen veranschaulicht fast beiläufig die elenden Lebensbedingungen chinesischer Wanderarbeiter.

So wie sich deren Barackensiedlungen in der Immensität eines offensichtlich dauerhafteren Zementmeers verlieren, so kondensiert sich in den von der Chilenin Francisca Benítez gefilmten, im Geäst von Pariser Bäumen deponierten Habseligkeiten afghanischer Immigranten oder in der von Teddy Cruz analysierten spontanen Architektur der Armenviertel im mexikanischen Tijuana das Provisorische aller Urbanität. Die komplexe Schönheit der Grossstadt aber reflektiert auf meisterliche Weise das «São Paulo City Tellers» betitelte Stadtporträt des Italieners Francesco Jodice.

[ Bis 25. Mai. Katalog: Post-it City. Occasional Urbanities / Ciutats ocasionals. Katalanisch, spanisch und englisch. Hrsg. CCCB, Barcelona 2008. 232 S., € 15.– (ISBN: 978-84-9803-275-8). ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.04.15

21. Februar 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Eiserner Schmetterling

Als sich die katalanische Sparkasse La Caixa um 1985 als Kulturvermittlerin zu profilieren begann, genoss die Gegenwartskunst in Spanien noch wenig öffentlichen Rückhalt. Nun setzt die Bank mit dem Caixa-Forum von Herzog & de Meuron in Madrid ein Zeichen.

Als sich die katalanische Sparkasse La Caixa um 1985 als Kulturvermittlerin zu profilieren begann, genoss die Gegenwartskunst in Spanien noch wenig öffentlichen Rückhalt. Nun setzt die Bank mit dem Caixa-Forum von Herzog & de Meuron in Madrid ein Zeichen.

Spaniens grösste Sparkasse mischt nicht nur im spanischen Finanz-, Energie- und Industriesektor mit, sondern ist durch die Fundación La Caixa auch einer der Hauptakteure im Kulturleben des Landes. Mit einem Jahresetat von 500 Millionen Euro (2008) gilt diese als eine der fünf bestdotierten Stiftungen der Welt. Drei Fünftel des Budgets werden für soziale Belange aufgewendet, je etwa 80 Millionen fliessen in die Bereiche Forschung und Umwelt sowie Kultur. Und wie sich das einst von Joan Miró geschaffene Firmensignet der Sparkasse von ihrem Hauptsitz Barcelona aus über ganz Spanien verbreitet hat, so expandiert La Caixa auch als Kunstinstitution. In Madrid war sie bisher mit Ausstellungsräumen an der vornehmen Calle Serrano präsent. Dass sie nach Höherem strebt, macht nun – schräg gegenüber dem Prado, halbwegs zwischen der Sammlung Thyssen und dem Museum Reina Sofía – das jüngst eröffnete Caixa-Forum Madrid deutlich.

Transformation

Die Ortswahl mag smart erscheinen. Doch das Grundstück hatte einen kleinen Kunstfehler. Miterworben werden musste nämlich ein um 1900 errichtetes, denkmalgeschütztes Elektrizitätswerk. Vom Paseo del Prado zurückversetzt, verborgen hinter einer Tankstelle, stellte dieses Ziegelsteinüberbleibsel mit seinen seit je blinden Fenstern die Architekten vor eine in mehrfacher Hinsicht tückische Aufgabe. Die Nutzfläche auf 10 000 Quadratmeter zu verfünffachen, ohne die bestehenden Baulinien der engmaschigen Gassen hinter der Prachtavenue zu verletzen; den Altbau in seiner äusserlichen Unscheinbarkeit intakt zu belassen und ihn, unter Rücksichtnahme auf den urbanen Kontext, zugleich in eine architektonische Ikone zu verwandeln – so ungefähr lautete der Bauauftrag, der 2002 an die Basler Architekten Herzog & de Meuron erging.

Ihn zu erfüllen, bedingte eine Aufstockung des Altbaus von drei auf fünf Geschosse; zwei weitere wurden unterirdisch eingezogen. Das Sockelgeschoss hingegen wurde buchstäblich aufgelöst, um den Eingangsbereich als gedeckte Plaza zu gestalten – in Fortsetzung des auf den Paseo del Prado sich öffnenden, durch die Beseitigung der einstigen Tankstelle gewonnenen Freiraums. Seitlich flankiert diesen Platz eine Brandmauer, die vom Landschaftsarchitekten Patrick Blanc in einen vertikalen Garten verwandelt wurde. Dieser befremdlich-anmutige Pflanzenteppich ist auch als Pendant zum Botanischen Garten zu verstehen, dessen Haupteingang künftig gegenüber dem Caixa-Forum zu liegen kommen soll – gemäss Alvaro Sizas Entwurf für die Neugestaltung jener Mischung aus Autobahn und Stadtwäldchen, die der Paseo del Prado ist.

In der Schwebe

Bekämpft von einer durch Carmen Thyssen angeführten Schildbürgerbewegung, befindet sich das Siza-Projekt allerdings weiterhin in der Schwebe. Der Begriff des Schwebens trifft übrigens auch auf das Bauwerk der Schweizer Architekten zu. Scheinbar unvereinbare Anforderungen austarierend, hält es die Balance zwischen Diskretion und Dissonanz. So sind die willkürlich anmutenden Volumina des Aufbaus fast mimetisch den chaotischen Dachformen der unmittelbaren Umgebung nachempfunden; und ihr rostiges, im oberen Teil perforiertes Stahlkleid hebt sich so krass von den Ziegeln des Altbaus ab, wie es sich mit ihnen – nicht nur farblich – zu verbrüdern versucht.

Nachgerade zu levitieren aber scheint dieser Zwitter durch das Fehlen des Sockels. Vom Eindruck des Schwebens aus der Ferne bis zur Empfindung der Schwere, sobald man unter die Baumasse tritt, erinnert diese überdachte «Plaza» an den ersten Bau, den Herzog & de Meuron in Spanien verwirklichen konnten: das blaue, Edificio-Forum genannte Dreieck am Strand von Barcelona. Nicht zu verwechseln mit dem 2002 eröffneten Caixa-Forum Barcelona, das – von andern Architekten verantwortet – indessen gleichfalls den Vergleich mit dem Madrider Kraftwerk herausfordert. Denn auch hier war es ein ziegelsteinernes Industriefossil, dessen Umbau ingenieurtechnische Bravour erforderte. In Barcelona verrät der von Arato Isozaki gestaltete Erschliessungsgraben nichts mehr von der delikaten Aufgabe, vor die sich der Statiker Robert Brufau gestellt sah, als er die hauchfeinen Ziegelmauern der märchenhaften, 1911 von Puig i Cadafalch vollendeten Fabrikanlage von ihren Fundamenten zu lösen hatte. Für den Madrider Bau von Herzog & de Meuron hingegen ist eben dieses Wagestück auch nach der Vollendung kennzeichnend. Erst unter den Silberkeilen der «Plaza»-Decke wird man der drei Kerngehäuse gewahr, die das alte Gemäuer und seinen Überbau stützen.

Das in einem originalgetreu restaurierten, bloss mit einem neuen Untergrund versehenen Meisterwerk der Industriearchitektur untergebrachte Caixa-Forum Barcelona ist mit jährlich 1,6 Millionen Besuchern eines der meistbesuchten Museen der Stadt. Das Caixa-Forum Madrid – hervorgezaubert aus einem vergleichsweise simplen Fabrikbau – wird ihm darin nicht nachstehen. Nachträglich erst zur Preziose umgeformt, und zwar ironischerweise von katalanischen Bauherren, eignet ihm eben auch deshalb etwas Symptomatisches für die ewige, nun in vieler Hinsicht zugunsten der einst hinterwäldlerischen Hauptstadt kippende Rivalität der beiden Metropolen.

Zur Eröffnung werden auf den beiden Ausstellungsgeschossen 34 der mittlerweile über 700 Werke umfassenden Sammlung der Stiftung präsentiert. Als Querschnitt durch die Oberliga der Gegenwartskunst nicht besonders originell, ist diese, was das Niveau der einzelnen Werke betrifft, in Spanien wohl dennoch weiterhin unübertroffen. Bei einer Stiftung, die für Kultur jährlich 80 Millionen Euro auszugeben hat, kommt freilich nicht nur die Crème de la Crème zum Zug. Wie hochrangig aber auch immer: Die von La Caixa ausgerichteten Ausstellungen, Konzertreihen, Debatten und Events aller Art werden stets an den von ihr selbst gesetzten Standards gemessen werden, und diese zielten nicht durchwegs auf möglichst hohe Besucherzahlen ab. Doch schon jetzt strömen die Besucher in hellen Scharen in das Madrider Caixa-Gebäude, das – so der ausführende Architekt Harry Gugger – «nur ein Instrument ist, das noch gestimmt werden muss».

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2008.02.21



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Caixa-Forum

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Presseschau 12

06. Juli 2020Markus Jakob
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Reizvolle Ruheinsel

Auf den ersten Blick erscheint er als eine ornamentale Übung auf dem Gelände des Hospital de Sant Pau, einem zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Jugendstil-Komplex. Doch der Pavillon des ersten Maggie’s Centre auf dem Kontinent besticht durch die liebliche Präzision, mit der er sich in seine diffizile Umgebung fügt, und mehr noch durch seine hoch differenzierten Innenräume auf bescheidener Fläche.

Auf den ersten Blick erscheint er als eine ornamentale Übung auf dem Gelände des Hospital de Sant Pau, einem zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Jugendstil-Komplex. Doch der Pavillon des ersten Maggie’s Centre auf dem Kontinent besticht durch die liebliche Präzision, mit der er sich in seine diffizile Umgebung fügt, und mehr noch durch seine hoch differenzierten Innenräume auf bescheidener Fläche.

Irritierend zunächst der Name: Kàlida, mit befremdlichem K, der das katalanische Wort für warm (càlid) evoziert und entfernt auch die calidad (Qualität) anklingen lässt – letztlich aber wohl gewählt wurde, um eine fürsorgliche, vielleicht sogar mütterliche Wärme auszudrücken und gleichzeitig offen für vielerlei Assoziationen zu sein. Aber hier geht es ja nicht um Sprachkritik.

Sant Pau und Maggie’s

Der Krankenhaus-Komplex Sant Pau umfasst neun Häuserblöcke des Cerdà-Rasters unweit der Sagrada Família. Die Avenida Gaudí verbindet beide Weltkulturerbe-Stätten. Doch während Gaudís Tempel immer frenetischer zur monumentalen Groteske ausgebaut wird, sind die fantastisch durchstilisierten Jugendstilgebäude seines Zeitgenossen Domènech i Montaner sorgsam renoviert worden, und 1999-2010 entstand am Nordostrand des Areals das neue Krankenhaus, entworfen von Bonell Gil + Rius, Canosa y Barberà. Der Vergleich mit der Berliner Charité ist naheliegend – flächenmäßig zumindest und was die diversen Bauabschnitte betrifft. Sant Pau ist zwar nicht das wichtigste Hospital Barcelonas, aber seine Gliederung – der zentrierten Bettenburg fundamental entgegengesetzt – bleibt doch eine Referenz.

Zwischen dem fingerförmig ausgreifenden Neubau, den unterirdisch miteinander verbundenen Preziosen von Domènech i Montaner und einigen weniger ansehnlichen Behelfsbauten blieb ein »terrain vague«, das der Gestaltung harrte. Der Pavillon von EMBT mit seinem Garten ist ein erstes Element, das auf diesem schmalen Streifen auf abschüssigem Gelände für eine liebliche Ordnung sorgt.

Er wurde nach den Prinzipien von »Maggie’s« gebaut. Der Name steht für ein Konzept, das die schottische Schriftstellerin und Landschaftsgestalterin ­Maggie Keswick Jencks erdacht hat: Krebspatienten eine Umgebung nahe der oft feindlich erscheinenden Krankenhäuser zu bieten, in der sie sich wohlfühlen, entspannen und (mit Psychologen z. B.) unterhalten können, stets von einem Garten umgeben. 1996, kurz nach Maggies Tod, wurde der erste Pavillon in Edinburgh eröffnet. Seither sind über 20 davon hinzugekommen, und die Liste der Entwerfer ist ein You-name-it der Weltarchitektur. Barcelona ist nach Hongkong und Tokio der erste Ableger außerhalb Großbritanniens, obwohl die Baufinanzierung wie der Betrieb hier durch lokale Stiftungen übernommen wurde. Daher auch der Name Kàlida (und nicht Maggie’s). Die Generosität vieler der beitragenden Firmen – zuvorderst der Architekten und der Innengestalterin Patricia Urquiola – verleiht dem Projekt eine umso größere Liebenswürdigkeit.

Benedetta und Patricia

Der Pavillon liegt zweigeschossig vor dem am schroffsten wirkenden Teil des Neubaus: der onkologischen Abteilung, die ins Parkhaus überleitet. Er hat zwei Eingänge: nordseitig von der Krebsabteilung aus erschlossen, von dieser aber entschieden durch eine gerundete Mauer getrennt; der andere über eine sich in den Garten hinunter kurvende Rampe zugänglich. Die Hanglage ­wurde genutzt, um diesen versenkten Garten zu schaffen: Das OG liegt auf der Höhe der noch ungestalteten unmittelbaren Umgebung; das EG und der Garten, darin eingebettet, einige Meter tiefer. 

Dieser in mehrerlei Hinsicht verborgene, wiewohl frei zugängliche Garten ist eine Delizie. Jasminblütiger Nachtschatten und Bougainvilleas ranken sich an den Pfeilern der rostroten stählernen Pergola empor und werden sie dereinst weitgehend überdecken, um dem Außenraum Schatten und eine noch intimere Stimmung zu verleihen. Ein Gingko, eine Trauerweide, ein Spitzahorn u. a., alle außer einem verknorpelten Ölbaum jetzt noch jung, setzen die Hauptzeichen der Bepflanzung. Nur das Lüftungsgebrumm vom neuen Krankenhaus her stört dieses Idyll ein wenig.

So wie der Garten und darin die Pergola, im Grundriss organisch, blütenartig erscheinen, wurde auch der Pavillon selbst fächerartig entworfen. Die Aufsicht aus dem höherliegenden Krankenhausneubau zeigt ein Dach, das in drei Grün- und Gelbtönen seinerseits Natur evoziert.

Es mag an eins der späten Projekte von Enric Miralles (1955-2000) erinnern, den Mercat de Santa Caterina: Dort ist die bunte Dachlandschaft zwar nur für einige Anwohner in voller Pracht sichtbar – dennoch gehört sie zu den Ikonen der jüngeren Architektur Barcelonas.

Nun hat Miralles’ Witwe Benedetta Tagliabue – mit ihr zusammen firmierte das Studio als EMBT, und sie leitet es unter demselben Namen erfolgreich weiter – fast zwei Jahrzehnte nach seinem Tod diese Ideen in kleinerem Maßstab aufgenommen und variiert. (Erstaunlich bleibt, wie die beiden Lebens- und Arbeitspartnerinnen des kometenhaften Architekten, Carme Pinós und die in Mailand geborene Benedetta Tagliabue, in ihren Karrieren Miralles’ Werk weiterzuentwickeln vermochten.) Kommt hinzu die spanische Innen­architektin Patricia Urquiola, die ihrerseits in Mailand arbeitet. Die Möblierung des Pavillons spielt mit der Architektur auf bemerkenswerte Weise zusammen. Es ist konstruierte Behaglichkeit, freundlich ausgestattetes Wohlbefinden, gemäß dem Auftrag – laut Benedetta Tagliabue einem der schönsten ihres Lebens.

Gebaute Wonne

Als Reminiszenz an die Pavillons von Domènech i Montaner präsentiert sich der Bau von außen in sorgfältig durchgestaltetem, teilweise emailliertem Ziegelstein. Einige Jugendstil-Ornamentationen der historischen Bauten, die gotisierend von abstrahiert floral bis hin zu figürlich reichen, wurden nachempfunden; das in Dreiecke geteilte Hexagon ist ein klassisches Motiv des ­katalanischen Modernisme, ebenso die Emaillierung und die vorkragenden Ziegel. Zugleich filtern Durchbrechungen spielerisch Licht ins Innere. (Man könnte bei dieser Backstein-Feingliederung auch an die Amsterdam-Schule denken.)

Die Dreiecke werden in der Horizontalen der Pergola in edelhölzerner Gestalt aufgenommen. Die schrägen Sprossen der Fensterrahmen im EG und die Brisesoleils vor den großen Fenstern im OG sind gestalterische Elemente, die erst im Innern ihre ganze Zauberkraft entfalten. Wie die ganze Fassade überhaupt ihren Charme vorwiegend aus dem Innern bezieht. Von außen kann sie zunächst ein wenig überkandidelt, fast absurd wirken. So nimmt man die südseits vorkragende Außenmauer zwar als willkommene Schattenspenderin wahr; der ästhetische Sinn der Doppelfassade ist jedoch erst vom geräumigen Bürotriangel im OG aus zu erkennen, wo sie zwar keine Außenblicke erlaubt, aber ein wirklich bezauberndes Licht schafft.

Unten öffnet sich der Eingang von der Neubauseite auf den doppelstöckigen Zentralraum mit seinem großen Tisch; darüber hängen Leuchten, deren Form nun fatalerweise an das Coronavirus erinnert. Interessanter sind die Nebenräume – denn im Grunde besteht der Bau nur aus teils offenen, teils durch Schiebetüren abgrenzbaren Kompartimenten, in denen man es sich auf Sitzgruppen – ihrer acht oder zehn, jede anders – bequem machen kann.

Die Architektin beschreibt Kàlida im Gespräch als ein »aus Fragmenten fabriziertes Gebäude« und nennt es »ein wenig surrealistisch: wo Träume in Wirklichkeit verwandelt werden und vice versa«. Bodenbeläge variieren (das Parkett ist ein Meisterwerk für sich), die Wände sind neutral hellgrau (bis auf die ungestrichenen vertikalen Streifen, die Benedetta durchsetzte, obwohl Patricia mit dem neutralen Grau ihre überreiche Möblierung konterkarierte), die Decken wiederum verspielt aus Katalanischen Gewölben (flache Ziegelgewölbe) gebildet.

Es gibt einen winzigen Raum, vor dem ein ebenso winziges Innengärtchen liegt: Man könnte sich in Japan wähnen. Laut einer Kàlida-Mitarbeiterin wird er jedoch selten aufgesucht; die Patienten ziehen die offenen Räume vor. Der leuchtendste davon liegt auf der Westseite im OG, mit seinen von EMBT entworfenen Leuchten. Patricia Urquiola hat das Haus mit eigenen, aber auch vielen anderen Elementen mitgestaltet. Die Korridore beider Geschosse zieren indische Tapisserien, die ihre Firma herstellen lässt. Der Möbelreichtum konfiguriert sich hier, in Konsonanz mit dem räumlichen Reichtum, zu einem großartigen kleinen Ganzen.
Bleibt die Frage, wie klug die Zentralisierung der Krankenhäuser in riesigen Bettenburgen je war. Sant Pau ist das perfekte Gegenbeispiel – war es seit jeher, und der Kàlida-Pavillon liefert dazu einen frischen Beitrag.

db, Mo., 2020.07.06



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db 2020|07-08 Ornament

18. Januar 2015Markus Jakob
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Der vertikal verlängerte Platz

Das neue Seminargebäude der katalanischen Wirtschaftskammer hat eine für viele Barcelonesen sentimental besetzte Ecke so unterkühlt wie hochherzig in Beschlag genommen. Die großflächig verglasten Foyers der übereinander gestapelten Seminarräume bilden »vertikale Plätze«, die den aufgeweiteten Stadtraum vor dem Haus gewissermaßen ins Gebäudeinnere fortführen. Dank dieses Klimapuffers und des kompakten Baukörpers gelingt es den Architekten zudem, den Energiebedarf des Gebäudes stark zu reduzieren.

Das neue Seminargebäude der katalanischen Wirtschaftskammer hat eine für viele Barcelonesen sentimental besetzte Ecke so unterkühlt wie hochherzig in Beschlag genommen. Die großflächig verglasten Foyers der übereinander gestapelten Seminarräume bilden »vertikale Plätze«, die den aufgeweiteten Stadtraum vor dem Haus gewissermaßen ins Gebäudeinnere fortführen. Dank dieses Klimapuffers und des kompakten Baukörpers gelingt es den Architekten zudem, den Energiebedarf des Gebäudes stark zu reduzieren.

Für die einen bedeutet »Bildung« das reine Ansammeln von Faktenwissen, für die anderen bezeichnet der Begriff eine glückhafte Verbindung von allseitiger Offenheit und der Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen und nutzbar zu machen. Für Letztere haben die Architekten Roldán + Berengué mit ihrem Neubau für die Wirtschaftskammer einen Ort geschaffen, der nicht einfach nur einen weiteren Stadtbaustein darstellt, sondern durchlässige Räume bildet, die das öffentliche Leben einsaugen, reflektieren und auch in dieses hinauswirken.

Anknüpfungspunkte und Verbindungen, v. a. historischer Art, gibt es einige: Der Platz, dessen nördliches Ende das Seminar- und Verwaltungsgebäude belegt, ist nach Galla Placidia, der letzten römischen Kaiserin benannt. In ihrem bewegten Leben bekam sie es zwischen ihrer Geburtsstadt Konstantinopel und Spanien mit Goten und Hunnen zu tun. Im Jahr 414 brachte sie, entführt und zwangsverheiratet, in Barcelona ein Kind des Westgotenkönigs Athaulf zur Welt. Daher die ehrenhafte Benennung des Platzes, den man im Grunde als eine, wenn auch beträchtliche, Aufweitung der Via Augusta ansehen kann, die ihrerseits wiederum auf das römische Straßennetz verweist.

Viele Barcelonesen hatten zu diesem Winkel in der oberen Stadtmitte, zwischen den Quartieren Gràcia und Sant Gervasi, eine sentimentale Beziehung: Hier befand sich innerhalb einer alten Industriestruktur ein kleiner Rummelplatz – sein Karussell unter dem Namen El Caspolino war stadtbekannt. Dem trägt der Neubau im Eingangsbereich mit Druckmotiven auf den Glasfassaden Rechnung, deren Vokabular zwar den Wirtschaftswissenschaften entliehen ist, aber zugleich auch die Pferdchen des alten Karussells diskret nachbildet. Ähnlich gestaltet sind die Sonnenschutzaufdrucke der Verglasungen in den OGs, wo Texte zu dekorativen Streifen zusammengebunden sind und – so heißt es – die Hälfte des einfallenden Sonnenlichts reflektieren.

Vom obersten Stockwerk mit prachtvoller Aussicht aus reicht der Blick auf der einen Seite zu Bofills umstrittenem Segel des Hotel W vor dem Meereshorizont, auf der anderen zu Fosters Kommunikationsturm hoch oben auf der Serra de Collserola. Zu Füßen breitet sich eine zum reinen Fußgängerbereich umgestaltete Fläche von 150 x 45 m aus.

Schmal, aber weit

Von dem schmalen, 380 m² messenden Grundstück nimmt sich das ebenso unterkühlt wie hochherzig auftretende Gebäude 32 m entlang der Platzkante und gerade einmal 10,5 m in der Tiefe. Von außen präsentiert es sich als von Vertikalen geprägter Abschluss des Platzes; seitlich – an der Via Augusta – gibt es sich bis auf einen verglasten Streifen hermetisch. Die Geschosseinteilung wird dabei verschleiert, indem eine übergeordnete Geometrie mit nach oben hin zunehmenden Höhen von etwa 4, dann 7 und schließlich 13 m mitunter zwei Geschosse zusammengefasst und somit eine scheinbare Dreistöckigkeit erzeugt. Dieses Spiel mit den Fassadenflächen thematisiert den Übergang vom durchschnittlich dreigeschossig bebauten Viertel Gràcia in das wesentlich höher aufragende Viertel Sant Gervasi, den der Platz markiert. Der schmale Bereich über dem EG ist vom Mehrzwecksaal belegt, im mittleren Bereich sind die Seminarräume versammelt und hinter den fast turmartig aufragenden Stufen ganz oben befinden sich kleinere Räume und die Verwaltung.

Das Innere ist v. a. von Holzoberflächen geprägt und wird dadurch zu einer Art städtischem Wohnzimmer. Durch die Mischung edlerer mit sehr günstigen Materialien und z. T. vorfabrizierten Elementen konnte man im Kostenrahmen bleiben. Erstaunlich ist, auf wie einfache Weise – übrigens durchweg mit marktgängigen Materialien und Objekten ausgestattet – ein solches Kleinod ein anderes, dem viele Barcelonesen nachtrauerten, würdig ersetzen kann.

Es finden sich subtile Details wie z. B. die seitlich zwischen den Gebäudestützen eingelassenen Sitznischen des Auditoriums im 1. UG, deren modisch abgeschrägte Holzvertäfelung den Blick aufs Podium erweitert.

Kaum prägnanter hätte die Trennung zwischen den Schulungsräumen und den vorgelagerten Vestibülen mit hölzernen, in den Pausen weit zu öffnenden Zwischenwänden ausfallen können. Der massive Wechsel von den hermetisch wirkenden, ganz in Weiß gehaltenen Seminarräumen zu den warmtonigen, sonnendurchfluteten Flurzonen muss jedem Seminaristen wie eine Offenbarung vorkommen.

Mit dieser längsseitigen Zweiteilung wurden auf allen sechs Geschossen sich wiederholende Räume geschaffen. Die kommunikativen Flure dienen dabei als klimatische und akustische Pufferzonen. Man darf sie getrost als Balkone ansehen. Sie liegen zwar hinter der doppelten, das Klima kontrollierenden und – zumindest rechnerisch – fast drei Viertel der eingestrahlten Energie abwehrenden Glasfassade, nehmen zum Platz aber dennoch eine symbiotische Beziehung auf, quasi als dessen vertikale Verlängerung. Ein Vergleich mit den Terrassen japanischer Tempel erscheint nicht abwegig. Japanische Einflüsse, etwa die in Tatami-Manier ausgelegten keramischen Bodenbeläge, werden weder verleugnet noch hochgespielt. Die stützenfreien Geschosse sind wie Räume eines japanischen Hauses frei konfigurierbar gedacht. Auch die Verwandtschaft der bedruckten Gläser mit Papierwänden darf man anerkennen, wenngleich sie eher einer Neuinterpreation altbekannter Brise-Soleils gleichkommen, wie sie traditionell zum Bild Barcelonas gehören. Die Architektin Mercè Berengué meint dazu: »Das Lattenfenster ist Buchstabe geworden.«

Trotz der beengten Verhältnisse nimmt das Gebäude von den rückseitig angrenzenden Bauten etwa einen Meter Abstand. Große Teile der Innenräume lassen sich somit beidseitig belüften und von Norden her belichten. Fenster zu den Nachbargebäuden und zu einem Innenhof hin erlauben ein Minimum an Licht in den unteren Stockwerken, ausreichend davon in den vom Platz abgewandt liegenden Räumen und in den obersten beiden Geschossen. Durch den kompakten Baukörper, die großen Glasflächen der Doppelfassade und den Sonnenschutz erhofft man sich eine Energieeinsparung von 45 % gegenüber dem spanischen Standard.

Tagsüber reflektiert das Glas der Fassaden den Himmel und das Treiben auf dem Platz, nachts wird es durchsichtig und das Gebäude nimmt den Charakter eines Setzkastens an. Mit seiner Offenheit und der Art, wie es je nach Beleuchtung von seinem Innenleben erzählt, bietet das Gebäude den Nutzern die Gelegenheit, nicht nur physikalisch ihren Blick in die Stadt hinein zu weiten, sondern auch ihre Gedanken aus der Innensicht in die Außenwelt zu übertragen.

Mit diesem Werk haben die Architekten bereits eine ganze Reihe regionaler und auch internationaler Preise eingeheimst – angesichts der Vielzahl guter Ideen und der hochästhetischen Gestaltung völlig zu Recht.

db, So., 2015.01.18



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db 2015|01-02 Bildungsbauten

05. Oktober 2014Markus Jakob
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Die Kunst der gescheiten Bescheidenheit

Die Artefakte eines beim katalanischen Dorf Seró entdeckten Steintischs werden in einem minimalistischen Gebäude präsentiert, das durch die gekonnte Kombination von denkbar primitiven Baumaterialien einen gleichermaßen unprätentiösen wie eleganten Charakter erhält und die annähernd 5 000 Jahre alten Fundstücke stimmungsvoll in Szene setzt.

Die Artefakte eines beim katalanischen Dorf Seró entdeckten Steintischs werden in einem minimalistischen Gebäude präsentiert, das durch die gekonnte Kombination von denkbar primitiven Baumaterialien einen gleichermaßen unprätentiösen wie eleganten Charakter erhält und die annähernd 5 000 Jahre alten Fundstücke stimmungsvoll in Szene setzt.

Heute liegt die Gegend abseits der Hauptverkehrslinien, die Barcelona mit Madrid verbinden – man hat hier aber Hannibal vorbeiziehen sehen, wie auch die Blüte und die Zurückdrängung der arabischen Kultur, und Archäologen stießen in der Umgebung des Río Segre wiederholt auf zahlreiche stein- und bronzezeitliche Reste Jahrtausende alter Siedlungen, die in Verbindung mit weit entfernten Orten des Neolithikums standen.

Im Jahr 2007, beim Bau eines Bewässerungskanals, entdeckte man die Trümmer eines Dolmens (Steintisch), den die Archäologen der Universität Lleida sogleich als einzigartig erkannten; sind in die Steine doch geometrische Muster eingraviert, die sich als Umrisse menschlicher Figuren deuten lassen. Einer der Steine muss beinahe 9 m gemessen haben – höher als alle bisher bekannten Monumente jener Zeit. Man hat den anscheinend (wer weiß wann und warum) absichtlich zerteilten Megalithen nach vielen Diskussionen in seinen Teilstücken belassen und dergestalt in dem eigens dafür geschaffenen Besucherzentrum in Seró ausgestellt, kaum einen Kilometer von der Fundstätte entfernt.

Es war die (nur etwa 50-köpfige) örtliche Bevölkerung, die darauf drängte, die Steine nicht, wie im Normalfall, in ein Museum in Barcelona verfrachten zu lassen. Stattdessen wurde, um die sieben gravierten Felsstücke zu beherbergen und dem Dorf zugleich das bisher fehlende Gemeindezentrum zu bescheren, mit einem minimalen Gesamtbudget von 652 000 Euro (die Hälfte davon aus dem örtlichen Kulturetat) ein 500 m² umfassender Neubau geschaffen.

Ziegel-Erfindungen

Nähert man sich dem winzigen, wie in dieser Gegend üblich an einen Hügel geklammerten Dorf, so fragt man sich zunächst, welcher der rundherum verstreuten Ziegelsteinbauten, seien es Getreidescheunen oder Viehställe, nun der 2013 mit dem wichtigsten katalanischen Architekturpreis, dem FAD, ausgezeichnete Bau sein mag. Seine Unscheinbarkeit ist zweifellos das erste Qualitätsmerkmal des »Espai Transmissor« (Übermittlungsraum), wie er sich etwas geheimnistuerisch nennt. Aber die – zumindest scheinbare – Einfachheit der Konstruktion nimmt tatsächlich einige Charakteristika der umliegenden Scheunen auf, insbesondere deren Skelett, wenn auch die Ziegelausfachung dazwischen, wie auch die Raumverteilung, wesentlich kunstvoller ausfällt.

Das Gebäude verschwindet in der Senke unterhalb des Dorfplatzes; die Esplanade bildet einen Teil des Dachs, sichtbar bleiben allein die Lichtschächte und die Rampen, die zum Eingang hinunterführen – der freilich auch ebenerdig zugänglich ist, wo Ziegelmauern, um einen Hof gruppiert, dem Bau sein bescheidenes Gesicht verleihen.

Es ist ein aus denkbar gewöhnlichen Materialien erbautes Ganzes. Das Äußere zeigt dennoch großes Raffinement, das insbesondere auf die vielfältige Verwendung von Ziegeln zurückgeht. Neben roh belassenen Beton treten Armierungseisen, die an die Halme der umliegenden Weizenfelder erinnern und die das Gebäude von außen als Geländer, teils sogar als schwebende Rampe charakterisieren. Das Unfertige, das ihm daher anhaftet, macht einen Teil seines Charmes aus.

Noch raffinierter gestaltet sind die Innenräume. Der Eingangsbereich mag recht konventionell anmuten; es schließt jedoch ein Saal an, der dem Dorf Seró für alle möglichen Zwecke und Gelegenheiten dient – nicht zuletzt als eine Art Klassenzimmer. Unter dem Hauptstrang der Dachrampen öffnet er sich zu einer Fensterfront hin, vor der bei Bedarf eine Leinwand herabgelassen werden kann. Die ansteigende Dachschräge ergibt einen perspektivischen Effekt, der die hohe Glaswand weniger enorm erscheinen lässt, als sie wirklich ist. Die Wirkung ist stupend, sobald sich eine Person an die riesenhafte Hoftür stellt.

Zumal die Gegend auch als Weingebiet – Appellation Costers del Segre – an Ruf gewonnen hat, ließ man sich die Chance nicht entgehen, einen Raum eigens für die Präsentation lokaler Produkte zu schaffen, insbesondere der Weinkooperativen. Es ist eines der »Prunkstücke« der mit so bescheidenen Mitteln gebauten Anlage. Wird hier doch der Trickreichtum, mit dem die Architekten zu Werke gingen, besonders deutlich: Die Lochziegel sind mit (leeren) Weinflaschen gefüllt, die in dem im Sommer heißen, im Winter oft frostigen Klima für Wärmeausgleich sorgen – wobei sogar die (je nach Saison) Verkorkung der Flaschen eine Rolle spielt: im Sommer werden einige Flaschen entfernt, etliche entkorkt, im Winter wieder verpfropft. Es wird berichtet, im Winter dringe öfter einmal Nebel in die Innenräume ein, den der Autor im August freilich nicht erleben konnte und der hoffentlich nicht auf die gelegentliche Nutzung des Wein-Raums als Dorfpinte zurückgeht.

Die Nebenräume – Technik, Lager, Toiletten – sind clever um diese Eingangspartie herum gruppiert. Überraschend ist der Übergang in das eigentliche »Museum«. Hier wird an Wandtafeln und in Vitrinen die Geschichte des archäologischen Funds erklärt. Der fensterlose Raum wird von zahlreichen Lichtschächten – wandseits quadratisch, in der Mitte rund – erhellt: dieses Zenitallicht schafft ein nachgerade magisches Ambiente.

Im Labyrinth des Steingartens

Doch das ist erst der Auftakt zur eigentlichen Attraktion. Toni Gironès hat sie – in aller Bescheidenheit – auf eine Weise inszeniert, die die Aufmerksamkeit nicht nur der lokalen Architekturkritiker erregte. Fast unmerklich sich senkend, führt ein quadratischer Spiralgang in stetig enger werdenden Windungen in den 3 m tiefer liegenden Steingarten hinunter, umrahmt von zunächst einer, dann zwei, schließlich drei Mauerschichten aus Lochziegeln, auf einem sich zunehmend verfeinernden Ziegelboden, dessen Geknirsch zur Atmosphäre beiträgt, und der übrigens als Dachbelag auch seine thermische Funktion hat. Für die Verwendung derselben großen Lochziegel, für die Decken-, Wand- und Bodenbekleidungen teils zerschnitten, teils zerstampft, hat der Architekt zu Recht viel Bewunderung geerntet. Man muss ein wenig geometrisches Verständnis mitbringen, um die erstaunlich einfache Lösung zu begreifen, wie die rechteckige Doppelspirale sanft in den eigentlichen Hauptraum hinunter- und wieder aus diesem herausführt, dabei durch die in der Überlagerung zunehmend sich verdichtenden Lochziegelwände in eine Art Sanktuarium leitet, wo die seltenen Steine unter ihren Tageslichtschächten (die mit LED-Leuchten ausgestattet auch nächtliche Besuche gestatten) einen Steingarten bilden.

Wenn die Lichtschächte im vorangegangenen Saal ein fast fantastisches Licht verbreiten, so ist ihre Wirkung in diesem Raum höchst präzis: Sie sind auf die Felsen ausgerichtet, deren Ausmaßen entsprechend, und stehen ihnen an Perfektion natürlich nicht nach; erstaunlicher ist die geometrische Exaktheit sowohl des abgerundeten Zuschnitts der Steine als auch der hineingeritzten Muster, die vermutlich menschliche (oder göttliche) Figuren darstellen.

Seró selbst mag ein Leichtgewicht unter den neolithischen Fundstätten Europas sein, aber dies im besten Sinn des Wortes: Da sind bloß sieben erstaunlich gravierte Steintrümmer, um die herum einige unscheinbar raffinierte Mauern gebaut wurden.

Man wundert sich, woher Toni Gironès' »Händchen« für die gleichermaßen simplen und poetischen Konstruktionen stammt, für die er nicht erst seit dem Projekt in Seró bekannt ist. Wer das Büro der Architekten in Barcelona besucht, findet sich in einer (von einem kurzzeitigen Bürgermeister der Stadt 1935 eingerichteten) Prunkwohnung mit Aussicht bis zum Meer, in der selbst die Böden teilweise vergoldet sind, und in der eine kleine Privatbar für dessen Geliebte nur ein Detail unter vielen ist. Vielleicht schärft aber gerade eine solche Umgebung den Blick dafür, welche Kraft einzelnen Materialien, Details und Überlegungen jeweils innewohnt.

db, So., 2014.10.05



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db 2014|10 Besucherzentren

03. Juni 2013Markus Jakob
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Landpartie mit einem Hauch von Zen

Das überregional bekannte Restaurant in einem ausgebauten Gehöft im Vulkangebiet der Garrotxa wurde um einen überdachten Freibereich erweitert, für dessen Gestaltung das Bild eines Picknicks im Grünen Pate stand. Transluzente Kunststoff-Bahnen dienen als Wetterschutz, zonieren den Raum und bilden schmale Atrien, aus denen Bäume emporwachsen. Die nahezu ganz entmaterialisierte Architektur lässt die Frage nach Drinnen oder Draußen nebensächlich werden.

Das überregional bekannte Restaurant in einem ausgebauten Gehöft im Vulkangebiet der Garrotxa wurde um einen überdachten Freibereich erweitert, für dessen Gestaltung das Bild eines Picknicks im Grünen Pate stand. Transluzente Kunststoff-Bahnen dienen als Wetterschutz, zonieren den Raum und bilden schmale Atrien, aus denen Bäume emporwachsen. Die nahezu ganz entmaterialisierte Architektur lässt die Frage nach Drinnen oder Draußen nebensächlich werden.

Nach dem Umbau eines alten Bauernhofs in ein Restaurant, dessen minimalistischer Prunk auch in New York Furore machen würde, und den fünf Pavillons, die als rundum gläserne Behälter zu den eigentümlichsten Hotelzimmern der Welt gehören (vgl. db 3/2007, S. 32), hat das katalanische Architekturbüro RCR den Komplex »Les Cols« im Städtchen Olot nun um ein Bankettzelt erweitert. Es destilliert das architektonische Denken dieser Baukünstler auf seine Essenz und offenbart es damit in seiner Wundersamkeit wie in seiner Trickhaftigkeit.

Die Grundidee basiert auf der Vorstellung einer Landpartie: Man spaziert in eine Aue hinab, lässt sich an einem lauschigen Ufer nieder und breitet sein Picknick aus. Wer will, darf an Manets »Déjeuner sur l’herbe« denken. Nun aber die Wirklichkeit: Der Fluss, der streckenweise tatsächlich lauschige Fluvià, durchquert hier ein vorstädtisch verunstaltetes Gebiet. Das Grundstück selbst grenzt nicht an das Gewässer; und so haben die Architekten das Gelände neben dem Restaurant und den Pavillons gefahrlos absenken können, um darin jene Stätte zu schaffen, die man kaum ein Gebäude, aber auch nicht Bierzelt nennen kann – eher eine Ruine aus der Zukunft?

Uneindeutigkeit

Die Architektengruppe Aranda Pigem Vilalta, nach den Initialen ihrer Vornamen RCR genannt, hat weltweit Kultstatus erlangt. Rafael, Carme und Ramón stammen alle aus dem Städtchen Olot, 150 km nordöstlich von Barcelona. In und um Olot haben sie ein Œuvre aus Einfamilienhäusern, öffentlichen Bauten und landschaftlichen Interventionen geschaffen, das unverkennbar ihre Handschrift trägt. Über den Wert dieser Handschrift wird auch dieser Artikel keine gültige Antwort anbieten können.

Hält RCR daran fest, nur lokal tätig zu sein und Shanghai Shanghai sein zu lassen? Jein, so könnte man die Antwort Rafael Arandas wohl übersetzen. Jüngste Projekte in Barcelona – eine Bibliothek, ein Bürohaus – und in Südfrankeich – etwa das Musée Soulages in Rodez – können zwar noch zum natürlichen »Einzugsbereich« der Architekten zählen; ein Hotel in Dubai hingegen schwerlich. Dennoch sind RCR ein mit 14 Mitarbeitern überschaubares Büro geblieben (s. Erfahrungsbericht einer Mitarbeiterin in db 4/2007, S. 20), dessen Arbeitsräume in einer einstigen Glockengießerei im Zentrum des Städtchens gewiss eines der schönsten Beispiele dafür sind, was Rafael Aranda als ihr vorderstes Anliegen nennt: den Außenraum nach innen zu holen.

Eben eine solche Zwielichtigkeit oder Durchdringung von Außen und Innen kennzeichnet das Projekt Les Cols. In struktureller Hinsicht könnte man von einem künstlichen Tal sprechen. Das beim Aushub geförderte vulkanische Gestein wurde in unterschiedlichen Körnungen sowohl für den Boden als auch für die Bekleidung der z. T. zu Halden geformten Stützmauern verwendet. Mit diesem basaltenen, rauen, tektonischen Grund kontrastiert das schwebende, luftige, transparente Dach, welches das Erscheinungsbild auf dem Zugangsweg in das »Tal« bestimmt. Im Hintergrund erhebt sich, perfekt gerundet, einer der zahlreichen die Stadt Olot überragenden Vulkankegel.

Ist der Talgrund erreicht, so tritt man unter die metallenen Gestänge, die durchhängend, als wären sie Bambus, das Dach tragen. Einige Schritte noch, und man trifft auf den ersten Außen und Innen voneinander trennenden Vorhang. Es sind dies 30 cm breite, von der Decke hängende, durch ihre Bodenverankerung verstellbare PVC-Lamellen, die den Raum kaum sichtbar strukturieren. Sie bilden eine Art Zickzackweg durch die für den Ablauf eines Festbanketts typischen Stationen – Aperitif, Diner, Tanzfläche.

Dabei kommt den dazwischen gefügten schmalen »Patios« die entscheidende Rolle zu. Als nicht überdachte Intervalle dienen sie der Entwässerung, v. a. aber nehmen sie die (vorläufig noch jungen) almeces auf, auf Deutsch Zürgelbaum genannt – ein autochthones Gewächs, dessen Kronen dereinst ihren Schatten über das große Festzelt werfen werden. Laut den Architekten filtert die ETFE-Doppelmembran (mit 100 mm Zwischenraum), die auch akustischen Problemen mit der Nachbarschaft abhilft, das Sonnenlicht bereits zu 50 %. Das ist eine zuversichtliche Rechnung: Die Winter in der Garrotxa sind kalt, der Sommer ist heiß, und schon an einem milden Frühlingstag wird deutlich, dass es sich hier um eine Art Treibhaus handelt. Klimatisierung ist denn auch, wie diskret auch immer angebracht, unvermeidlich. Die entsprechenden Anlagen bekommt natürlich nur das Personal zu sehen: Sie befinden sich dort, wo auch etwa die Anlieferung mittels hydraulischer Aufzüge stattfindet. Denn das durchsichtige Traumreich hat – obwohl RCR sich nach dem Grundsatz richtet, Komplexität »in einer Einheit, einem räumlichen Fluss« zu lösen, seine Schattenseiten.

Die carpa – so der spanische Ausdruck für ein Festzelt – ist, wie schon die Pavillons, eine höchst seltsame Abstraktion: von Natur oder eher von Architektur? Versuchen wir, uns der Anlage ein zweites Mal zu nähern: Sie ist offensichtlich von den grundlegenden Elementen des Lichts und des Materials her konstruiert. Wie jedes Bauwerk von RCR hat sie den Anspruch, ein sinnliches Lehrstück zu sein – mit minimalen Mitteln maximale Wirkung zu erzielen. RCR-typisch, bildet eine dem Terrain genau angepasste Kubatur eine Art Chassis, über dem die niedrige Dachlinie schwebt. Für diese Architekten müsste man den Begriff der »angewandten Land Art« erfinden. Man kann die Carpa introvertiert oder extrovertiert nennen – beides trifft zu.

Oder ein dritter, ganz sachlicher Anlauf: Der Partygast – es sind überwiegend Hochzeiten, die hier stattfinden – wird sich (und soll sich, so Rafael Aranda) zunächst fragen, »warum da eigentlich nichts ist«. Selbst Glas erschien den Architekten als zu »materiell« – daher die PVC-Lamellen, und daher auch die eigentlich aberwitzige Plexiglas-Möblierung für maximal knapp 300 Gäste: so gut wie unsichtbar – bis sich ein Dickwanst darauf setzt und den Stuhl vermutlich nicht besonders bequem findet.

Ein Picknick-Platz nach alter Väter Sitte sieht so gewiss nicht aus. Aber wir haben selber kein Fest dort erlebt; und können uns daher nur vorstellen, wie gut die in die Metallrohrdecke integrierten LED-Leuchtschienen funktionieren, wie wunderbar das mittlerweile zwei Michelin-Sterne verdienende Essen in Les Cols ist, und ob die sehr großzügigen, scheinbar im Freien liegenden und wie die gnadenlos sachlich geordnete Küche als Extra-Geviert an die Carpa anschließenden Toiletten ganz einfach benutzbar sind.

db, Mo., 2013.06.03



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db 2013|06 Essen und Trinken

22. August 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Fata Morgana der Moderne

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung...

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung...

Wie, wenn nicht mit Bitternis, nimmt man heute zur Kenntnis, welch eine Stadt Bagdad einst aus sich machen wollte? Eine von Pedro Azara kuratierte Ausstellung des katalanischen Architektenverbandes veranschaulicht dies mit präzis gewählten Dokumenten und einem Dutzend eigens dafür gefertigten Modellen, ergänzt durch einen exzellenten Katalog. Dem Vergessen entrissen wird in erster Linie das Wirken des 1950 geschaffenen Development Board, der auf Initiative des irakischen Architekten Rifat Chadirji einige der renommiertesten Baukünstler der Zeit nach Bagdad einlud. Ein dezidiert auf die Symbolkraft der Architektur setzendes Vorhaben, sollten doch sieben Meister der Moderne ebenso vielen Kultur- und Lebensbereichen architektonische Form verleihen: Alvar Aalto der Kunst, Frank Lloyd Wright der Musik, Le Corbusier dem Sport, Walter Gropius dem Wissen, Willem Marinus Dudok der Justiz, Constantino Doxiadis dem Wohnen und Gio Ponti dem Ministerium für Planung und Entwicklung. Pontis aus zwei gegensätzlichen Volumen komponiertes Monument wurde 2003 im Irak-Krieg stark beschädigt.

Die Baugeschichte der sieben Projekte erweist sich als höchst unterschiedlich. Wie ein Fatum erscheint die Tatsache, dass für jeden der sieben Architekten der Bagdader Entwurf der letzte seiner Laufbahn war. Sollte die Moderne ihren Schwanengesang im Irak angestimmt haben? Als der 90-jährige Frank Lloyd Wright 1957 den Auftrag für das Musiktheater erhielt, lieferte er ungebeten – offenbar aus Faszination für eine Stadt, die er zunächst für Babylon hielt – eine ganze Reihe von Plänen für weitere Kulturbauten, Park- und Uferanlagen ab. Sie blieben genauso Papier wie das Opernhaus, das auf einer Insel im Tigris die ihm fast heilig gewordene Zikkuratform abwandelt – wie sein damals im Bau befindliches Guggenheim Museum.

Der Staatsstreich, bei dem 1958 der junge König Faisal II. gestürzt und getötet wurde, vereitelte nicht nur Wrights Projekte. In den Machtkämpfen der folgenden Jahre erlahmte der Erneuerungselan, Verwestlichungstendenzen wurden abgewürgt. Zu Aaltos Museum wurde nie auch nur der Grundstein gelegt. Gropius konnte zu Lebzeiten immerhin das zentrale Hochhaus seines Universitätsviertels vollenden, und in seinen Grundzügen trägt der mittlerweile grösste Campus des Nahen Ostens noch immer seine Handschrift. Hingegen ist unter den Zehntausenden von Wohnungen, die der griechische Urbanist Doxiadis im Irak plante, gerade sein Musterquartier für Bagdad kein Glücksfall: Sadr City wurde zum Inbegriff der Gewalttätigkeit. Und von Le Corbusiers ein 50 000-plätziges Stadion einschliessendem Sportkomplex haben selbst manche Kenner seines Werks noch nie gehört, obwohl Teile davon von seinem Partner George Marc Présenté realisiert wurden – ein Vierteljahrhundert nach Aufnahme der Planung.

Denn um 1980, nun unter dem Regime Saddam Husseins, wurde Bagdad von einer neuen, freilich bald wieder in Kriegswirren sich verlaufenden Welle urbanistischer Ambitionen erfasst, auch diesmal unter Beiziehung schillernder Namen wie Robert Venturi und Ricardo Bofill. Rivalen im Wettbewerb für die bis heute ungebaute grösste Moschee der Welt, führten sie die Postmoderne schliesslich in den irakischen Wohnungs- und Geschäftsbau ein.

Die Ausstellung versäumt es nicht, neben Bofills Projekten ein Werk eines andern einst in den Irak berufenen Sohns Barcelonas zu präsentieren. José Luis Serts 1959 vollendete amerikanische Botschaft ist heute wohl das tristeste architektonische Wahrzeichen Bagdads. Während die USA bereits ihre übernächste, durch keinerlei baukünstlerische Ansprüche sich auszeichnende Botschaftsfestung errichten, ist Serts zwischendurch von Saddam Hussein als Empfangspalais genutztes, später durch amerikanische Bomben beschädigtes Baujuwel eine verlassene Ruine.

Ein merkwürdiges, spiegelverkehrtes Pendant zu Bagdads verlorenen Idealen ist derzeit, nur einige Schritte vom COAC entfernt, im barcelonesischen Stadtgeschichtsmuseum zu entdecken. Denn aus der Erinnerung verdrängt wurden nicht nur die nahöstlichen Architekturvisionen, sondern ebenso das Elend der Einwanderer in Barcelonas Slums, in welchen in denselben fünfziger und sechziger Jahren bis zu 200 000 Menschen hausten. Unter dem Titel «Barraques. La ciutat informal» werden erstmals ihre Lebensbedingungen in den Bidonvilles dokumentiert, die sich den heute von den skulpturalen Körpern der Euro-Jugend überfüllten Stränden entlangzogen und in kaum mehr vorstellbarem Ausmass andere Stadtlücken, selbst den späteren Olympiaberg Montjuïc, überzogen. Ziemlich perplex lässt einen der Vergleich der seitherigen Geschicke und Entwicklungen der beiden Städte zurück.

[ Die Bagdad-Ausstellung ist bis zum 13. September im COAC Barcelona zu sehen, anschliessend in Madrid. Katalog: Bagdad. Ciudad del espejismo (spanisch, französisch, englisch). Hrsg. Pedro Azara, UPC Barcelona 2008. 368 S., € 30.–. Die Ausstellung «Barraques. La ciutat informal» im Museu d'Història de la Ciutat dauert bis zum 22. Februar 2009. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2008.08.22

23. Juni 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ökostadt an den Ufern des Ebro

Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ressource Wasser ist von weltweiter Bedeutung. Ein klug gewähltes Thema mithin für die internationale Ausstellung, mit der sich die Ebro-Stadt Saragossa ins Gespräch bringen will. Ihr Erneuerungswille findet auf dem Expo-Gelände in einer Windung von Spaniens wasserreichstem Fluss auch architektonisch Ausdruck.

Der verantwortungsvolle Umgang mit der Ressource Wasser ist von weltweiter Bedeutung. Ein klug gewähltes Thema mithin für die internationale Ausstellung, mit der sich die Ebro-Stadt Saragossa ins Gespräch bringen will. Ihr Erneuerungswille findet auf dem Expo-Gelände in einer Windung von Spaniens wasserreichstem Fluss auch architektonisch Ausdruck.

Wenig mehr als ein Feldlager, am Ebro-Ufer aus strategischen Gründen errichtet, war das römische Caesaraugusta, dessen Name sich zum kastilischen Zaragoza abgeschliffen hat. Und etwas von einer riesigen Kaserne haftet laut bösen Zungen der 660 000 Einwohner zählenden Stadt noch heute an. Oder sollte man in ihr das Gegenbild jener ausgestorbenen Dörfer Aragoniens sehen, deren einstige Bewohner sich hier nun mit Einwanderern aus aller Welt mischen? Reizlos als städtischer Körper, weder anmutig noch herb im Charakter, dumpf eher als beschwingt erscheint Saragossa, in dessen Gassen aufputschende Wirkstoffe schwach dosiert sind. Nicht dass die 1808 durch napoleonische Truppen schwer in Mitleidenschaft gezogene Stadt der architektonischen Pracht oder charmanter Winkel ganz entbehrte; doch eine gewisse Vierschrötigkeit kennzeichnet selbst die in jüngerer Zeit erfolgte Erneuerung so repräsentativer Stadträume wie der Plaza del Pilar und der Avenida de la Independencia.

Profane und pharaonische Pläne

So ist Saragossa unter Spaniens Grossstädten das Aschenbrödel nicht allein deshalb, weil ihm die andern zuvorgekommen sind beim Versuch, sich international zu profilieren. Ob die Expo 2008 daran etwas zu ändern vermag? Wirtschaftlich hat der Aufschwung schon vor längerer Zeit eingesetzt, die Region gehört zu den wohlhabendsten des Landes. Nur scheinbar ein blinder Fleck auf der iberischen Landkarte, nimmt die Stadt heute die einst von den Römern erkannten Vorteile ihrer Lage wahr. Halbwegs zwischen der katalanischen Küste und dem Zentrum der Halbinsel, zwischen der Levante und dem Golf von Biskaya im Fadenkreuz der vier dynamischsten Regionen Spaniens gelegen, ist sie dank neuen, schnellen Verkehrsverbindungen ein attraktiver Standort. Madrid und Barcelona sind per Bahn in anderthalb Stunden erreichbar, Valencia und Bilbao liegen im Umkreis von 300 Kilometern, und jenseits der Grenze sind Toulouse und Bordeaux nicht allzu fern.

Die erste diese Voraussetzungen nutzende Massnahme war der Bau des Logistikzentrums «Plaza», das dereinst mit zwölf Millionen Quadratmetern eine in Europa unübertroffene Grösse erreichen soll und von dem aus jetzt schon Zara, ein weltweit führender Kleiderhersteller, operiert. Ein zweiter, wesentlich publizitätsträchtigerer Schritt war die Ausrichtung der vor wenigen Tagen eröffneten Expo (NZZ 16. 6. 08). Noch während deren Aufbau kündigte die Regionalregierung ein drittes, wahrlich pharaonisches Projekt an. Es klang so märchenhaft, dass man geneigt war, es für einen Scherz zu halten. Und ein solcher ist das «europäische Las Vegas» wohl auch, das eine Investorengruppe namens International Leisure Development in den Monegros – einer der dürrsten, aber auch faszinierendsten Landschaften Spaniens – zu errichten gedenkt. In den auf www.ild-plc.com zu betrachtenden Computeranimationen hat sich die Steppe östlich von Saragossa in ein blühendes Eden mit Dutzenden von Kasinos und Hotels, mehreren Golfplätzen und Erlebniswelten namens «Pharaoland» und «Spyworld» sowie einer Stierkampfarena und einer Galopprennbahn verwandelt: allerhand für eine Gegend, welche die meisten bisher nur durch das Zug- oder Autofenster wie eine Halluzination wahrnahmen.

Vor den Augen geflimmert haben muss es auch Aragoniens Politikern, die sich freudig zur Finanzierung der nötigen Infrastrukturen bereit erklärten: der Erschliessung ebenso wie der Wasserversorgung für die 25 Millionen spielfreudigen Besucher, welche die Promoter bald schon jährlich in die Halbwüste zu locken verheissen. (Zum Vergleich: 2007 lag Saragossa unter Spaniens Flughäfen mit 500 000 Passagieren auf dem dreissigsten Rang.) Rund 17 Milliarden Euro ist das Konsortium mit Sitz in Jersey angeblich in die architektonische Kitschorgie namens «Gran Scala» zu investieren gewillt. Bisher hat es jedoch noch nicht einmal die Bürgschaft von 20 Millionen aufgebracht, und das Ganze dürfte sich über kurz oder lang als Schaumschlägerei erweisen. Peinlicher als ihre Blauäugigkeit den Finanzjongleuren gegenüber ist die Begeisterung, mit der die politisch Verantwortlichen ein Projekt aufnahmen, das allen Grundsätzen Hohn spricht, die sie gerade anlässlich der Expo 2008 zu predigen nicht müde werden. Deren Motto nämlich lautet: «Wasser und nachhaltige Entwicklung».

Neue Ufer – neue Achsen

Wie bei derlei Grossveranstaltungen üblich, verwischt auch bei der Expo in Saragossa der temporäre Tingeltangel die urbanistischen Strategien, auf welche die Planer nebst dem kurzfristigen Imagegewinn für die Stadt gesetzt haben. Es soll ja hier – anders als etwa nach der Weltausstellung 1992 in Sevilla – nicht lediglich ein abgeräumter Rummelplatz zurückbleiben. Vorbild war in dieser Hinsicht eher Barcelona, das die Olympischen Spiele 1992 unter anderem für seine Öffnung zum Meer nutzte und diese Jahre später in der einstigen Schmuddelecke der Stadt mit dem Parc del Fòrum zur Vollendung brachte. Der Anlass dazu – das «Weltkulturforum 2004» – war ein Flop, und die anfänglich skeptische Einwohnerschaft freundete sich mit den neuen, auch neuartigen Stadträumen erst mit der Zeit an.

In Saragossa hingegen dämpft lediglich das manchenorts auch während der Expo anhaltende Bauchaos die durch diese ausgelöste Hochstimmung. Als Schönheitsfehler empfunden wird insbesondere, dass die urbanistische Einbindung des Bahnhofs nicht rechtzeitig zum Abschluss gebracht werden konnte. Dabei wurde die Estación de Delicias schon 2003 eröffnet und bildet den Ausgangspunkt der architektonisch ambitioniertesten Achse, die sich Saragossa seit der klassizistischen, vor 1850 angelegten Avenida de la Independencia zugetraut hat. Der von Carlos Ferrater entworfene Bahnhof darf – Rafael Moneos Atocha-Umbau in Madrid und die nach den Plänen von Cruz & Ortiz in Sevilla realisierte Estación de Santa Justa in Ehren – als das eindrücklichste bisher für Spaniens Hochgeschwindigkeitsnetz AVE angelegte Gebäude bezeichnet werden. Von aussen ein flacher, weisser Quader, der am westlichen Stadtrand vor den Karsthorizont gestellt wurde, empfängt der neue Bahnhof die Reisenden unter einer aus Dreiecken komponierten Lichtgeometrie, die dank der puristischen Ausstattung der Halle fabelhaft zur Geltung kommt.

Chaotisch wirkt hingegen derzeit noch die unmittelbare Umgebung. Doch kann man sich nun über das Baugetümmel, über Autobahnen, Besucherparkplätze und den Ebro hinweg per Gondelbahn direkt zu einem der drei Expo-Eingänge unweit der 76 Meter hohen Torre del Agua befördern lassen. Dieser gläserne Turm bildet den Abschluss der auch zu Fuss leicht zu bewältigenden, zum und durch das Ausstellungsgelände führenden Achse, als deren emblematisches Mittelstück die Pavillonbrücke von Zaha Hadid fungiert: zwiespältiges Wahrzeichen der Expo und der erneuten Zuwendung Saragossas zu seinem Fluss.

Froschkönige im Ebro-Mäander

Der Meandro de Ranillas – zu Deutsch: der Mäander der Frösche – umfliesst eine gut zwei Kilometer westlich des Stadtzentrums gelegene Halbinsel, deren Wahl zum Expo-Gelände nicht unumstritten war. Als eigentliches Ausstellungsareal zur Überbauung freigegeben wurden lediglich 25 Hektaren des stadtnahen Naturraums. Auf rund vier Fünfteln der Fläche schaffen neue Park- und Uferanlagen, sequenzartig gestaltet von bestens ausgewiesenen Landschaftsarchitekten wie Iñaki Alday, Margarita Jover und Christine Dalnoky, dem Grünmanko der Stadt Abhilfe. Darüber hinaus verbinden sie die Stadt mit dem Fluss und klären die auf der Nordseite des Ebro besonders prekäre und verworrene Stadtentwicklung.

Der besseren Anbindung Saragossas an das privilegierte Südufer dienen zunächst drei neue Brücken. Zwischen den zuvor isolierten Stadtteilen La Almozara und El Actur überspannt nun eine Fussgängerpasserelle den Ebro, und weiter westlich erschliesst der Puente del Tercer Milenio – ein spätes Hauptwerk des grossen Brückenbauers Juan José Arenas – die Halbinsel für den Fahrverkehr. Zwischen diesen beiden Übergängen konnte Zaha Hadid ihr Brückenprojekt ausführen. Ihr Puente Pabellón ist zugleich Spaniens erste gedeckte Brücke. Wie blendend sie ihre Bestimmung zum baukünstlerischen Bravourstück der Expo erfüllt, darf diskutiert werden. Auf jeden Fall ist sie das Resultat eines konstruktiven Kraftakts, trägt doch ein einziger Betonpfeiler das 270 Meter lange, zwischen 8 und 30 Meter breite Gehäuse. Südseitig ist dessen «Landnahme» eleganter geglückt als am gegenüberliegenden Ufer, an dem die fliessenden Formen – Hadids obsessives Anliegen – ein etwas abruptes Ende finden. Unterwegs in drei «Kelche» sich verzweigend, evoziert die Struktur aufgrund ihrer schuppenartigen Metallverkleidung einen janusköpfigen Fisch, der seine Mäuler in parabolischen Dreiecken aufsperrt, um die Besuchermassen zu verschlingen. Im Innern der Brücke mutet Hadid den Besuchern zunächst ein ungewohntes Höhlenerlebnis zu, ehe sie ihnen nach dem Gang über die ins Obergeschoss führenden Rampen vereinzelte Ausblicke auf den Fluss gestattet. Introvertiert und die 7000 Tonnen nicht verhehlend, die es wiegt, konnte «Zahas verteufeltes Puzzle», wie es der Expo-Leiter Roque Gistau genannt hat, mit knapper Not termingerecht zu Ende gebracht werden. Als einer der drei Expo-Zugänge nimmt die Pavillonbrücke nun zunächst eine Ausstellung auf, deren Thematik – der verantwortungsvolle Umgang mit der beschränkten Ressource Wasser – den Besuchern in der Folge noch auf tausenderlei Weise nahegebracht wird.

Baulich findet die vom Delicias-Bahnhof über die Hadid-Passerelle führende Achse auf der Halbinsel ihre Fortsetzung im Kongresszentrum der Madrider Architekten Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano. Gleichfalls ein metallverkleideter Körper, spricht er formal doch eine ganz andere Sprache: Während sich bei Hadid das Dreieck als strukturelles Grundelement in sanfte Kurvaturen auflöst, wird hier das unregelmässig gezackte Profil des langgestreckten Volumens trotz seiner bescheidenen Höhe als Skyline lesbar, deren Schlussakkord die schon erwähnte Torre del Agua setzt. Noch harmonischer wirkt diese Architektur bei Nacht, wenn das kunstvolle Gitterwerk der Kongresshaus-Fassade schimmernd zum abschliessenden, rundum verglasten Leuchtturm von Enrique de Teresa überleitet.

Im Innern bildet sich die verspielte Silhouette des Centro de Congresos als bewusst karg ausgestaltete Raumsequenz ab – es sind die Besucher, die diese Bühne beleben sollen. Unter den Expo-Architekten sind Nieto-Sobejano mit dieser Attitüde eine Ausnahme. Sie gehören übrigens auch zu den wenigen, die sich ihr Projekt durch keinerlei vom Ausstellungsthema inspirierte Metaphern verwässern liessen.

Die Gestalt der benachbarten Torre del Agua, die sich aus ihrem tropfenförmigen Grundriss ergab, ist gewiss attraktiv; besonders praktisch aber ist sie leider nicht. Der aus der Ferne scharf konturierte Glasturm erscheint beim Näherkommen zusehends immaterieller; bis sich auch die zwanzig Geschosse, die seine Brisesoleil-Umkränzung vorgaukelt, im Innern als Illusion erweisen. In Wirklichkeit ist es vorläufig ein durch ein einziges Zwischengeschoss unterteilter Hohlraum, beherrscht von zwei entsprechend gigantischen, selbstverständlich aquatischen Motiven verpflichteten künstlerischen Beiträgen. Die umlaufende Rampe, über die man das Aussichtsdach erwandert, soll zwei Kilometer messen. Dennoch wird der Bau – eventuell auf 90 Meter aufgestockt, gewiss aber auch horizontal unterteilt – künftig der Gegenwartskunst Raum bieten, der Saragossa anders als manch kleinere spanische Provinzkapitale bisher die kalte Schulter zeigte.

Cool ist anders

Mit einem Schulterzucken hat die Kritik die Torre del Agua aufgenommen. Und während der Kongressbau von Nieto-Sobejano und Zaha Hadids Brücke von Spaniens Fachwelt eher kühl betrachtet wurden, erkor diese den spanischen Pavillon von Francisco Mangado zur eigentlichen Ikone der Expo. Das Renommee des aus Navarra stammenden Architekten beruhte bisher einzig auf der Vernünftigkeit seiner Bauten. Als unfreiwilliger Gegenspieler von Zaha Hadid triumphiert er nun auf deren ureigenem Feld. Hie eine liegende Gladiole, da ein aus dunklen Teichen aufragender Pappelhain: Jenseits aller Geschmacksfragen ist Mangados Entwurf, eben weil er ein ebenso einprägsames Bild schafft, mit Hadids Pavillonbrücke zu vergleichen. Auch wenn man Mangados hinter einem Wald schlanker, keramikumhüllter Säulen verborgenen Glaspavillon trotz seiner scharfkantigen Form als Kitsch betrachten kann, so führt er doch vor, wie Räume ohne energieverschwenderische Klimaanlagen um etliche Grade gekühlt werden können.

Selbstverständlich findet man an der Expo 2008 ein ganzes Sortiment an Lösungen für dasselbe Problem. So rühmen sich die fünf unter der Regie der Katalanen Batllé-Roig entworfenen «plazas temáticas» genauso ihrer nachhaltigen, auch Aussenräume kühlenden Systeme wie das einem Tonkrug nachempfundene, aber absurderweise «Leuchtturm» genannte Gebilde, in dem über 300 Nichtregierungsorganisationen ihre Anliegen verbreiten. Mit Wasser, das auf ein als Projektionsfläche dienendes Dachsegel plätschert, wird auch der Schweizer Pavillon «natürlich» temperiert. Mit Afghanistan hat die Schweiz übrigens einen interessanten Nachbarn erhalten, weil topografische Verwandtschaften unter den einheitlichen Dächern, unter denen über hundert Staaten und die dreizehn autonomen Regionen Spaniens ihren pfleglichen Umgang mit dem kostbaren Gut inszenieren, den Vorrang vor ihrer geografischen Nähe hatten.

Dass die USA und Grossbritannien auf eine Teilnahme verzichteten, glaubt die Expo dank der starken, als zukunftsträchtiger erachteten asiatischen Präsenz verschmerzen zu können. In technologischer Hinsicht setzt gleichwohl das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit seinen «digital water walls» das Highlight, während die Schweiz konsequent dem Understatement huldigt. Gewiss nicht die übelste Option in einem Umfeld, in dem sich die aragonesischen Gastgeber in Gestalt eines sechsgeschossigen schwebenden Flechtkörbchens präsentieren (Entwurf: Daniel Olano), auf dem aufblasbare Feigen und Pfirsiche aus Plastic für Stimmung sorgen, bevor auch dieses Bauwerk seinem Endzweck als Sitz einer Lokalbehörde zugeführt wird. Die architektonisch belanglose Hülle der Länderpavillons soll künftig als Business-Park vermarktet werden. An die ewige Wasserproblematik wird man sich dann wohl auch hier nur erinnern, wenn der Ebro – wie eben dieser Tage – über die Ufer zu treten droht oder aber die Stadt als beunruhigend spärliches Rinnsal durchfliesst. Denn Saragossa fühlt sich seit je als Verwalterin der Wasserreserven eines durch sein extremes hydrografisches Ungleichgewicht gekennzeichneten Landes, das gerade in dieser Hinsicht freilich auch ein verkleinertes Abbild der Erde ist.

[ Die Expo Zaragoza 2008 dauert bis 14. September. Informationen zu den rund 3000 programmierten «Spektakeln» und Kolloquien: www.expozaragoza2008.es. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2008.06.23

15. April 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Lückenbüsser und Lückennutzer

Jede Stadt besitzt Restgrundstücke und Freiräume, die auf unterschiedlichste Weise spontan genutzt werden. Wie formenreich diese Interventionen nicht nur in den Schwellen- und Drittweltländern sind, zeigt derzeit die Ausstellung «Post-it City» im CCCB in Barcelona.

Jede Stadt besitzt Restgrundstücke und Freiräume, die auf unterschiedlichste Weise spontan genutzt werden. Wie formenreich diese Interventionen nicht nur in den Schwellen- und Drittweltländern sind, zeigt derzeit die Ausstellung «Post-it City» im CCCB in Barcelona.

Im Drehbuch, das sich Barcelona auf den Leib geschrieben hat, spielt der öffentliche Raum die Starrolle. Doch das flimmernde Bild einer freizügigen, gut gestylten Partystadt, in der permanent die Sonne scheint, hat sich für ihre Einwohner nicht erst durch die Aussicht getrübt, dass dank der Lieblichkeit des Klimas das Wasser demnächst per Schiff oder Bahn herbeigeschafft werden muss. Das «Modell Barcelona», touristisch erfolgreich ausgebeutet und lange ein urbanistischer Exportschlager, ist längst mit den ihm selbst innewohnenden Widersprüchen kollidiert und wird trotz der fortgesetzten Selbstbejubelung zunehmend in Frage gestellt.

In diese Kontroverse schreibt sich auch eine Ausstellung im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) ein, obwohl nur 12 der 78 hier präsentierten «Feldarbeiten» die Stadt selbst zum Schauplatz haben. Denn die spontane Nutzung städtischer Freiräume und Restgrundstücke zwecks kommerzieller, spielerischer oder sexueller Aktivitäten – so lässt sich das Thema umreissen – ist ein weltweites Phänomen.

Morphologie des Ephemeren

Der Begriff «Post-it City», vom Mailänder Architekten Giovanni La Varra geprägt, meint städtische Provisorien, in denen sich die dringlichsten Bedürfnisse einer Stadt fortlaufend neu manifestieren, um sich ebenso schnell wieder von deren Körper zu lösen, ohne die geringsten Spuren zu hinterlassen. Daher ist auch die «Post-it City» genannte Recherche, die Martí Peran 2005 in Barcelona mit einem Workshop initiierte, potenziell endlos, und die derzeitige, von Peran, La Varra, Filippo Poli und Federico Zanfi kuratierte Schau versteht sich lediglich als Zwischenbilanz.

Den Prolog bildet das heute fast vergessene Bravourstück des jungen Deutschen Mathias Rust, der 1987 mit einer Cessna auf dem Roten Platz in Moskau landete: paradigmatischer Extremfall einer kurzfristigen, von keiner Obrigkeit vorgesehenen Inbeschlagnahme des öffentlichen Raums. Unspektakulär, ja monoton wirkt hingegen auf den ersten Blick die Präsentation der mehrheitlich eigens für diese Ausstellung geschaffenen Arbeiten. Auf je zwei Tischen, wandseitig ergänzt durch Videos oder anderes Bildmaterial, dokumentieren sie so diverse Phänomene wie mobile Garküchen in Hanoi, bewohnte Friedhöfe in Kairo oder von orthodoxen Juden zur Erinnerung an den Exodus an ihre Häuser gezimmerte, jeweils während Sukkot acht Tage lang bewohnte Laubhütten in Brooklyn. Ebenso Wissens- und Staunenswertes erfährt man über die Organisationsmuster gigantischer Märkte wie der «Salada» in Buenos Aires oder des Warschauer «Jarmark», beide vom Untergang bedroht, obwohl sie Tausenden ein Auskommen sichern.

Notgeborene Stadtlust

Es sind fast durchweg lokale Künstler, Architekten und Anthropologen, die – oft im Kollektiv – zum Materialreichtum dieser Ausstellung ihr Scherflein beigetragen haben. Fremdblicke sind die Ausnahme; zugleich jedoch, in der strengen Ordnung schon durch ihr Grossformat distinguiert, auch künstlerische Highlights. Das Baustellen-Triptychon des holländischen Fotografen Bas Princen veranschaulicht fast beiläufig die elenden Lebensbedingungen chinesischer Wanderarbeiter.

So wie sich deren Barackensiedlungen in der Immensität eines offensichtlich dauerhafteren Zementmeers verlieren, so kondensiert sich in den von der Chilenin Francisca Benítez gefilmten, im Geäst von Pariser Bäumen deponierten Habseligkeiten afghanischer Immigranten oder in der von Teddy Cruz analysierten spontanen Architektur der Armenviertel im mexikanischen Tijuana das Provisorische aller Urbanität. Die komplexe Schönheit der Grossstadt aber reflektiert auf meisterliche Weise das «São Paulo City Tellers» betitelte Stadtporträt des Italieners Francesco Jodice.

[ Bis 25. Mai. Katalog: Post-it City. Occasional Urbanities / Ciutats ocasionals. Katalanisch, spanisch und englisch. Hrsg. CCCB, Barcelona 2008. 232 S., € 15.– (ISBN: 978-84-9803-275-8). ]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2008.04.15

21. Februar 2008Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Eiserner Schmetterling

Als sich die katalanische Sparkasse La Caixa um 1985 als Kulturvermittlerin zu profilieren begann, genoss die Gegenwartskunst in Spanien noch wenig öffentlichen Rückhalt. Nun setzt die Bank mit dem Caixa-Forum von Herzog & de Meuron in Madrid ein Zeichen.

Als sich die katalanische Sparkasse La Caixa um 1985 als Kulturvermittlerin zu profilieren begann, genoss die Gegenwartskunst in Spanien noch wenig öffentlichen Rückhalt. Nun setzt die Bank mit dem Caixa-Forum von Herzog & de Meuron in Madrid ein Zeichen.

Spaniens grösste Sparkasse mischt nicht nur im spanischen Finanz-, Energie- und Industriesektor mit, sondern ist durch die Fundación La Caixa auch einer der Hauptakteure im Kulturleben des Landes. Mit einem Jahresetat von 500 Millionen Euro (2008) gilt diese als eine der fünf bestdotierten Stiftungen der Welt. Drei Fünftel des Budgets werden für soziale Belange aufgewendet, je etwa 80 Millionen fliessen in die Bereiche Forschung und Umwelt sowie Kultur. Und wie sich das einst von Joan Miró geschaffene Firmensignet der Sparkasse von ihrem Hauptsitz Barcelona aus über ganz Spanien verbreitet hat, so expandiert La Caixa auch als Kunstinstitution. In Madrid war sie bisher mit Ausstellungsräumen an der vornehmen Calle Serrano präsent. Dass sie nach Höherem strebt, macht nun – schräg gegenüber dem Prado, halbwegs zwischen der Sammlung Thyssen und dem Museum Reina Sofía – das jüngst eröffnete Caixa-Forum Madrid deutlich.

Transformation

Die Ortswahl mag smart erscheinen. Doch das Grundstück hatte einen kleinen Kunstfehler. Miterworben werden musste nämlich ein um 1900 errichtetes, denkmalgeschütztes Elektrizitätswerk. Vom Paseo del Prado zurückversetzt, verborgen hinter einer Tankstelle, stellte dieses Ziegelsteinüberbleibsel mit seinen seit je blinden Fenstern die Architekten vor eine in mehrfacher Hinsicht tückische Aufgabe. Die Nutzfläche auf 10 000 Quadratmeter zu verfünffachen, ohne die bestehenden Baulinien der engmaschigen Gassen hinter der Prachtavenue zu verletzen; den Altbau in seiner äusserlichen Unscheinbarkeit intakt zu belassen und ihn, unter Rücksichtnahme auf den urbanen Kontext, zugleich in eine architektonische Ikone zu verwandeln – so ungefähr lautete der Bauauftrag, der 2002 an die Basler Architekten Herzog & de Meuron erging.

Ihn zu erfüllen, bedingte eine Aufstockung des Altbaus von drei auf fünf Geschosse; zwei weitere wurden unterirdisch eingezogen. Das Sockelgeschoss hingegen wurde buchstäblich aufgelöst, um den Eingangsbereich als gedeckte Plaza zu gestalten – in Fortsetzung des auf den Paseo del Prado sich öffnenden, durch die Beseitigung der einstigen Tankstelle gewonnenen Freiraums. Seitlich flankiert diesen Platz eine Brandmauer, die vom Landschaftsarchitekten Patrick Blanc in einen vertikalen Garten verwandelt wurde. Dieser befremdlich-anmutige Pflanzenteppich ist auch als Pendant zum Botanischen Garten zu verstehen, dessen Haupteingang künftig gegenüber dem Caixa-Forum zu liegen kommen soll – gemäss Alvaro Sizas Entwurf für die Neugestaltung jener Mischung aus Autobahn und Stadtwäldchen, die der Paseo del Prado ist.

In der Schwebe

Bekämpft von einer durch Carmen Thyssen angeführten Schildbürgerbewegung, befindet sich das Siza-Projekt allerdings weiterhin in der Schwebe. Der Begriff des Schwebens trifft übrigens auch auf das Bauwerk der Schweizer Architekten zu. Scheinbar unvereinbare Anforderungen austarierend, hält es die Balance zwischen Diskretion und Dissonanz. So sind die willkürlich anmutenden Volumina des Aufbaus fast mimetisch den chaotischen Dachformen der unmittelbaren Umgebung nachempfunden; und ihr rostiges, im oberen Teil perforiertes Stahlkleid hebt sich so krass von den Ziegeln des Altbaus ab, wie es sich mit ihnen – nicht nur farblich – zu verbrüdern versucht.

Nachgerade zu levitieren aber scheint dieser Zwitter durch das Fehlen des Sockels. Vom Eindruck des Schwebens aus der Ferne bis zur Empfindung der Schwere, sobald man unter die Baumasse tritt, erinnert diese überdachte «Plaza» an den ersten Bau, den Herzog & de Meuron in Spanien verwirklichen konnten: das blaue, Edificio-Forum genannte Dreieck am Strand von Barcelona. Nicht zu verwechseln mit dem 2002 eröffneten Caixa-Forum Barcelona, das – von andern Architekten verantwortet – indessen gleichfalls den Vergleich mit dem Madrider Kraftwerk herausfordert. Denn auch hier war es ein ziegelsteinernes Industriefossil, dessen Umbau ingenieurtechnische Bravour erforderte. In Barcelona verrät der von Arato Isozaki gestaltete Erschliessungsgraben nichts mehr von der delikaten Aufgabe, vor die sich der Statiker Robert Brufau gestellt sah, als er die hauchfeinen Ziegelmauern der märchenhaften, 1911 von Puig i Cadafalch vollendeten Fabrikanlage von ihren Fundamenten zu lösen hatte. Für den Madrider Bau von Herzog & de Meuron hingegen ist eben dieses Wagestück auch nach der Vollendung kennzeichnend. Erst unter den Silberkeilen der «Plaza»-Decke wird man der drei Kerngehäuse gewahr, die das alte Gemäuer und seinen Überbau stützen.

Das in einem originalgetreu restaurierten, bloss mit einem neuen Untergrund versehenen Meisterwerk der Industriearchitektur untergebrachte Caixa-Forum Barcelona ist mit jährlich 1,6 Millionen Besuchern eines der meistbesuchten Museen der Stadt. Das Caixa-Forum Madrid – hervorgezaubert aus einem vergleichsweise simplen Fabrikbau – wird ihm darin nicht nachstehen. Nachträglich erst zur Preziose umgeformt, und zwar ironischerweise von katalanischen Bauherren, eignet ihm eben auch deshalb etwas Symptomatisches für die ewige, nun in vieler Hinsicht zugunsten der einst hinterwäldlerischen Hauptstadt kippende Rivalität der beiden Metropolen.

Zur Eröffnung werden auf den beiden Ausstellungsgeschossen 34 der mittlerweile über 700 Werke umfassenden Sammlung der Stiftung präsentiert. Als Querschnitt durch die Oberliga der Gegenwartskunst nicht besonders originell, ist diese, was das Niveau der einzelnen Werke betrifft, in Spanien wohl dennoch weiterhin unübertroffen. Bei einer Stiftung, die für Kultur jährlich 80 Millionen Euro auszugeben hat, kommt freilich nicht nur die Crème de la Crème zum Zug. Wie hochrangig aber auch immer: Die von La Caixa ausgerichteten Ausstellungen, Konzertreihen, Debatten und Events aller Art werden stets an den von ihr selbst gesetzten Standards gemessen werden, und diese zielten nicht durchwegs auf möglichst hohe Besucherzahlen ab. Doch schon jetzt strömen die Besucher in hellen Scharen in das Madrider Caixa-Gebäude, das – so der ausführende Architekt Harry Gugger – «nur ein Instrument ist, das noch gestimmt werden muss».

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2008.02.21



verknüpfte Bauwerke
Caixa-Forum

31. Oktober 2007Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Der Würfel findet Gefallen

Vom 19. ins 21. und wieder zurück ins 19. Jahrhundert: Unter dem Titel «El siglo XIX en el Prado» eröffnet das Madrider Museum heute seine neuen Ausstellungssäle – Teil der überfälligen, von Rafael Moneo diskret verwirklichten Modernisierung der grossen spanischen Pinakothek.

Vom 19. ins 21. und wieder zurück ins 19. Jahrhundert: Unter dem Titel «El siglo XIX en el Prado» eröffnet das Madrider Museum heute seine neuen Ausstellungssäle – Teil der überfälligen, von Rafael Moneo diskret verwirklichten Modernisierung der grossen spanischen Pinakothek.

Dem Purismus des klassizistischen Baus, der seit 1819 das Museo del Prado beherbergt, hatten diverse An- und Umbauten schon länger zugesetzt, vor allem auf seiner Rückseite. An der Frage, wie das Museum dort weiterwachsen könnte, biss sich 1995 denn auch die halbe Weltelite der Architektur die Zähne aus. Ein Fiasko, denn nach Ansicht der Jury setzte keines der annähernd 500 zum Wettbewerb eingereichten Projekte die an sich umstrittenen Prämissen überzeugend um. Aus der Barrage mit zehn Teilnehmern ging drei Jahre später Rafael Moneo, mittlerweile mit dem Pritzker-Preis geadelt, als Sieger hervor: von der Staatsräson selbst, so schien es, als Garant architektonischer Vernunft erkoren.

Das intensive Museum

Wie schwer sich Spanien mit seinem «kulturellen Flaggschiff» tut, erwies sich, als auch Moneos zurückhaltender, der Selbstauslöschung zuneigender und bis zum Verdacht der Willfährigkeit des Architekten modifizierter Entwurf zu scheitern drohte. Für einmal waren sich die Politiker einig geworden, und selbst die katholische Kirche hatte den Parkplatz, auf den sie als Einnahmequelle zunächst nicht verzichten zu können glaubte, zur Überbauung freigegeben: Da erwachte jäh die Liebe der Anwohner zu einer Ruine, der vorher wohl kaum jemand einen Blick gegönnt hatte.

Der seit Jahrzehnten zerfallende barocke Kreuzgang der Jerónimos-Kirche, etwas erhöht auf der Rückseite des «Edificio de Villanueva» gelegen (wie der Prado nun bildungsbürgerlich und trotz den teilweise stümperhaften Eingriffen in Villanuevas schmale Raumsequenz gern genannt wird), bot sich als einziges von diesem aus direkt erschliessbares Grundstück für einen Neubau an. Bizarrerweise ist nun gerade dieser Kreuzgang der exquisiteste (und zweifellos geheimnisvollste) Teil einer Erweiterung, deren Charme sonst hauptsächlich in ihrer Diskretion liegt. Die granitenen Arkaden, im obersten Geschoss des noch unlängst als «Cubo de Moneo» verschmähten Ziegelsteinwürfels rekonstruiert und von diesem ummantelt, scheinen, durch die Glasüberdachung in Zenitallicht getaucht, das durch einen quadratischen, seinerseits hinterleuchteten Schacht in die beiden darunterliegenden Ausstellungsgeschosse fällt, zugleich aus sich selbst zu leuchten.

Späte Modernisierung

An die karge Noblesse von Moneos Innenräumen reicht das Äussere des Baus nicht heran. Die Gliederung der Ziegelsteinfassaden, zweifellos endlos auf die Umgebung abgestimmt, wirkt eben deshalb eher zaghaft. Selbst der ungewöhnliche Portikus, der – nach oben versetzt – dem Altbau buchstäblich die Stirn bietet, gibt diesem Haus kein Gesicht. Darunter bleibt das von der Künstlerin Cristina Iglesias gestaltete Bronzeportal ein schöner, trotz seinen mächtigen Dimensionen anekdotischer Fremdkörper.

Offensichtlich hat sich hier der Architekt nicht selbst ein Denkmal zu setzen versucht, sondern sich ganz den Erfordernissen eines Museums untergeordnet, das seine Modernisierung spät – später als die meisten andern Pinakotheken von Weltbedeutung – in Angriff genommen hat. So spät – und durch teilweise absurde Querelen weiter verzögert –, dass der Prado schon wieder zum Vorreiter werden könnte. Dürfte doch die Zeit der architektonischen Sensationshascherei gerade im Museumsbau allmählich abgelaufen sein, um wieder unprätentiösere und der Sache, nämlich der Kunst, umso besser dienende Räume entstehen zu lassen.

Die zu 70 Prozent ausländischen Besucher mochten mitunter über die Rumpelkammer Prado murren. Antiquiert von der Kasse bis zu den Kartenständern, bot ihnen jedoch kein anderes Museum Meisterwerke der Kunst in so hoher Konzentration. Und so soll es bleiben. Die Nutzfläche ist um 50 Prozent gewachsen, die Sammlung im Altbau aber wird praktisch unverändert präsentiert. Die neuen Säle sind Sonderausstellungen vorbehalten; der Moneo-Würfel nimmt ausserdem ein Auditorium, Werkstätten und andere Technikräume auf. Das Zwischenglied erstreckt sich, verborgen unter einem Buchsbaumgarten, als Raumkontinuum vom Vestibül über den Museumsshop bis zur Cafeteria: ein spitzwinkliges Dreieck, durch einen separaten seitlichen Eingang zugänglich und wie versenkt zwischen dem höher liegenden Jerónimos und dem Altbau, an den es sich schmiegt und in dessen Zentrum die «Sala de las Musas» nun als eigentlicher Verteiler fungiert. Hier und nur hier hat Moneo in den Villanueva-Bau eingegriffen, um dem Prado seinen natürlichen Haupteingang, die «Puerta de Velázquez», zurückzugeben. Nun können die Besucher zwar nicht mehr gleich nach dem Security-Check achtlos an Mantegnas «Hinschied der Muttergottes» vorbeischlendern (oder auch nicht), sondern werden in dem pompejirot stuckierten Saal vom Halbkreis von acht marmornen römischen Musen empfangen. Das wirkt, als möchte der Prado eher nach innen expandieren, die Intensität möglicher Kunsterfahrung jedenfalls nicht ganz verloren geben, und dafür laut seinem Direktor Miguel Zugaza gern auf Filialen in Abu Dhabi oder Las Vegas verzichten.

Zugaza, alles andere als ein Schwarmgeist, hat den Prado auf Kurs gebracht. Bevor er 2001 seine Leitung übernahm, hatte sich das Direktorenkarussell fast im Jahresrhythmus gedreht. Nun, da die umfänglichste Erweiterung des Museums seit seiner Gründung vollbracht ist – 152 Millionen Euro die Kosten –, gibt sich die Eröffnungsausstellung betont introvertiert.

Ein Prado aus dem Prado

Die spanische Kunst des 19. Jahrhunderts, das so turbulent verlief und schliesslich den Niedergang des Landes besiegelte, war bisher nicht der Stolz der Sammlung. Die Mehrzahl der 3000 Werke aus den entsprechenden Beständen wurde an Provinzmuseen ausgeliehen. Einige wenige mochten beiläufige Blicke in der Nachbarschaft von Picassos «Guernica» erhaschen, als das berühmte, 1981 aus New York an das demokratische Spanien zurückgegebene Bild seltsamerweise zunächst im «Casón del Buen Retiro» präsentiert wurde, einer seit Jahren geschlossenen Dépendance des Museums. Sie soll demnächst als Studienzentrum des Museo del Prado neu eröffnet werden.

Nun haben die Prado-Kuratoren knapp hundert Gemälde aus jener Epoche gefiltert – alle perfekt, ohne die anderswo beliebten Grellheiten restauriert –, ergänzt durch einige Skulpturen, und das Ergebnis lautet: Spaniens 19. Jahrhundert war auch in bildnerischer Hinsicht eine fortlaufende Kalamität.

Gerade die lange verpönte, da ideologisch befrachtete Historienmalerei jedoch hat einige herzzerreissende Ikonen hinterlassen: Gisberts «Füsilierung von Torrijos», Morenos «Carlos de Viana», «Juana la Loca» hier gar in zwei grossartigen Versionen. Der ganze Wahnsinn der spanischen Geschichte wurde von Malern, deren Namen im Lande selbst kaum jemand kennt, in diese Gesichter, diese Gesten gestanzt. Es wird aber auch klar: Zwischen Goya und Sorolla (den chronologischen Polen der Ausstellung) brachte Spanien keinen wirklichen Ausnahmekünstler hervor.

Madrazo, dominierende Figur der Jahrhundertmitte, war ein begnadeter Porträtist. Zur Kunstgeschichte trug er eher nichts bei. Allen akademischen Ballast warf nur Mariano Fortuny ab, dessen halluzinogene Miniaturen hier ihre Umgebung – die von Rafael Moneo neu geschaffenen Räume – genauso vergessen lassen wie ein 6 mal 4 Meter messender Historienschinken. Das spricht für Moneos Räume.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2007.10.31



verknüpfte Bauwerke
Museo del Prado - Erweiterung

20. Februar 2007Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Aufbruchsstimmung am Guadalquivir

Lange Zeit schien Córdoba, verglichen mit andern spanischen Provinzstädten, in einen Dornröschenschlaf versunken. Nun aber setzt auch es, vor allem an den Ufern des Guadalquivir, auf Erneuerung.

Lange Zeit schien Córdoba, verglichen mit andern spanischen Provinzstädten, in einen Dornröschenschlaf versunken. Nun aber setzt auch es, vor allem an den Ufern des Guadalquivir, auf Erneuerung.

Ginge es nach dem Oberhaupt von Spaniens Muslimen, so würden in der einstigen Moschee von Córdoba schon morgen Gebete in Richtung Mekka gesprochen. Doch der katholische Bischof der Stadt hat dieses Ansinnen zurückgewiesen mit der Begründung, schon vor dem um 780 aufgenommenen Bau des islamischen Heiligtums habe sich hier ein christliches Gotteshaus befunden. Nach der «Reconquista» 1236 zur Kathedrale umfunktioniert, ist die Mezquita - auch wenn dem schier endlosen Geflecht ihrer Doppelbögen später ein christliches Herz eingepflanzt wurde - neben der Alhambra das grossartigste Bauzeugnis aus der Zeit von Al-Andalus. Vor ihr liegt der Puente Romano, Zeugnis von der Bedeutung der Stadt zu römischen Zeiten. Den Reichtum ihrer Geschichte trug sie lange mit Gleichmut. Die «Marke» Córdoba schlummerte vor sich hin, auch als 1992 der Anschluss an Spaniens erste, Madrid mit Sevilla verbindende Hochgeschwindigkeitsbahn (AVE) die Stadt in die Gegenwart zu katapultieren schien.

Glasbalken am Guadalquivir

Über den Puente Romano ratterte bis vor kurzem der Autoverkehr. Zurzeit wird die Brücke renoviert; sie soll künftig den Fussgängern vorbehalten bleiben, wobei der vorgesehene rosa Granitbelag für Diskussionen sorgt: kein Wunder in einer Stadt, die ihre schwarzweiss gemusterten Strassenpflästerungen wie Kunstwerke hegt. Könnten wir am Brückenkopf vor der Moschee in die Zukunft blicken, so erblickten wir links am gegenüberliegenden Ufer ein schmales, etwa zehngeschossiges Glasrechteck: die Stirnseite des «Palacio del Sur», der allerdings aus diesem Blickwinkel seine wahren Dimensionen verbirgt. Den Wettbewerb für dieses Kongresszentrum konnte Rem Koolhaas 2002 gegen Rafael Moneo, Cruz & Ortiz, Toyo Ito und Zaha Hadid für sich entscheiden. Es war ein Sieg der Cleverness über die Klugheit (die etwa Moneos Beitrag kennzeichnete). Der Holländer hatte sich über die Wettbewerbsbedingungen hinweggesetzt - und die Jury durch diese forsche Attitüde überzeugt. Das vorgesehene Grundstück ignorierend, sieht sein Entwurf einen die Miraflores genannte Halbinsel in ihrer ganzen Breite überspannenden, auf Pilotis ruhenden Glasbalken vor, der eine 360 Meter lange Promenade unter sich freilässt. Erinnerungen an Le Corbusier kommen auf, aber auch an Berlins von Koolhaas vermutlich nicht sehr geschätzte Spreebogenplanung.

Wohl ist der Kontext hier ein anderer. Gerade aber diesen degradiert Koolhaas «in Kolonialherrenmanier zum pittoresken Kontrast» - so der Designer Jakob Timpe, dem denn auch nicht Berlin, sondern Nordkorea einfällt, um die hinter dem «Palast des Südens» steckende Gesinnung zu definieren. Gewiss, Koolhaas' Intelligenz fand hier eine urbanistische Strategie und eine einprägsame Form; deren Proportionen aber werden in Córdoba wohl immer als Fremdkörper wirken. Das Projekt liegt seit 2002 auf Eis. Doch soll nun die Finanzierung gesichert sein und das endgültige Programm noch diesen Frühling abgesegnet werden. Dann wird sich weisen, inwieweit Koolhaas die von William J. Curtis bemäkelte «plumpe Detaillierung» seines schwebenden Balkens zu verfeinern vermochte und ob der Balken wirklich schweben wird. In Córdoba jedenfalls glaubt kaum mehr jemand, das Erdgeschoss werde von kommerziellen Nutzungen frei bleiben.

Balkon über den Auen

Vor fünfzehn Jahren löste der AVE-Anschluss in Córdoba einen ersten urbanistischen Erneuerungsschub aus. Architektonisch interessanter als der Bahnhof ist das angrenzende Busterminal von César Portela. Die breite, von hier ausgehende Promenade - eine Gleisüberdachung - hat Zentrumsfunktion erlangt. Bemerkenswerte Bauten fehlen indessen, abgesehen von zwei Wohnhäusern von Rafael de la Hoz, dem Sohn des gleichnamigen Architekten, der Córdoba von 1951 bis in sein Todesjahr 2000 mit teilweise exquisiten Interpretationen der Moderne nachgerade übersäte. Erst in diesem Jahrhundert rückten die lange vernachlässigten Ufer des Guadalquivir ins Blickfeld der Planer. Als die Stadt ein Projekt von Santiago Calatrava für eine neue Brücke verwarf, den Puente de Miraflores, werteten dies manche als Symptom dafür, dass Córdoba sich architektonisch der Gegenwart verschliesst. Doch das stattdessen über den Fluss gespannte minimalistische Cortenstahlband von Herrero Suárez Casado ist zugleich zeitnaher und zeitloser, und zweifellos fügt es sich unaufdringlicher ins Stadtbild als eine skulpturale Konstruktion. Nur bedingt zu bedauern ist auch das Scheitern von Carlos Ferraters Entwurf eines 75 Meter hohen Hotelturms, der im Entwurfsstadium als Symbol für den Aufbruch der Stadt gefeiert worden war.

Ablesbar wird dieser Aufbruch mittlerweile eher an kleineren Interventionen, die an Delikatesse nichts zu wünschen übriglassen. So trifft man - vom Puente de Miraflores nur einige Schritte flussaufwärts - auf eine alte, für die Ufer des Guadalquivir typische Getreidemühle, die Juan Navarro Baldeweg mit einem stimmigen Aufbau zum «Museo Hidraúlico» umgestaltet hat. Dieses steht inmitten der Auen, die sich in der Flussbiegung erhalten haben und die in die gestaffelten Geometrien des «Balcón del Guadalquivir» übergehen: kanalartige Wasserbecken und Grünbänder, die sich bis zum Feria-Gelände ziehen und gleichfalls die Handschrift Navarro Baldewegs tragen. Ein weiterer neuer Park befindet sich am gegenüberliegenden Ufer. Sein Entwerfer, der ursprünglich als Maler bekannte Juan Cuenca, scheint trotz eher mittelprächtigen Ergebnissen in der besonderen Gunst der zuständigen Obrigkeit zu stehen, vertraute ihm diese doch auch die Erneuerung der imposanten Plaza Corredera und neuerdings die des Puente Romano an. An seinen Parque de Miraflores wird dereinst Koolhaas' «Palacio del Sur» grenzen.

Archäologie und Geometrie

Die Miraflores-Halbinsel, von spärlichen Zufallsbebauungen gekennzeichnet, lässt trotz ihrer privilegierten Lage gegenüber der Altstadt jegliche Urbanität vermissen. Dem war nicht immer so, wie die Ruinenfelder der arabischen Stadt zeigen, auf deren Überreste Archäologen auch fern vom Zentrum immer wieder stossen. Im Jahr 936 war der Hof des Kalifen acht Kilometer westlich der Stadt verlegt worden. Die Palaststadt Medina Azahara gilt als grösste einheitlich geplante Stadtanlage ihrer Zeit und nimmt im islamischen Städtebau durch ihre orthogonale Ordnung eine Sonderstellung ein. Doch schon im Jahr 1010 wurde die Anlage in einem Bürgerkrieg zerstört und danach als Steinbruch genutzt. Heute werden ihre erst zu etwa zehn Prozent freigelegten Ruinen und Gebäudereste durch mehrere illegal errichtete Wohnsiedlungen bedrängt.

Umso behutsamer gingen die Madrider Architekten Nieto und Sobejano bei der Planung des Besucherzentrums für die archäologische Stätte vor. Das Gebäude, das ihnen vorschwebte, sollte so aussehen, als wären sie im Boden selbst darauf gestossen. Tatsächlich basiert der Grundriss des introvertierten Gevierts, dessen weisse Betonmauern mehrere Patios umschliessen, auf den Mauerresten dreier Bauten der Stadt Abd al Rahmans III. Der puristische Bau, der ein Museum, Werkstätten und ein Auditorium aufnehmen wird, soll in etwa einem Jahr eröffnet werden.

Kurz vor Baubeginn steht ein anderes Projekt derselben Architekten. Gegen Kontrahenten wie Coop Himmelb(l)au und Zaha Hadid gewannen Nieto Sobejano auch den Wettbewerb für den «Espacio de creación artística contemporánea» (ECAC): ein Ausstellungszentrum mit Atelierräumen auf dem ursprünglich für das Kongresszentrum vorgesehenen, dank Koolhaas' Entwurf frei gebliebenen Ufergelände. Der Entwurf des Madrider Architektenpaars ist das Ergebnis einer langwierigen Suche nach einer isotropen, aus einem Hexagon entwickelten Raumordnung, deren Komplexität - wie die der Mezquita - auf einfachen, jedoch verborgenen geometrischen Gesetzen beruht. Ein verkrampfter, folkloristischer Pastiche demnach? Keineswegs. Die wabenartige Anlage verspricht einer der bemerkenswertesten Bauten der spanischen Gegenwartsarchitektur zu werden, wobei die von den Architekten als «Maske» bezeichnete, von LED-beleuchteten Öffnungen durchlöcherte Medienfassade eher nebensächlich ist. Der kleine feine Bau scheint das herrische Gehabe des kolossalen Containers von Koolhaas - und mit ihm die Fragwürdigkeit der zunehmend zum Machtspiel verkommenden Stararchitektur - zu konterkarieren.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2007.02.20

29. Juli 2006Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Der chamäleonartige Totempfahl

Der erste Wolkenkratzer des französischen Architekten Jean Nouvel ist ein ebenso erstaunlicher wie kritikwürdiger Bau. Die spektakuläre äussere Erscheinung und die Perspektivwechsel im Innern zeugen vom kinematographischen Architekturverständnis des Franzosen.

Der erste Wolkenkratzer des französischen Architekten Jean Nouvel ist ein ebenso erstaunlicher wie kritikwürdiger Bau. Die spektakuläre äussere Erscheinung und die Perspektivwechsel im Innern zeugen vom kinematographischen Architekturverständnis des Franzosen.

Lange war der Flohmarkt «Les Encants» die einzige Attraktion der Plaça de les Glòries gewesen. Dabei bildet dieser Schnittpunkt dreier Hauptachsen auf Cerdás Stadterweiterungsplan von 1859 das eigentliche Zentrum Barcelonas. Mit dem Bau von Bofills Nationaltheater und Moneos Auditorium, wie auch durch die Verlängerung der Diagonale bis ans Meer, gewann der Platz in den letzten Jahren an Bedeutung. In Zukunft werden Bauten von Martorell Bohigas Mackay, Dominique Perrault, Zaha Hadid und Federico Soriano den Stadtteil weiter aufwerten. Auch sein zurzeit so einsam aufragendes Wahrzeichen wird dann - zum Guten oder Schlechten - Gesellschaft erhalten: die unlängst eröffnete Torre Agbar von Jean Nouvel, ein 144 Meter hohes Bürogebäude für den Wasserkonzern Aguas de Barcelona.

PHALLISCHE ARCHITEKTUR

Zur Ikone bestimmt ist es allein schon durch seine phallische Form. Nouvel schwebte nach eigenem Bekunden ein Geysir vor. Die Brüskheit, mit welcher der Turm aus einer vorläufig sehr disparaten Umgebung hervorschiesst, macht dies nur zu wahr. Zum eigentlichen Spektakel wird er aber durch das Fassadensystem. Die Aussenhaut besteht aus 60 000 abgewinkelten Glasscheiben, in denen sich die fünfundzwanzig verschiedenen Farbtöne der darunterliegenden Aluminiumverkleidung brechen. Je nach Lichtverhältnissen erscheint das Gebäude gleissend hell, fast immateriell, dann wieder stumpf und grau, oder es zeigt in verschiedenen Intensitätsgraden jene Polychromie, die nachts aus dem Bau einen Leuchtturm macht. Das Rot des unteren Teils geht unregelmässig in das oben dominierende Blau über - zufällig die Klubfarben des FC Barcelona. Doch noch eine andere Symbolik, die man im Innern wiederfindet, lässt sich daraus leicht herauslesen: Es sind die Flammen der Hölle, die da emporzüngeln! Mit der abschliessenden Kuppel scheint Nouvel, ähnlich wie bei seiner nicht realisierten «Tour sans fin» für Paris, die Auflösung des Gebäudes im Himmel anzustreben.

Nur noch erahnen lässt die schuppige, chamäleonartig schimmernde Haut die Struktur, die sich darunter verbirgt: den Betonzylinder mit seinen Fensteröffnungen, Quadraten von 92,5 Zentimetern Seitenlänge, 4400 an der Zahl. Sie sind nach dem Zufallsprinzip (allerdings nordseitig zahlreicher als gegen Süden) darüber verteilt, zuweilen einzeln, meist zu beliebigen Gruppen von drei bis sechs Quadraten formiert. Dieser fraktale Betonmantel bot während der Bauzeit einen womöglich noch phantastischeren Anblick als das Endergebnis. Da er zugleich das Tragwerk des Gebäudes bildet, machte seine extreme Durchlöcherung allerdings wiederum extreme konstruktive Kunstgriffe notwendig. Dafür gewährt diese Struktur allein durch ihre Betonmasse eine vorzügliche Wärmedämmung.

Das im Querschnitt kreisrund erscheinende Gebäude hat in Wirklichkeit einen leicht elliptischen Grundriss. Eine zweite, etwas dezentrierte Betonellipse in seinem Innern bildet den Technik- und Erschliessungskern. Die Aufzüge allerdings wurden mehrheitlich in die Aussenhaut verlegt, so dass die Liftfahrten einem Aufstieg in den Himmel über Barcelona gleichkommen. Der Effekt wird durch die von fuchsia über gelb zu blau reflektierenden Scheiben ins Psychedelische gesteigert: auf dem Trip ins Büro.

FILMISCHE EFFEKTE

Wie die äussere Erscheinung lässt auch das Innere mit seinen optischen Effekten, Reflexen und Perspektivwechseln keinen Zweifel an Nouvels kinematographischem Architekturverständnis. Es ist eine danteske Reise, die aus dem Soussol hinauf ins 34. Geschoss führt: aus dem geradezu an ein Inquisitionsgericht gemahnenden Auditorium in die rund und gleissend (fast wie der kahle Schädel des Architekten) den Bau abschliessende Kuppel. Dass sie dies als eigenständige Struktur tut, ist freilich ein Schwachpunkt des Baus, zumal wenn man Norman Fosters nur wenig früher entstandenen, als Gurke apostrophierten Swiss Re Tower in London zum Vergleich heranzieht. Dessen Eleganz resultiert eben aus der in sich geschlossenen Struktur, während hier der Übergang vom Betonmantel zu der ihm aufgesetzten Stahl- und Glaskuppel als Bruch erscheint: Nouvel vermochte das konstruktive System nicht durchzuziehen.

Einmal im Innern, ist es dann Geschmackssache, ob man Fosters unterkühlte Hall vorzieht oder doch eher Nouvels magmatischen, durch das Zufallsspiel der Fensterquadrate geprägten und im mediterranen Licht badenden Eingangsbereich. Eine massive Schiefertreppe führt von hier in die «Krypta», das finstere Auditorium, hinunter. Nouvel selbst nennt es den «Geigenkasten». Das Cafeteria-, Sitzungs- und Chefgeschoss überspringend, sei kurz ein Normalgeschoss geschildert. Zwischen den beiden elliptischen Betonzylindern von Aussenwand und Erschliessungskern nimmt es stützenfreie, 7 bis 14 Meter breite Grossraumbüros auf. Raffiniert sind die zweischichtigen Decken, die die Illusion einer grösseren Raumhöhe vermitteln. Die Möblierung ist angenehm unprätentiös. Dabei ist es Ansichtssache, ob man den kleinteiligen Raster der Vorhangfassade beim Blick durch die aleatorisch verteilten Fensterquadrate als störend empfindet. Er ist auch in Nouvels paradiesischem Aussichtsgeschoss nicht zu übersehen, unter der Kuppel, in deren Mitte eine weisse Eichel den Technikkern abschliesst. Kulisse für einen Kubrick-Film?

DER MEISTER VOR ORT

Die Torre Agbar ist ein Projekt von Jean Nouvel und von b720. Hinter diesem Namen verbirgt sich ein auf siebzig Mitarbeiter angewachsenes barcelonisches Büro, das von Fermín Vázquez geleitet wird. Dass bei Bauten der zum erlesenen Klub der weltweit tätigen Stars gehörenden Architekten ein lokaler Partner mitwirkt, dessen Name meist ungenannt bleibt, ist eher die Regel als die Ausnahme. Im Fall der Torre Agbar stand b720 sogar am Ursprung des Projekts: Vázquez war von der Stadt beauftragt worden, einen Nutzungsplan für das Gelände auszuarbeiten, und brachte, als ein Wettbewerb für den Turmbau ausgeschrieben wurde, den Namen Nouvel ins Spiel. So lässt sich festhalten, die Grobstruktur des Baus stamme von Nouvel, die Detailfragen seien indessen von b720 gelöst worden.

Fermín Vázquez hat auch seine eigenen Projekte; daneben arbeitet er zurzeit aber erneut mit zwei Global Players der Architektur zusammen. David Chipperfield und b720 errichten im Hafen von Valencia das Hauptgebäude für den America's Cup 2007 sowie die «Justizstadt» in Barcelona, eine Milliardeninvestition, um die bisher über die Stadt verstreuten Gerichtsbehörden zu zentralisieren. Unweit davon, gleichfalls an der bisher so schäbigen Stadteinfahrt vom Flughafen, plant Toyo Ito die Erweiterung der «Fira», mit der Barcelona seine Stellung als einer der weltweit führenden Messeplätze ausbauen will. Vázquez' Büro ist an der Projektierung der beiden je hundert Meter hohen Eingangstürme beteiligt.

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2006.07.29

19. Mai 2006Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Die Bäume der Baronin

Kontroverse um die Neugestaltung des Paseo del Prado in Madrid

Kontroverse um die Neugestaltung des Paseo del Prado in Madrid

Der Madrider Prachtboulevard Paseo del Prado, ein heute vergammelter und täglich von 130 000 Fahrzeugen umbrauster Strassenzug, der die drei wichtigsten Museen der Stadt verbindet, zeugt nicht eben von urbanistischer Kultur. Ebenso wenig tut dies die Kontroverse, die sich um seine Neugestaltung nach den Plänen von Alvaro Siza entsponnen hat. Ausgelöst wurde sie von Baron Thyssen-Bornemiszas Witwe Tita Cervera, die sich als Schönheitskönigin und Kunstsammlerin, aber bisher nicht als Stadtplanerin hervorgetan hat. Nun droht sie, sich vor dem Museum Thyssen-Bornemisza an einen der Bäume fesseln zu lassen, die bei der Neugestaltung umgepflanzt werden sollen. Sie könnte damit ein Projekt zu Fall bringen, das bereits alle Bewilligungsverfahren durchlaufen hatte.

Gemäss der Baronin ist das Siza-Projekt ein ökologisches Attentat, dem 690 alte Bäume zum Opfer fallen werden. Baustellenmüde und dankbar für die Gelegenheit, ihr Umweltgewissen so bequem beweisen zu können, sind die Madrider scharenweise auf diese Behauptung hereingefallen, die laut den Planern irreführend ist. Gefällt werde nicht ein einziger Baum: Vorgesehen seien ausschliesslich Umpflanzungen (die indessen erfahrungsgemäss nicht alle Bäume überleben). Zudem beziehe sich die Zahl 690 auf das gesamte Planungsgebiet, schliesse die zahlreichen kranken Gewächse ein (deren 200 inzwischen bereits gefällt wurden) und entstamme ohnehin einem längst überholten Planungsstadium. Von den voraussichtlich 11 betroffenen Bäumen in der Umgebung des Thyssen-Museums sei im Übrigen kaum einer über zehn Jahre alt.

Alvaro Siza liess verlauten, der Wunsch der Baronin, ihr Museum durch einen Garten zu betreten, sei «höchst respektabel, aber leider nicht akzeptabel». Sein Entwurf sieht vor, den Verkehr fast ganz auf die West- bzw. Thyssen-Seite des Boulevards zu verlegen - freilich drastisch reduziert: Verglichen mit den bisher annähernd zwanzig Fahrspuren, wirken die fünf, die künftig vor dem Museum durchführen sollen, geradezu idyllisch. Besonnenere Kritiker erachten denn auch die Verkehrsführung und nicht die botanischen Aspekte für bedenklich an dem Projekt. Zumindest diskussionswürdig ist darüber hinaus, dass es die Symmetrie der auch als «Salón del Prado» bekannten Anlage bricht.

Für Diskussionen gesorgt aber hat allein der «Regenbogenurbanismus» der Baronin, von der übrigens keine der 600 im Bewilligungsverfahren behandelten Einsprachen stammt. Der Stiftungsrat des Thyssen-Museums hatte in mehreren Sitzungen mit den Planern Gelegenheit, seine Wünsche einzubringen, und die Verbreiterung des Trottoirs von drei auf fast acht Meter erscheint als klare Verbesserung der Museums-Umgebung. Dennoch konnte die Baumfreundin bereits einen Erfolg verbuchen: Madrids Bürgermeister hat inzwischen eine zweite öffentliche Präsentation des Projekts angeordnet.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.05.19



verknüpfte Akteure
Siza Vieira Álvaro

03. März 2006Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Bunte Wogen

Bei seinem frühen Tod vor fünfeinhalb Jahren hinterliess Enric Miralles eine Reihe bedeutender Entwürfe. Inzwischen hat seine Partnerin Benedetta Tagliabue etliche dieser Projekte ausführen können. Ein Heimspiel sozusagen war der neue Mercat de Santa Caterina.

Bei seinem frühen Tod vor fünfeinhalb Jahren hinterliess Enric Miralles eine Reihe bedeutender Entwürfe. Inzwischen hat seine Partnerin Benedetta Tagliabue etliche dieser Projekte ausführen können. Ein Heimspiel sozusagen war der neue Mercat de Santa Caterina.

Im Sommer 2000 starb, erst fünfundvierzigjährig, Spaniens erfindungsreichster Baukünstler der jüngeren Zeit: Enric Miralles. Seine Partnerin Benedetta Tagliabue leitet das Büro in Barcelona seither unter dem Sigel EMBT weiter. Man kann darin den Willensakt einer couragierten Witwe sehen. In die Bewunderung mischt sich auch ein wenig Skepsis - eingedenk der Schwierigkeit des Unterfangens, eine so einzigartige formale Sprache wie die von Miralles fortzuschreiben. Ein Wagnis war es allemal, und Tagliabue hatte dabei nicht wenige Widerstände zu überwinden. Ohne den Rückhalt des ganzen Teams wäre es kaum möglich gewesen, die teilweise erst im Projektstadium befindlichen Entwürfe auszuführen: die Musikschule in Hamburg, das Rathaus in Utrecht, das Parlament in Edinburg, einen Campus im galicischen Vigo, zwei Pärke in Barcelona sowie den kurz vor der Vollendung stehenden Hauptsitz des Energiekonzerns Gas Natural, Miralles' prominentesten Bau in der katalanischen Metropole. Einzig die Architekturschule in Venedig scheint, wie so viele zeitgenössische Entwürfe für die Lagunenstadt, Projekt zu bleiben.

Es geht auch anders

Soeben fertig stellen konnte Benedetta Tagliabue eine Planung, die Miralles besonders am Herzen lag: Santa Caterina. Diese Markthalle - die zweitälteste Barcelonas - war sein eigenes Einkaufsrevier gewesen. Entstanden 1848 auf dem Gelände eines Klosters, war die Halle lange schon ein wenig verlottert, zu gross ausserdem für die inzwischen nur noch 70 Marktstände. Die Modernisierung der zum Teil sehr schönen gedeckten Viktualienmärkte der Stadt - über vierzig insgesamt - ist im Übrigen als Versuch zu werten, dem Siegeszug von Supermarktketten und Shopping- Malls die Stirn zu bieten.

Bereits um 1990 hatte die Erneuerung des angrenzenden Altstadtviertels eingesetzt. Eine unbedachte Abrisswelle hinterliess Lücken, deren eine noch heute als «el forat de la vergonya» bekannt ist: das Schandloch. Der lokale Widerstand gegen das spekulative Vorgehen wuchs, und beim UIA-Kongress 1996 wurde den Urbanisten bewusst, dass eine so grobschlächtige «Rehabilitation» ihr Ansehen auch international ramponierte. Da kam Miralles wie gerufen, lebte der bekannte Architekt doch selbst in diesem Stadtteil. Umgehend übertrug ihm Barcelona nicht nur die Renovation der Santa-Caterina-Halle, sondern auch den Masterplan für deren Umgebung. Nachdem der neue Markt vor einigen Monaten hat eröffnet werden können, zeigen nun auch die jüngsten, nach Miralles' volumetrischen Vorgaben errichteten Wohnbauten, wie eine einfühlsame Neugestaltung der Altstadt aussehen kann.

Daran, dass hier zuvor schon einige plumpe Wohnkuben hingeklotzt worden waren, war leider nichts mehr zu ändern. Doch nun nimmt die Porta Cambó genannte Verlängerung der gleichnamigen, vor dem Markt endenden Achse den Verlauf der alten Gassen fast spielerisch auf. Die weniger engmaschige, von Passagen und offenen Patios durchbrochene Bebauung überrascht durch die plastischen Staffelungen und Kurvungen der oft farbig gestalteten Fassaden. Einige ausgezeichnete, zum Teil jüngere Architekten kamen dabei zum Zug - genannt seien Fuses- Viader und Josep Llinás. Das Ergebnis ist sozialer Wohnungsbau, bei dem die Stadt vermutlich, um ihre ursprüngliche Tollpatschigkeit wettzumachen, einiges draufgezahlt hat.

Von der einstigen Santa-Caterina-Halle blieben, sieht man von einem anekdotisch integrierten Teil des Dachgebälks ab, lediglich die Aussenmauern stehen; und auch sie nur teilweise, da etwa ein Viertel des einstigen Marktgeländes nun durch die von EMBT entworfenen Alterswohnungen genutzt ist. Diese formieren sich, gerundet und aufgelöst, zusammen mit der Südflanke des Marktes um einen neuen Platz. Hier sind auch Teile der Grundmauern des einstigen Klosters einzusehen, deren archäologische Auswertung teilweise für die Verzögerungen verantwortlich war, die das Projekt erlitt - zum Schaden des während Jahren seines kommerziellen Zentrums beraubten Viertels. Die von Politikern gern herbeigeredete Belebung der Altstadt wird durch Barcelonas überbordende Ruinenbegeisterung jedenfalls eher gehemmt als gefördert.

Der Architekt Miralles erlebte seine neue Santa-Caterina-Markthalle nicht mehr, in welcher er im Übrigen auf das klassische Fischrondell im Zentrum der ehemals orthogonalen Anlage verzichtete. Diese hat Miralles zugunsten einer freieren Wegführung aufgelöst. Während sieben Jahren fand das Marktgeschehen im Provisorium einer Zelthalle beim Arc del Triumf statt. Dort war die Marktstimmung praktisch dieselbe wie in der alten Halle, und so viel anders ist sie auch in der neuen nicht, abgesehen davon, dass sie nun von architekturbegeisterten Touristen zusätzlich belebt wird. Für das Funktionieren des Marktes ist die Architektur im Grunde zweitrangig. Barcelonesische Märkte sind lediglich Hüllen, in deren Innerem jeder Händler - in der Santa-Caterina-Halle dieselben wie eh und je - sein kleines Reich nach eigenem Gutdünken bestellt. Ein bescheidener Supermarkt ist nun hinzugekommen und ein fabelhaft werktäglich gestyltes Restaurant - «Cuines de Santa Caterina» -, das neben den für jeden Markt üblichen Bars einen mondänen Touch einbringt.

Die Altstadt weiterbauen

Die neue Santa-Caterina-Halle, das ist in architektonischer Hinsicht in erster Linie ihre Decke. In Wellen das Geviert überspannend, ruht dieser Traghimmel auf lediglich zwei die ganze Markthalle durchziehenden Betonträgern. Auf der Südseite durchstossen sie wuchtig die von Holzpaneelen geschmückte Fassade; vor allem aber tragen sie die 108 unterschiedlich geformten, vertikal laminierten Holzbogen, aus denen sich die Wogengestalt des Daches ergibt. Diese handwerklich anspruchsvolle, von wenigen Stahlstreben gestützte Holzkonstruktion aus 55 000 Einzelteilen wurde mit einem Mosaik aus 300 000 farbigen Keramikplatten gedeckt, in den Farben der Früchte und Gemüse, die der Markt feilbietet. So entstand eine Dachlandschaft, die leider nur von den unmittelbaren Anwohnern in ihrer ganzen Pracht gesehen werden kann (über die Errichtung einer Aussichtsplattform wird noch diskutiert).

Für Tagliabue ist der Bau freilich so noch nicht abgeschlossen. Eine Pergola soll das auf die Avenida Cambó vorkragende Dach in Richtung der Kathedrale verlängern, mithin den Sog des Marktes in einen der Brennpunkte des Tourismus tragen. Die Stadtplaner wollen davon nichts wissen; sie ziehen eine Skulptur des Bildhauers Antoni Llena als neues Wahrzeichen vor. Wie der Zwist ausgeht, ist noch ungewiss. Jetzt schon aber hat Barcelona mit der Santa Caterina eine «klassische» Markthalle, neben der jede Shopping-Mall altväterisch aussieht. Und dank Miralles' Masterplan geht sie in Gassen über, die - so neu sie zum grossen Teil sind - ihren Altstadtcharakter nicht ganz verloren haben.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2006.03.03

24. Oktober 2005Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Valencia erwacht und reckt sich in seinem alten Flussbett

Valencia hat einige Trümpfe auszuspielen, um sich - wirtschaftlich und kulturell - zwischen den ewigen Rivalinnen Madrid und Barcelona als Spaniens dritte Metropole zu profilieren. Symptomatisch für die hochtrabenden Ambitionen sind Bauten wie das jüngst eröffnete Zentrum szenischer Künste, der Palau de les Arts. In zwei Jahren hofft die Stadt überdies als Austragungsort des America's Cup zu brillieren.

Valencia hat einige Trümpfe auszuspielen, um sich - wirtschaftlich und kulturell - zwischen den ewigen Rivalinnen Madrid und Barcelona als Spaniens dritte Metropole zu profilieren. Symptomatisch für die hochtrabenden Ambitionen sind Bauten wie das jüngst eröffnete Zentrum szenischer Künste, der Palau de les Arts. In zwei Jahren hofft die Stadt überdies als Austragungsort des America's Cup zu brillieren.

Valencia träumt. Es träumt sich selbst in urbanen Wunschbildern. Höchst widersprüchlich in ihrem formalen Ausdruck, fehlt diesen indessen kaum je ein gewisser provinzieller Anflug von Megalomanie. Da gibt es etwa das Projekt «Sociópolis» des Architekten Vicente Guallart, für welches er Figuren wie Toyo Ito, Winy Maas von MVRDV und Alejandro Zaera von FOA gewinnen konnte, nebst weiteren namhaften Repräsentanten der spanischen und französischen Baukunst. An der Bienal de Valencia 2003 wurden die Modelle der Bauten, die an die dreitausend Sozialwohnungen aufnehmen sollen, präsentiert: berückende, teilweise einfach verrückte, scheinbar wirklichkeitsfremde Wohnutopien. Und doch wird dieser Tage der Grundstein zu dem Quartier gelegt. Gewiss, Guallart - von dem der Masterplan und das erste auszuführende Gebäude stammen - musste einige Abstriche machen. Ein ungewöhnlich hoher Anteil gemeinschaftlicher Bereiche, dies die Grundidee, wird aber auf jeden Fall die Privatsphäre der Wohnungen ergänzen. Exemplarisch soll auch die Implantation der Siedlung in der Huerta sein, der von Orangenhainen geprägten Grosslandschaft um Valencia, die für das Wesen der Stadt so bestimmend ist wie das Meer. Zugleich und zwangsläufig ist sie der Raum, in den jene hinauswuchert.

Sociópolis wird einen nordsüdlichen Grüngürtel abschliessen, dessen Kernstück der künftige, die Geleiseanlagen der Estación del Norte überdeckende Zentralpark sein wird. Sein westöstliches, ganz Valencia durchziehendes Pendant ist das ehemalige Flussbett des Turia. Pläne für dessen Trockenlegung hatten schon die Araber gehegt; ingenieurtechnisch (und politisch) machbar wurde die Umleitung des Flusses erst nach den Überschwemmungen von 1957. Seither sind weite Teile des über zehn Kilometer langen Flussbetts in einen linearen Park verwandelt worden. Etwa auf halbem Weg zwischen der Altstadt und dem Mündungsbereich entstand schliesslich ab 1991 die «Ciutat del les Arts i de les Ciències» nach den Entwürfen von Santiago Calatrava.

Calatravalandia

Was heute als Parade gigantischer zoomorpher Gebilde das Auge der Valencianer und - wichtiger noch - der Touristen verblüfft, war ursprünglich als seriöser Wissenschaftspark geplant gewesen. Forscher haben hier heute jedoch wenig verloren. Stattdessen offerierte die Stadt dem aus Valencia stammenden Calatrava eine Spielwiese, auf der er eine halbe Milliarde Euro in Einrichtungen verbauen konnte, deren Sinn, gemessen an den sozialen und kulturellen Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung, zumindest zweifelhaft erscheint. Umgeben von Wasserflächen, liegt das blendend weisse, vierteilige Ensemble trotz seinen Dimensionen fast spielzeughaft zwischen den Fronten mächtiger Wohnbauten und einer Shoppingmall. Zuerst vollendet wurde 1996 das «Hemisfèric» genannte Imax-Kino in Form eines Auges. Es folgten das gigantische Walskelett des Wissenschaftsmuseums und das «Umbracle», ein langgestrecktes Schattenhaus mit der Eigentümlichkeit, dass es keinerlei Schatten spendet.

Den krönenden Abschluss bildet der 250 Millionen Euro teure, Anfang Oktober von der königlichen Namensgeberin eingeweihte Palau de les Arts Reina Sofía. Auf diesem Grundstück sollte ursprünglich ein Fernsehturm entstehen, doch als die Stadt- und die Regionalregierung die Couleur wechselten, entschied der nunmehr herrschende konservative Partido Popular 1996, auf den bereits gelegten Fundamenten sei stattdessen das Opernhaus zu errichten, das der Stadt bisher fehlte. Calatrava - auch Autor des nicht gebauten Turms - nahm die Herausforderung an. In den extremen Auskragungen, tollkühnen Verankerungen und Betonverrenkungen findet die Planungsgeschichte um die allzu knapp bemessene Basis noch jetzt ihren Widerhall.

Calatrava generierte die Form geradezu aus diesem Handicap. Um den eigentlichen Baukörper herum, der drei Säle mit insgesamt fast 4000 Plätzen aufnimmt, hat er ein architektonisches Formenspiel geschaffen, das je nach Blickwinkel Assoziationen an einen Riesenkäfer, einen grossmäuligen Wal, einen Medici-Helm oder einen Ozeandampfer weckt. Symmetrisch ummantelt von zwei immensen Schalen, deren rhomboide Öffnungen den gigantesken Eindruck noch erhöhen, ziehen sich Treppenanlagen und Terrassen fast bis auf die Gesamthöhe von 75 Metern hinauf. Auf diese empor schwingt sich allein die 237 Meter lange, scheinbar schwebende, zumal nur an zwei Stellen verankerte Dachfeder. Dieses Biest von einem Bau, das auf die einen faszinierend, auf andere bloss grotesk wirken mag, ist zugleich ein Stück öffentlicher Raum. Denn das Kontinuum der Treppen und der teilweise palmenbestandenen Aussichtsplattformen soll den Valencianern rund um die Uhr offen stehen.

In diesem bizarren Stück Stadt fühlt man sich wie in einem betonierten Ufo, das einen mit seinen formalen Gebärden zu betören versucht. Schon die Verkleidung der Schalen und anderer Bauteile mit weiss glitzernden Keramikscherben ist eine lokalpatriotische Anbiederung: Trencadís genannt und von manchen Gaudí-Bauten bekannt, decken sie hier rekordverdächtige Flächen. Mit dem hellen Beton und den gestrichenen Bauteilen bilden sie eine ästhetisch allerdings dubiose Dreieinigkeit in Weiss.

Musikstadt Valencia?

Die fünf Ränge des Opernsaals, der zusammen mit dem Bühnenhaus das Zentrum des Baus einnimmt, sind gleichfalls mit Keramik verkleidet: kobaltblau in diesem Fall. Von dem dunkel gebeizten Buchenboden des Parketts und den blauen Sitzen abgesehen ist jedoch auch hier Weiss die vorherrschende Farbe. Die gleissenden Balkonbänder und das gleichfalls in Bändern angelegte Lichtgewölbe, das sich als Bühnenvorhang niedersenkt, verleihen diesem Saal den frostigen Charme einer elegant gestylten Tankstelle. Die Akustik wurde nach dem Eröffnungskonzert als messerscharf geschildert, sie dürfte sich noch verbessern lassen. Nichts mehr zu ändern ist indessen daran, dass Calatrava das spanische Opernhaus mit den meisten Sitzplätzen gebaut hat, die keine oder nur eine sehr beschränkte Sicht auf die Bühne haben: Laut der Lokalpresse betrifft das nicht weniger als 200 der 1700 Plätze. Der Palau de les Arts ist ein Opernhaus und zugleich ein begehbares Monument, das drei weitere Säle aufnimmt. Das «Anfiteatro», über den Hauptsaal gestapelt und mit 1500 Plätzen nur wenig kleiner als dieser, wirkt mit seinem Zenitallicht, seinen gelben Sesseln und der Lamellenverkleidung wesentlich behaglicher als der Opernsaal - schon fast wie ein reformierter Kirchgemeindesaal, in dem gleich ein Gitarrist zu schrammen beginnt. Die Bühnentechnik ermöglicht hier vielfältige Nutzungen, Ballett- ebenso wie Konzertabende oder Multimediaspektakel. Weiter hinzu kommen die «Aula Magistral», geeignet für Kammermusik, sowie unterirdisch und ausserhalb des eigentlichen Baus ein 400-plätziges Kammertheater, das auch als Sitz der Musikakademie dient.

An diesem Punkt stellt sich freilich die Frage, wie, von wem und für welches Publikum all diese Säle je bespielt werden sollen. Valencia hatte 1987, in Sichtweite von Calatravas Neubau, mit dem Palau de la Música ein Konzerthaus eröffnet, das die Nachfrage nach ernster Musik in dieser Stadt aufs Beste zu befriedigen schien. Nur die Oper fehlte noch. Mit Lorin Maazel als Chefdirigenten und mit Zubin Mehta, der das jährliche «Festival Mediterráneo» leiten wird, hat man zwei ehrwürdige Namen verpflichtet, die vielleicht auch das dringend benötigte auswärtige Publikum anzulocken vermögen. Intendantin ist Helga Schmidt, der für das Vorlaufjahr ein Budget von 12 Millionen Euro zur Verfügung steht.

Wie die voraussichtlich vier- bis fünfmal so teuren künftigen Spielzeiten finanziert werden sollen, steht noch in den Sternen. Schmidt hofft auf Subventionen des Kulturministeriums «im selben Umfang, wie sie das Liceu in Barcelona und das Teatro Real in Madrid erhalten». Der zentralstaatliche Zustupf deckt in Barcelona 37 Prozent, in der Hauptstadt 70 Prozent des Budgets.

Eine Stadt nimmt Kurs aufs Meer

Dem exuberanten Calatrava-Ensemble schliesst sich «flussabwärts» das Aquarium an, «Oceanográfic» genannt und angeblich das grösste Europas. Fünfzehn olympische Schwimmbecken vermöchten seine Salzwasserbassins zu füllen. Der Empfangspavillon ist das postume Werk eines Virtuosen der Schalenbauweise, des 1939 aus Spanien nach Mexiko emigrierten und vor acht Jahren verstorbenen Félix Candela. Doch neben Calatravas Exhibitionismus erscheinen Candelas elegante, wie eine Seerose sich entfaltende Deckengewölbe, zudem verborgen hinter Mauern und Hecken, wie die Werke eines Kleinmeisters. Der menschliche Massstab ist hier im Grunde nicht gefragt. Für das anschliessende Grundstück hat wiederum Calatrava eine Grossüberbauung projektiert: drei zwischen 220 und 308 Meter hohe Apartment-Türme, in ihrer Form den gotischen Pfeilern der Lonja von Valencia nachempfunden. Die Finanzierung dieses Projekts ist freilich noch nicht gesichert. - Wer vom Oceanográfic dem alten Flusslauf bis zum Hafen folgt, begreift, wo Valencias Zukunft liegt. Die Ciutat de les Arts i de les Ciències hatte aus dem Passanten einen Figuranten gemacht, einen Winzling, der offenen Mundes zwischen den weissen Kulissen umherirrte; von hier an verwandelte er sich in einen einsamen Wandersmann, zwischen Grasnarben und Leitplanken stolpernd, quer über jene Ödflächen, die auf spanisch den Namen descampados tragen und die geradezu nach ihrer Urbanisierung schreien.

Valencia, dessen Zentrum sechs Kilometer vom Meer entfernt liegt, hatte zu diesem stets ein zwiespältiges Verhältnis: der Hafen unwirtlich, die Strände nur saisonal verlockend, die dahinter liegenden maritimen Viertel - Natzaret, El Cabanyal - ein wenig anrüchig. Allmählich wuchs die Stadt aber doch mit ihren Uferzonen zusammen, mit der hundert Meter breiten Avenida Blasco Ibáñez als Rückgrat. Keine Prachtstrasse, eher ein von mächtigen Wohn- und Universitätsbauten beliebig eingefasster Strang, und doch die wichtigste Achse der Stadt. Hierher - in eine ebenso beliebige Bar - hatte mich der Soziologe José Miguel Iribas bestellt, um über Valencias künftige Stadtentwicklung zu sprechen.

Iribas ist eine Art Agitator, fern vom akademischen Betrieb, der sich lieber als Ideenlieferant in die Praxis der Planer und Promoter einschaltet. Zusammen mit dem Makler Ignacio de Laiglesia und Jean Nouvel als federführendem Architekten hat er das einzige Planungskonzept geliefert, das die ganze Küstenlinie von der Playa de la Malvarrosa im Norden bis zum Hinterland des Containerhafens im Süden umfasst. Mit dem Projekt «Valencia Litoral» wurden die Stadtplaner selbst überrumpelt. Diese hatten nach der Wahl Valencias zum Austragungsort des America's Cup 2007 wohl einige Wettbewerbe rund um das Hafenbecken ausgeschrieben; eine integrale Planung des ebenso enormen wie komplexen Gebietes schien ihnen jedoch nicht vordringlich.

Grossplanung als Privatsache

So zieren nun zwar - anschliessend an die Reihe schöner alter, ihrer kommerziellen Transformation noch harrender Speicher - einige kleinere Neubauten das Hafenhalbrund; allen voran die Alinghi-Basis. Entschieden ist auch, dass David Chipperfield und Fermín Vázquez den «Foredeck» genannten Besucherpavillon bauen werden, voraussichtlich das architektonische Wahrzeichen des America's Cup. Ausgesetzt wurde jedoch die Entscheidung des Wettbewerbs für den einstigen Mündungsbereich des Turia. Denn Jean Nouvels Gesamtkonzept hatte inzwischen das Interesse nicht nur der Medien, sondern auch verschiedener Investoren geweckt, so dass die Behörden den zunächst favorisierten Entwurf von Meinhard von Gerkan auf Eis legten. Nouvels Projekt bringt divergierende Interessen in ein scheinbar ideales Gleichgewicht: die der Anwohner und die der Stadtvermarkter, die der Linken und der Grünen wie die der Investoren. Entgegen dem schneller Rendite verschriebenen lokalen Usus ist es eine langwierige, auf mindestens fünfzehn Jahre angelegte Planung.

Für Valencias Strände sieht sie, wie könnte es anders sein, eine gezielt touristische Nutzung vor. Die angrenzenden, heute von Verwahrlosung bedrohten Viertel - El Cabanyal, La Malvarrosa - haben gemäss Iribas das Zeug, sich zu einer Art «europäischem Sausalito» zu entwickeln: als attraktive Wohngegend für Künstler, Kulturmenschen, Kreative - wobei diese gentryfication, allen schönen Worten zum Trotz, zweifellos auf Kosten der ansässigen Bevölkerung ginge. Für den Soziologen ist im Übrigen die Zeit für ein von der konservativen Regierung gehegtes Vorhaben abgelaufen, das zum urbanistischen Zankapfel Nummer eins geworden war: die Verlängerung der Avenida Blasco Ibáñez bis ans Meer, die die kleinteilige Struktur des Cabanyal zerstören würde. Einen sorgsamen Umgang mit gewachsenen Strukturen verspricht «Valencia Litoral» auch auf der andern Seite des Hafenbeckens, wo das verwunschene Viertel Natzaret sogar seinen auf Kosten des Hafens verlorenen Strand zurückgewinnen soll.

Der von Jean Nouvel vorgelegte und eloquent vertretene Plan (www.valencialitoral.com) lässt aber auch die Bauwirtschaft aufhorchen. Auf dem Muelle de Levante sollen künftig Wohnbauten entstehen, ein weiteres neues Viertel sich ins Niemandsland hinter dem Industriehafen erstrecken und schliesslich - die Mutter aller künftigen Entwicklungen - das verödete Flussdelta sorgsam saniert und in eine mit Wolkenkratzern bestückte Parklandschaft verwandelt werden. Nicht etwa Wohntürme, wie sie Calatrava etwas weiter landeinwärts vorsieht, sondern Bürobauten, der wirtschaftlichen Dynamik der Stadt entsprechend und einer Strategie, für die sie laut dem Soziologen Iribas beste Voraussetzungen bietet.

Dass Valencia prosperiert, sich plustert, in eine andere Liga aufsteigen möchte, fällt - ganz unabhängig von Calatravalandia - jedem aufmerksamen Besucher spätestens an der ersten Ausfallstrasse auf. Valencia träumt davon, Barcelona den Rang als westliche Mittelmeermetropole abzulaufen; und dafür hat es einige Gründe. Schon übertrifft sein Containerhafen den Barcelonas an Umsatz. Die Vernetzung mit dem spanischen Markt wird mit dem Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Madrid und dem der Autobahn nach Zaragoza vorangetrieben. Madrid wird demnächst Europas kapazitätsreichsten Flughafen eröffnen, und in Zaragoza ist das grösste Logistikzentrum des Kontinents im Entstehen. Das Dreieck Madrid - Valencia - Zaragoza wird Barcelona zumindest auf dem iberischen Markt ins Abseits drängen. Kommt hinzu, dass Valencia im Gegensatz zu der katalanischen Metropole keine nationalistischen Hemmschuhe trägt. So ungefähr argumentiert der Valencianer Iribas.

Signalisierten im Übrigen in den letzten Jahren nicht auch die Erfolge des Fussballklubs den Aufschwung der Stadt? Zugleich wirft der FC Valencia jedoch ein grelles Licht auf den Filz, in dem hier Stadtplanung - wenn überhaupt - möglich ist: den ungenierten Immobilienschacher, in dem Valencia nach Höherem ringt. Der lukrativste Deal gelang dieses Jahr dem Vereinspräsidenten Juan Soler, zugleich Mehrheitsaktionär des FC Valencia und zufällig - wie so viele Fussballklubpräsidenten - Bauunternehmer. Erst wurde mit dem Segen der Stadtregierung das an die Avenida Blasco Ibáñez angrenzende Stadion Mestalla zum Abriss freigegeben (mit skandalös hoher Ausnützung für die künftigen Wohnbauten), kurz darauf das gleichfalls in lukrativer Wohnlage befindliche Trainingsgelände des Klubs. Solche Umwidmungen - Real Madrid machte es vor - rechnen sich in Hunderten Millionen Euro.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.10.24



verknüpfte Ensembles
Ciudad de las Artes y Ciencias

01. Oktober 2005Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Madrids blutroter Nouvel

Madrids Museum der Moderne (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía), vor knapp zwei Jahrzehnten in eine sinister anmutende und volumetrisch verunstaltete...

Madrids Museum der Moderne (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía), vor knapp zwei Jahrzehnten in eine sinister anmutende und volumetrisch verunstaltete...

Madrids Museum der Moderne (Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía), vor knapp zwei Jahrzehnten in eine sinister anmutende und volumetrisch verunstaltete Spitalkaserne von 1788 gepackt, ist durch einen Neubau erweitert worden. Den Wettbewerb hatte Jean Nouvel mit einem Entwurf gewonnen, der das zwischen den Altbau und die Ronda de Atocha eingezwängte Grundstück mit drei um einen Patio gruppierten Baukörpern bestückt. Deren szenographische Eleganz wird durch eine auskragende, teilsweise perforierte Dachfolie akzentuiert - ein enormer schwebender Baldachin, der Reminiszenzen an das Luzerner KKL weckt. Auch Anklänge an Nouvelsche Entwürfe für Paris, Tours oder Nantes mag man in dem Bau finden: das Spiel von Glanz und Dunkel, die Vorliebe für reflektierende Oberflächen. Funktional sind die drei Baukörper klar getrennt. Ein neuer Eingang öffnet sich zwischen dem die Bibliothek, Läden und eine Aussichtsterrasse aufnehmenden frontalen Volumen und dem Altbau, der wiederum mit den dahinter liegenden Sälen für temporäre Ausstellungen verbunden ist. Den gedeckten Platz dazwischen schliesst das Auditorium ab, mit Cafeteria und Restaurant im Erdgeschoss. Die Technik ist durchweg unsichtbar. Emotionen weckt Nouvel mit andern Mitteln - den Spiegel- und Lichteffekten und den glatten, blutroten Stahl- und Fiberglasflächen, die das ganze Ensemble kennzeichnen. Ein spanischer Kritiker brachte es auf die enigmatische Formel: «Weder schön noch hässlich, sondern ganz im Gegenteil.»

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 2005.10.01



verknüpfte Bauwerke
Reina-Sofía-Museum

11. März 2005Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Chamäleonartige Baukunst

Die Präsentation des Werks von Josep Lluís Sert (1902-1983) in der Fundació Joan Miró in Barcelona darf man als einen Glücksfall bezeichnen, findet sie...

Die Präsentation des Werks von Josep Lluís Sert (1902-1983) in der Fundació Joan Miró in Barcelona darf man als einen Glücksfall bezeichnen, findet sie...

Die Präsentation des Werks von Josep Lluís Sert (1902-1983) in der Fundació Joan Miró in Barcelona darf man als einen Glücksfall bezeichnen, findet sie doch in einem späten Bau des Architekten selbst statt. Hier kann der Versuch einer Neubewertung des grossen Katalanen, die anlässlich des Zentenariums (NZZ 1. 7. 02) weitgehend versäumt wurde, auf eine aufwendige Inszenierung verzichten. In Schaukästen gruppiert um neun Hauptwerke, die anhand von Modellen präsentiert werden, gibt die Schau einen linearen Überblick über Serts Auseinandersetzung mit den Methoden und Zielen der Moderne, die ein halbes Jahrhundert und zwei Kontinente umspannte. Serts wichtigste Stationen - oder vielmehr wechselnde Hauptquartiere - waren Barcelona, New York und Cambridge.

Seine Architektenlaufbahn begann Sert 1928 bei Le Corbusier, ehe er seine Heimatstadt mit einigen radikal rationalistischen Wohnbauten wie der Casa Bloc und den Duplexwohnungen am Carrer Muntaner bereicherte. Der vielbeachtete Pavillon der Spanischen Republik auf der Pariser Weltausstellung 1937, Jahrzehnte später in Barcelona wiederaufgebaut, sollte sein vorläufig letztes europäisches Bauwerk sein. Der Neuanfang nach dem Spanischen Bürgerkrieg, den er 1939 in New York versuchte, stand zunächst im Zeichen des Misserfolgs: Die grossen städtebaulichen Projekte für verschiedene lateinamerikanische Städte blieben unausgeführt. Doch wiesen diese von Sert als «organische Strukturen» bezeichneten Anlagen bereits voraus auf jene städtischen Ensembles, die er - 1953 zum Dekan der School of Design der Harvard University ernannt - zusammen mit seinem Partner Huson Jackson in Cambridge, Massachusetts, errichten konnte: Es handelte sich dabei um komplexe, chamäleonartige Gebäudegruppen wie Holyoke Center und Peabody Terrace, mit denen er eine Harmonisierung visueller menschlicher Urbedürfnisse und moderner urbaner Realitäten anstrebte. Ein Ortsgefühl zu schaffen - Sert brachte es auf den Begriff der Township -, so wie es ihm in seiner Jugend in der weissen, fensterlosen, kubischen Architektur ibizenkischer Dörfer aufgegangen war, dafür war nun der amerikanische Massstab die Herausforderung. In Hinsicht des Bauvolumens, und allerdings nur in dieser, bleibt die Überbauung von Roosevelt Island in New York (1970) sein Hauptwerk.

Serts eigenes, 1956 in Cambridge gebautes Haus, dessen zahlreiche Planungsstufen in der Ausstellung minuziös dokumentiert werden, kann gleichfalls als Manifest gegen die Uferlosigkeit amerikanischer Siedlungsmodelle gelesen werden: introvertiert, ein ummauertes Geviert, in dessen Patios sich das Leben konzentriert. In dieselbe Zeit fällt der Bau der amerikanischen Botschaft in Bagdad: Der Irak war für die USA schon damals von strategischer Bedeutung. Die Subtilität, mit der hier der Architektur eine symbolische Vorbildrolle zugewiesen wurde, ohne in eine kolonialistische Attitüde zu verfallen, lässt einen die Gegenwart umso schmerzlicher empfinden. Das Botschaftsgebäude nahm zahlreiche lokale Elemente auf und repräsentierte doch zugleich das moderne, Bewunderung heischende Amerika und seine Ideale. Der nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen 1967 durch die irakische Regierung enteignete und zuletzt als Kaserne genützte Bau soll - so wird gesagt - von den Amerikanern selbst zur Ruine gebombt worden sein.

Als Neffe eines grossen spanischen Malers war sich Sert der Bedeutung von Licht und Volumen als den Grundelementen der Architektur stets bewusst. Gegen Ende seiner Laufbahn konnte er einige bedeutende Projekte verwirklichen, die zu seinen mediterranen Anfängen zurückführten: die Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence, die Häuser in Punta Martinet auf Ibiza sowie das Atelier seines Freundes Joan Miró bei Palma de Mallorca und die Fundació Joan Miró in Barcelona, in der er nun geehrt wird.

[ Bis 12. Juni. Katalog (spanisch oder englisch), 385 S., Euro 40.50. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.03.11

04. März 2005Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Provinzkleinode

Fern der Metropolen, in und um Olot, die kleine Pyrenäenstadt, sind drei junge Architekten im Begriff, ein ebenso exquisites wie naturbezogenes Werk zu schaffen. Mit Regionalismus hat das wenig zu tun - eher liegt über den neuerdings sogar in Japan beachteten Bauten der Büros Aranda Pigem Vilalta ein Hauch von Zen.

Fern der Metropolen, in und um Olot, die kleine Pyrenäenstadt, sind drei junge Architekten im Begriff, ein ebenso exquisites wie naturbezogenes Werk zu schaffen. Mit Regionalismus hat das wenig zu tun - eher liegt über den neuerdings sogar in Japan beachteten Bauten der Büros Aranda Pigem Vilalta ein Hauch von Zen.

Das Haus für eine Coiffeuse und einen Schmied liegt etwas ausserhalb von Olot, einer Kleinstadt hundertzwanzig Kilometer nördlich von Barcelona. Die abgesenkte Eingangspartie wird von einer weissen Box überbrückt. Sie fasst einen beidseits auskragenden Stahlrahmen, aus dem die grossen Aussichtsfenster wie Augen in die Landschaft spähen. Das Haus wirkt abstrakt, doch zugleich animalisch - eine fremde Erscheinung in diesem banalen Vorort. Im unteren Geschoss betreibt die Coiffeuse ihren Salon: Er ist Teil einer intakten Provinzwelt - indessen auf einem architektonischen Niveau, das heute scharenweise Studenten aus Holland oder japanische Architekten in die Garrotxa lockt, wie die von Vulkankegeln geprägte Landschaft rund um Olot heisst. Hier, wo sie aufgewachsen sind, gründeten Rafael Aranda, Carme Pigem und Ramon Vilalta 1988 ihr Büro, und die unmittelbare Umgebung ist bis heute das Zentrum ihres Schaffens. Tupfer um Tupfer haben sie dieses Land mit exquisiten, meist kleinen Bauwerken bereichert: sechs oder sieben Wohnhäusern, aber auch Pavillons und Anlagen, die als «angewandte Land Art» bezeichnet werden könnten.

Spannung aus Vereinfachung

Das Büro der Architekten liegt im Zentrum von Olot an einer Rambla, deren Neugestaltung sie gegenwärtig planen. Topographische, ja erdgeschichtliche Gegebenheiten sind das Substrat dieses Projekts. Die Promenade am Fuss eines Vulkankegels wird jene Lavaströme evozieren, die sich hier einst ergossen. Dunkel, ondulierend und mit einem Minimum an Möblierung, könnte sie dereinst zum Wahrzeichen der mit herausragenden Bauwerken sonst wenig gesegneten Stadt werden. Eine Art Osmose von Stadt und (gestalteter) Natur ist ein zentraler Strang im Werk von Aranda Pigem Vilalta. Während die künftige Rambla die Erinnerung an eine Urlandschaft in die Stadt hineinträgt, erfolgten andere Interventionen in weitläufigen Auen am Stadtrand, die zwar von Bebauungen umzingelt, selbst jedoch unberührt geblieben sind. Ein kleiner Badepavillon am Ufer des Fluvia erscheint selbst wie ein Naturereignis, ebenso monumental wie karg. Zu erkennen sind kaum mehr als die schmalen Streifen von Dach und Sockel. Der Raum dazwischen wird durch vier unscheinbare Baukörper gegliedert, das Ganze wie der Fluss eine leichte Biegung beschreibend. Mit dem geologischen Begriff der exfoliación oder Abblätterung erklären die Architekten ihren Umgang mit Materialien; was gerade im Fall des für Bauten «im Grünen» bevorzugten Cortenstahls recht sinnfällig ist.

Dasselbe Material findet Verwendung auch im nahen Stadion Tussols-Basil, wobei das Wort Stadion vielleicht Verwirrung stiftet. Es ist eine Leichtathletikanlage, in die Lichtung eines Eichenwalds komponiert. Drei geschwungene Reihen von Steinbänken bilden die Zuschauerränge. Dazu kommen einzelne Sitze, gleichsam Hochstände an ausgewählten Stellen im Gehölz. Enigmatisch wirkt die Anlage erst recht durch die Baumgruppen, die innerhalb der Aschenbahn stehen blieben. Die Verschränkung von Natur und Menschenwerk erreicht hier eine seltene Vollkommenheit, gerade auch in einem kleinen Pavillon, an dem sich der Einfluss eines Donald Judd oder Richard Serra erweist. Es ist eines der besten Beispiele dafür, wie skulpturale Spannung durch extreme Vereinfachung geschaffen werden kann.

Die jüngste Arbeit dieser Art - etwas weiter südlich an der einstigen Bahnlinie zur Costa Brava, die in einen fast hundert Kilometer langen Spazierweg verwandelt wurde - ist der Parc de la Pedra Tosca, zu deutsch: des rohen Steins. Es handelt sich um den Eingang zu einem Lehrpfad, der den vulkanischen Ursprung und die nachmalige landwirtschaftliche Nutzung dieser Gegend anschaulich macht. Aranda Pigem Vilalta haben eine künstliche Landschaft aus Gesteinstrümmern geschaffen, die von teils enger, teils breiter gefächerten Stahlpaneelen zurückgehalten werden und so Gassen frei lassen, die zum eigentlichen Pfad führen: instruktiv einerseits, vor allem aber wieder: geheimnisvoll.

Zu den weniger extravaganten Aufträgen für die Öffentlichkeit gehören die Rechtsfakultät der Universität Girona und ein Schulhaus in Sant Feliu de Guíxols. Der äusserlich hermetisch wirkende Fakultätsbau brilliert mit einer raffinierten Lichtführung bis in die Untergeschosse, wie sie auch viele Einfamilienhäuser dieser Architekten auszeichnet. Die Sekundarschule in dem Küstenort hingegen zelebriert, darin den Pavillonbauten verwandt, die Horizontale. Die Grundzüge der Kunst von Aranda Pigem Vilalta sind, so spezifisch dann die Detailarbeit ist, stets dieselben: Ein dem Terrain genau angepasster Perimeter bildet eine Art Chassis, über dem die meist niedrige, horizontale Dachlinie schwebt. Mehr als minimalistisch wirken die so entstehenden Räume - auch bei diesem Schulhaus - und scheinen nachgerade wie geschaffen für Zenmeditationen.

Klappen, Bänder, Riegel

Jedes der Einfamilienhäuser in den Aussenbezirken von Olot ist eine Welt für sich. Gewisse Motive kehren indessen in neuer Form oder Funktion verschiedenenorts wieder, so etwa die transluziden Fensterklappen und andere Arten von Filtern. Die gekrümmten, wie Stoffbänder wirkenden Stahllamellen, die die Wände im Restaurant Les Cols verkleiden, werden in der Casa Horizonte zu Sichtschutz- und Brise-soleil- Elementen abgewandelt. Dieses noch im Bau befindliche Einfamilienhaus, in elf Bändern angelegt, wächst in ebenso vielen vertikalen, frontal verglasten Stahlriegeln aus einer Böschung heraus, an die strenge Schönheit gewisser militärischer Anlagen erinnernd, und treibt die Zelebration der Aussicht auf einen neuen Höhepunkt.

Der Horizont kann aber auch der Himmel sein. Er ist es bei den noch unvollendeten Pavillons, fünf an der Zahl, die an das Restaurant Les Cols in Olot angrenzen. Hier bildet eine wiederum bandförmige Struktur aus transluziden Lamellen gläserne Gassen, die in durch Oberlichter gleichfalls mit dem Himmel kommunizierende Gästezimmer übergehen. Sicher eines der seltsamsten Hotels, die je gebaut worden sind, so wie auch die Casa Horizonte als architektonischer Husarenstreich gelten kann.

Im Gespräch mit Rafael Aranda im ebenfalls von Aranda Pigem Vilalta umgebauten Restaurant Les Cols meinte er auf die Frage nach Einflüssen durch andere Architekten: Er habe gerade Ferien in der Dordogne verbracht, «um die Höhlenmalereien dort zu studieren». Wir sassen in dem goldlackierten Bankettsaal: golden der zwanzig Meter lange Tisch, golden die Stühle und Wände. An beiden Saalenden filtert sich das Licht aus den Gärten: eine zeitlos phantastische Schatulle, in ein altes katalanisches Bauernhaus gefügt. Dieses Restaurant wäre in London oder New York zweifellos eine Sensation. Doch die Architekten scheuen sich, ihr Wirkungsgebiet auszuweiten. In Planung sind nun zwar auch einige Bauten in Barcelona und andern spanischen Städten; Einladungen zu Wettbewerben im Ausland werden aber nur nach sorgfältiger Abwägung angenommen. Wer die Kleinode von Aranda Pigem Vilalta sehen will, muss vorläufig den Weg in die Garrotxa auf sich nehmen.

Literatur: RCR Aranda Pigem Vilalta. Between Abstraction and Nature. Editorial Gustavo Gili, Barcelona 2004. 320 S., Fr. 128.-. Das Werk der Architekten wird auch in zwei Ausgaben von «El Croquis» (96/97 und 115/116) vorgestellt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2005.03.04

28. Februar 2005Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Wie die Stellung einer Schachpartie

Architektur ist für die Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón nicht so sehr subjektives Ausdrucksmittel als vielmehr der Ausgleich sich überschneidender Ideen und Interessen sowie der entspannte Umgang mit gegebenen Restriktionen und selbst auferlegten Regeln. An drei Museumsbauten und einer Reihe weiterer Projekte wird ihre Methodik ablesbar, die zu immer freier wirkenden Entwürfen führt.

Architektur ist für die Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón nicht so sehr subjektives Ausdrucksmittel als vielmehr der Ausgleich sich überschneidender Ideen und Interessen sowie der entspannte Umgang mit gegebenen Restriktionen und selbst auferlegten Regeln. An drei Museumsbauten und einer Reihe weiterer Projekte wird ihre Methodik ablesbar, die zu immer freier wirkenden Entwürfen führt.

Die beiden heute rund fünfundvierzig Jahre alten Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón gehören einer Generation an, welcher aufgrund des Informationsflusses, der Unmittelbarkeit des Ideenaustauschs und des Wechselbads formaler Moden jedweder Versuch, sich durch eine wiedererkennbare Architektursprache zu profilieren, unsinnig erscheint. Es sind gerade die Auslöschung der persönlichen Handschrift und - paradoxerweise - die Zurücknahme der Autorschaft, durch die sie zu einer der auffälligsten Architekturfirmen im heutigen Spanien geworden sind. Einige der Stichwörter, die an ihre Planungsarbeit heranführen, lauten: Distanz und Disziplin, Serie, Regel und Konsens. Womit bereits gesagt ist, dass aller expressive Überschwang aus diesen Bauten verbannt ist. Es handelt sich jedoch weder um minimalistische Kisten noch um enigmatische Behälter, auch wenn Le Corbusiers «boîte à miracles» ihre Auffassung des Metiers mitprägt. Aus der von Mansilla & Tuñón angewandten Systematik resultiert vielmehr eine höchst eigenwillige Architektur.
Nonchalance und Soft Skills

Grundlegend für Mansilla & Tuñón war zunächst die konservative, kontextbezogene Praxis von Rafael Moneo, in dessen Studio beide längere Zeit gearbeitet hatten, bevor sie sich in den frühen neunziger Jahren selbständig machten. In einem Moment mithin, in dem der Kontextualismus vor der Macht des singulären Architekturobjekts zu kapitulieren schien. Nun waren - im Sinne einer dialogischen Einordnung - Entwürfe gefragt, die ihrerseits neue Kraftfelder zu generieren vermochten; Entwürfe, die Zeichen setzten und nicht nur versuchten, das hoffnungslos Disparate zu vernähen. Daher der Begriff der «Spur in der Stadt», der auf all ihre Projekte mehr oder weniger zutrifft. Dass diese Spur zunehmend vertrackte Formen annahm, ist die Konsequenz eines Entwicklungsgangs, in dem die anfängliche Rigorosität keineswegs aufgegeben, sondern in immer komplexeren, offeneren und flexibleren Systemen durchgespielt wurde, was zu immer freier anmutenden Entwürfen führte. Diese Architektur erzählt als Zufall getarnte Spiele, die jedoch nach sehr präzisen Regeln ablaufen.

Das Wort Disziplin entfaltet hier seinen doppelten Sinn - den des Metiers, wie es ihr Vorbild Moneo versteht, und den der strikten Einhaltung einmal gesetzter Spielregeln, deren Eigendynamik andernfalls gehemmt und verfälscht würde. Fast wie ein Labortechniker hat der Architekt seine formalen Experimente durchzuführen, unbeeinflusst von persönlichen Vorlieben und Obsessionen, aber aufmerksam für Einfälle und Reize, die sein Forschungsfeld durchqueren. «Soft Skills» nennt Richard Sennett solche Aufnahmefähigkeit, die unterschiedlichstes Fremdmaterial in die Gegebenheiten und das Grundgewebe eines Projekts einfliessen lässt. «Für uns besteht die Entwurfsarbeit darin, das Knäuel zu entwirren und die Linien zur Kongruenz zu bringen. Interessanterweise ist das erst der Fall, wenn das Gebäude fertig gebaut ist», sagen die Architekten.

Durch diesen Prozess auf unvertrautes Gebiet entführt zu werden, gehört für Mansilla & Tuñón zum «Berufsrisiko». Architektur habe viel zu tun mit Figuration und Abstraktion. Aus Metaphern aber baue man keine Häuser. Es seien abstrakte Ideen, die von Projekt zu Projekt ein Spielfeld eröffneten und sich durchsetzten, sobald die Grundregel auf ihre Tauglichkeit überprüft, synthetisiert, womöglich vereinfacht worden sei. Von da an jedoch erscheine es eher, als sei man im Begriff, die Grundidee auszulöschen. Sie werde immer unschärfer, bis zum Gefühl, das Ergebnis sei unabhängig von seinen Autoren, ja sogar vom Ort und vom Ideenkeim. «Es stimuliert uns und gehört zum Genussvollen der Büroarbeit, unsere eigenen Ideen allmählich zu verwischen.»

Die Distanziertheit, auch Nonchalance, die sie ihren eigenen Projekten gegenüber an den Tag legen, trifft sich mit ihrer Definition der Architektur als Konsens verschiedener Interessen und als «Konversationsmethode». Deren Ergebnis - fern aller persönlichen Expressivität - kann zwar nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, erscheint aber doch als Etappe eines Erfahrungsprozesses, nämlich desjenigen des Fortschritts der Architektur in der Tradition der Moderne. Wie der Kritiker David Cohn anmerkt, fehlt hier indessen die Komponente des sozialen Engagements, das die formalen Forschungen der modernen Bewegung einst leitete. Es besteht keine Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, es sei denn auf die Verfeinerung der eigenen kreativen Methode, wie die chronologische Entwicklung des Werks zeigt. Ist es pure Rhetorik, wenn Mansilla & Tuñón die Strategie des Verschwindens von sich selbst auf ihre Bauten übertragen? «Es wäre unser Ideal, wenn das Gebaute gar nicht gesehen würde.» Nicht im Zentrum des Blicks, sondern um dieses herum bauen - ein solches Haus erschiene lediglich als eine Art Rahmen des Umliegenden. Eine Metapher für den kreativen Prozess von Mansilla & Tuñón ist das Schachspiel, das gerade durch seine strikten Regeln unendliche Möglichkeiten eröffnet. Die Partie zu gewinnen, ist am Anfang zweifellos das Ziel. Bisweilen aber mündet sie in eine so schöne Stellung, dass man diese nicht mehr verlassen möchte und stattdessen das Spiel aufgibt.

Potenzial der Beschränkung

So wie Georges Perecs Roman «La disparition» sein erzählerisches Potenzial durch den Verzicht auf die Verwendung des Buchstabens E entfaltet und vervielfacht, so entwickeln auch viele Projekte von Mansilla & Tuñón ihre Kraft aus gegebenen oder selbst auferlegten Beschränkungen. Das exemplifizieren schon frühe Bauten wie das Provinzmuseum in der kastilischen Stadt Zamora (1992-96), die Schwimmhalle in San Fernando de Henares bei Madrid (1994-98) und das Museu de Belles Arts in Castelló (1996-2000). Das Museum in Zamora fügt sich als monolithischer Block, dessen einzig sichtbare und gesichthafte Fassade die Decke ist, in den Hang unterhalb des erhöht gelegenen Stadtkerns. Die immer gleichen länglichen Oberlichter, felderweise um neunzig Grad abgewinkelt und in verschiedener Höhe zueinander geordnet, strukturieren die darunterliegenden Räume und bilden eine fünfte Fassade, die den ganzen Bau definiert und anschaulich macht. Ebenso hermetisch erscheint das Kunstmuseum in Castelló. Zwar gliedern wesentlich komplexere Oberlichtstufungen die um einen zypressenbestandenen Kreuzgang angelegte Baugruppe, doch die Beschränkung auf lediglich zwei Aluminiumelemente, aus denen sämtliche Fassaden komponiert sind, sorgt für einen einheitlichen Charakter. Ein doppelgeschossiger Raum, stets gleich dimensioniert, jedoch von Stockwerk zu Stockwerk horizontal versetzt, öffnet diagonale Durchblicke durch das ganze fünfstöckige Ausstellungshaus.

Kein Bau demonstriert so klar wie das Hallenbad in der Nähe des Madrider Flughafens die Tendenz der Architekten, durch radikale Limitierung der Elemente, mit denen gearbeitet wird, deren Wirkung zu erhöhen. Ein einziges vorgefertigtes Fassadenteil, ein weisser Betonbalken, wird durch Reihung und vertikale Versetzung zu einem durchbrochenen Gewebe komponiert und bestimmt so nicht nur das Äussere des Gebäudes, sondern verleiht durch das Spiel des einfallenden Tageslichts auch dem Innern seine Stimmung. Bei Nacht erscheint die Halle als horizontal gemusterter Leuchtkörper.

Ein anderes, diesmal vertikales und monumental dimensioniertes Muster aus Lichtschlitzen bildet beim Projekt für das Museum der Königlichen Sammlungen in Madrid (Projekt 1999; noch nicht ausgeführt) eine Art Jalousie vor der Stadt. Denn der Standort dieses Museums ist die Hangkante unmittelbar neben dem Königspalast und vor der unlängst vollendeten Kathedrale Almudena, einer eher peinlichen Baulichkeit. Mansilla & Tuñón gewannen den Wettbewerb vor allem wegen seiner intelligenten Integrierung in die Umgebung. Ebenso elegant wie die über dem Tal des Manzanares gelegene Schauseite ist nämlich die Art, wie sie den Bau stadtseitig zum Verschwinden bringen. Die Aussichtsesplanade zwischen den beiden bestehenden Kolossalbauten bleibt unangetastet, und die darunter erhaltenen archäologischen Schichten - Mauerreste der arabischen Stadt, spätere Befestigungen sowie habsburgische Stallungen - werden als Rückseiten der drei Ausstellungsgeschosse in das Projekt einbezogen, so wie der freie Blick über die Jardines del Moro und den Fluss die andere Seite kennzeichnet. Das Museum wird die derzeit nicht öffentlich zugänglichen Schätze der spanischen Monarchie - von Tapisserien bis zu Kutschen - aufnehmen.

Ist es Zufall oder Bestimmung, wenn ein Architekturbüro sich wiederholt vor topographisch ähnlich gelagerten Bauaufgaben findet? Jedenfalls legten Mansilla & Tuñón nach den Museen für Zamora und für die Königlichen Sammlungen zwei weitere Projekte vor, die an Hangkanten bzw. am Fuss historischer Altstädte angesiedelt sind. Den bisher nicht ausgeführten Entwürfen für die Provinzstädte Teruel und Logroño ist neben den topographischen Gegebenheiten eines gemein: die willkürliche, geometrische Zeichenhaftigkeit oberirdisch sichtbarer und gleichsam schwebender Bauteile. In Teruel ist es ein immenses Kreuz, dessen einer Arm den Fluss überspannt, während die unterirdischen Elemente der «Kulturzitadelle» in Logroño, wo gleichfalls ein Fluss überspannt wird, fast wurzelhaft ins ungewisse Erdinnere streben.

Verschwinden oder auftauchen, das ist die Frage. Beim Wettbewerb für die Erweiterung des Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid - das siegreiche Projekt von Jean Nouvel steht inzwischen kurz vor der Vollendung - setzten Mansilla & Tuñón ganz auf eine Medienfassade, ein System beweglicher Bildträger, bei dem der Architekt lediglich die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Institution sich selbst in Szene setzt. Zugleich nahm dieser Entwurf Bezug auf einige wenig bekannte, aber vorzügliche rationalistische Bauten an der Madrider Hauptachse Castellana-Recoletos-Paseo del Prado.

Ein Anhängsel zu dieser Achse bildet heute etwas weiter südlich das Centro Documental de la Comunidad de Madrid (1994-2002). Es umfasst einen ganzen, einst von der Brauerei El guila eingenommenen Häuserblock. Die um mehrere restaurierte Ziegelbauten und Getreidesilos herum komponierten, teils turm-, teils riegelförmigen, jalousieartig verglasten Neubauten haben Madrid ein Ensemble beschert, das im gegenwärtigen Baugetümmel der Kapitale noch kaum wahrgenommen wurde. Dabei wirkt es durch die Verdoppelung der horizontalen Fassadengliederung imposanter, als es ist. Was uns in Zusammenhang mit dem Potenzial, das Restriktionen innewohnt, hier jedoch interessiert, ist die Aussage der Architekten, die räumliche Anordnung der Archiv- und Bibliotheksräume verdanke sich direkt der Einhaltung der Brandschutzbestimmungen für solche Anlagen. Das Centro Documental sei von ihnen im Grunde entlang der Vorschriften der örtlichen Feuerwehr geplant worden.

Gesetzlosigkeit der Serie

Noch vergnügter wirkt die Fassade des Auditoriums in León (1994-2002). Die Konzerthalle etwas ausserhalb des Zentrums der altkastilischen Provinzhauptstadt, direkt gegenüber dem barocken Prachtbau des Hostal de San Miguel, war diesem zweifellos eine zeitgenössische Antwort schuldig. Eine vieläugige Fassade ist das Ergebnis des ausgeklügelten formalen Spiels, bei dem ein dreidimensionales modulares System mit der Notwendigkeit von Fensteröffnungen und einem gesteuerten Zufallsprinzip gemischt wurde. Dabei durften nie zwei gleiche Fenster nebeneinander liegen - und einmal tun sie es aber doch, um auch dieses Prinzip zu durchbrechen. Ronchamp lässt grüssen, ohne den Architekten ihren kubistischen Geniestreich zu neiden. Gleichfalls in León haben Mansilla & Tuñón unlängst den Bau vollendet, der ihre bisherige Entwicklung (und vielleicht auch deren Gefahren) am genauesten spiegelt. Das kurz MUSAC genannte Museo de Arte Contemporáneo de Castilla y León (2001-2004) treibt die serielle Reihung - von den Architekten nicht ohne leise Ironie «expressives System» genannt und Grundlage vieler ihrer Entwürfe - in ihre beiden möglichen Extreme. Einerseits ist der Grundrissraster hier komplexer denn je, gebildet aus Zellen sich abwechselnder Quadrate und Rhomben; andererseits lud das Grundstück durch seine Grösse dazu ein, diese nicht orthogonalen Zellen einfach einmal wuchern zu lassen. Man weiss in einem solchen isotropen System immer, was unmittelbar nebenan vorgeht - nicht aber, wo der Perimeter verläuft und wie das Ganze aussehen wird. Mansilla & Tuñón führen den Vergleich mit einem Mosaik an, von dem nur ein Fragment mit einem zufälligen Umriss erhalten ist.

So stur die Matrix bis ins konstruktive System hinein wiederholt wird - die annähernd fünfhundert Stahlbetonträger sind identisch, wie die Furchen eines Ackers, die ja auch bisweilen die Richtung ändern -, so beliebig ist der Kompositionsmechanismus. Keine bestimmten Volumen, kein Vorn oder Hinten liefern Anhaltspunkte für die Gestalt des Gebäudes. Diese aus der Zellstruktur selbst abzuleitende Gestalt nimmt erst Wirklichkeit an, wo ihrem Wuchern Einhalt geboten wird. Freilich gibt es dafür gerade in Spanien auch ältere Beispiele, etwa die Moschee von Córdoba oder die mittelalterliche Werft von Barcelona.

Man hat in Zusammenhang mit Mansilla & Tuñón von anagrammatischer Architektur gesprochen, man könnte beim MUSAC auch an eine der Grundfunktionen der Informatik denken (ausschneiden, kopieren, einfügen) oder, wenn man den Zweck des Gebäudes ins Auge fasst, an Aldo Rossis Satz: «Wenn das Geschehen gut ist, ist auch der Ort gut.» Denn das MUSAC ist entgegen seinem Namen gar kein Museum - es existiert keinerlei Sammlung -, sondern ein Behälter für ausschliesslich temporäre Manifestationen der Gegenwartskunst. Dass diese gerade in León, einer doch eher spiessigen Stadt, dieses enorme Spielfeld erhält, kann einen skeptisch stimmen. Doch braucht uns hier nicht zu kümmern, wie das Moiré aus Rhomben und Quadraten, dieses vielfach aufgefächerte, durchbrochene und doch in sich befangene Plissee, schliesslich bespielt werden wird. Festzuhalten ist, dass Mansilla & Tuñón entgegen den stereotypen Erwartungen an eine solche Institution einen extrem introvertierten Baukörper geschaffen haben. In städtebaulich chaotischer Randlage errichtet, verweigert er unter dem Zickzack seiner Glasverkleidung jeglichen Kontakt mit der Stadt. Sieben willkürlich gesetzte Türme doppelter Höhe, die eine Art San Gimignano evozieren, lassen das Ensemble nur umso enigmatischer erscheinen. Selbst der durch Aussparung mehrerer Rasterfelder geschaffene Zugang wendet sich vom Stadtzentrum ab. Im Gegensatz zu den sonst kühlen Verglasungen wurden für die Fassaden, welche diesen Vorplatz oder Ehrenhof umgreifen, leuchtende Farben gewählt. Ihre Skala, so ist zu erfahren, entspricht einem in Pixel aufgelösten Glasgemälde in der Kathedrale von León. So wird die repräsentative Funktion in einem für die Architekten typischen Einfall über den abstrakten Raster gestülpt.

Wohin der Weg nach diesem Wagestück geht, scheint am ehesten ihr jüngstes Museumsprojekt anzuzeigen, diesmal in der kantabrischen Stadt Santander. Hier wird ein noch vertrackterer, aus unregelmässigen Trapezen gebildeter Raster zur künstlichen Landschaft, zu einem gebauten Gebirge ausgeformt. In den Worten von Mansilla & Tuñón: eine «Gruppierung gleicher und verschiedener Elemente, die eine verborgene Geometrie der Natur nachzuvollziehen versuchen».

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2005.02.28

03. Februar 2005Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Koloss komplett

Es ist nicht der Louvre und nicht der Prado - kein grosses Königshaus hat hier je einen Fundus an grosser Malerei gelegt -, doch zumindest flächenmässig...

Es ist nicht der Louvre und nicht der Prado - kein grosses Königshaus hat hier je einen Fundus an grosser Malerei gelegt -, doch zumindest flächenmässig...

Es ist nicht der Louvre und nicht der Prado - kein grosses Königshaus hat hier je einen Fundus an grosser Malerei gelegt -, doch zumindest flächenmässig gehört es in dieselbe Kategorie: das Museu Nacional d'Art de Catalunya (MNAC), das nach achtzehnjähriger Umbauzeit nun wiedereröffnet wurde. Nach wie vor beherbergt es die Weltgeltung geniessenden Sammlungen katalanischer Romanik und Gotik, neu zudem umfangreiche Bestände aus jener zweiten Blütezeit katalanischer Kunst, die vom 19. Jahrhundert bis zu Tàpies reicht. Dazu kommen die Legate Cambó und Espona, die die in Barcelona schmerzlich klaffende Lücke der Renaissance und des Barock mit einigen wenigen Perlen (Piombo, Zurbarán, Tiepolo) ausschmücken, sowie siebzig Werke aus der Sammlung Thyssen-Bornemisza, die zuvor im barcelonesischen Kloster Pedralbes zu sehen waren. Verglichen mit dessen lapidarer Würde wirken die neuen Säle freilich nachgerade schäbig - womit erst ein Aspekt der Fragwürdigkeit des ganzen Unternehmens MNAC angesprochen ist.
Riese auf tönernen Füssen

Das Gebäude, welches das Museum beherbergt, ist ein ursprünglich für die Weltausstellung 1929 - und nur für diese - errichteter Palast, dessen Umbau nicht zuletzt seiner konstruktiven Mängel wegen 122 Millionen Euro verschlang: ein Riese auf tönernen Füssen. Stilistisch ist er als letzter Seufzer akademischer Protzsucht einzuordnen. Überdeutlich macht den Anachronismus, nur einige Schritte davon entfernt, eine Ikone der Moderne: Mies van der Rohes zur selben Zeit und für dieselbe Ausstellung geplanter deutscher Pavillon. Für den Umbau wurde mit Gae Aulenti eine Architektin gewählt, die um 1985 mit dem Musée d'Orsay in Paris zu vorübergehender Berühmtheit gelangt war. Ihre postmoderne Intervention wirkt heute, nach der ungemein langen Bauzeit, nicht frischer als damals, streckenweise fast so schmonzig wie der Koloss an sich.

Verantwortlich für die Verzögerung war freilich nicht die italienische Architektin, sondern jene fünf Legislaturen überdauernde nationalistische Regierung, die es an Eifer in patriotischen Belangen sonst nicht missen liess. Das kulturelle Vorzeigeprojekt des Landes zu vollenden (nach zwei Teileröffnungen in den neunziger Jahren), blieb indessen ihren sozialistischen Nachfolgern überlassen. Leider wurde das Vorhaben, tausend Jahre katalanischer Kunst unter einem Dach zu vereinen, dadurch nicht sinnvoller.

Pompöse Leere

Nicht nur die klösterliche Umgebung für die Bilder der Sammlung Thyssen vermisst man heute, sondern auch das Museu d'Art Modern, das mit seinen knarrenden Böden all den vorzüglichen katalanischen Impressionisten, Symbolisten und «Noucentistes» (Fortuny, Nonell, Mir, Casas, Rusiñol) einen perfekten, mehr noch: charmanten Hintergrund geboten hatte. Es wurde sang- und klanglos aufgelöst, um deren Werke einem vermeintlichen Gesamtbild nationalen Kunstschaffens einzuverleiben - bloss dass dann die barcelonesische Avantgarde des 20. Jahrhunderts hier ohne Picasso und ohne Miró auskommen muss (die in der Stadt ihre eigenen Museen haben).

So erzwungen das ganze Projekt erscheint, einzigartig ist das Museum gleichwohl. Gae Aulentis abstrakte Nachbildung der romanischen Apsiden, ja ganzer pyrenäischer Kapellen, aus denen die Bildwerke zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor Plünderern, Brandschatzern und amerikanischen Sammlern gerettet wurden, ist eindrücklich, auch wenn es deren unaufgeregte vorherige Präsentation nicht vergessen lässt. Schon in die gotische Malerei kann man sich indessen unbehelligt von architektonischen Revenants versenken. Nach Durchwanderung des endlosen katalanischen Fin de siècle endet der Parcours in einer kleinen, aber feinen Fotografie-Abteilung. Sie nimmt eine winzige Empore der enormen, im Übrigen nicht für Ausstellungszwecke genutzten «Sala Oval» ein. In ihrer pompösen Leere erscheint diese Halle wie ein Gegenbild zu dem zersplitterten Universum der romanischen und gotischen Bilderkunst; zugleich aber, so scheint es, repräsentiert sie die Idee dieses Museums.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2005.02.03

17. November 2003Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Bildfindungen

Phantasiestädte in einer Ausstellung in Barcelona

Phantasiestädte in einer Ausstellung in Barcelona

Zweierlei haben die vom gelernten (und gelehrten) Architekten Pedro Azara ersonnenen Ausstellungen stets gemein. Sie befassen sich auf präzise Weise mit marginalen Parzellen - oder eher: selten verfolgten Strängen - der Kunstgeschichte. Und sie überraschen zusätzlich durch ihre raffinierte und elegante Ausstellungsarchitektur. Dem war so bei der Schau früher Architekturmodelle, als welche gewisse mesopotamische, griechische und römische Grabmäler gelten können («Casas del alma», 1997); ebenso bei den antiken Stadtgründungen, die Azara drei Jahre später zum Ausstellungsthema machte. Nun führt das Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) die Reihe fort mit «La ciutat que mai existí», der Stadt, die es niemals gab. Die Szenographie verstärkt den Eindruck des Irrealen, der Ortlosigkeit, der von den Bildern ausgeht. Sie taucht den Besucher in dunkle Längsräume, in denen einzig die auf einer Raumseite gleichmässig aufgereihten Exponate beleuchtet sind. Schon die ersten dieser Lichtinseln, kleine pompejische Fresken scheinbar frei im Raum schwebender Baugruppen entziehen einem in dieser Illuminierung buchstäblich den Boden unter den Füssen.

Zwei Schritte weiter kommt man auf den Boden zurück - allerdings ausgerechnet auf den einer der gespenstischen Esplanaden Giorgio de Chiricos, auf welchen die menschlichen Figuren neben ihrem eigenen Schattenwurf fast verschwinden. Die weitgehende Abwesenheit, vielmehr Nebensächlichkeit von Menschen ist ein Charakteristikum dieser Ausstellung, die das Motiv der Phantasiestadt bis in die Gegenwart verfolgt, wobei das Nebeneinander älterer Bildwerke und der Arbeiten von Patrick Shanahan, Olivo Barbieri, Cristina Iglesias und anderen Zeitgenossen oft spannungsvoll ist. Ein Video von Catherine Yass schält auf dem Kopf stehende Londoner Wolkenkratzer aus dem Nebel, und eine gleissend weisse Rauchkammer von Ann Veronica Janssens schliesst die Ausstellung etwas schal, aber hübsch kontrapunktisch ab.

Im Zentrum steht indessen das Capriccio architettonico, wie es im 16. und 17. Jahrhundert gepflegt wurde - als eher zweitrangiges Genre, ähnlich der Ruinenmalerei. Dass im Zeitalter der Entdeckungen, der Erweiterung unseres Weltbilds, auch imaginäre Territorien der Baukunst erobert wurden, hat seine Logik. Ebenso, dass einige der hier vertretenen Maler selbst Architekten waren: de Vries im 16. Jahrhundert, Schinkel im 19. Jahrhundert, Sironi im 20. Jahrhundert. Das Genre gipfelte um 1750 in der venezianischen Vedutenmalerei: Welche Freiheiten sich etwa Canaletto mit dem wirklichen Venedig herausnahm, wies unlängst ebenfalls das CCCB in einer minuziösen Ausstellung nach.

Im Gegensatz zu Canaletto gerieten die meisten dieser Architekturmaler in Vergessenheit, ihre Werke mussten teilweise in den Museumsdepots aufgetrieben werden. Wer - ausser den Kunsthistorikern - kennt schon Dirck van Delen, François de Nomé oder gar den spanischen Barockmaler Francisco Gutiérrez? Was sie schufen, könnte man als prunkhafte Dekorationsmalerei abtun. Man kann aber auch, wie es diese Ausstellung versucht, ihre Stadträume darauf untersuchen, welch seltsame Weltbilder sie uns vermitteln: den Niederschlag zum Teil grässlicher Legenden oder den Eishauch monumentaler Säulenordnungen, unter denen belanglose Menschlein, von Ateliergehilfen nachträglich hinzugepinselt, zu Architekturchargen degradiert werden. Es wäre indessen manchmal gar nicht so einfach, in Worte zu fassen, was das Irreale daran ausmacht. Bei de Vries wird die Perspektive nachgerade zum Wahngebilde. Schon bei ihm lassen sich Aussen- und Innenräume kaum mehr auseinanderhalten - eine weitere Konstante der Ausstellung. Mit lediglich achtzig Bildern setzt diese den Besucher einem Stadtideal aus, das sich indessen mit dem ersten Schritt auf die Strasse, allen Bemühungen der barcelonesischen Urbanisten zum Trotz, als Hirngespinst erweist.


[Bis 1. Februar 2004, anschliessend im Museo de Bellas Artes in Bilbao. Katalog Euro 15.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.11.17

17. November 2003Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

In der Ziegelzange

Spaniens Hauptstadt als riesige Baugrube

Spaniens Hauptstadt als riesige Baugrube

Die Madrider Stadtentwicklung droht aus dem Ruder zu laufen. Ziegel sind zum Symbol einer Habgier geworden, die selbst demokratische Spielregeln ausser Kraft setzt. Eine Reise den Rändern der spanischen Hauptstadt entlang gibt Aufschluss über eine ungehemmte Bauwut, die in Europa kaum ihresgleichen kennt.

Ziegelrot ist eine Farbe, die diverse Empfindungen auslösen kann. Für die Bewohner des 133. Stadtkreises von Madrid, Palomeras Bajas, der aussieht wie von einem Ziegelfabrikanten geträumt, hat sie vielleicht den traulichen Ton angenommen, der im Wort Barrio mitschwingt. An der Ecke Tristana/Mogambo gibt es sogar eine Bar. Wäre man in Deutschland, so würde man weiter nichts daran finden, dass dann wieder ganze Blöcke weit Ödnis herrscht, höchstens eine Fahrschule und ein Institut für Kickboxing das Strassenbild beleben. Für spanische Verhältnisse allerdings ist Palomeras ein eher tristes Viertel - und doch zugleich ein Muster sozialistischer Planung, das sich eventuell bald vorteilhaft von andern, jetzt entstehenden Überbauungen abhebt.


Politische Verstrickungen

Während sich allmählich die Furcht zu verbreiten beginnt, dass die Spekulationsblase platzen könnte, hat das Immobiliengeschäft politische Dimensionen wie nie zuvor erlangt. Bei den Regionalwahlen im Mai 2003 schien die Linke nach acht Jahren wieder an die Macht zu gelangen, doch verhinderten zwei abtrünnige sozialistische Abgeordnete die Regierungsbildung. Bei den dadurch unumgänglichen Neuwahlen im Oktober setzte sich der konservative Partido Popular knapp durch. Obwohl der parlamentarische Untersuchungsausschuss - eine Farce, bei der die «Verräter» über ihren eigenen Fall mit abstimmen dürften - zu keinen Schlussfolgerungen kam, sind die Indizien doch zu zahlreich, als dass man hinter dem Absprung der beiden Abgeordneten nicht Machenschaften der Bauwirtschaft und handfeste Interessen des Immobilienhandels, die sich von der konservativen Regierung besser bedient fühlten, vermuten müsste.

So kam es, dass Backstein in Madrid zum Symbol für Korruption und Habgier wurde. Derweilen wird Madrid weitergebaut, sowohl an seinen Rändern als auch in der Kernstadt. Einige Interventionen waren überfällig: Der verwahrloste Aussenraum der Prachtachse von Atocha bis Colón etwa - Paseo del Prado, Paseo de Recoletos und umliegende Zonen - wird demnächst nach dem Masterplan von Alvaro Siza neu gestaltet. Fraglicher, was ihre Notwendigkeit betrifft, ist die Verwandlung der Metrostation Sol in einen Nahverkehrsbahnhof, zumal das Stadtzentrum schon über mehrere derartige Knotenpunkte verfügt. Damit wird die passantenreichste Zone der Stadt auf vier Jahre hinaus in eine Grossbaustelle verwandelt. Das Metro-Netz wurde in den letzten Jahren auf 227 Kilometer Länge fast verdoppelt. Doch auch zugunsten des Individualverkehrs sind Stadt- und Regionalregierung von einem Tunnelrausch erfasst - als Nächstes soll das dem Río Manzanares folgende Teilstück des ersten Autobahnrings, der M-30, in den Boden verlegt werden.

Das erklärt noch nicht die Symbolkraft des Ziegelsteins. Um sie zu begreifen, hat man sich die in Spanien bei Wohnbauten fast ausnahmslos angewandte Skelettbauweise vor Augen zu halten. Mit ihren Decken, teilweise aus Ortsbeton, gewöhnlich aber aus armierten und mit Beton ausgegossenen Deckenziegeln, sind es leichte und entsprechend hellhörige Konstruktionen. Das Betonskelett wird mit Mauerwerk ausgefacht, das meist unverputzt bleibt - nur bei gehobenem Standard werden die Ziegel noch irgendwie postmodern verbrämt. Die zurzeit geplanten oder bereits angelaufenen urbanistischen Operationen in der Madrider Peripherie addieren sich auf mindestens 300 000 Wohnungen: ein Indiz dafür, dass sich die eher strukturschwache spanische Ökonomie auf die Bauwirtschaft als wichtigste Wachstumsbranche stützt. Der Konflikt entzündet sich daran, wie hemmungslos mit dem Boden geschachert werden darf - etwa auf Kosten der Umwelt. Ausserdem daran, welche Umzonungen urbanistisch sinnvoll, wie hoch die Ausnutzungsziffer und der Anteil an Sozialwohnungen sind. Es ist offensichtlich, dass einige Grossbanken und Baukonsortien diesbezüglich in jüngerer Zeit in Madrid freie Hand hatten und dass der Anteil an Sozialwohnungen Richtung null tendiert.

Man kann den Tour d'horizon am Flughafen aufnehmen, wo die neuen Terminaldächer von Richard Rogers und dem Madrider Studio Lamela wellig in der Sonne glitzern - spielzeughaft im Vergleich zur Weite der Meseta, doch als Vier- Milliarden-Euro-Bau, der die Kapazität auf 65 Millionen Passagiere pro Jahr erhöhen wird, rekordverdächtig. Vom Flughafen, der am heftig zugeklotzten Ostkorridor liegt, kann man sich südwärts über die M-40 absetzen, von dort auf die M-45 oder auf die M-50 wechseln, die Madrid in einem Radius von knapp zwanzig Kilometern umschlingt. Diese Autobahnringe ersetzen teilweise das alte radiale Wegsystem, und zweifellos leisten sie der Dezentralisierung Vorschub. Jede der Ringstrassen hat eine neue Grenze geöffnet. Allmählich setzt sich das amerikanische Siedlungsmodell durch. Wenn die Lage eines Grundstücks heute beschrieben wird als «zwischen M-40 und M-45», so heisst das nicht: irgendwo in der Wüste zwischen Autobahntentakeln, sondern: ideale Verkehrsanbindung. Was sich auf den Restflächen zwischen den Asphaltschlingen abspielt, dafür gibt der Architekt Alfredo Villanueva sarkastisch die Stichworte: «Minimum an Planung, absolute Permissivität. Metabolismus des Ziegels: höchste Gefrässigkeit, wenig Gehirn. Hauptsache, die Kasse stimmt.»

Der 900-seitige «Atlas de Madrid» führt einem die urbanen Metastasen en détail vor Augen: ein fraktales Chaos herein- und herausbrechender Ränder. Es bietet auch in der Wirklichkeit keinen schönen Anblick. Allein die südliche Suburbia, das grosse Auffangbecken für unbemittelte Immigranten, zählt heute weit über eine Million Einwohner, die meist in Blockclustern, teilweise auch in Bidonvilles leben. Im Westen bieten die Richtung Guadarrama-Gebirge ausgerollten Reihen- und Einfamilienhausteppiche einen womöglich noch niederschmetternderen Anblick. Das urbanistische Kronjuwel ist der auch klimatisch privilegierte Norden der Stadt. Fest etabliert sind da die beiden scheinbar nur aus schützenden Hecken bestehenden Luxussiedlungen La Florida und La Moraleja - in letzterer scheint der Fussballstar David Beckham ein Heim gefunden zu haben.


Ein Volk von Spekulanten?

Beckhams neuer Arbeitgeber, Real-Madrid- Präsident Florentino Pérez, zählt zu den Drahtziehern im Madrider Immobilienhandel. Der Bauunternehmer Pérez hätte sein fussballerisches Musterknabenteam wohl kaum zu finanzieren vermocht, wäre ihm nicht die Umzonung des ehemaligen Trainingsgeländes des Klubs geglückt. Vier je 215 Meter hohe Türme unter anderem von Foster und Pei sind auf diesen Parzellen nördlich der Plaza Castilla vorgesehen, Ausdruck einer schon länger sich abzeichnenden Verlagerung des Zentrums nordwärts, die mit der Gleisüberbauung des Bahnhofs Chamartín fortgesetzt werden wird. Umso gieriger hat sich die Baulobby auf die daran anschliessenden Grundstücke gestürzt, eindrücklich zu sehen in Form der Kranlandschaften der künftigen Grosssiedlungen Las Tablas und Sanchinarro. Erstere soll unter anderem den Hauptsitz des mächtigsten Konzerns des Landes, Telefónica, aufnehmen; letztere ist als Wohnanlage so banal wie irgendeine Madrider Überbauung, doch ist hier mit einer 21-geschossigen Wohnmaschine von MVRDV auch eine der wenigen innovativen Architekturen geplant.

Braucht Madrid überhaupt so viele Wohnungen? Der Leerbestand liegt allein in der Stadt offiziell bei 107 000. Andererseits hat nun die Agglomeration die Zahl von fünf Millionen Einwohnern überschritten. Es sind indessen nicht die Zuwanderer aus der Dritten Welt, die sich eine Eigentumswohnung in Sanchinarro leisten können. Die filtern sich eher durch die noch nicht gentrifizierten Teile des alten Zentrums ein. Der typische Abnehmer für eine Wohnung in Sanchinarro ist eher ein Herr, der vielleicht sein Leben lang in Burgo de Osma gelebt hat, dessen Sohn in Madrid studiert und der sich das Objekt nicht aus Notwendigkeit, sondern als Kapitalanlage leistet. Die galoppierenden Immobilienpreise - jährlich fünfzehn Prozent Wertsteigerung sind die Regel - lassen ihm gar keine andere Wahl, wenn er nicht als Finanzbanause dastehen will. Es kommt aber noch etwas anderes hinzu, nämlich der traditionell hohe Anteil an Eigentumswohnungen in Spanien: über achtzig Prozent. Wer zur Miete wohnt, gilt hier im Grunde als blöd. Deshalb sitzen ja dann auch die Kinder bei ihren Eltern, bis sie selber fast grau sind, und Spanien weist noch vor Italien die niedrigste Geburtsrate der Welt auf. Wenn ein rechtschaffener Mann einst eine Hypothek mit dreissigjähriger Laufzeit auf sich nahm, dann in einem psychologischen Umfeld, das für ein Menschenleben genau ein Haus, einen Ehepartner und eine Arbeitsstelle vorsah. Dem ist heute nicht mehr so, dafür hat die Kultur des Wohnungsbesitzes jeden Normalbürger in einen kleinen Immobilienspekulanten verwandelt. Sehr zur Freude der grossen Spekulanten.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2003.11.17

04. Juli 2003Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Esplanaden und Inseln

Architektinnen nehmen in Barcelona, einer Hochburg der zeitgenössischen Baukunst, eine immer wichtigere Stellung ein. Die 49-jährige Carme Pinós bereichert den Diskurs mit eigenwilligen Gebäuden. Darüber hinaus betätigt sie sich wie die 1950 geborene Beth Galí, von welcher der Entwurf für die Rambla in Terrassa stammt, als Urbanistin.

Architektinnen nehmen in Barcelona, einer Hochburg der zeitgenössischen Baukunst, eine immer wichtigere Stellung ein. Die 49-jährige Carme Pinós bereichert den Diskurs mit eigenwilligen Gebäuden. Darüber hinaus betätigt sie sich wie die 1950 geborene Beth Galí, von welcher der Entwurf für die Rambla in Terrassa stammt, als Urbanistin.

Die Ruine eines Aquädukts, ärmliche Ausläufer eines Dorfes in der Einöde irgendwo hinter Alicante, ein Wildwesthorizont. Über das ausgetrocknete Flussbett spannen sich, geduckt und doch gebieterisch, drei Stahlträger, die eine holzgedeckte Passerelle tragen, seitlich als Palisade aufstrebend und jenseits der Senke in eine sanft gestaffelte Esplanade sich weitend, in die karge Natur als Halbinsel sich ergiessend: ein Stück exquisiter Landschaftsgestaltung im spanischen Niemandsland, entworfen von Carme Pinós. «Die Luft mit einem Gemurmel erfüllen», so poetisch versuchte die 1954 geborene Architektin in einer 1998 erschienenen Monographie über ihre Projekte die Passerelle von Petrer auf den Begriff zu bringen. Fünf Jahre später, kurz bevor bei The Monacelli Press in New York ein neues Buch über sie erscheint, sind von dem Dutzend ehedem vorgestellter Projekte neben Petrer nur zwei gebaut worden. Dennoch ist Carme Pinós heute eine der wenigen Frauen, die zur Weltelite der Architektur zählen. Lastete nicht auch auf Zaha Hadid lange der Fluch der unverwirklichten Projekte?

Heute sind jedoch Architekturstudentinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen vielenorts in der Überzahl - längst auch in Spanien. Drei der international gefragtesten Architektinnen sind in Barcelona tätig, zwei von ihnen waren Partnerinnen des jung verstorbenen Enric Miralles: Carme Pinós, die seit 1991 in eigener Regie arbeitet, und Benedetta Tagliabue, der nun die Ausführung von Miralles' letzten grossen Projekten - unter anderem des schottischen Parlaments - obliegt. Und da ist schliesslich Beth Galí, auch sie privat mit einer Koryphäe, nämlich mit Oriol Bohigas, liiert, aber beruflich selbständig. Ist es reine Willkür, zwei der drei Frauen zu einem Doppelporträt zu vereinen? Was, ausser Wohnort und Geschlecht, verbindet die im Temperament und in ihrer architektonischen Sprache doch recht verschiedenen Architektinnen Pinós und Galí? Ihr Werk überblickend, stösst man auf diese merkwürdige Koinzidenz: Beide haben künstliche Inseln im Meer gebaut.


Barcelonesische Bonvivante

Galís Insel ist Teil eines Bäderprojekts auf dem Gelände des «Forums 2004», der zurzeit grössten Baustelle Barcelonas (NZZ 14. 9. 02). Das Bad ist einem neuen Park von Foreign Office Architects vorgelagert; es werden dabei Themen wie Süss- und Salzwasser, stilles und bewegtes, kaltes und warmes, klares und schlammiges Wasser variiert: «Eine deliziöse Bauaufgabe.» Die künstliche Insel aus weissen Betonquadern soll kein falsches Idyll vorspiegeln, sondern sie erscheint als streng horizontal geordnete Architektur im Meer, kontrastierend mit den buschigen Ufern, wo aber auch eine breite öffentliche Treppenanlage ins Wasser führt, und mit zwei langgestreckten Gebäuden, die Strandbars aufnehmen.

Die 1950 geborene Beth Galí, von Vitalität sprühend, ist für solch hedonistische Projekte zweifellos die geeignete Architektin. Im Umfeld von Barcelonas «Gauche divine» der späten Franco-Jahre gross geworden, wirkte sie ab 1980 bei der von Oriol Bohigas geleiteten Projektgruppe der Stadtplanung mit, die aus Barcelona alsbald «eine Stadt von vier Millionen Urbanisten» machte. «Die nationalistische Rechte schoss sich auf die von uns gestalteten Plätze ein, und diese Politisierung war der Diskussion förderlich. Linke und Rechte tauschten zeitweise über unsere Köpfe hinweg ihre Kugeln. Ausserdem waren es die ersten demokratischen Jahre nach der Franco- Diktatur, und da gab es eine ungeheure Bereitschaft, die neue Freiheit auszuleben: selbstbewusst, grossmütig, expansiv. So sehr, dass die Leute es heute für ganz normal halten, dass Barcelona immer an der Spitze mitmischt.

Zu ihren Entwürfen aus jener Zeit gehören der Parc de Joan Miró und der Fossar de la Pedrera, eine Gedenkstätte für Kriegsopfer in einem alten Steinbruch am Montjuïc, die sie zu einem der aussergewöhnlichsten, ja ergreifendsten Orte von Barcelona gestaltet hat: eine nachgerade filmisch anmutende Sequenz von Aussenräumen. Von Beth Galí stammt aber auch eine der meistkopierten Strassenlampen der jüngeren Zeit, die «Lamparaalta». Inzwischen hat ihre Arbeit als Urbanistin mit der Neugestaltung des Zentrums der holländischen Stadt s'Hertogenbosch und der Hauptgeschäftsstrasse von Cork in Irland ihre Fortsetzung gefunden. Demnächst wird sie auch in Hamburg ihren Entwurf für die Umgebung des Dammtorbahnhofs sowie eine neue Rambla in Terrassa bei Barcelona realisieren. Diese stellt den Versuch dar, ein 1999 durch rassistische Ausschreitungen in Verruf gekommenes Viertel mittels eines öffentlichen Raums besser in die Stadt zu integrieren.

In exponierter Lage - und stets als Ausdruck der Zeit - entstehen auch einige ihrer Hochbauten. So wird sie am Paralelo, mitten in Barcelonas altem Theaterdistrikt, nicht etwa ein neues Theater bauen, sondern - ein Altersheim. Und in Nachbarschaft zu Jean Nouvels Wolkenkratzer an der Diagonal ist als Galís zurzeit ambitioniertestes Projekt ein Medienpark geplant, der acht hoch verdichtete Cerdà-Blocks umfassen wird: «la Ciudad Audiovisual». Galís Büro liegt in einer einst düsteren, inzwischen durch urbanistische Massnahmen stark aufgewerteten Altstadtgasse. Das Erdgeschoss ist einem Galerieraum vorbehalten, in dem - unbeachtet vom grossen Publikum - die zweifellos seltsamsten Architekturausstellungen Barcelonas gezeigt werden.


Beauty and the Beam

Anders das Atelier von Carme Pinós: Die 500 Quadratmeter an der Ecke von Diagonal und Vía Augusta repräsentieren das grossbürgerliche Barcelona in Reinkultur. Nach ihrer Trennung von Enric Miralles war die Frage unausweichlich, inwieweit sie die Co-Autorschaft für wegweisende Entwürfe wie den Friedhof von Igualada - wo Miralles später begraben wurde - und die Schule in Morella beanspruchen kann. Eine Antwort gab sie selbst mit einem andern Schulbau in Mollerussa bei Lleida, dessen räumliche Qualitäten, vor allem die Erschliessungszone mit ihrem beziehungsreichen Ineinander von Rampen, Treppen und Galerien, dem Bau in Morella in nichts nachstehen.

Carme Pinós' Architektur ist nicht organisch; sie schmiegt sich jedoch oft so eng an das Gelände, als suchte sie ihren Ort zwischen dessen Faltungen. An Sandkastenspiele mag sie erinnern, etwas «Füchsisches» hat Pedro Azara darin ausgemacht. Keine dominanten Flanken, keine Stirnseiten, keine vor dem Betrachter sich aufspielenden Fassaden; eher eine Vielzahl flüchtiger Seitenansichten. Wie bei Beth Galí spielt auch im Werk von Carme Pinós die Gestaltung des öffentlichen Aussenraums eine zentrale Rolle. Ihre «Insel» ist eine Aufschüttung vor der von ihr gestalteten Marina von Torrevieja. Sie schirmt mit den neuen Molen die Strände und Promenaden ab, die vor der dicht bebauten Touristenstadt einen «maritimen Garten bilden, für den man sie in Torrevieja jetzt, gemäss ihrer eigenen Aussage, «auf Händen» trägt.

Inzwischen hat sich der Schauplatz ihrer wichtigsten Projekte nach Mexiko verlagert, genauer nach Guadalajara. Der Unternehmer Jorge Vergara, reich geworden mit der Vermarktung von Kraftnahrung, hat mit Hilfe des mexikanischen Elitearchitekten Enrique Norten eine ganze Schar berühmter Baukünstler zusammengetrommelt - Libeskind, Nouvel, Hadid, Toyo Ito -, um ein Gelände am Stadtrand in eine architektonische Wunderschau zu verwandeln, in der weder ein Stadion noch ein Museum, noch ein Hotel fehlen (NZZ 14. 9. 02). Carme Pinós wurde für die Messehallen und den angrenzenden Park ausersehen. Sie schlug drei langgestreckte Bauten vor, die als Brücken das Kongresszentrum von Enrique Norten und das Zuckerwatte-Shopping-Center von Coop Himmelb(l)au mit ihrem Park verbinden. «Was uns vorschwebt, sind Hallen, die auch als Park funktionieren, wenn gerade keine Messe stattfindet: Wir versuchen eine Poetik der leeren Räume zu schaffen.»

Das megalomanische Projekt des mexikanischen Magnaten ist inzwischen ins Stocken geraten; gegenwärtig wird der Masterplan überarbeitet. Weniger ungewiss scheint die Realisierung eines andern Projekts in Guadalajara: Ein örtliches Bauunternehmen, das damit zugleich zu renommieren und sein eigenes Können zu unterstreichen gedenkt, beauftragte Carme Pinós mit dem Entwurf seines neuen Hauptsitzes. Der 15-geschossige Turm hat es denn auch in sich: Er ist - das liebliche Klima von Guadalajara lädt dazu ein - nicht nur natürlich belüftet und belichtet, sondern auch konstruktiv ein Wagestück. Eine punktsymmetrische Anlage aus drei Erschliessungskernen trägt ebenso viele völlig stützenfreie Bürozonen, vertikal teilweise über mehrere Geschosse durchbrochen, was wiederum den Innenhof mit Licht und Luft versorgt. Das Ganze wird durch eine Lattenfassade vor der Glashaut abgekühlt: cool wie Carme Pinós.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2003.07.04

02. Juli 2003Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Die Kunst, Stadt zu sein

Valencia verstrickt sich in seine zweite Biennale

Valencia verstrickt sich in seine zweite Biennale

Kaum hat Bilbao mit Gehrys Guggenheim Museum erfolgreich um sein Quentchen internationale Aufmerksamkeit gebuhlt, versucht sich nun Valencia vehement als Spaniens drittes kulturelles Zentrum neben Madrid und Barcelona zu positionieren. Der valencianische Himmel ist die Vitrine, in der Santiago Calatravas «Stadt der Künste und der Wissenschaften» ausliegt wie die Exponate eines naturkundlichen Museums: Sepie, Menschenauge, Walgerippe, ins Gigantische gesteigert. Auch das IVAM, das nach einem bemerkenswerten Start etwas erlahmte Institut Valencià d'Art Modern, plant nun seine Erweiterung. Formal steht sie, wiewohl auch in makellosem Weiss, Calatravas Triade aus Oper, Imax und Museum konträr entgegen. Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa umhüllen das bestehende, 1989 eröffnete Gebäude mit einer perforierten Stahlhaut, die sich als enormer transparenter Quader am Rande der Altstadt erheben soll. Auf die Verwirklichung dieses den Purismus ins Irreale steigernden Schattenhauses, einer urbanen Fata Morgana, kann man gespannt sein.


Attraktives Leuchten

Weder das IVAM noch die Calatrava-Triade gehören indessen zu den Schauplätzen der zweiten Bienal de Valencia, die sich - wie schon die erste Ausgabe - dem Crossover der Kunstgattungen verschrieben hat, diesmal unter dem Titel «La Ciudad Ideal». Die Idealstadt? Jede Architektur ist ja zunächst Idee - und endet als Abrissobjekt, um der nächsten Platz zu machen. Auf äusserst plastische Weise zeigen das unweit des IVAM die unzähligen Baulücken im Barrio del Carmen. Diese Grundstücke, gewöhnlich begrenzt von Brandmauern, welche die Spuren des einstigen Lebens tragen, werden für die Biennale von annähernd vierzig Künstlern bespielt. Nun können einige das Mauerwerk zierende Fotos von Wim Wenders gewiss nicht als Auseinandersetzung mit der Dramatik des Ruinenumfelds gelten; auch nicht das «Gum City» betitelte Kondomkränzchen von Gilbert & George, selbst wenn es sich bei näherer Betrachtung als eine Art Kraterstadtplan herausstellt und nachts attraktiv leuchtet. Die meisten der vom ungarischen Kurator Lóránd Hegyi eingeladenen Künstler aber haben die Herausforderung angenommen. Ilya Kabakovs «Woman-Fountain» kann zwar nicht als ortsspezifisch bezeichnet werden, scheint aber auf bestrickende Weise nichts weniger als eine neue Werkphase zu eröffnen, und Ilona Némeths Kapselhotel ist - allerdings nur für die Siesta - benützbar. Dass sich nachts keiner hier einkapselt, darüber wacht ironischerweise, wiewohl mit einigem visuellem Getöse, gleich daneben Eugenio Canos «Vigilancia iluminada» im Kreis von zehn sich einander zuneigenden Peitschenlampen.

Da die Künstler in der Wahl ihres Grundstücks frei waren, gebührt den unaufdringlicheren Interventionen von Sooja Kim und Richard Nonas besondere Erwähnung. Nonas umspielt die phantasmagorischen Überreste eines hinter einer Einfriedung verborgenen Torbogens mit einem regelmässigen Balkenraster: zu Boden gestürzte Reminiszenz der einstigen Deckenkonstruktion. Der koreanischen Künstlerin genügt es, das einsam aufragende Gemäuer eines schmalen, seiner Nachbarn beraubten Wohnhauses - nacktes Sinnbild des Widerstands gegen die Bodenspekulation - nachts in wechselnden Farben anzustrahlen, um ein höchst poetisches Memorial zu schaffen. Überhaupt entfalten viele Interventionen - etwa Kabakovs Laserpointillismus auf Stahldraht und Polly Apfelbaums nach eigenem Bekunden «ziemlich hässlich, aber optimistisch» leuchtender Blumenteppich - ihre beste Wirkung erst nach Einbruch der Dunkelheit. Anders Clay Ketter, der seine Brandmauern so behutsam angekratzt und (mit Reflexen der gegenüberliegenden Fassade) neu bemalt hat, dass die Intervention bei Tag kaum als solche erkennbar ist. Genau diese Ambiguität im Umgang mit der an sich zweischneidigen Schönheit der Ruinen hätte man sich öfter gewünscht.

«Solares (o del optimismo)» nennt Lóránd Hegyi sein Projekt: Im spanischen Wort für Grundstücke scheint auch die Sonne, scheint das in die Stadtbrachen einbrechende Licht schon enthalten. Unter den acht die «Ciudad Ideal» konfigurierenden Ausstellungen löst sie am überzeugendsten den Anspruch der Biennale-Macher ein, keinen im Galeriencircuit zweitverwertbaren Aufwasch gerade angesagter Strömungen zu bieten, sondern Kunst mit der Stadt selbst zu verflechten. «Transversal» ist eines der Lieblingswörter des Leiters dieses Events, Luigi Settembrini, der selber aus der Werbe- und Modeszene kommt. Der nicht eben textlastige Katalog zeigt freilich auch, dass Theorie nicht Sache dieser Biennale ist. Dafür hat das Thema «La Ciudad Ideal» einige spanische Zeitschriften bewogen, sich seiner anzunehmen, und die betreffenden Nummern wurden wiederum Teil der Biennale, indem sie buchstäblich in die «Arquitecturas efímeras» integriert wurden: sechs am Flughafen, an Bahnhöfen und Metrostationen errichtete Kioske junger valencianischer Architekten.

Hätte es aber, grantelte ein Kolumnist in der Zeitung «Las Provincias», das Motto der Idealstadt nicht nahegelegt, auch einige der so mächtigen lokalen Bauunternehmer einzuladen? Zumindest als Sponsoren? Man hat's versucht, vergeblich. Ernstlich gefordert werden sie sein, falls das Projekt «Sociópolis» - und die valencianische Regierung scheint dazu entschlossen - verwirklicht wird: ein «solidarisches Wohnviertel», zu dem ein Dutzend renommierte in- und ausländische Avantgardisten (darunter MVRDV, Toyo Ito, FOA und Vicente Guallart, von dem die Initiative stammt) Entwürfe beigesteuert haben, die nun im Kloster San Miguel de los Reyes ausgestellt sind.


Trivial oder vorhersehbar

Will Alsop und Bruce McLean, die englischen Künstler-Architekten, haben ihrerseits im Convento del Carmen einen Pavillon geschaffen, den sie «Department of Proper Behaviour» nennen: eine eher kühl lassende Shopping-Travestie. Pathetischer gebärdet sich der Filmregisseur Mike Figgis, der ein halb zerfallenes (und gleichfalls schön kühles) Stadtpalais mit den multimedialen Versatzstücken dessen gefüllt hat, was er einen dekonstruierten Film nennt. Als junger Mensch hatte er vermutlich mal die Arbeiten von Edward Kienholz gesehen. Figgis, der es wissen muss: «Die Kunstwelt ist noch korrupter als Hollywood, das seine Geldgier wenigstens nicht noch zu verhehlen trachtet.»

Mit derlei Inszenierungen wird sich Valencia, mag es sich die Biennale auch fünf Millionen Euro kosten lassen, nun schwerlich in die erste Liga der Kunstmetropolen katapultieren. Zu trivial oder zu vorhersehbar wie die eigentliche Hauptausstellung in den Werfthallen. «Micro- Utopías» betitelt, wartet sie mit dem zum Thema «Kunst und Architektur» zu erwartenden Mix auf, von den «Klassikern» Gordon Matta-Clark, Acconci, Buren, Kawamata und Dan Graham bis zu einigen jüngern Künstlern und Architekten, darunter die Schweizer Fabrice Gygi und Décosterd & Rahm. Nach dem Publikumserfolg schielt die Ausstellung Sebastião Salgados, der die Valencianos porträtiert hat, und Irene Papas liefert als Programmgestalterin die szenischen Beigaben. Die valencianische Kulturbeauftragte Consuelo Ciscar fasst es treuherzig so zusammen: «Niedriges Risiko, hohe Ausbeute.» In einer Plakataktion der Anti-Bienal-Bewegung, die natürlich auch nicht fehlt, wird die Politikerin des nicht eben immigrantenfreundlich gesinnten Partido Popular mit folgendem Satz zitiert: «Eine Menge Leute suchen um eine Aufenthaltsgenehmigung in Valencia nach, um all die Kunst zu geniessen.»


[Bienal de Valencia. Bis 30. September. Katalog Euro 40.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.07.02

07. Juni 2003Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Design und Trivialkultur

Barcelona feiert die angewandten Künste

Barcelona feiert die angewandten Künste

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28. Mai 2003Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Kastilischer Kasten mit Schweizer Kiste

Ein Pavillon von «2b architectes» in Madrid

Ein Pavillon von «2b architectes» in Madrid

Zu behaupten, der Schweizer Pavillon im Kulturzentrum Conde Duque und die dort zu sehende Ausstellung über junge Schweizer Architektur machten in Madrid Furore, wäre vermessen. Auch wenn sich die Besucher eher spärlich einfinden, kann sich der temporäre Bau der Lausanner Architekten Stéphanie Bender und Philippe Béboux («2b architectes») als ephemere Demonstration junger Schweizer Baukunst sehen lassen. Hervorgegangen aus einem von Pro Helvetia unterstützten Wettbewerb des spanischen Ministeriums für öffentliche Bauten, wurde er im Februar 2003 eröffnet: anlässlich der Madrider Kunstmesse ARCO, an der die Schweiz als Gastland auftrat. Die «caja suiza», wie sie gemeinhin genannt wird, bleibt noch bis November stehen.

Ort des architektonischen Geschehens ist einer der drei Innenhöfe des Conde Duque, einer 1717 bis 1730 erbauten Kaserne, die 1969 von Julio Cano Lasso für kulturelle Zwecke umgebaut wurde. Der kolossale, bis auf das barocke Portal rigoros ornamentfreie Kasten bildet den adäquaten Hintergrund für eine «Schweizer Kiste», die ihre Herkunft nachgerade hinausschreit in den Madrider Himmel. Die beiden Lausanner entwarfen nämlich einen kreuzförmigen Bau aus opalisierendem Acrylglas: ebenerdig der eine Balken, der an seinen beiden Enden je einen grabenartigen und mit einigen Liegestühlen bestückten Patio frei lässt. Darüber der zweite Balken: das Ausstellungsgeschoss mit seinem hohen umlaufenden Korridor, beidseitig zugleich als Vordach spektakulär auskragend. Das Ganze wird auf halber Höhe umrahmt von roten Stoffbahnen, die dem Hof Schatten spenden und das weisse Kreuz erst zu einem Schweizerkreuz machen. Soll dieser Baldachin auch als Reminiszenz an spanische Dorffestdekorationen verstanden werden, so bleibt dies neben der Zelebrierung helvetisch- heraldischer Perfektion doch Nebensache: «La Suisse existe» - als begehbarer Wimpel!

Mit ihrem Entwurf hatten sich «2b architectes» im Wettbewerb gegen vier ebenso junge Konkurrenten durchgesetzt: Baumann & Roserens, Buzzi & Buzzi, Conradin Clavuot und Sabarchitekten. Alle fünf Teams werden nun mit ihren Wettbewerbs- und weiteren Projekten im Ausstellungsgeschoss vorgestellt: auf nichts als einigen horizontal über den Boden verteilten Bildschirmen, welche die Kenntnisnahme ihres Werkes allerdings sehr mühsam machen. Das ist schade und - im Gegensatz zum Pavillon selbst - eine verpasste Chance, dem spanischen Publikum eine noch unverbrauchte Generation von Schweizer Architekten näherzubringen. Dies holt aber immerhin ein attraktiv gestalteter Katalog nach, der die fünf Büros und deren Bauten dokumentiert. Mit Blick auf die Madrider Ausstellung stellt zurzeit auch das Architekturmuseum Basel dieselben fünf Büros in einer anderen, wesentlich aufschlussreicheren Präsentation vor.


[Die Ausstellung in Madrid dauert bis zum 8. Juni, die Basler Ausstellung bis zum 31. August. Katalog: Concurso de arquitectura contemporánea suiza. Hrsg. Centro Cultural Conde Duque, Madrid 2003. 207 S., Fr. 10.- (ISBN 84-96102-00-9).]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2003.05.28



verknüpfte Bauwerke
Temporärer Ausstellungspavillon «Arco»

04. November 2002Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Madrilenische Fieberkurve

Die Gran Vía in Madrid, um 1900 geplant und nach dem Spanischen Bürgerkrieg vollendet, bildet eine der betörendsten urbanen Szenerien Europas. Von jeher Kinostrasse par excellence, ist sie architektonisch der Tummelplatz des spanischen Eklektizismus - eine spektakuläre Kulisse der Geschichte, des Lebens, der Vergnügungen.

Die Gran Vía in Madrid, um 1900 geplant und nach dem Spanischen Bürgerkrieg vollendet, bildet eine der betörendsten urbanen Szenerien Europas. Von jeher Kinostrasse par excellence, ist sie architektonisch der Tummelplatz des spanischen Eklektizismus - eine spektakuläre Kulisse der Geschichte, des Lebens, der Vergnügungen.

Die Madrider sind stolz darauf, dass ihre Stadt sie umbringt. «Madrid me mata», bemerken sie gern anerkennend. Es ist ja auch wahr, dass Madrid als Moloch in Europa seinesgleichen sucht. «Dabei war das», erinnert sich der Künstler Eugenio Cano, «noch vor einigen Jahren eine liebenswürdige Stadt.» Er sagt es, als wäre gestern erst jener Hang zur Megalomanie erwacht, der sich heute in Form unzähliger Tunnels durch die Stadt gräbt und an ihren Rändern in neuen Megastrukturen aufschiesst. Wahr ist, dass sich das Madrider Selbstbewusstsein schon früher gern imposante Kulissen baute. Die urbanste von allen ist bis heute die Gran Vía.


Hauptschlagader mit Medienfassaden

Vor fünfundzwanzig Jahren waren die Kinoplakate an der Gran Vía, die teilweise ganze Fassaden überdeckten, noch handgemalt. Dass die Gesichtszüge der Stars - Jane Fonda, Clint Eastwood - durchweg leicht hispanisiert erschienen, mutete wunderlich an, ein wenig provinziell. Zugleich aber waren diese über zehn Meter hohen Malereien eine metropolitane Geste sondergleichen. Verglichen mit dem Métier eines Madrider Kinodekorateurs, der wöchentlich solche Riesentableaus fertigte, nahm sich die Kunst der damals aktuellen «jungen Wilden» geradezu betulich aus. Schnellmaler, Spitzenkönner der angewandten Kunst, hatten sie das ganze Stadtvolk zum Publikum, und ihr Handwerk war Ausdruck eines urbanen Fiebers - eines Gemischs aus Tempo, Tamtam und Bombast, das wirklich weitherum unübertroffen ist: der Puls einer Grossstadt, gemessen an ihrer Hauptschlagader.

Die handgemalten Affichen sind heute verschwunden. Laut der städtischen Bauordnung hätten sie schon 1978 nicht ganze Fassaden überdecken dürfen, denn Madrid hatte in Sachen Gebäudeschutz früh, noch in franquistischen Zeiten, scharfe Bestimmungen erlassen. Gegen Investoren, die auf Auskernungen drängen, hat die Stadt zwar einen schweren Stand. Äusserlich aber ist die Gran Vía in der Originalgestalt auf uns gekommen - mit der einzigen Ausnahme eines postmodernen Misstons, einer aufgestülpten Curtain- wall nahe der Telefónica, und abgesehen von drei Neubauten aus den sechziger Jahren. Erstaunlicherweise erstreckte sich der Schutz teilweise auch auf das Innere der Gebäude, namentlich auf einige Kinos. Der Architekt Antón Capitel zitiert auswendig - sind nicht die Namen ein Gedicht? -, welche Prachtsäle, ein jeder mit über tausend Plätzen, bis heute nicht angetastet wurden: «Das Capitol, das Coliseum, das Rialto und der Palacio de la Música. Auch das Lope de Vega, das jetzt freilich mit Musicals bespielt wird. Verschandelt wurde das Imperial; in mehrere Säle unterteilt: das Azul, das Avenida, der Palacio de la Prensa, das Callao, das Gran Vía. Ganz verschwunden sind nur das Pompeya und das Actualidades.»

Es waren Madrids teure Premierenkinos, und auch heute wird gelegentlich ein roter Teppich ausgerollt für Tom Cruise und Konsorten. Bloss dass kein Kinomaler mehr ihre Gesichtszüge hispanisiert. Die Grossplakate waren übrigens bei manchen dieser Paläste, so beim vorzüglichen Callao (1926), schon im Fassadenplan vorgesehen. Das Capitol (1931) mit seinem neonumflackerten Turm von Mendelsohn'schem Schwung und seinem breiten Maul, in dem sich über den Kartenschaltern die letzten handgemalten Plakate bis heute halten, kann als eine der ersten reinen Medienfassaden überhaupt gelten.


Geknickte Szenographie

Die Strasse, die wir eine geglückte nennen, will indes nicht nur als Reklamewand wahrgenommen werden. Schneise im Stadtkörper, nimmt sie uns in diesen auf, gleichviel ob als Fussgänger oder als Insasse eines Fahrzeugs. Der Verkehr röhrt, ohne den Schlendrian zu beeinträchtigen: Aufputschmittel eher denn Zumutung. Metromäuler, Ampelzirkus, sechsspuriger Verkehr, aber auch beidseits je sieben Meter Trottoir, nachts jetzt freilich allzu grell beleuchtet - der übliche Sicherheitswahn. Jedenfalls ist solche Verflechtung aller urbanen Fortbewegungsarten nachgerade eine Rarität geworden. Anderswo hat man es, wo nicht mit einer Autobahn, gewöhnlich mit einer adrett hergerichteten Fussgängerzone zu tun. Die Gran Vía hingegen kennt nur, wer sie gehender- wie fahrenderweise erlebt hat, in die eine wie in die andere Richtung. Gerade Letzteres ist heute, da Einbahnstrassen in Grossstädten die Regel sind, ein Zeichen klassischer Distinguiertheit.

Diese Gegenläufigkeit bildet sich auf fabelhafte Weise auch im Trassee ab. Nahezu symmetrisch, beschreibt es ein lang gestrecktes S - von keinem Blickpunkt aus ist der Prospekt als Ganzes zu erfassen. Die Dramatik wird durch das Profil erhöht, das zunächst ansteigt, um nach der ersten Biegung in eine Horizontale überzugehen und nach der zweiten wieder abzusinken. Man könnte von einer Sonatenstruktur sprechen: Allegro - Andante - Allegro vivace, die den der Beschleunigung des fahrenden Autos ausgesetzten Passagier unfehlbar in eine Art Trance versetzt. Denn zugleich hat man alle architektonischen Register gezogen, um die sinnbetörende Wirkung der Topographie noch zu erhöhen. Jedes der drei Teilstücke hat, zumal bauhistorisch um je ungefähr ein Jahrzehnt verschoben, seine eigene Monumentalität. Es sind jedoch die Übergänge, markiert durch zwei in jeder Hinsicht herausragende Gebäude - die Telefónica und das Capitol -, die den Sog dieser urbanistischen Komposition unwiderstehlich machen.

Die Gran Vía durchschneidet die Altstadt in ost-westlicher Richtung: eine Schneise durch ein Dickicht von Gassen, die teilweise noch der islamischen Stadtanlage folgen. Um 1860, zeitgleich mit dem Stadterweiterungsprojekt von Castro, lagen die ersten Pläne für ein solches percement vor. Eine Gesetzesänderung sah seit 1879 die Möglichkeit von Enteignungen zugunsten grosser Neubauprojekte vor. Aber erst um die Jahrhundertwende, als sich die angrenzenden Stadtteile Salamanca und Argüelles zu den bevorzugten Wohnlagen der Begüterten entwickelt hatten, wurde eine direkte Verbindung durch die Altstadt vordringlich. Und erst im Jahre 1910 wurde das lange zuvor bewilligte Projekt der Architekten Sallaberry und Octavio in Angriff genommen, finanziert von einem französischen Magnaten. 1917 war der erste Abschnitt vollendet. An der Stelle des unterweltlichen Gassengewirrs war ein neobarockes Ensemble von verblüffender Einheitlichkeit entstanden.

Ausgangspunkt, sofern man bei ihrer unmenschlichen Weite von einem Punkt sprechen kann, ist die Plaza de Cibeles. Hier hinterliess 1904 der damals erst dreissigjährige Architekt Antonio Palacios die erste jener architektonischen Ungeheuerlichkeiten, mit denen er bald darauf den ganzen Stadtteil prägte: den Palacio de Telecomunicaciones, nach einem Wort von Trotzki auch «Unsere liebe Frau von der Post» genannt. Ungeheuerlichkeit im Sinn eines Exzesses, was die architektonischen wie die dekorativen Mittel betrifft. Dieser Baukünstler hatte die Fähigkeit, in einem einzigen Gebäude einen kleinen New Yorker Art-déco-Wolkenkratzer in eine barocke Voute zu fassen, gekrönt von einem griechischen Tempel - ohne dass die Harmonie des Ganzen darunter litt. Die Rede ist hier vom Banco Mercantil, einem Spätwerk an der Calle Alcalá, an der die meisten seiner Hauptwerke stehen: so der Banco Español del Río de la Plata und der Círculo de Bellas Artes. Zwei überaus stattliche Gebäude, die Casa Matasanz und das Hotel Avenida, errichtete Palacios auch an der Gran Vía, die kurz nach der Plaza de Cibeles von der Calle Alcalá abzweigt. Nicht von ihm stammen jedoch die beiden Bauten, der eine kuppel-, der andere tempelgekrönt, an denen sich die beiden Prachtstrassen gabeln.

So entstand nach 1910 diese Verzweigung zweier grosser Achsen, die nach ähnlichen szenographischen Gesichtspunkten geplant, aber verschieden genutzt wurden. Die Calle Alcalá, seit dem 18. Jahrhundert die Hauptarterie der Stadt, wurde durch die aufstrebende Hochfinanz noch einmal vollkommen transformiert: das bisher Gewachsene niedergerissen und durch Prunkbauten für Banken und andere Institutionen ersetzt. Derselbe imperiale Gestus nahm an der Gran Vía alsbald einen kommerziellen, populären, fast übermütigen Charakter an: Tanzsäle in den Untergeschossen, auf Strassenebene Kinos, Geschäfte, Bars, darüber einst Wohnungen, heute aber meist Hotels und Büros. Beide Strassen haben einen potemkinschen Einschlag, denn hinter den auftrumpfenden Fassaden schliesst unmittelbar die kleinteilige Gassenwelt an.

Die Abruptheit dieses Übergangs ist einer der faszinierendsten Aspekte der Gran Vía. Es gibt im Zentrum Madrids keine ärmlicheren Zonen als gerade die Rückseiten dieser Buildings, wo kaum szenographische Rücksichten genommen wurden, jedoch der Massstabwechsel zu den um mehrere Geschosse niedrigeren Gassenstrukturen irgendwie bewältigt werden musste. Natürlich dringen die Lebewelten aus diesen schattigen Back Alleys auch auf die Trottoirs der Prachtstrasse vor. Von Flanieren kann an der Gran Vía nicht die Rede sein; eher von Passieren, sofern dies das zum Passanten passende Verb ist. Es passieren Leute, und es passieren Dinge. Es zieht die Dame am Fussgängerstreifen die Lippen nach. Es krächzen die Funkgeräte der Stadtpolizisten. Es werden einem Kärtchen zugesteckt von wildfremden Herren. Man muss sich vorsehen, nicht über CDs, die auf Tüchern ausgebreitet sind, oder - je nach Saison, Tageszeit und Wetter - über Sonnenbrillen, Foulards und Regenschirme zu stolpern: den improvisierten Basar der Immigranten. Vielleicht verdient es auch als Seltsamkeit erwähnt zu werden, dass Leute für ein Sandwich bei «Pans & Co.» Schlange stehen. Da ist es ein Glück, dass gegen Mitternacht unfehlbar eine Gruppe von Chinesinnen mit dampfenden Nudeltöpfen auftaucht zur Verköstigung des passierenden Volkes.


Hybride Lebewelt

Es gab eine Zeit, da nicht nur die Premierenkinos, sondern die luxuriösesten Geschäfte Madrids an der Gran Vía domiziliert waren; später hüteten sie sich davor und zogen ins Salamanca- Viertel. So wie die fünfziger und sechziger Jahre als Glanzzeit, gelten die siebziger Jahre als Epoche des Niedergangs. Heute spricht man von Revitalisierung und meint damit eigentlich ein properes Image; keine schlagartige Disneyifizierung wie an New Yorks 42nd Street, doch steckt dahinter derselbe Wille zur Familientauglichkeit. McDonald's hatte sich schon 1978 in den exquisiten Räumlichkeiten eines einstigen Ledergeschäfts eingerichtet, nicht ohne sich an gewisse bauliche Auflagen halten zu müssen: Die fein ziselierte Spiegelmarkise blieb erhalten. Inzwischen hat vor allem die Hotelnutzung zugenommen. Für Kaufhäuser wie El Corte Inglés und die Fnac, beide an der Plaza del Callao, wo sich die Energie mit jener der nahen Puerta del Sol bündelt, empfiehlt sich die Adresse schon wegen des enormen Passantenaufkommens. Aber auch die spanische Luxusmarke Loewe hat jetzt wieder einen Outlet hier, und eine wiewohl pitoyable Mitsukoshi-Filiale hält Fächer und Toledo-Messer für argwöhnische Japaner feil. Den Standard für die kommerzielle Gegenwart setzt eher der Megaladen des Fussballklubs Atlético Madrid. Daneben Reiseagenturen, Eisdielen, Sexshops, Apotheken, Mobiltelephonie, Immobilien, Spielsalons. Irgendwo liest man «Tanzsalon Golden», vielleicht der letzte «baile» alter Schule, der sich hier hält. Im Edificio Los Sótanos, einem franquistischen Brocken bar aller Anmut, aber wie das Capitol oder der Palacio de la Prensa nach New Yorker Vorbild voll gestopft mit Kinos, Cafeterias und Apartments, lockt der «Cool Ballroom» eine wesentlich jüngere Szene an. Auch die Bar Chicote, ein Art-déco-Kleinod des Architekten Gutiérrez Soto und Wahrzeichen des ältesten Teilstücks der Gran Vía, wurde jüngst à jour, sprich um ihre Barmen im weissen Sakko gebracht. Stattdessen gibt es jetzt DJ-Gelärme und bunte Lichtchen in dem sonst respektierten Interieur, in welchem sich einst die Intelligenzia der zweiten Republik vergnügte. In unmittelbarer Umgebung liegen einige weitere Klassiker des Madrider Nachtlebens: das «Sol», das «Cock» . . . Tritt man aber zufällig durch das Portal vis-à-vis, so steht man unvermittelt vor zwei mittelalterlichen Rüstungen, die den Eingang zu einem Salon flankieren, zu dem man schwerlich Zutritt erlangen wird: Es ist das Militärkasino.


Main Street España

Manche Madrilenen haben für die Gran Vía nicht viel übrig. Sie möge, sagt eine junge Frau, eigentlich nur den Blick nach oben: zu all den Kuppeln und Fialen und Figuren - vor allem zu diesen Dachfiguren, absurde Garnitur hoch über allen irdischen Angelegenheiten, vor dem klirrenden kastilischen Himmel. In architektonischer Hinsicht ist die Gran Vía der Ort, an dem sich der spanische Eklektizismus ungehemmt auslebte. Mit dem 20. Jahrhundert nahm der späte Historizismus, bis dahin der Klassik zugetan, eine neubarocke Wende: vor allem in Madrid, wo der Barock auf etwas gezwungene Art als der der Kapitale eigene Stil deklariert wurde. Man versteifte sich geradezu auf diese Idee, Madrid sei eine Barockstadt, was den pompösen Auftakt der Gran Vía erklärt. 1928 setzte das 81 Meter hohe Stahlskelett der Telefónica, damals wohl der höchste Bau Europas, neue Massstäbe und liess eine klare Amerikanisierung erkennen. Und schon 1933 waren die beiden heute meistgeschätzten Bauten des ganzen Strassenzugs vollendet: das Capitol und das Coliseum.

Nach dem Krieg wurde der westliche Abschluss bis zur Plaza de España vorangetrieben, an der zwischen 1947 und 1954 zwei zu Ikonen des Franco-Regimes bestimmte Prestigebauten entstanden: das Edificio España, ein abgestufter Koloss von nachgerade moskowitischen Dimensionen (32 Aufzüge!), eher plump und bautechnisch mit seiner Stahlbetonstruktur und den Kalkstein- und Klinkerfassaden hinter der Telefónica zurückbleibend; sodann die Torre de Madrid, auch kein besonders guter Bau, der aber immerhin einen neuen nationalen Höhenrekord setzte und eine ansehnliche schlanke Silhouette präsentiert. Insgesamt ein imposantes Pendant zur Plaza de Cibeles, ein halbes Jahrhundert und einen Bürgerkrieg später.

Immer schon wollte die Gran Vía zugleich madrilenisch und amerikanisch sein, in der Tradition verwurzelt und doch modern, und bei aller Disparatheit ist dieser Mix gelungen. Einzelne Bauwerke mögen eher an Pittsburg als an Manhattan denken lassen. Dafür ist die Gran Vía auch mehr als der Broadway von Madrid: Sie ist die Main Street des ganzen Königreichs. Noch kein Jahrhundert alt, aber von Geschichte voll gesogen. Die Caballeros der fünfziger Jahre, die auf Epochenfotos vor der Cafeteria Nebraska ihre Zigarren rauchen, können nicht das Bleierne des Franquismus verbergen, machen aber zugleich die Überwindung der Nachkriegsmisere anschaulich. Die gebaute Pracht war schon da, bloss fehlte noch das Geld, um sie mit Glamour zu erfüllen. Aber war der Kommerz, der mit dem Corte Inglés Einzug hielt, dann verführerischer?

Die Gran Vía ist auch einer der Lieblingsschauplätze des spanischen Films - unlängst etwa als menschenleere Kulisse in Amenábars «Abre los ojos», von Tom Cruise im Remake «Vanilla Sky» mit wenig Erfolg am Times Square nachgestellt. Und der Maler Antonio López hat es mit seinen fotorealistischen Ansichten fast zum Nationalkünstler gebracht. Aus dem Bildervorrat des spanischen 20. Jahrhunderts ist diese Strasse nicht wegzudenken. Ihr Paradox besteht darin, dass sie in dem Moment, da sie vollendet wurde, bereits nicht mehr die Hauptarterie Madrids war. Diese Rolle fiel nun dem Paseo de la Castellana zu, der acht Kilometer langen Nord-Süd-Achse, die um 1930 Gestalt anzunehmen begann. Wenig später wurde das monumentalste Projekt des Architekten Antonio Palacios, die Verlängerung der Gran Vía als über den Río Manzanares sich hinausschwingende Gran Vía Aérea, ad acta gelegt.

Neue Zürcher Zeitung, Mo., 2002.11.04

18. Juli 2002Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Kein einsames Genie

Gaudí und seine Zeit - eine Ausstellung in Barcelona

Gaudí und seine Zeit - eine Ausstellung in Barcelona

Antoni Gaudí bleibt auch im Jahr seines 150. Geburtstags eine kontroverse Figur. Dabei steht kaum mehr seine Bedeutung an sich zur Debatte, wohl aber, worin diese genau bestehe. Ist er jener «Baumeister der Jahrhundertwende», als den ihn Le Corbusier pries - mithin ein Vorläufer der Moderne? Oder eher das göttlich inspirierte Genie, herausgelöst aus jeglichem geschichtlichen Kontext - eine fast mythische Gestalt? Weder noch, meint Juan José Lahuerta, Kurator der Ausstellung «Univers Gaudí» im Centre de Cultura Contemporània in Barcelona, die ursprünglich einfach «Gaudí Entorns» heissen sollte: «Gaudís Umfeld».

Im Erbauer der Sagrada Familia allein den Konstrukteur zu sehen, der geometrische Regelflächen in nie gesehene Strukturen verwandelte, ist offensichtlich eine unstatthafte Engführung. Ohne den ornamentalen Exzess, der nicht zuletzt ein Spiegel seiner Gesinnung ist, lässt sich dieser Architekt nicht begreifen. Vernachlässigt wurden aber bisher von beiden Seiten, den Rationalisten und den Mystifizierern, die Einflüsse, die ihn prägten, sowie die Parallelen zur Arbeitsweise einiger Zeitgenossen. Eben diese Lücke schliesst nun eine Ausstellung in Barcelona, deren dritter Teil auch einige Aspekte der Wirkungsgeschichte behandelt.


Ruskin und Wagner

Die Präsentation der 420 Exponate in einer weichen, aus zu Nischen gespannten Stoffbahnen bestehenden Ausstellungsarchitektur ist bewusst der Üppigkeit einer Maison d'artiste des Fin de Siècle nachempfunden. Schon der erste Saal widerlegt eine Legende: die vom angeblichen Desinteresse des jungen Gaudí, eines der ersten Absolventen der barcelonesischen Architekturschule, an seinem Studium. Die frühen Entwürfe sind nicht nur ambitioniert, sondern sie führen im Fall des Projekts für einen Monumentalbrunnen, 1877, auch bereits klar über die Beaux-Arts-Tradition hinaus - ganz im Sinn jener katalanischen Bourgeoisie, die es für ihre Selbstinszenierung nach einer genuin katalanischen Expressivität verlangte. Die geniale Einzelfigur, als die Gaudí gern gesehen wird, verlieh dem Traumreich der barcelonesischen Industriebarone, allen voran sein Hauptauftraggeber Eusebi Güell, märchenhafte Gestalt. Zwar scheint sich der formale Exzess schwerlich mit unserer Vorstellung eines kommerziellen Architekten vereinbaren zu lassen, der allenfalls durch chronische Budgetüberschreitungen abschreckte. Doch wenn 125 Jahre später ein Kulturreferent der katalanischen Generalitat als einen der Hauptzwecke dieses Gaudí-Jahrs jenen nennt, ihn als «Markenzeichen der katalanischen Identität» bekannt zu machen, so bringt er damit bloss die Urabsicht auf den Begriff.

Die Ausstellung, unter Dutzenden in diesem Gaudí-Jahr wohl die interessanteste, geht indessen andere Wege. Sie versucht zunächst die laut Lahuerta «beinahe osmotische Beziehung Gaudís zu Ruskin» aufzuzeigen, die geistigen Parallelen zu William Morris und den Präraffaeliten. Dann folgt sie jener andern Spur, die den Architekten, der weder Paris noch Rom gesehen hat, immerhin einmal bis nach Carcassonne führte. Seine einzige Reise zu einem «modernen» Bauwerk galt den Eingriffen von Viollet-le-Duc an der dortigen Kathedrale. Dessen Einfluss zumindest auf das Frühwerk ist denn auch unverkennbar - und Viollet-le-Ducs ätherisch präzise Zeichnungen gehören zu den Höhepunkten der Ausstellung.

Eine weitere, wie eigenwillig auch immer interpretierte Inspirationsquelle war der Symbolismus. Wie kein Zweiter bot Wagner das ästhetische und ideologische Modell, an dem sich die mythischer Legitimation so bedürftige katalanische Bourgeoise ergötzte und orientierte. Nicht umsonst gelten die frühen Wagner-Aufführungen im Liceu in Barcelona bis heute als historische Ereignisse, und zweifellos wurde auch Gaudí damals vom «wagnerianismo» erfasst. Lässt sich die gestirnte Kuppel des Güell-Palasts nicht genauso als Gral deuten wie dessen parabolische Bögen als architektonisches Leitmotiv? Ins Gigantische gesteigert aber wird der Gesamtkunstwerks-Charakter dieser Architektur bei der Sagrada Familia. In das unvollendete Hauptwerk eingeflossen ist auch das Höhlen- und Tropfsteinmotiv, von dessen Beliebtheit bei Gaudís Zeitgenossen ein weiterer Saal Zeugnis gibt. Nicht nur nach, sondern mit und aus der Natur zu schaffen, war in Neuschwanstein eine Kaprize, im Park Güell hatte es Methode.

Nein, Gaudí war nicht allein, er war purer Zeitgeist, zum steinernen Wahn gesteigert. Von Haeckels «Kunstformen der Natur» über die Falten eines Fortuny bis zu zeitgenössischen Lehrbüchern über orientalische Ornamentierung, die der Student selbst in der Hand gehalten haben mag - «Univers Gaudí» weist die Einflüsse nach, taucht den Betrachter in ein geistiges Magma und schlüsselt es zugleich auf. Vermisst wird allenfalls die den Sagrada-Familia-Türmen morphologisch verwandte afrikanische Lehmarchitektur. Und nur im Katalog wird angesprochen, was Gaudí vorsätzlich ignorierte: den Impressionismus und, schwerwiegender für einen Baukünstler, die Schule von Chicago. So brillant seine konstruktiven Lösungen waren, strukturell und in der Materialwahl war er nicht auf der Höhe seiner Zeit. Umso wundersamer, dass dieser Mischmasch aus Gotik und Barock, aus Beaux-Arts und Byzanz, aus Hellenismus und Lokalismus nicht nur in jedem einzelnen Bau seine Stringenz bewahrte, sondern den Kubismus, den Surrealismus und den architektonischen Biomorphismus vorwegnahm.


Die mythische Bauhütte

Den Hintergrund zu diesen hochbürgerlichen Delirien gibt das verelendete Proletariat ab. Das gewaltgeschwängerte soziale Umfeld ging auch an Gaudís Werk nicht spurlos vorüber - berühmt ist die Darstellung eines Mannes, der von einem Teufel mit einer von den Anarchisten für ihre Anschläge verwendeten Orsini-Bombe in Versuchung geführt wird, in der Rosenkranz-Kapelle der Sagrada Familia. In Lahuertas Schau weist «Die Kathedrale der Armen», ein Gemälde von Joaquim Mir, am eindrücklichsten auf diesen Kontext hin und leitet zugleich zum zweiten Ausstellungsteil über, betitelt «Die Bauhütte». Gaudís «obrador», im Spanischen Bürgerkrieg zerstört, hatte wenig mit einem konventionellen Architekturstudio gemein. Eher glich er einem Bildhaueratelier, auch in diesem Fall ins Gigantische gesteigert. Die Arbeitstechniken waren indessen dieselben, deren sich viele Bildhauer um die Jahrhundertwende bedienten: Photographien und Abgüsse des menschlichen Körpers. Juan José Lahuerta hat eine Fülle faszinierender Dokumente verschiedenster Provenienz zusammengetragen, von Geoffroy-Dechaumes fast wieder Fleisch gewordenen Gipsleibern über Jean-Louis Igouts und Josep María Serts photographische Körperstudien bis zu den Aufnahmen von Ricard Opisso, auf denen die aus dem Barrio stammenden Modelle für die Skulpturen der Geburtsfassade zu sehen sind. Mit jedem dieser Objekte, so lose der Zusammenhang erscheint, wird Gaudís demiurgisches Universum greifbarer. Auch und gerade Rodin, der mit der «Porte de l'Enfer» fast ebenso lange gerungen hat wie der Katalane mit der Sagrada Familia, ist dann kein so ferner Zeitgenosse mehr.


[Bis zum 8. September im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), anschliessend vom 15. Oktober an im Centro de Arte Reina Sofía in Madrid. Katalog, 238 S., Euro 25.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2002.07.18

10. Juli 2002Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Prado-Posse, nächster Akt

Endlich hatten sie angefangen, die Bauarbeiten für die Erweiterung des Madrider Museo del Prado nach dem Entwurf von Rafael Moneo, da verfügte letzte Woche...

Endlich hatten sie angefangen, die Bauarbeiten für die Erweiterung des Madrider Museo del Prado nach dem Entwurf von Rafael Moneo, da verfügte letzte Woche...

Endlich hatten sie angefangen, die Bauarbeiten für die Erweiterung des Madrider Museo del Prado nach dem Entwurf von Rafael Moneo, da verfügte letzte Woche der Oberste Gerichtshof einen vorläufigen Baustopp. Grund: die Klage eines Nachbarschaftsvereins, der sich seit Jahren gegen die Integrierung des verlotterten Kreuzgangs der Kirche San Jerónimo in einen geplanten und im Volksmund als «Moneo-Würfel» bekannten Annexbau wehrt. Ironischerweise fiel der richterliche Entscheid erst, als die Ruine bereits Stein für Stein abgetragen worden war, um künftig als glasüberdachter Lesesaal wieder zu erstehen. Um aber die Sache noch vertrackter zu machen, bürdeten die Leuchten der Rechtsprechung dem klagenden Verein, bevor das Urteil rechtskräftig wird, eine Kaution in der Höhe von 1,25 Millionen Euro für die eventuellen finanziellen Konsequenzen des Baustopps auf. Prompt wurde denn auch ein Spendenkonto eingerichtet.

Die Justizschnurre passt in die Kette von Tollheiten, in die sich das ehrwürdige Museum seit Jahren verwickelt sieht, sowohl was seine bauliche als auch seine administrative Modernisierung betrifft. Sie schreibt sich aber auch ein in die nicht mehr zu übersehende Tendenz, neue Architektur zum Rechtsfall zu machen. Zwei weitere spanische Beispiele dafür: In Madrid vereitelte ein Richter die Realisierung des siegreichen Wettbewerbsprojekts für das Museum, das künftig die Königlichen Sammlungen beherbergen soll, und liess einen neuen Wettbewerb ausschreiben. Und in Sagunt wurde eine seit fast zehn Jahren schwelende Gerichtsfehde - wie im Fall des Prado - zugunsten der Ruinenromantik entschieden (NZZ 5. 7. 02). Der von Giorgio Grassi und Manuel Portaceli vorgenommene Eingriff am römischen Theater, so rigoros er römische Baukunst zeitgenössisch interpretierte, muss demnach rückgängig gemacht werden.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.07.10



verknüpfte Bauwerke
Museo del Prado - Erweiterung

02. April 2002Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Gaudí feiern

Veranstaltungen zum 150. Geburtstag des grossen Katalanen

Veranstaltungen zum 150. Geburtstag des grossen Katalanen

Schlange stehen im triefenden Regen - so hatte man sich seinen Osterausflug nach Barcelona gewiss nicht vorgestellt. Für das zeitweise garstige Wetter konnten die Touristen nichts, die Schlangen jedoch verursachten sie selbst. Die Verantwortlichen des Gaudí-Jahres - der Architekt lebte von 1852 bis 1926 - machen sich auf vier Millionen Besucher bis Dezember gefasst. Eine eigens eingerichtete Gaudí-Buslinie erschliesst die bekanntesten der etwa zwanzig in und um Barcelona verstreuten Bauten des Meisters. Gaudís fast magische Anziehungskraft auf kulturelle Normalverbraucher hat die Tourismusstrategen auf den Plan gerufen; die Zeitung «El País» sprach von «Gaudilatrie», nicht ohne nach Kräften daran mitzuwirken. Ein Stück von dem Geburtstagskuchen abschneiden möchte sich auch Gaudís Geburtsstadt Reus, wo am Geburtstag, dem 25. Juni, ein Gaudí-Spektakel der «Comediants» Premiere hat.

An die zwanzig kleinere und grössere Ausstellungen widmet Katalonien im Lauf des Jahres seinem populärsten Architekten, dessen Rang unbestritten, dessen Einordnung in die Geschichte der Moderne jedoch weiterhin Gegenstand von Debatten ist. So kritisierte Oriol Bohigas zum Auftakt des Jubeljahrs die Verklärung seiner konstruktiven Methoden namentlich durch jene Exegeten, die heute den Weiterbau der Sagrada Familia mit Computerhilfe betreiben. Für Bohigas liegt die eigentliche Bedeutung Gaudís in seinen Raumschöpfungen, «im dramatischen Ausdruck der Volumen» - gleich danach aber insistierte Norman Foster wieder auf dem «noch heute revolutionären» Konstrukteur Gaudí. Einig war man sich darüber, dass er zusammen mit seinen Zeitgenossen Eiffel, Sullivan und Wright den Bruch mit der Tradition vollzogen hat.

Gaudí, der einsame Mystiker und konservative Vorläufer der Moderne, bleibt eine widerspruchsvolle Figur. Aber während den einen seine Heiligsprechung zum «San Gaudí» das höchste Anliegen ist, versuchen ihm andere auf rationale Weise beizukommen. So ist zurzeit unter dem Titel «Gaudí. Experiències» im Saló Tinell die erste wichtige Jubiläumsausstellung zu sehen, eine Veranschaulichung seiner Konstruktionsmethoden. Am 30. Mai eröffnet im CCCB «Gaudí. Entorns»: Hier wird einerseits das Umfeld seiner Arbeit, anderseits deren Einfluss auf die Surrealisten und Expressionisten beleuchtet. Ab 17. Juni zeigt schliesslich «Gaudí. Art y disseny» die handwerklichen Details seines Werks. Schauplatz ist die «Pedrera», deren Renovation vor einigen Jahren ebenso kontrovers war wie die des Park Güell. Dieses Jahr werden nun einige weitere Renovationen zum Abschluss gebracht, darunter die der Krypta Güell. Unter den kaum mehr zu zählenden Publikationen ragen die erstmals in einer kritischen Ausgabe versammelten schriftlichen Aufzeichnungen des Architekten heraus.


[Antoni Gaudí, Escritos y documentos. Hrsg. Laura Mercader. El Acantilado, Barcelona 2002. 332 S., Euro 21.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2002.04.02

23. Januar 2002Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Architecture Boogazine

Architekturzeitschriften befassen sich vornehmlich mit einem bestimmten, sehr kurzen Moment in der Geschichte eines Bauwerks: dem seiner Vollendung. Die...

Architekturzeitschriften befassen sich vornehmlich mit einem bestimmten, sehr kurzen Moment in der Geschichte eines Bauwerks: dem seiner Vollendung. Die...

Architekturzeitschriften befassen sich vornehmlich mit einem bestimmten, sehr kurzen Moment in der Geschichte eines Bauwerks: dem seiner Vollendung. Die letzten Spuren des Bauvorgangs sind verwischt, und solche der Benutzung gibt es noch nicht, oder sie werden ausgeblendet. Gegen diese Fetischisierung der Architektur wendet sich eine neue Zeitschrift in Buchform, die sich selbst als «architecture boogazine» definiert. «Verb», so ihr Name, erscheint dreimal jährlich in Barcelona in der ausdrücklichen Absicht, architektonische Entwurfs- und Produktionsprozesse sichtbar zu machen. In Frage gestellt wird dabei auch der Begriff der Urheberschaft - ein Bau ist ja nie nur das Produkt eines Architekten, sondern auch der Umstände, der Baugesetze, der Interessen des Bauherrn, der Ingenieure.

Ein Beispiel dafür ist der Osanbashi Pier in Yokohama. Der oft publizierte Entwurf von Alejandro Zaera (Foreign Office Architects) für ein Hafenterminal soll bis zur Fussball-WM 2002 realisiert sein. Die eben erschienene erste Nummer von «Verb» widmet diesem Projekt 75 Seiten. Nicht ohne Grund: Die an Origami-Faltungen erinnernde Struktur der 400 Meter langen Dachplatte hat das Zeug, zum Architektur-Hype des Jahrzehnts zu werden, in der Nachfolge des Guggenheim-Museums in Bilbao. Gewisse formale Ähnlichkeiten der Entwürfe von Gehry und Zaera täuschen jedoch darüber hinweg, dass beider Vorgehensweise laut dem in London tätigen Spanier unterschiedlicher nicht sein könnte. Die räumlichen Effekte, die jener im Voraus konzipiert, sind bei Zaera das Ergebnis des Konstruktionsprozesses selbst, der «Kohärenz der materiellen Organisation». Ein Text des Strukturplaners Kunio Watanabe ergänzt denn auch seinen Aufsatz. Ein Dutzend weiterer Beiträge fügt sich zu einem ebenso interessanten wie unausgeglichenen Start für das «boogazine» - beides liegt wohl im Konzept begründet. Stellvertretend genannt seien ein Tagebuch von Njiric + Njiric über die Planung und Konstruktion eines Baumaxx-Centers in Maribor, die Geschichte einer Gewächshauswohnung von Lacaton & Vassal bei Bordeaux und eine «Lärmlandschaft» in Amersfoort, Holland. Die grafische Gestaltung mit ihren Querverweisen entspricht dem angestrebten Prozesscharakter von «verb».


[ «Verb» erscheint dreimal jährlich in einer englischen, einer französischen und einer spanischen Ausgabe bei Actar, Barcelona; etwa 280 S., EUR 25.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2002.01.23

04. Januar 2002Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Die Glory Days der Treppe

Eine Ausstellung in Barcelona

Eine Ausstellung in Barcelona

Die Tage der Treppe als architektonisches Glanzstück sind gezählt, hat nicht ohne Wehmut der Architekt Oscar Tusquets festgestellt und eine Schau organisiert, die unter dem Titel «Requiem für die Treppe» zurzeit in Barcelona zu sehen ist. Sie bildet den Auftakt zu einer Ausstellungsreihe des Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), die sich in den nächsten Jahren mit weiteren Grundelementen der Architektur - Säulen, Schatten, Licht . . . - befassen soll.

Tusquets masst sich nicht an, das Thema umfassend oder nach streng wissenschaftlichen Kriterien zu präsentieren, sondern lässt sich von eigenen Vorlieben leiten. Schön, dass es trotzdem (oder eben deshalb?) eine gut aufgebaute, in sich stimmige Ausstellung geworden ist. Auf zwei Ebenen angelegt, die durch ein Dutzend beispielgebende Treppen miteinander verbunden sind, sortiert sie ihr Thema nach Typen wie der abgewinkelten und der Repetiertreppe, der sich verzweigenden und der Wendeltreppe, der frei schwebenden und der unmöglichen Treppe. Ein Grossteil des Materials sind Photographien; zu sehen sind aber auch Filmausschnitte, Pläne, Modelle und für jeden Treppentyp ein Gemälde. Da entdeckt man traumhafte Treppenanlagen wie die des Wassertempels von Ranji-Ki-Baori oder der Festung von Santiago de Cuba neben einer Holztreppe im Goms, einem Stufengeschnitz der Dogon oder einer um einen Hochkamin sich schlingenden Stiege, die das Kapitel «Bloss kein Geländer» vorzüglich illustriert. Da sind Treppen von Architekten wie Aalto, Barragán, Kahn, Michelangelo, Miralles, Saarinen, Schinkel, Sejima zu sehen, und aus Hitchcocks «Vertigo» gerät man direkt nach Machu Picchu. Eine wenn nicht schwindelerregende, so doch ebenso kapriziöse wie deliziöse Angelegenheit.

Treppen jedoch, so schön sie waren, haben heute ausgedient. Man fährt jetzt per Lift in seinen Fitnessklub, um sich dort auf virtuellen Stufen abzustrampeln. Ein Übriges tut die raumfressende, aber politisch korrekte Rampe; ein aberwitziges barcelonesisches Beispiel dafür bietet gleich neben dem CCCB Richard Meiers Museumsbau. Und Tusquets versäumt nicht, es zu erwähnen: Die Mehrzahl der ausgestellten Treppen könnte schon wegen der Feuerschutzvorschriften heute nicht mehr gebaut werden.


[ Bis 27. Januar. Katalog (span./katalan.), 224 S., Pta. 3000.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2002.01.04

07. Dezember 2001Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Hinter dem Pflaster liegt der Strand

Koolhaas' Casa da Música in Porto, geplant als Wahrzeichen der europäischen Kulturhauptstadt 2001, wird nicht vor 2003 eröffnet werden. Bereits zu sehen sind aberandere Ergebnisse des Erneuerungsprozesses, dem sich die nordportugiesische Metropole zurzeit unterzieht. Noch Zukunftsmusik ist Sizas zentrale Avenida da Ponte.

Koolhaas' Casa da Música in Porto, geplant als Wahrzeichen der europäischen Kulturhauptstadt 2001, wird nicht vor 2003 eröffnet werden. Bereits zu sehen sind aberandere Ergebnisse des Erneuerungsprozesses, dem sich die nordportugiesische Metropole zurzeit unterzieht. Noch Zukunftsmusik ist Sizas zentrale Avenida da Ponte.

Lange Zeit war Portos Altstadt mit ihren steil zum Douro abfallenden Strassen vom Zerfall bedroht. Heute, da es ihr wieder besser geht (NZZ 14. 6. 99), bildet sie für die Urbanisten nur noch einen Nebenschauplatz. Seit Fernando Távoras Plan für das Barredo-Quartier (1969), am intensivsten aber in den neunziger Jahren, habenpunktuelle Eingriffe die Wohnbedingungen verbessert - erfreulicherweise ohne dass die ansässige Bevölkerung dadurch vertrieben worden wäre. Dazwischen liegen die Nelkenrevolution (1974), die Verlagerung der Machtbefugnisse auf lokale Ebene (was die Planung belebte, aber auch kontroverser machte); und 1996 die Aufnahme des innerhalb der «Muralhas Fernandinas» liegenden Stadtkerns in den Katalog des Weltkulturerbes. Nicht dass der Fall damit erledigt wäre: Die alte Bausubstanz wird auch weiterhin vieler Interventionen bedürfen. Eines der jüngsten Beispiele: Viela do Anjo, ein winziger neuer Platz im Häusergewirr nördlich der Sé, der Kathedrale.

Das Rezept kann statt Auflockerung allerdings auch Verdichtung heissen. Das Paradebeispiel dafür ist Alvaro Sizas Projekt für die AvenidaD. Afonso Henriques, kurz Avenida da Ponte genannt, da es sich um die Verbindung der Dom- Luís-Brücke mit der zentralen Praça da Liberdade handelt. Hier begann die Salazar-Diktatur Ende der dreissiger Jahre mehrere Häuserblöcke abzureissen. Zweck der Übung: die Sé aus dem Gewebe der Altstadthäuser herauszulösen und alsfrei über der Stadt thronendes Gebäude zur Geltung zu bringen. Das Ergebnis war eine unansehnliche Wunde mit einigem Verkehr, die die Sé nach heutigem Verständnis nicht unbedingt attraktiver machte. Dutzende von Studien hatten sich seit dem Bau der Brücke (1886) mit diesem schwierigen Stadtraum befasst. Siza schlug 1968 vor, den Blockrand auf der felsigen Westseite der Avenida zu vervollständigen, ein Projekt, das die Fernansicht des Tempels nicht beeinträchtigt hätte. Sein neuer, umstrittener Entwurf sieht hingegen die Erhaltung der Granitfelsen und die Überbauung der Ostseite vor, um die Kathedrale wieder in einen urbanen Kontext einzubinden. In den Worten des Architekten: «Ihr ihren bescheidenen, nicht mehr triumphalen Platz im Stadtgewebe zurückzugeben.» Ein der Aussichtsterrasse vorgelagerter Turmbau von Fernando Távora weist bereits in dieselbe Richtung. Sizas Masterplan sieht zwar auch einige Wohnungen vor, aber die drei grössten der neun sehr verschieden dimensionierten Baukörper sind einem Stadtmuseum vorbehalten. Auf dem Papier ist dieses Museu da Cidade grösser als Sizas auch schon generös dimensioniertes, 1999 eröffnetes Serralves-Museum. Es ist anzunehmen, dass dieses Nutzungsmuster noch modifiziert wird; kann es doch nicht darum gehen, die eine Monumentalität durch eine andere zu ersetzen.

«Regresso à Baixa»

Den Auftrag zum Projekt Avenida da Ponte erteilte das gemischtwirtschaftliche, von Brüssel und Lissabon finanzierte Konsortium Porto 2001 SA. Der im Hinblick auf das für Porto kapitale Jahr in Gang gesetzte Erneuerungsprozess war jedoch keineswegs auf die Altstadt beschränkt. Unter dem Stichwort «Regresso à Baixa» - zurück ins Zentrum - organisierte Porto 2001 eine Reihe von Wettbewerben, die das angrenzende «bürgerliche» Stadtzentrum betrafen. Anders als die Altstadt, der der Tourismus und das Nachtleben einen gewissen Rückhalt verleihen, war das namentlich nachts eine zunehmend desolate Gegend. Zwar liegen hier mehrere grandiose, jetzt renovierte Theater wie das «Coliseu», das «Rivoli», das «S. João» und das «Carlos Alberto»; andere Marksteine der portuensischen Moderne wie das Café A Brasileira und das Kino Batalha waren jedoch lange dem Zerfall preisgegeben, das Viertel hinter dem Bahnhof São Bento ist durch die Prostitution stigmatisiert. Wegen der mangelnden Sicherheit wollte kaum jemand mehr hier leben.

Das fragliche Gebiet wurde in zwei westlich und zwei östlich der zentralen Avenida dos Aliados liegende Zonen eingeteilt. Im Februar 1999wurden für jede dieser vier Zonen vier Architekten zu einem Ideenwettbewerb eingeladen. Die Gewinner waren nicht nur für die Neugestaltung des öffentlichen Raums verantwortlich, sie hatten zugleich auch die Tiefbauarbeiten zu koordinieren. Ging es hier doch um mehr als Maquillage:Die Kanalisation und andere Infrastrukturen wurden vollständig erneuert, das ganze Viertel verkabelt und mehrere unterirdische Parkhäuser gebaut. Nuno Grande, Chefurbanist bei Porto 2001,räumt ein, dass Parkhäuser heute als eher antiquiertes Konzept anmuten. «Aber wie soll manneue Bewohner anlocken, wenn man ihnen keinen Parkplatz anbieten kann? Von seiner Topographie her ist Porto nun einmal keine Fahrradstadt. Dafür ist auch ein kleiner Strassenbahnringgeplant, der die kulturellen Wahrzeichen vom Coliseu bis zum Museu Soares do Reis verbindet.»

Binnen knapp dreier Jahre sind Portos vier zentrale Hauptplätze vollständig erneuert worden. Der grösste von ihnen ist die Cordoaria, eineenorme dreieckige Esplanade, die Camilo Cortesão durch Reihen paralleler, versenkter Lichtbahnen neu strukturiert hat. Mit der Installation einer Skulptur des unlängst verstorbenen Juan Muñoz werden die Arbeiten demnächst abgeschlossen. Auch in den drei andern Zonen steht je eine Platzanlage im Mittelpunkt der Planung. Zur Praça de Carlos Alberto (Entwurf: Virgínio Moutinho) kommt ein ganzes Netzwerk von Strassen hinzu, so namentlich die kurze, aber imposante Rua de Ceuta: eine in den fünfziger Jahren gelegte Schneise, deren radikal rationalistische Bauten an kühler Urbanität noch übertroffen werden durch ein bereits 1932 projektiertes Parkhaus - Garagem do Comércio -, das die Perspektive wie ein Theater der Motorisierung abschliesst. Je länger man Porto durchstreift, desto mehr stauntman über seinen Reichtum an erstrangigen Bauten auch aus den Jahren des Estado Novo.

Ein faszinierendes Beispiel von Stadtentwicklung bietet auch die Rua Sá de Bandeira. Als städtischer Korridor der Jahrhundertwende anhebend, schwingt sie sich in ihrem Mittelteil zu Portos Broadway auf, um sich erst um 1960, da aberschon in völliger Dissonanz und moderner Auflösung, endgültig Bahn zu brechen: dieses kachelwandige Kirchlein vor dem zehnstöckigen Rundbau eines andern Parkhauses . . . Wie die parallel verlaufende Hauptgeschäftsstrasse Santa Catarina und wie überhaupt ein Grossteil der Baixa-Strassen ist Sá de Bandeira neu gestaltet worden: mit breiteren Bürgersteigen, modernerem Mobiliar. Verantwortlicher Architekt für diese nach der Praça D. João I benannte Zone war Alexandre Alves Costa. - Schliesslich Batalha, der Platz mit dem gleichnamigen, 1947 von Artur Andrade vollendeten Kino, das demnächst restauriert werden soll. Kurz vor dem Abschluss steht der von Adalberto Dias projektierte Umbau des Platzes; die neue Treppenanlage zur Kirche Santo Ildefonso wurde vom Altmeister Távora entworfen.

Für diesen enormen, in sehr kurzer Zeit erbrachten Effort gibt es laut Nuno Grande einVorbild. «In Barcelona wurde die Idee, die Renovation des öffentlichen Raums dynamisiere auchdie privaten Bereiche, zuerst und am konsequentesten verwirklicht. Auch Lissabon hat anlässlich der Expo 98 in seinen östlichen Stadtteilen einen Versuch in dieser Richtung unternommen. Was wir hier aber ausserdem anstreben, ist der Bilbao- Effekt, der Effekt Guggenheim, und zwar in Gestalt der Casa da Música.»

Rem Koolhaas im Service public

Die Casa da Música, so veranschaulicht es Nuno Grande, ist gleichsam «ein Meteorit, der an der Avenida Boavista einschlägt und einen grossen Raum freilegt». Das Projekt übernimmt so nebenbei auch die Funktion des öffentlichen Raums, die die angrenzende Rotonde (Praça Mouzinho de Albuquerque) trotz ihrer Grösse nur ungenügend erfüllt. Hauptsache ist aber natürlich der Meteorit selbst. Rem Koolhaas ging aus einem sehr kurzfristig anberaumten Wettbewerb als Sieger hervor, und sein Entwurf ist denn auch - «unsere Mitarbeiter konnten es selbst kaum fassen, dass wir so zynisch sind», soll er gesagt haben - nichts anderes als die aufgepumpte Version eines für Rotterdam geplanten Einfamilienhauses: ein auskragender Polyeder mit einigen grossen Glasflächen. Die «Schuhschachtel» im Innern des weissen, an die Ästhetik der unsichtbaren Stealth-Bomber erinnernden geometrischen Körpers war ursprünglich ein Wohnraum und ist nun der grössere der beiden Konzertsäle. «Ein seltsamer, sicher Polemiken hervorrufender Bau, mit einer nie gesehenen Axionometrie, konstruktiv knifflig», wie Nuno Grande anmerkt. Das Programm geht weit über das eines traditionellenKonzerthauses hinaus. Da wird es Musikgeschäfte und Buchhandlungen geben, Mediatheken undÜbungsräume für Bands, Studios, eine Musikschule, das Dachrestaurant: Es soll fast rund umdie Uhr etwas laufen. «Ein thematisches Gebäude, Gehrys Rockpalast in Seattle nicht unverwandt, wobei in Europa natürlich die Idee des Service public dazukommt: Man soll die Casa da Música wie sein eigenes Haus benützen können.»

Die Zufallsentwicklungen, nach denen Porto sich seit dem späten 18. Jahrhundert ausdehnte, hinterliessen einen über weite Strecken eher locker bebauten, aus quasi autonomen und oft gegensätzlichen Clusters (man spricht von «ilhas», Inseln) bestehenden Stadtraum. Die ältesten, nach Norden verlaufenden Ausfallachsen wurden Anfang des 20. Jahrhundertsmonumentalisiert: Es ist jenes bürgerliche Zentrum, das jetzt neu gestaltet wird. Im Osten, mit dem Fluchtpunkt des Bahnhofs Campanha, sind die proletarischen Viertel konzentriert. Zögerlicher verlief die Entwicklung westwärts, der fünf Kilometer entfernten Atlantikküste entgegen.

Eine virtuelle Prachtstrasse

So blieb auch die einzige grosse urbanistische Geste des 19. Jahrhunderts, die von der Rotonde ausgehende und bei Foz an den Atlantik stossende Avenida Boavista, bis heute eben dies: eine Geste. In ihrer Ausdehnung und Lage im Stadtganzen den Hauptachsen von Madrid und Barcelona, der Castellana und der Diagonal, durchaus ebenbürtig, bringt ihre Architektur - bis auf vereinzelte frühe Prachtvillen - doch weder die Dramatik noch die Ambition, die der 1854 projektierten Strassenanlage innewohnen, zum Ausdruck. Einige neuere Hotel- und Kommerzbauten sind sogar ausgesprochen lamentabel; und nur indirekt, denn es liegt etwas abseits davon, hat jetzt Sizas Serralves-Museum zur Aufwertung dieser Prachtstrasse in spe beigetragen. Die Avenida Boavista ist aber zweifellos die Achse, an der sich Porto in die Zukunft katapultieren kann.

Koolhaas' Polyeder an der Rotonde wird ihren Auftakt bilden, und auch das meerseitige Ende nimmt jetzt Form an: der 50 Hektaren grosse Stadtpark, Parque da Cidade, nach einem Entwurf des katalanischen Architekten Manuel deSolà-Morales. Eine zweite monumentale Rotonde, erhöht geführt, ermöglicht den direkten Zugang vom landeinwärts sich erstreckenden Park zum Strand. Sie ist zugleich das Gelenk, das die Avenida Boavista mit der Küstenstrasse verbindet, die zur Mündung des Douro und von dortdem Flussufer entlang in die zentrale Ribeira zurückführt. Eine neue Strassenbahnlinie wird dieses fünfzehn Kilometer lange U, das irgendeinmalzu einem Circuit geschlossen werden soll, begleiten. Am Douro-Ufer kann das Tram mangels Platz allerdings nur einspurig geführt werden: Die Konvois kreuzen sich an den Haltestellen. Die engen, trotzdem bis heute fast ländlich anmutenden Verhältnisse haben die Planer ausserdemzum Bau einer Passerelle bewogen, die den Fahrverkehr auf einer kurzen Strecke über den Fluss ausweichen lässt: ein so eleganter Schlenker, als hätte er dort schon immer gestanden - genauso wie übrigens die neuen, pavillonartigen Strandcafés. Mehrere Kilometer sind inzwischen zu veritablen Promenaden vor teilweise ärmlichem Hintergrund ausgebaut worden.

Nebeneinander von Gross und Klein

Das mondänste und das verwunschenste Porto prallen hier aufeinander, und genau dieses Nebeneinander von Gross und Klein, von Provinziell und Metropolitan machte schon immer denReiz der Stadt aus. Kein Gesprächspartner versäumt es, auf die «Caminhos del Romantico» hinzuweisen, so bescheiden sie sich neben den andern Projekten von Porto 2001 ausnehmen: einige frisch gepflästerte Wege und neue Strassenlampen zwischen den alten Granitmauern, welchedie einst von englischen Familien gebauten Anwesen hinter dem Jardim do Palácio de Cristal umfassen. Es ist derselbe Granit, der den seit Jahrzehnten geplanten Bau einer U-Bahn erschwert. Die Tücke des teils sehr harten, teilsporösen Gesteins hat sich bei den nun aufgenommenen Bauarbeiten bereits wiederholt erwiesen: Drei Häuser sind seit 1998 eingestürzt. Die Metro wird vom Bahnhof Campanha unterirdisch in die Stadtmitte führen; von dort oberirdisch, auf einem bestehenden Trassee, bis zur Boavista- Rotonde und weiter zum Flughafen. Eine zweite Metrolinie soll das Zentrum über die Dom-Luís- Brücke mit Vila Nova de Gaia verbinden, während der Autoverkehr über eine neue, bereits imBau befindliche Brücke etwas östlich davon geleitet werden wird. Nuno Grande spricht es mit einem Schulterzucken aus: «Ich fürchte, bei dieser Bauorgie wird auch das eine oder andere Kleinod, das anlässlich von Porto 2001 entstanden ist, wieder zerstört werden.»

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.12.07

05. Dezember 2001Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Monumentale Bauten

Palacios und Guastavino - zwei Ausstellungen in Madrid

Palacios und Guastavino - zwei Ausstellungen in Madrid

Sein Name war Palacios und seine Aufgabe, solche zu bauen: Paläste wie den Círculo de Bellas Artes, wo zurzeit eine Ausstellung belegt, in welch ausserordentlichem Mass der Architekt Antonio Palacios (1874-1945) das Stadtbild Madrids geprägt hat. Drei weitere seiner Hauptwerke stehen in unmittelbarer Umgebung an der Calle de Alcalá, darunter die von dem erst Dreissigjährigen projektierte, 1919 vollendete Madrider Hauptpost: ein mit Kapitellen und Fialen überzuckerter Brocken, der zu Recht «Palacio de Comunicaciones» heisst oder im Volksmund - Trotzki hat das Wort überliefert - «Unsere liebe Frau vom Postwesen». Wozu brauchte Madrid angesichts solcher Bauwerke noch eine Kathedrale? Palacios selbst war das allerdings noch nicht genug, äusserte er sich doch 1940 wie folgt zu seinem Bau: «Die geforderte Durchlässigkeit liess mir keine andere Wahl, als das Gebäude in ein immenses verglastes Leuchtfeuer zu verwandeln; sie vereitelte indessen mein eigentliches, nicht mit kleinlichen Adjektiven, sondern nur mit massiver tektonischer Substantivität zu erreichendes Vorhaben, wie es den grossen Architekten unserer Renaissance vergönnt war», deren Geheimnis er im Übrigen sehr wohl kenne. Immerhin werde, was das Gebäude dadurch an Charakter eingebüsst habe, «durch seinen exzessiven Funktionalismus wettgemacht, diesen neuerdings so gern herumgebotenen Begriff, an dem freilich nichts neu ist als das Wort selbst». - Sein Leben lang weigerte sich Palacios, ein moderner Architekt zu werden. Er bezauberte das Fussvolk, indem er ihm mit seinem Eklektizismus eine Art imperialen Heimatstil vorgaukelte; und er führte damit auch die Eliten hinters Licht, denn diese Heimat war wohl ein Weltreich gewesen, das aber eben seine letzten Kolonien verloren hatte. Kaum jedoch arbeitete er ein wenig nachlässiger oder war zu wenig Geld für die barocke Pracht vorhanden, fand er zeitgemässe und sogar radikale Lösungen. Ein Beispiel dafür sind die neuyorkisch aufeinander getürmten Säle des Círculo de Bellas Artes (1926), mochte er sie dann auch klassizistisch verbrämen. Ein anderes (spätes: 1940) ist der nur einige Schritte davon entfernte Banco Mercantil e Industrial. Und wenn der äusserliche Bombast der Hauptpost inzwischen eher Bauchgrimmen verursacht, so ist doch die räumliche Wirkung der Halle - einer «Music Hall ohne Musik», laut Ramón Gómez de la Serna - mit ihren um die drei Arme laufenden Galerien und Passerellen nach wie vor überwältigend.

Palacios war von 1917 bis 1945 zudem Chefarchitekt der Madrider Metro. Und glücklich die Madrider, die in einem seiner stattlichen Wohnhäuser leben. Angeblich liebäugelt nun auch Madrids Stadtplanungsamt damit, in einen Palacios-Bau umzuziehen: den auf unzähligen Postkarten verewigten Banco Central Hispano. Ein weniger bekanntes Gebäude, das indessen zu seinen Meisterwerken zählt, nimmt jetzt schon die urbanistische Behörde der Comunidad de Madrid auf: das einstige Tagelöhner-Hospital Maudes. Noch besser als in der Ausstellung lässt sich das alles im Katalog verfolgen, der ein veritables Standardwerk zur Madrider Stadtgeschichte ist.

Eine weitere Madrider Ausstellung dieses Herbsts weist einige Parallelen zu Palacios auf, mehr noch aber bildet sie einen spannenden Gegenpol dazu. Auch die Guastavino Fireproof Construction Company hat, wiewohl weniger offensichtlich, eine Stadt geprägt, nämlich New York; zudem annähernd über denselben Zeitraum. Das Werk des 1842 in Valencia geborenen und 1881 in die USA ausgewanderten Gewölbekonstrukteurs Rafael Guastavino führte sein gleichnamiger Sohn (1871-1950) fort; es sind an die tausend Bauten bekannt, an denen die Firma beteiligt war, darunter die NY Telephone Co., die Oyster Bar und andere Teile von Grand Central, die Williamsburg Bridge, die Public Library in Boston, mehrere Gebäude der Columbia University und die Kathedrale St. John the Divine (die jetzt Guastavinos Landsmann Calatrava vollendet). Guastavino Co. war ein Markenzeichen für formal ansprechende Lösungen struktureller Probleme aller Art. Das System beruhte auf der traditionellen katalanischen Technik für Ziegelgewölbe, wie sie Guastavino in Barcelona erlernt, fortentwickelt und dort bereits auf spektakuläre Weise angewandt hatte. Erstaunlich bleibt die Geschmeidigkeit, mit der sie sich an eine ganz andere architektonische Sprache wie die der Art-déco-Lobbys der New Yorker Wolkenkratzer anpassen liess.


[Antonio Palacios, constructor de Madrid. Bis 2. Januar im Círculo de Bellas Artes. Katalog 5900 Ptas. - Guastavino Co. Bis 6. Januar im Museo de América. Katalog 5500 Ptas.]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2001.12.05

14. August 2001Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Benidorm als Modell

Paradoxe Rehabilitierung eines massentouristischen Ungeheuers

Paradoxe Rehabilitierung eines massentouristischen Ungeheuers

Der Name Benidorm steht für Pauschaltourismus, für Sonne und Suff zu Schleuderpreisen und für eine zubetonierte Küste. Den Verächtern dieses Modells unterläuft indessen ein Denkfehler. Denn nirgendwo wird, gemessen an der Besucherzahl, weniger Raum verschwendet, weniger Land verbaut als in dieser Hochhausstadt nördlich von Alicante, die auf fünf Quadratkilometern jährlich vier Millionen Gäste aufnimmt.

Gibt es ein grossartigeres Beispiel für eine vernünftige, vergleichsweise umweltschonende Kanalisierung des Massentourismus als das dicht bebaute Benidorm? Zwar sieht der negative Mythos in Benidorm, wo kaum Regen fällt, ein Beispiel für die aberwitzige Verschleuderung nicht vorhandener Wasserressourcen. Doch weit gefehlt: Erstens werden nur 140 Liter pro Gast und Tag verbraucht (deutlich unter dem europäischen Durchschnitt), und zweitens ist die Stadt im Recycling weltweit führend: 97 Prozent werden als Brauchwasser wiederverwendet. Die Unesco organisiert gelegentlich Studienreisen nach Benidorm. Vor allem aber hat Benidorm einen ganz eigenen Bautypus hervorgebracht. Es sind extrem schlanke und daher um so höher wirkende Türme, von denen in Wirklichkeit nur sechs die 100-Meter-Marke übertreffen. Das höchste Gebäude ist mit 185 Metern (Europarekord für einen Wohnbau) das Hotel Marina Palace. Aber die Höhe ist gar nicht der entscheidende Faktor. Wichtiger ist die geringe Gebäudetiefe: gewöhnlich nicht mehr als neun oder zehn Meter, was reichlich Tageslicht für alle Zimmer sowie eine gute Querbelüftung gewährleistet. Die Rückseite bleibt der Haustechnik, Treppenhäusern und Aufzügen vorbehalten, meerseitig aber prägen ganze Kaskaden von Balkons die Stadt - Wintergärten eigentlich, denn in vielen Fällen macht eine vorgelagerte Glasfront die Heizung überflüssig: Auch im Januar steigt die Temperatur tags meist über 20 Grad.

Visionäre Planung
Es ist also das Hygiene-Modell des freistehenden Blocks, dem Mittelmeerraum im Grunde fremd, das sich in diesen janusgesichtigen Türmen verwirklicht findet. Fast immer gehört ein Swimmingpool dazu - 500 davon soll es in Benidorm geben. Gleichsam das Unterholz dieses Säulenwalds bilden die unzähligen Pizza- und Souvenirtempel. Wenn es auch oft illegale Konstruktionen sind, so haben sie doch den Vorzug, den Strassenraum zu schliessen, städtische Korridore zu bilden. Denn eben die Dichte, die teilweise anarchische Kompaktheit sind es, die den Feriengästen ein Lebensgefühl vermitteln, das sie zu Hause in ihren öden Suburbs vermissen. Wer zur Stadtgeschichte Näheres erfahren möchte, dem wird, nebst allerlei Prospekten, auf dem Planungsamt das Büchlein «Ayuntamiento de Benidorm. Ordenanzas de Construcción. Año 1955» ausgehändigt. Es ist ein Nachdruck jener Bauordnung, die angeblich das Erfolgsgeheimnis birgt. Die Stadt pflegt inzwischen ihren eigenen urbanen, ja urbanistischen Mythos - schon die Schulkinder werden mit einer Broschüre versorgt, die den Titel trägt: «Die Planung unserer Stadt und was wir darüber wissen müssen».

Um 1950 war Benidorm ein Fischerdorf von knapp 3000 Einwohnern, auf einem kleinen, von einem Kastell gekrönten Kap zwischen zwei jungfräulichen Stränden gelegen. Der alte Kern mit seinen engen Gassen bildet bis heute, wenngleich schwindelerregend kommerzialisiert, das Stadtzentrum. Die Strände und das milde, regenarme Klima hatten seit dem 19. Jahrhundert einzelne Touristen angelockt. Aber es war der Chartertourismus, der in den sechziger Jahren ein explosionsartiges Wachstum auslöste. Dass es kontrolliert verlief, ist das Verdienst der Bauordnung von 1955 und der Planungsrichtlinien (Plan general de ordenación urbana) von 1956. Dieser Plan sah freilich noch keine Hochhäuser vor, sondern eine Art Gartenstadt. Erstaunlich bleibt, wie grosszügig der Strassenraster die bebaubare Fläche mit einem Schlag vervielfachte. Den benidormensischen Seefahrern, deren manch einer New York und Schanghai gesehen hatte, schien das einzuleuchten: als hätten sie geahnt, welche Dimensionen ihr Städtchen eines Tages annehmen würde.

1963 wurden alle Höhenbeschränkungen für Neubauten aufgehoben; man setzte bewusst auf Verdichtung. Die Bautätigkeit hält bis heute an, aber der Grundstock wurde in den frühen siebziger Jahren gelegt. Es entstand die Torre Europa mit ihrer auskragenden Spitze, bis heute der schönste Bau der Stadt. Erwähnenswert auch die 1985 vollendete Torre Levante mit ihren 36 Geschossen bei nur 15 Metern Fassadenbreite. An architektonischem Glanz lag aber den Investoren um so weniger, als sie von den Banken und von den Tour Operators, die ihre Häuser füllten, aber die Preise drückten, in die Zange genommen wurden. Zu den Eigentümlichkeiten des lokalen Immobilienhandels gehört daher der Mitbesitz der einstigen Landeigentümer: Für ihre Grundstücke liessen sie sich von den Investoren mit einer bestimmten Anzahl gebauter Apartments (gewöhnlich 20 Prozent) vergüten. Wie sie stammen auch die Investoren überwiegend aus der Region selbst, allenfalls aus Madrid. Bis heute ist keine einzige internationale Hotelkette in Benidorm präsent. Es sind überwiegend Dreisternbetriebe: 35 000, bald über 40 000 Hotelbetten, im Jahresdurchschnitt zu 92 Prozent belegt, dazu kommt ein Mehrfaches an Apartments. Die Einwohnerzahl ist auf 56 000 gestiegen; in Wirklichkeit sind aber heute nie weniger als 110 000 Menschen in der Stadt anwesend. Im Sommer schnellt ihre Zahl auf beinahe eine halbe Million. Benidorm kennt also sehr wohl saisonale Schwankungen. Aber es ist, und das können sonst nur noch die kanarischen Destinationen von sich behaupten, auch im Winter keine Geisterstadt.

Gehen, kaufen, tanzen
Wohlhabendere, feinsinnigere Reisende denken mit Schaudern an diesen Tummelplatz, das sandige Sommergrab für Millionen. Die angeblich die Küste verschandelnden Betonburgen beanspruchen jedoch nicht mehr Raum als eine Luxussiedlung mit Golfplatz für ein paar hundert Privilegierte - und auch deren Behausungen sind ja nicht immer über alle geschmacklichen Zweifel erhaben; und auch sie zieht es gelegentlich in die Stadt. Dann steigen sie in ihre Autos und schimpfen auf das Verkehrschaos, das sie, die Liebhaber eines pseudoländlichen Lebens, in Wirklichkeit selbst verursachen. Die Besucher von Benidorm hingegen kommen mit Charterflügen aus Birmingham oder mit Bussen aus Bilbao, und einmal da, sind sie zu Fuss unterwegs. Man hat ausgerechnet, dass ein Benidorm-Tourist spazierenderweise täglich 14 Kilometer zurücklegt und mehr Zeit auf den Trottoirs als am Strand verbringt. Das ist ebenso gesund wie unterhaltsam. Wem es auf seinem Balkon im 22. Stockwerk langweilig wird, der steigt in den Lift, und schon ist er mittendrin im «Themenpark Stadt». Gewiss, in Erscheinung tritt da nicht la beautiful, wie die Schönen der Welt auf Neuspanisch heissen, sondern eher el lumpen (ein fast vergessener Ausdruck). Aber Benidorms menschliche Fauna beschränkt sich doch auch nicht auf jene britischen Proleten, die sich schon mittags betrunken auf den Trottoirs fläzen und, falls sie wieder auf die Beine kommen, nachts splitternackt und im Gänsemarsch über die Avenida de Cuenca wackeln.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Untergang der spanischen Folklore, die einst Touristen lockte. Von den 16 Flamenco-Tablaos, die es 1973 in der Stadt gab, hat ein einziges überlebt. Wer zwei Wochen Benidorm bucht, will seinem grauen Alltag entfliehen - aber nur, um zwei Wochen lang Friday Night zu feiern, als wäre er bei sich zu Hause. Er muss das allerdings auch hier in bestimmten Unterhaltungsghettos tun, denn die Stadt legt Wert auf Nachtruhe. Sind doch ausser im Hochsommer Rentner (britische, spanische, holländische, aber nur zwei Prozent deutsche) ihre Haupteinnahmequelle. Schon am Nachmittag legen unzählige ältere Pärchen in irgendwelchen Buden zwischen den Wolkenkratzern ein Tänzchen aufs Parkett; und der Abendspaziergang Tausender älterer spanischer Provinzler an der Playa de Poniente ist einfach herzergreifend. Im Übrigen weist die Stadt vermutlich die höchste Rollstuhldichte der Welt auf.

All diese Leute, die da durch Benidorm gehen und rocken und rollen, geben Geld aus; gemessen an ihrer Kaufkraft sogar sehr viel. Wenn Las Vegas die Stadt ist, in der sich Amerikas untere Mittelklasse mit Vorliebe ruiniert, dann kann Benidorm - ebenso wie in Sachen Bauwut und Lichterzauber - als die ärmliche europäische Variante davon gelten. Auf gerade fünf Kilometern Küstenlinie erwirtschaftet es über 6 Prozent der Tourismuseinkünfte eines Landes, das jährlich 70 Millionen Besucher empfängt. Man hat errechnet, dass 0,024 Prozent der spanischen Landfläche genügen würden, um Spaniens Bruttosozialprodukt allein mittels Pauschaltourismus zu generieren. Um aus Olivenöl denselben Reichtum zu schöpfen, würden hingegen 378 Prozent der vorhandenen Fläche benötigt.

«Upbeat to the Leisure City»
Solch kuriose Daten - und eine Unmenge weiterer - enthält ein Buch, das der holländische Architekt Winy Maas und sein Büro MVRDV zusammen mit Professoren und Studenten der Architekturschule Barcelona erarbeitet haben: «Costa Ibérica». Herausgegeben von Actar, dem Shootingstar unter den Architekturverlagen, lässt es an vor Information strotzender Grafik und vor Grafik strotzenden Planspielen (zur Zukunft Benidorms) selbst die von Bruce Mau gestalteten Bücher hinter sich. Es wäre aber doch kaum mehr als ein amüsantes Quodlibet ohne den Essay «Benidorm, Gebrauchsanweisung» des Soziologen José Miguel Iribas. Der Tourismusspezialist Iribas unterscheidet grundsätzlich zwei Systeme: Entweder wird Qualitätsraum an den Meistbietenden verschleudert (Beispiel Mallorca), oder das Territorium wird gezielt in ein Industrieprodukt verwandelt (Beispiel Benidorm). Benidorm ist für ihn eine Zweiliterflasche Coca-Cola, aus der ausser den Snobs einfach alle, auch die Grossmütter, gelegentlich einen Schluck nehmen. Denn der Mehrheit der Touristen, so Iribas, liegt gar nichts am Raum, sondern nur an der intensiven Nutzung der Zeit. Deshalb sind auch künstliche Erlebnisräume, wie man sie jetzt ausserhalb der Stadt mit dem Themenpark «Terra Mítica» geschaffen hat, zum Scheitern verurteilt. Terra Mítica kann so wenig mit Benidorm konkurrieren wie Disneyland mit Paris. Was Benidorm jedoch selbst Paris - und allen historischen Ferienzielen - voraus hat: Es ist authentischer. Denn Benidorm ist reine Gegenwart.


[MVRDV: Costa Ibérica. Upbeat to the Leisure City (engl. Ausgabe); Hacia la ciudad del ocio (sp. Ausgabe). Actar, Barcelona, 2000. Ptas. 3600.-.]

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2001.08.14

15. Juni 2001Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Unternehmen Prado

Ein „Juwel“ wird neu geschliffen

Ein „Juwel“ wird neu geschliffen

Der Prado steht vor der tiefgreifendsten Reform seiner fast zweihundertjährigen Geschichte. Während der Architekt Rafael Moneo die bauliche Erweiterung in Angriff nimmt, plant der neue Vorsitzende des Stiftungsrats, Eduardo Serra, die Modernisierung der Verwaltung und ein marktwirtschaftlich orientiertes Finanzierungsmodell.

Eduardo Serra empfängt, Zigarre in der Linken, im Madrider Chefbüro der UBS. Die Schweizer Bankiers haben ihn letzten Herbst auf diesen Posten berufen, kurz nach seiner überraschenden Ernennung zum Präsidenten des Stiftungsrates des Prado-Museums. Serra bewältigt nun beide Aufgaben nebeneinander. Davor hatte er als Verteidigungsminister die Professionalisierung der spanischen Armee in die Wege geleitet. Bloss, was hat die «Mili» mit einer Gemäldesammlung, noch dazu einer so bedeutenden wie dem Prado, zu tun?

«Das müssen Sie schon Präsident Aznar fragen.» Denn es war der Regierungschef persönlich, der in dem parteiunabhängigen Serra den geeigneten Mann sah, um die verkrusteten Strukturen des Museums aufzubrechen und ein neues Verwaltungs- und Finanzierungsmodell durchzusetzen. Welche Qualifikationen bringt der Ex-Verteidigungsminister aber dafür mit, ausser seinem marktwirtschaftlichen Credo und seinen unzweifelhaften, bei Unternehmen wie Peugeot España und dem Mobilfunkkonzern Airtel unter Beweis gestellten Führungsfähigkeiten? «Ich bin, wie ja übrigens auch Präsident Aznar, der Kultur sehr zugetan», äussert er in jenem schulmeisterlichen Tonfall, der nachgerade ein Erkennungszeichen der spanischen Rechten ist. Von Kunst jedoch, fügt er unumwunden hinzu, verstehe er nichts. Sollte denn Kunst etwas mit der Verwaltung eines Museums zu tun haben? Immerhin, erklärt er weiter, gehörte zu seinem Ministerportefeuille die geplante Verlegung des Heeresmuseums - Museo del Ejército (NZZ 12. 2. 00) - von Madrid nach Toledo. Das dadurch frei werdende Gebäude wird nun übrigens, nebst weiteren Dépendancen in der unmittelbaren Umgebung, auch in die Prado-Erweiterungspläne einbezogen.


Chefsache

Dass der Prado einer starken Hand bedurfte, bezweifelte nach den Turbulenzen der vergangenen Jahre im Grunde niemand. Mochte die Anekdote auch noch bemüht werden, als es 1996 letztmals in den Velázquez-Saal hineinregnete: Man kann heute nicht mehr alle Übel darauf zurückführen, dass einst die napoleonischen Truppen das Prado-Dach zu Bleikugeln umgossen. Platzprobleme, Pilzbefall von im Keller deponierten Werken, mangelnde Sicherheitsvorkehren, Gerüchte um angeblich falsche Goyas, mysteriöse Preisexplosionen bei Schenkungen, die von der Steuer absetzbar sind, und ein generell als zu tief erachtetes Aktivitätsniveau: Die Mängelliste ist lang. In konservatorischer Hinsicht ist immerhin die im Vergleich zu andern Museen sehr zurückhaltende Arbeit der Restauratoren hoch zu schätzen. Aber allein zwischen 1991 und 1996 hat der Kunsttempel vier Direktoren verschlissen. Der Kunsthistoriker Fernando Checa, der sich seither auf diesem Posten hält, ist nun durch Serra faktisch entmachtet worden. Als dieser seine Strategie für das Museum den Medien präsentierte, sass der nominelle Direktor nicht etwa neben ihm auf dem Podium, sondern im Publikum.

Der Maler Ramón Gaya, der das Museo del Prado ein «umgekehrtes Irrenhaus» genannt hat - «ein Irrenhaus der Vernunft, der Stille, der Gewissheit» -, bezog sich gewiss nicht auf dessen Verwaltung. Eher meinte er die Sammlung, vielleicht auch die altertümliche, trotz jährlich 1,8 Millionen Besuchern durchaus klassische Museumsstimmung. Nun aber übernimmt die Macht in diesem Irrenhaus der Stille und der Gewissheit ein Mann, der darin schlicht ein «Juwel» sieht - «das Kronjuwel» -, das es schleunigst neu und marktgerecht zu schleifen gilt. «Als Patriot», so Serra, könne er es nicht mehr mit ansehen, wie einige an ihren Sitzen klebende Kustoden das Haus als ihr Privatrevier mit lebenslänglicher staatlicher Vollversorgung betrachteten.

Da kann man nur leer schlucken, denn er hat zweifellos Recht: Die in seinem Auftrag von der Boston Consulting Group erstellte Analyse stellt fest, dass vergleichbare Museen wie der Louvre und das Metropolitan ein Mehrfaches an Öffentlichkeitsarbeit leisten, im Klartext: spektakuläre und besucherintensive Temporärausstellungen ausrichten, wie sie der Prado kaum je geboten hat. Das Budget reicht dafür schlicht nicht aus. Es soll daher bis ins Jahr 2005 verdreifacht werden, auf ungefähr 70 Millionen Franken jährlich, inklusive eines Ankaufsetats von 15 Millionen. Sponsoring, Merchandising und Eintrittsgelder (wobei mittelfristig mit einer Verdoppelung des Eintrittspreises zu rechnen ist) sollen künftig über 30 Millionen Franken jährlich generieren. Auch der Staat wird freilich zur Kasse gebeten: Sein Anteil an der Finanzierung soll zwar von 67 Prozent (europäischer Durchschnitt heute: 62 Prozent) auf 50 Prozent sinken, in absoluten Zahlen wird er sich aber mehr als verdoppeln.

Die Consulting-Firma entwarf, abgesehen von der kategorisch geforderten Umsatzsteigerung - mehr Personal, mehr Besucher, mehr Budget, mehr Aktivitäten -, flüchtig auch verschiedene Szenarien für einen neuen rechtlichen Status des Museums, mit den Extremen «reiner Staatsbetrieb» und «Totalprivatisierung». Empfohlen wird eine öffentlichrechtliche Institution mit Teilautonomie. Völlig neu geregelt wird die interne Verwaltung: Ein Generaldirektor - de facto jetzt Eduardo Serra - fungiert als Schlüsselfigur zwischen der ständigen Aufsichtskommission und dem Stiftungsrat einerseits, andererseits den bislang zwei, neu vier Direktoren: künstlerische Leitung, interne Verwaltung, Drittmittelbeschaffung (englisch «Development») und Öffentlichkeitsarbeit.


Gegenstimmen

Die spanische Öffentlichkeit hat auf die geplante Kommerzialisierung ihres kulturellen Flaggschiffs bisher nicht reagiert. Auch intern ist der Widerstand gering, obwohl künftig zweifellos in einem kompetitiveren Umfeld gearbeitet werden wird. Fast 300 zusätzliche Arbeitsplätze zu den 400 bestehenden wiegen indessen schwerer als die Möglichkeit einiger Entlassungen. Kritische Stimmen lassen sich aber auch sonst kaum vernehmen. Er könnte wohl eine solche sein, meint etwa einer der Ex-Direktoren des Museums, ziehe es jedoch vor, sich nicht öffentlich zu dem Thema zu äussern. Der Kurzangebundene war seinerzeit ironischerweise wegen eines Vergehens entlassen worden, das jetzt im Prado gerade zur Norm werden soll: der kommerziellen Nutzung der Säle für Fremdzwecke.

Die oppositionellen Sozialisten hatten zwar die Form gerügt, in der Serra auf präsidiales Geheiss ernannt worden war; verletzte sie doch gröblich nicht nur das Statut des Stiftungsrats, sondern überhaupt alle demokratischen Spielregeln. Aber da mit Kulturpolitik keine Wähler zu gewinnen sind, begnügte man sich mit einer nachträglichen Entschuldigung der Regierung, ohne an der Tatsache zu rütteln, dass Serra heute eine Stellung einnimmt, die ihm rechtens nicht zusteht. Joaquín Leguina, der Kultursprecher des PSOE, will nun abwarten, bis das seines Erachtens unnötige neue «Prado-Gesetz» vors Parlament kommt, um seine Vorbehalte gegen eine Teilprivatisierung präziser zu formulieren. «Da braucht man sich nichts vorzumachen. Aus reiner Wohltätigkeit engagiert sich kein Grossunternehmen für Kunst. Was zur einen Seite hereinkommt, geht via Steuererleichterungen auf der andern wieder raus.»

Laut Serra steht der Stiftungsrat einmütig hinter seinem Projekt. Möglicherweise beruht dieser Konsens aber darauf, dass über entscheidende Fragen gar nicht abgestimmt wird. Dies versichert jedenfalls ein Mitglied des Stiftungsrats, das - obwohl es sich die Mühe nahm, der NZZ gegenüber schriftlich Stellung zu nehmen - nicht namentlich genannt werden möchte. Ist das der Stand der Meinungsfreiheit im heutigen Spanien? Gerade das «scheinbare» Fehlen einer Opposition im Fall Prado zeige die rigorose Kontrolle über die Medien auf, die Spaniens Rechte erlangt habe. Kein Museum sei je auf so unverschämte Weise von einer Regierung als Propagandainstrument missbraucht worden. Das von Serra verfolgte Modell gehe weit über alles hinaus, was in Sachen Sponsoring bislang an Europas Pinakotheken toleriert worden sei. Private Geldgeber neigen nun einmal zum Spektakulum. Sie können kurzfristige Projekte durchführen, sichern jedoch keine Häuser und erlauben keine langfristigen Planungen.

Natürlich liegt in Spanien das Guggenheim-Beispiel nahe. Auch in Bilbao lässt sich ja der Staat das amerikanische Modell des kulturellen Erlebnisparks einiges kosten. «Ob das Museum seine Sache gut oder schlecht macht, muss», so Serra, «das Publikum entscheiden.» Einschaltquoten also auch für den Prado? Den Kürzern ziehen wird, obwohl man sich in Madrid dann «die besten Fachleute» leisten kann, voraussichtlich die Kunstwissenschaft - und wohl auch jenes Publikum, für das der Prado bisher so etwas wie «ein Irrenhaus der Vernunft, der Stille und der Gewissheit» war.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2001.06.15



verknüpfte Bauwerke
Museo del Prado - Erweiterung

15. März 2001Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Architekt, Theoretiker, Bürger

Zum Tod von Ignasi de Solà-Morales

Zum Tod von Ignasi de Solà-Morales

Er hat wenig gebaut, aber als Architekturtheoretiker gehörte er zu den Grossen seiner Zeit. Es ist bezeichnend, dass die beiden bekanntesten Bauten des 1942 in Barcelona geborenen, am Montag in Amsterdam einem Herzinfarkt erlegenen Ignasi de Solà-Morales der kritischen Rekonstruktion zuzurechnen sind - wiewohl jeder auf ganz eigene Weise: der deutsche Pavillon von Mies van der Rohe (1929/1986) und die 1994 abgebrannte und fünf Jahre später wiedereröffnete Barceloneser Oper, das Liceu. Zu Solà-Morales' vielfältigen Betätigungen gehörte auch die Neuordnung historischer Stadtkerne (Tarragona, Marseille). Bedeutender aber war sein Wirken als Architekturhistoriker und -theoretiker, eine Berufung, der er als langjähriger Professor an der Architekturschule Barcelona, als Gast an zahlreichen andern Universitäten und internationalen Symposien lebte.

Sein Essay über die «Schwache Architektur» (1987) gehört heute zur Standardlektüre an amerikanischen Hochschulen. Schon zuvor hatte er sich mit Studien zur architektonischen Typologie (in der Nachfolge Pevsners) sowie über Gaudí, Jujol und weitere Aspekte der katalanischen Architekturgeschichte als rigoroser Denker profiliert. In seinem Hauptwerk, «Diferencias. Topografía de la arquitectura contemporánea» (1995), setzte er sich mit den poststrukturalistischen Theorien seiner Zeitgenossen Deleuze, Vattimo und Eisenman auseinander. Nicht zu unterschätzen ist auch seine Rolle als kultureller Agitator in seiner Heimatstadt und als deren Botschafter im Ausland, wo ihn nun - er war für die Verleihung des in Barcelona initiierten Mies-van-der-Rohe-Preises nach Holland gereist - überraschend der Tod ereilte.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 2001.03.15

01. Dezember 2000Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Cool Hispania

Ein Blick auf die junge spanische Architektenszene

Ein Blick auf die junge spanische Architektenszene

Der Titel «Young Spanish Architects» - sollte der eine Reminiszenz an die Young British Artists sein? Die Generation ist annähernd dieselbe, die Architekten der 44 hier vorgestellten Bauten und Projekte wurden alle zwischen 1956 und 1964 geboren. Eine geistige Verwandtschaft mit den YBA ist freilich nicht zu konstatieren, es sei denn, man halte die «mala leche» dafür, die Tücke oder Bösartigkeit, welcher das barcelonesische Architektenteam Ruisánchez & Vendrell bei jeder Bauaufgabe nachzuspüren empfiehlt.

Diesen «hard-core character», der das Bauen namentlich in Suburbia kennzeichnet, verniedlicht der deutsche Übersetzer zum «innersten Wesenskern des Problems». Es ist nicht das erste Architekturbuch, das eine etwas sorgfältigere Lektorierung verdient hätte. David Cohn, ein Amerikaner in Madrid, legt mit seiner Monographie einen Überblick über die neusten Regungen einer Architekturszene vor, die neben der holländischen und der schweizerischen als eine der regsamsten Europas gilt, und dies nicht erst seit gestern.

Die Spur der Lehrmeister, namentlich jene von Alejandro de la Sota und Rafael Moneo, findet sich denn auch in den Projekten der vierzehn hier vorgestellten Büros, von denen nur sechs in den traditionellen Architektur-Hochburgen Madrid und Barcelona, acht aber in der Provinz angesiedelt sind. Die Dezentralisierung von Cool Hispania trägt nun offensichtlich auch architektonische Früchte.


[David Cohn: Young Spanish Architects / Junge spanische Architekten. Birkhäuser-Verlag, Basel 2000. 144 S., Fr. 68.-. ]

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 2000.12.01

05. Juli 2000Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Ein Komet am Himmel der Baukunst

Schnelligkeit war seine hervorstechende Eigenschaft. Wer je sein Atelier in der Altstadt von Barcelona besucht hat - und es war längst zu einer Pilgerstätte für junge Architekten aus aller Welt, zu einem eigentlichen Workshop geworden -, der konnte Enric Miralles' Aufnahme-, Koordinations- und Vermittlungsfähigkeit nur bewundern. Nun ist dieses Architektenleben unerwartet, obwohl sich Miralles unlängst in Houston (Texas) wegen eines Hirntumors in medizinische Behandlung begeben hatte, in seiner Geburtsstadt Barcelona zu Ende gegangen. Spaniens grösstes Architekturtalent seiner Generation ist lediglich fünfundvierzig Jahre alt geworden.

Schnelligkeit war seine hervorstechende Eigenschaft. Wer je sein Atelier in der Altstadt von Barcelona besucht hat - und es war längst zu einer Pilgerstätte für junge Architekten aus aller Welt, zu einem eigentlichen Workshop geworden -, der konnte Enric Miralles' Aufnahme-, Koordinations- und Vermittlungsfähigkeit nur bewundern. Nun ist dieses Architektenleben unerwartet, obwohl sich Miralles unlängst in Houston (Texas) wegen eines Hirntumors in medizinische Behandlung begeben hatte, in seiner Geburtsstadt Barcelona zu Ende gegangen. Spaniens grösstes Architekturtalent seiner Generation ist lediglich fünfundvierzig Jahre alt geworden.

Miralles verdiente sich seine Sporen bis 1984 bei Viaplana und Piñón. Deren Bahnhofplatz Sants, sofort als Ikone eines neuen Urbanismus erkannt, gehört zu den ersten Arbeiten, bei denen Miralles' unverkennbare Handschrift sichtbar wurde. Dann entstanden, bis 1989 in Zusammenarbeit mit seiner ersten Frau Carme Pinós, so innovative Bauten wie die Schule La Llauna in Badalona, die olympische Bogenschiessanlage in Barcelona und das Internat in Morella. Auf dem Friedhof von Igualada, einem seiner lyrischsten und zugleich strengsten Werke aus jener Zeit, wurde Miralles am Dienstag zu Grabe getragen.

In den neunziger Jahren begann sein Stern auch am internationalen Architekturfirmament zu leuchten. Als Dozent in Frankfurt und Barcelona, in Harvard und Columbia spielte Miralles seine Gabe aus, das diffizile Gleichgewicht zwischen Chaos und Ordnung zu halten, das auch seine Architektur kennzeichnet. Es entstanden die grossen Sportpaläste in Alicante und Huesca sowie - als erster Bau ausserhalb Spaniens - ein Bahnhofzugang in Takaoka, Japan. Von den zahlreichen internationalen Wettbewerben, zu denen Miralles nun eingeladen wurde, gewann er jene für das schottische Parlament in Edinburgh und die Architekturschule in Venedig. Die Ausführung dieser Hauptwerke bleibt nun seiner zweiten Frau und Partnerin, der Italienerin Benedetta Tagliabue, überlassen. Am meisten am Herzen lag Miralles in jüngster Zeit aber die Planung für das Quartier, in dem er selbst lebte. Als die Erneuerer der barcelonesischen Altstadt mit ihren Tabula- rasa-Methoden zunehmend auf Kritik stiessen, nahmen sie Zuflucht bei dem renommierten Anwohner, der sich der Sache - insbesondere der Neuplanung des Marktes Santa Caterina - mit der ihm eigenen Energie und dem ihm eigenen Gespür annahm. In Barcelona wird er künftig auch mit seinen Entwürfen für die Urbanisierung Diagonal-Mar sowie - sein erster Wolkenkratzer - dem direkt am Meer liegenden Hauptsitz des spanischen Grossunternehmens Gas Natural präsent sein. Der letzte Bau, dessen Fertigstellung er noch erlebte, ist die Musikschule in Hamburg.

Miralles war ein unermüdlicher Erfinder, dem man mit der Schubladisierung als «Dekonstruktivist» nicht wirklich gerecht wird. Unter seiner Hand gerieten Pläne zu geheimnisvollen Kunstwerken, und seinen Fotocollagen mass er dieselbe Bedeutung bei wie jenen aus Stahl und Beton gebauten Wildbächen, die als seine grossen, aber immer mit einem Augenzwinkern geschaffenen Werke bleiben werden.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 2000.07.05

21. März 2000Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Erfundene Systeme

Unter dem Titel «Systeme erfinden» stellt das Col·legi d'Arquitectes de Catalunya in Barcelona den «industriellen Systemen» von Jean Prouvé die «emotionalen...

Unter dem Titel «Systeme erfinden» stellt das Col·legi d'Arquitectes de Catalunya in Barcelona den «industriellen Systemen» von Jean Prouvé die «emotionalen...

Unter dem Titel «Systeme erfinden» stellt das Col·legi d'Arquitectes de Catalunya in Barcelona den «industriellen Systemen» von Jean Prouvé die «emotionalen Systeme» von F. J. Barba Corsini gegenüber. Das Werk des 1916 in Tarragona geborenen Aussenseiters Barba Corsini wurde auch in Spanien lange verkannt. Noch in den neunziger Jahren opferte man seine zauberhaften, zwischen 1953 und 1955 im Dachgeschoss von Gaudís Casa Milà eingerichteten Wohnungen bedenkenlos der Einrichtung eines Gaudí-Museums. Neben den Farbskizzen des Architekten und den Photos von Català-Roca, der das Werk Barba Corsinis in der Zeit seiner Entstehung vorzüglich dokumentierte, sind auch einige der eigens für diese Wohnungen geschaffenen Möbel zu sehen, ausserdem die Entwürfe für andere, erst heute gebührend beachtete Bauten wie das Ferienhaus des Dr. Pérez in Cadaqués und die Unité d'habitation Mitre in Barcelona.

Neue Zürcher Zeitung, Di., 2000.03.21

03. Dezember 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Kabbala und neue Baukunst

Die Provinzhauptstadt Girona galt einmal als eine «Mutterstadt Israels». Seit im 15. Jahrhundert die Juden vertrieben wurden, versank sie in die Bedeutungslosigkeit. Heute besinnt man sich in der Hochburg des katalanischen Nationalismus des sephardischen Erbes. Gleichzeitig tragen ein städtebauliches Erneuerungsprogramm und die Universität zur Renaissance der Stadt bei.

Die Provinzhauptstadt Girona galt einmal als eine «Mutterstadt Israels». Seit im 15. Jahrhundert die Juden vertrieben wurden, versank sie in die Bedeutungslosigkeit. Heute besinnt man sich in der Hochburg des katalanischen Nationalismus des sephardischen Erbes. Gleichzeitig tragen ein städtebauliches Erneuerungsprogramm und die Universität zur Renaissance der Stadt bei.

Auch Städte können gezähmt werden - und dennoch ihre Reize entfalten. 1997 verglich die Tageszeitung «El País» in ihrem Sonntagsmagazin die Lebensqualität in Spaniens 52 Provinzkapitalen. Die Kriterien mochten willkürlich anmuten wie bei solchen Veranstaltungen üblich: vom Pro-Kopf-Einkommen bis zur Anzahl der Bibliotheken, von der Sonnenscheindauer bis zur Suizidrate. Überraschen konnte der Ausgang gleichwohl nicht. Am besten lebt sich's demnach in Girona, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten des Landes, mit ihren gerade mal 70 000 Einwohnern. Und dabei spielten gewisse Standortvorteile Gironas noch gar keine Rolle: Man ist von hier aus ebenso schnell in der Grossstadt Barcelona wie im Languedoc, und die Gipfel der Pyrenäen sind so nah wie die Buchten der Costa Brava (die teilweise weniger lädiert sind als ihr Ruf). Auch dass Gironas historisches Zentrum zu den schönsten des Landes zählt, fiel nicht so sehr ins Gewicht. Vor allem zählte, wie untadelig die Stadt dieses Erbe verwaltet - und sogar ihre Peripherie zu hegen versucht: eine richtige Musterschülerin der noch jungen spanischen Demokratie. Zu artig, zu korkig, zu fad vielleicht?

Zum eigentlichen Kleinod der Altstadt entwickelte sich in den letzten Jahren das einstige, El Call genannte jüdische Viertel. Sein wichtigster Strassenzug, der Carrer de la Força, gehörte als Teilstück der Via Augusta schon zum römischen Cardo. Spätestens seit dem 10. Jahrhundert siedelte sich hier eine jüdische Gemeinschaft an, mit einer eigenen, Aljama genannten Verwaltung. Die christliche Bevölkerungsmehrheit unterhielt zu ihr rege, aber nicht durchweg von Toleranz gekennzeichnete Beziehungen. Allein aus der Zeit zwischen 1276 und 1418 sind acht Pogrome belegt.

Aus Girona stammten bedeutende Vertreter der im 12. Jahrhundert in der West-Provence entstandenen kabbalistischen Schule: Ionà ben Abraham, Azriel, Nissim Reuben Gerondí und Messulam ben Selomó. Die repräsentativste Figur unter diesen Philosophen war Nahmanides (1194-1270), Autor des «Torat Ha'Adam», eines der einflussreichsten Werke der jüdischen Mystik. In den finsteren Gassen Gironas fand die Kabbala ihre klassische Ausprägung und strahlte von hier aus in die ganze hebräische Welt aus. Als die Reyes Católicos 1492 die Ausweisung aller Israeliten aus ihrem Herrschaftsgebiet dekretierten, bedeutete dies auch das Ende des jüdischen Girona, das im 13. Jahrhundert als «Mutterstadt Israels» bekannt gewesen war. Die Stadt selbst versank in Bedeutungslosigkeit.

Seit einigen Jahren versucht nun eine von den lokalen Verwaltungen getragene, zum Teil mit amerikanischen Geldern finanzierte Stiftung, das verlorene Erbe der Sephardim in Girona wieder lebendig werden zu lassen. In architektonischer Hinsicht ist das freilich ein trügerisches Unterfangen. Nicht nur weil es keine eigentlich hebräische Bauweise gab; es bleiben auch weder Spuren der drei Synagogen und der Aljama, noch hat sich die mittelalterliche Bausubstanz des Carrer de la Força und seiner engen, steilen, teilweise erst in jüngster Zeit wieder öffentlich zugänglich gemachten Seitengassen erhalten. In einer davon wurde 1990 das «Centre Bonastruc ça Porta» - dies der katalanische Name des grossen Nahmanides - eröffnet. Bittere Ironie, dass als Baujahr für die ältesten Teile dieses Gebäudekomplexes just 1492, das Jahr des Exodus, genannt wird. Hier soll sich die letzte Synagoge befunden haben. Nun ist der Umbau dieser Räume zum jüdischen Studienzentrum (mit Ausstellungssälen, Bibliothek und Boutique) teils bereits abgeschlossen, teils noch in Planung.

Das bauliche Ensemble mit seinen dezent bepflanzten Patios und seinen verschachtelten Kellergewölben vermittelt zumindest eine Ahnung davon, was Gironas abweisende Mauern bergen - und bargen. Und die «Wiedereinsetzung der jüdischen Vergangenheit» (im Grunde drückt es die linkische Übersetzung einer Informationsbroschüre trefflich aus) ist insofern nicht ganz illusorisch, als nun Ausstellungen, Konzerte und Vorträge den Besuchern die untergegangene Welt des katalanischen Judentums vergegenwärtigen.

Für Girona, das seit dem Ende der Franco-Zeit kontinuierlich an sich gearbeitet hat, ist dieses Reimplantat nur eine Facette einer umfassenden Regenerierung. Die Region gehört zu den Hochburgen des katalanischen Nationalismus; es ist jedoch ein sozialistischer Politiker, der neulich zum fünftenmal wiedergewählte Joaquim Nadal, der seit über zwanzig Jahren als Alcalde die Geschicke der Stadt leitet. Auf symbolischer Ebene mochte nichts besser den Willen zum Wandel zu veranschaulichen als Nadals sanfte Aufforderung zum zivilen Ungehorsam, als er, seiner zaudernden Bürgerschaft zum Vorbild, eigenhändig das Kennzeichen seines Dienstwagens von GE zu GI abänderte - vom spanischen Gerona zum katalanischen Girona, mit jenem stimmhaften G, das zugleich eine neue Sanftheit im Umgang mit der gebauten Umgebung anzukündigen schien.

Einschneidender sind seine urbanistischen Taten. Nadal liess alte Kasernen schleifen und statt ihrer Parks anlegen. Die weitgehend intakte Stadtmauer wurde zu einer Promenade ausgebaut. Die direkt an den Onyar, einen der vier die Stadt durch- bzw. umfliessenden Flüsse, stossenden Altstadtfassaden wurden postkartengerecht renoviert. In der Neustadt am gegenüberliegenden Ufer, deren Katalog lokaler Architekturmoden der letzten 150 Jahre sich durchaus auch sehen lassen kann, zog sich die Gestaltung eines Terrain vague zu einer weitläufigen neuen Platzanlage über zehn Jahre hin. Heute fügen sich die mit geometrischen Folies übersäten Betonfalzen der barcelonesischen Architekten Elias Torres und Antonio Martínez Lapeña, sosehr die konservative Bevölkerung gegen dieses Wagestück aufbegehrte, und trotz einigen offensichtlich missglückten Details, als Plaça de la Constitució selbstverständlich ins Stadtganze.

Unweit davon haben zwei andere Barcelonesen, Esteve Bonell und Josep Gil, eines der wenigen herausragenden Einzelbauwerke Gironas geschaffen: den Gerichtshof, der als L-förmiger Solitär einen ganzen Stadtteil strukturiert und trotz seinen unterschiedlich gestalteten Fassaden als kompositorische Einheit erscheint. Dieselben Architekten konnten etwas ausserhalb des Zentrums auch eine neue Sporthalle bauen, übrigens bei weitem nicht die einzige in Girona. Jeder vierte Gironí ist Mitglied des lokalen Gym-Klubs Geieg. Zu den erwähnenswerten Neubauten gehört ferner die Sprachschule von Víctor Rahola sowie ein dieses Jahr mit dem wichtigsten katalanischen Architekturpreis, dem «Premis FAD», ausgezeichnetes Wohnhaus von Arcadi Pla.

Vom Lokalmatador Pla stammt auch der Masterplan für den Campus im Süden Gironas. Für die erst 1991 gegründete Universität, an der heute 11 000 Studenten eingeschrieben sind, ist indessen kein Gebäude emblematischer als das einstige Dominikanerkloster in der Altstadt, wo die literarische Fakultät untergebracht wurde. Die neue Gelehrsamkeit hat vielleicht mehr als sämtliche urbanistischen Eingriffe zur Verjüngung der Stadt beigetragen. All die adrett hergerichteten Bars und Boutiquen, die heute ihre Strassen säumen, hätten sonst gar kein Publikum. Natürlich fehlt es nicht an Leuten, die das alles ein bisschen spiessig finden. Aber was war denn vorher? Eine zerbröckelnde Altstadt und rundherum die franquistischen Blöcke für südspanische Emigranten. Dort, in den Randzonen der Stadt, haben sich inzwischen neue, vorwiegend aus Nordafrika stammende Einwanderer angesiedelt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.12.03

03. Dezember 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Museumsprojekte

Das spanische Nationalmuseum für Kunst des 20. Jahrhunderts, das Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, wird nach einem Entwurf von Jean Nouvel erweitert....

Das spanische Nationalmuseum für Kunst des 20. Jahrhunderts, das Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, wird nach einem Entwurf von Jean Nouvel erweitert....

Das spanische Nationalmuseum für Kunst des 20. Jahrhunderts, das Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, wird nach einem Entwurf von Jean Nouvel erweitert. Der Franzose setzte sich gegen sechs spanische und fünf ausländische Mitbewerber durch. Auf der Rückseite des Kunstzentrums - eines ehemaligen Spitals, über dessen architektonische Qualität sich Nouvel nicht äussern mochte - sieht er drei kleinere Neubauten vor. Sie nehmen einen Ausstellungs- sowie einen Konzertsaal, die Bibliothek, ein Restaurant und Büros auf. Das um einen Patio mit neuem Eingang gruppierte Ensemble wird vom grossen Dreieck einer vorkragenden, teilweise perforierten Decke zusammengehalten: formal wie auch in den Materialien eine dem Luzerner Kultur- und Kongresszentrum verwandte Lösung. Nouvel geht es darum, «ein Stück Stadt zu fabrizieren», ein Kleinquartier im Schatten des Altbaus, teils gedeckt, teils unter offenem Himmel - in der Hoffnung, Alt und Neu möchten sich gegenseitig aufwerten.

Während rund um das Reina Sofía eitel Freude herrscht, sind über den Ausbauplänen für den nahen Prado erneut dunkle Wolken aufgezogen. Nachdem 1996 der erste Preis des offenen Wettbewerbs für verwaist erklärt worden war, mied man in der nachfolgenden Barrage alle Risiken und legte das Vorhaben in die Hände einer Koryphäe der spanischen Baukunst: Rafael Moneo. Dessen im Herbst präsentiertes definitives Projekt und insbesondere der kubische Neubau um die isabellinische Kreuzgangruine San Jerónimo sind nun aber unter heftigen Beschuss geraten. Allzu willfährig hat sich Moneo an die Vorgaben der Patronatskommission gehalten, durch die nach Ansicht vieler Architekten die Prado-Erweiterung in die falsche Richtung gelenkt wird.

Besucher sind immer wieder irritiert über die Lage des heutigen Haupteingangs, der infolge der im 19. Jahrhundert vorgenommenen Planierungen in sieben Metern Höhe zu schweben scheint. Unbegreiflicherweise gilt nun gerade die durch diesen Eingriff entstellte Nordfassade mit der plumpen, von 1943 stammende Treppenanlage als unantastbar. So wird nicht nur die Wiederherstellung der ursprünglich sanft von den Jerónimos zum Paseo del Prado abfallenden Topographie verhindert, sondern auch das natürliche Wachstum des Museums nach Norden. Moneo liess sich eine Lösung aufzwingen, in der viele den Meisterarchitekten kaum wiedererkennen. Im unerwarteten Hagel der Kritik hat er inzwischen an seinem San-Jerónimo-Kubus einige Retuschen angebracht. Die endgültige Entscheidung darüber, wie der Prado des 21. Jahrhunderts aussehen wird, fällt aber voraussichtlich erst nach den im Frühling fälligen spanischen Wahlen. Dem Museum wäre es zu gönnen, wenn man nach einem allfälligen Regierungswechsel ein weiteres Mal mit der Planung von vorn anfinge.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.12.03

03. November 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Picasso in den Palästen

Kunst frisst sich durch die Altstadt, entkernt sie und legt äusserlich unsichtbare Schneisen in das Dickicht. Barcelonas 1963 gegründetes Museu Picasso,...

Kunst frisst sich durch die Altstadt, entkernt sie und legt äusserlich unsichtbare Schneisen in das Dickicht. Barcelonas 1963 gegründetes Museu Picasso,...

Kunst frisst sich durch die Altstadt, entkernt sie und legt äusserlich unsichtbare Schneisen in das Dickicht. Barcelonas 1963 gegründetes Museu Picasso, das jährlich über eine Million Besucher anzieht, war ursprünglich in zwei, seit 1986 in drei mittelalterlichen Palästen untergebracht; nach der jüngsten Erweiterung nimmt es nun deren fünf ein. Ende Oktober wurden die neuen Säle für temporäre Ausstellungen eröffnet. Bis ins Jahr 2004 soll auch das Labyrinth der Sammlungssäle entwirrt sein, und auf der Rückseite der Palastreihe am Carrer Montcada wird sich ein Skulpturengarten anschliessen. Man begreift, dass der «Faktor Picasso» bei der Vermarktung der Stadt nicht zu vernachlässigen ist; ebenso, dass sich zur Bewältigung der Touristenströme ein «respektvoller», aber nicht gerade der sanfteste Umgang mit der vorhandenen, bis ins 13. Jahrhundert zurückreichenden Bausubstanz empfahl.

Seit 1978 ist Jordi Garcés, ein Star der katalanischen Architekturszene, für den Um- und Ausbau des Museums verantwortlich. Mit seinem jüngsten Eingriff wird nun die streng axiale Ordnung deutlich, die seinem Konzept zugrunde liegt. Im Erdgeschoss, hinter den zurückversetzten Eingangspatios, verbindet eine durchgehende Passage die fünf Paläste. Ergänzt durch eine rechtwinklig dazu ins Innere abzweigenden Achse, soll das frei zugängliche Parterre die urbanistische Einbindung in das Altstadtquartier gewährleisten. Die Längsachse wird sich dereinst auch in den Obergeschossen durch den Gebäudekomplex ziehen. Während die in Sichtbeton belassenen Zugangsbereiche eine «unverhohlene Vision» der Architektur bieten und mit den mittelalterlichen Gewölben bisweilen knochenharte Verbindungen eingehen, bleiben die weissen Ausstellungssäle mit ihren Marmorfliesen einer herkömmlicheren Noblesse verpflichtet. Fassadenseitig musste der jeglichem Historizismus abholde Garcés auf seinen Plan, die Balkone einfach abzusägen, verzichten; Fensterverkleidungen aus Irokoholz, die schmale vertikale Fensterbänder offenlassen, sind indessen ein weiteres Beispiel für seinen unsentimentalen Umgang mit dem Bauerbe. Der künftige Skulpturengarten wird schliesslich mit aller Hinterhofromantik und anderen geschichtlichen Ablagerungen aufräumen.

Dass in Barcelona eine in der architektonischen Sprache und der rigoros rationalistischen Ordnung derart kompromisslose, ebenso minimale wie tiefgreifende Intervention praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit vonstatten geht, stellt der katalanischen Zivilgesellschaft nicht unbedingt ein gutes Zeugnis aus. In seiner Kühnheit wäre der Eingriff unter anderen Voraussetzungen freilich wohl gar nicht möglich gewesen.

Die Politiker sind sich einig, dass nun auch die seit längerem kaum mehr erweiterte Sammlung des Museums neuer Impulse bedarf. Unübertroffen bezüglich des Frühwerks von Picasso, sind die Bestände für die späteren Schaffensperioden des Künstlers - bis auf einzelne Höhepunkte wie die Serie der «Meninas» - weiterhin lückenhaft. Ankäufe kann sich die Stadt als Eigentümerin des Museums bei den heutigen Preisen jedoch kaum leisten, und der spanische Staat pflegt seine neu erworbenen Picassos durchweg in Madrid zu placieren. Einen Begriff davon, was das Haus aus eigenen Beständen beibringen kann und wo es auf Leihgaben angewiesen ist, bietet die erste Ausstellung in den neuen Sälen. «Picasso: Interieurs und Exterieurs» zeigt hervorragende Beispiele aus dem Schaffen des Anti-Paysagisten, der einmal sagte, er berge in seinem Inneren Landschaften, wie sie ihm die Natur niemals so schön bieten könnte.


[ Die Ausstellung «Picasso: Paisatge interior i exterior» dauert noch bis zum 30. Januar 2000. Der Katalog kostet 4995 Peseten. ]

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.11.03



verknüpfte Bauwerke
Museu Picasso - Erweiterung

16. September 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Zauberberg bei Santiago

Vor zwei Jahren machte Frank O. Gehry in Bilbao mit dem Guggenheim Museum Furore. Man hat ausgerechnet, dass allein die Gratispublizität in den Weltmedien,...

Vor zwei Jahren machte Frank O. Gehry in Bilbao mit dem Guggenheim Museum Furore. Man hat ausgerechnet, dass allein die Gratispublizität in den Weltmedien,...

Vor zwei Jahren machte Frank O. Gehry in Bilbao mit dem Guggenheim Museum Furore. Man hat ausgerechnet, dass allein die Gratispublizität in den Weltmedien, die der baskischen Stadt dadurch zuteil wurde, den anderthalbfachen Wert der Baukosten erreichte. Nun setzt Spaniens nordwestliche Region Galicien zu einem ähnlichen Coup an. Die Protagonisten heissen diesmal Peter Eisenman, Santiago de Compostela und «Cidade da Cultura». Geplant ist ein 180-Millionen-Franken-Komplex aus Museen, Bibliotheken und Konzertsälen, wie er freilich gerade Santiago zuletzt not tut. Die Pilgerstadt hat nicht nur zu ihrem reichen baulichen Erbe gut Sorge getragen; sie wurde in jüngster Zeit auch mit neuen kulturellen Infrastrukturen - so dem Centro Galego de Arte Contemporánea von keinem geringeren als Alvaro Siza - reich bestückt.

Mit der voraussichtlich im Jahr 2003 fertiggestellten Kulturfabrik scheint sich der altgediente galicische Regionalpräsident Manuel Fraga selbst ein Denkmal setzen zu wollen. Fraga, einst Informationsminister Francos, dann Gründer des heute regierenden Partido Popular, ist Spaniens unverwüstlichster Politiker. Er präsidierte persönlich die Jury, die Eisenmans Entwurf den Vorzug gab. Unter den Geschlagenen: Steven Holl, Daniel Libeskind, Juan Navarro Baldeweg, Manuel Gallego, Annette Gigon und Mike Guyer sowie Rem Kohlhaas. - Eisenman hat, wie ausser ihm sonst nur noch die beiden Franzosen Jean Nouvel und Dominique Perrault, die topographischen Voraussetzungen zum eigentlichen Thema seines Entwurfs gemacht. In den zwischen der Altstadt und der Autopista del Atlántico gelegenen Monte de las Gaias legt er Schnitte, die mit einigem guten Willen an das Symbol Santiagos, nämlich an die Rillen der Jakobsmuschel erinnern. Die Bauten um die in die Hügelkuppe gekerbten Gassen bilden die bestehende, wundersamerweise bis heute unversehrte Landschaft nach oder wandeln sie ab. Während die Mehrzahl der andern Wettbewerbsteilnehmer unerschrocken mehr oder weniger voluminöse Kontrapunkte gegen die Altstadtsilhouette setzten, sah Perraults Vorschlag vor, den Berg auszuhöhlen, um die Kulturstadt ganz im Boden zu versenken und über Spiegel mit Tageslicht zu versorgen. Dagegen mutet Eisenmans Lösung ebenso kühn wie behutsam an - vermutlich der intelligenteste der elf Entwürfe. Einen galicischen «Zauberberg» erahnt das Jurymitglied Kurt Forster darin. Auf die Ausführung darf man gespannt sein.

Neue Zürcher Zeitung, Do., 1999.09.16

03. April 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Weiterbauen, in Gaudis und in Gottes Namen

Der Architekt Gaudí soll jetzt seliggesprochen werden. Die positio – der Nachweis seiner einwandfreien Lebensführung und Wundertätigkeit – wird dem Vatikan...

Der Architekt Gaudí soll jetzt seliggesprochen werden. Die positio – der Nachweis seiner einwandfreien Lebensführung und Wundertätigkeit – wird dem Vatikan...

Der Architekt Gaudí soll jetzt seliggesprochen werden. Die positio – der Nachweis seiner einwandfreien Lebensführung und Wundertätigkeit – wird dem Vatikan demnächst zugestellt. Ist dieses Prozedere einmal überstanden, rückt auch die Heiligsprechung in den Bereich des Möglichen. Sankt Antoni Gaudí wäre der erste Baukünstler überhaupt, der kanonisiert wird. Jene, die seine Beatifikation betreiben, nennen ihn den «Architekten Gottes». Welche Wunder er denn gewirkt habe? «Nun», scherzt der Leiter des Gaudí-Lehrstuhls in Barcelona, Joan Bassegoda, «sind nicht einige seiner Bauten wundersam genug?»

Der Sühnetempel der Sagrada Familia freilich, mit dessen Planung der Visionär sich 43 Jahre lang beschäftigte, gilt Gaudí-Kennern als eher zweitrangiges Werk – ganz abgesehen vom Weiterbau, den viele für einen Stumpfsinn halten. Der katalanische Architekt hatte hier das Unmögliche angestrebt: ein allumfassendes Bauwerk, das Gotteshaus schlechthin – Mischung aus einer fünfschiffigen gotischen Basilika und einem Zentralbau –, wobei jedes Element, von den Türmen und Gewölben bis zum geringfügigsten ornamentalen Detail, mit christlicher Symbolik geladen und im Hinblick auf die liturgischen Abläufe durchdacht war.

Indessen hatte Gaudí den Bau gar nicht selbst begonnen. Bis heute ist nicht ganz geklärt, unter welchen Umständen er, erst 31jährig, 1883 an die Sagrada Familia berufen wurde und inwieweit ihn das neogotische Projekt seines Vorgängers Villar in seiner planerischen Freiheit einschränkte. Bis zu seinem Tod 1926 vermochte er lediglich die noch von Villar entworfene Krypta, die Apsis, einen kleinen Abschnitt des um den ganzen Tempel herumführenden Kreuzgangs sowie die Geburt-Christi-Fassade auszuführen; deren vier wabenartige Glockentürme mit ihren Fialen aus glasierten Kacheln und venezianischem Glas vollendete sein erster Nachfolger Sugrañes.

Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs unterbrach 1936 die Bauarbeiten, und die Zerstörung der Bauhütte mit Gaudís Plänen und Modellen schien den Weiterbau auf alle Zeiten zu vereiteln. Dennoch wuchsen zwischen 1954 und 1977 die nächsten vier Türme heran, die der Passionsfassade. Dann wurden die Fundamente für das Langhaus gelegt. 1996 waren die Seitenschiffe mit den Emp

Neue Zürcher Zeitung, Sa., 1999.04.03

26. März 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Monolog eines Supertankers

Nur sechs Monate vor der Wiedereröffnung des Liceu, des im Januar 1994 abgebrannten Opernhauses, weiht Barcelona ein anderes, neues Zentrum des Musiklebens ein: «L'Auditori». Äusserlich ein in seiner Schroffheit kühner Container, birgt das vom spanischen Meisterarchitekten Rafael Moneo realisierte Auditorium einen der wohl schönsten Konzertsäle Europas.

Nur sechs Monate vor der Wiedereröffnung des Liceu, des im Januar 1994 abgebrannten Opernhauses, weiht Barcelona ein anderes, neues Zentrum des Musiklebens ein: «L'Auditori». Äusserlich ein in seiner Schroffheit kühner Container, birgt das vom spanischen Meisterarchitekten Rafael Moneo realisierte Auditorium einen der wohl schönsten Konzertsäle Europas.

Der längliche, über zwei Blöcke des Cerdà- Strassenrasters sich hinziehende Baukörper wirkt abweisend, autistisch. Die rigorose Betonstruktur, ausgefacht mit Corten-Stahlpaneelen und von spärlichen Fensteröffnungen durchbrochen, gibt lediglich durch eine unprätentiöse Betonmarkise an einer der Längsseiten zu erkennen, dass es sich um ein öffentliches Gebäude handelt. Der spanische Meisterarchitekt Rafael Moneo hat sich für einen Monolog entschieden. Wenn er mit seinem Auditorium auf etwas Bezug nimmt, dann auf die Industrieruinen in der Umgebung, deren herber Ausstrahlung es sich noch am ehesten annähert. Auf Designer-Schikanen kann dieser Baukünstler verzichten. Auch im – glanzvolleren – Innern lässt er ein irritierendes Understatement walten.

L'Auditori steht in der Nähe der Plaça de les Glories, des Schnittpunkts der drei Hauptachsen Barcelonas: Diagonal, Meridiana und Gran Vía. Der Platz ist indessen nie über den Status eines Verkehrsknotenpunkts in einem ausfransenden Stadtteil hinausgekommen. Die jüngste, 1992 abgeschlossene Reform hinterliess ein spektakulär über ein Parkhaus hinwegsetzendes Autobahn- Oval, in dessen Innern sich ein Park verbirgt: eine neuerdings heftig kritisierte Struktur, zumal sie die inzwischen bis ans Meer verlängerte Diagonale optisch unterbricht. Bereits beginnen die Planer sich wieder damit zu beschäftigen. Barcelona kommt urbanistisch nicht zur Ruhe: für seinen Erneuerungselan wurde es soeben vom Royal Institute of British Architects (RIBA) ausgezeichnet – das erste Mal überhaupt, dass eine Stadt und nicht ein einzelner Architekt dessen jährlich verliehene Goldmedaille erhielt.

Glories gehört zu den acht von der postolympischen Stadtplanung als «areas de nova centralitat» ausersehenen Stadtteilen. Neben dem Auditorium erhebt sich das später projektierte, aber früher eröffnete katalanische Nationaltheater (TNC), bei dem Ricardo Bofill einmal mehr seinen Hang zum Neoklassizismus auslebte, ist doch das TNC einem griechischen Tempel nachempfunden. Moneo verglich die beiden gegensätzlichen Nachbarn mit einem Tanker und einer Galeone. Einen Kritiker veranlasste Moneos extrem zurückhaltender Bau indessen zur Bemerkung, der Pritzker-Preisträger sei sich wohl nicht ganz bewusst gewesen, «dass eine dumb box nun einmal nicht mit einer dumb blonde rivalisieren kann».
Der Einwand, Moneo habe dem Bedürfnis der Konzertbesucher nach ein bisschen Glamour nicht Rechnung getragen, wird allerdings durch das Innere des Auditoriums widerlegt. Der grosse, 2340 Zuhörern Platz bietende Konzertsaal stand laut dem Architekten denn auch am Anfang der Planung. Erst danach habe die – zahlreichen weiteren musikalischen Funktionen dienende – Hülle Gestalt angenommen.

Dieser Saal ist ein Meisterwerk. In den Zugängen und Foyers liegt wie aussen die Betonstruktur offen, aber anstelle der Stahlausfachungen bestimmt hier die warme Helligkeit von Holzpaneelen die Stimmung. Es ist kanadischer Ahorn, mit dem im Saal selbst gleicherweise Böden, Wände und Decken verkleidet sind. Diese Einheit des Materials (abgesehen von den mattgrünen, gleichfalls von Moneo entworfenen Sesseln) bringt die Proportionen des rechtwinkligen, von streng ausgeschnittenen Logen flankierten Saals grossartig zur Geltung. Die Bühne, nur leicht erhöht und von den Sitzreihen umfasst, wirkt wie ein Teil des Zuschauerraums. Moneo vermied – hierin von Scharouns Berliner Philharmonie inspiriert – nach Möglichkeit hierarchische Abgrenzungen; am Eröffnungsabend nahm das spanische Königspaar nicht etwa auf der einzigen leicht vorkragenden Loge Platz, sondern weit hinten im zweiten Rang: Monarchen auf dem Flohboden. Die geometrische Präzision lässt den Saal wie ein Instrument erscheinen. Der Balkenraster an der Decke, nach hinten sich verdichtend, dient der Klangverteilung. Für die Akustik war der katalanische Spezialist Higini Arau zuständig.

L'Auditori ist das erste in öffentlichem Auftrag errichtete Konzerthaus Barcelonas. Wie das Liceu, das erst durch seine Zerstörung seinen Vereinsstatus verlor, entstand auch der 1905 vollendete Palau de la Música auf private Initiative. Zu diesem populären Jugendstil-Bau von Lluís Domènech i Montaner bildet Moneos Konzertsaal nun einen Gegenpol, wie er konträrer nicht sein könnte. Dort ein diffuses Klangbild – hier eine elastische, fügsame Akustik. Dort der Entwurf eines «Schwerverbrechers des Ornaments» – l'Auditori hingegen eine Übung in Purismus: nichts lenkt hier vom Hören ab. Und während man sich in Domènechs Bau in einem Sektentempel wähnt, wirkt Moneos Entwurf vor lauter Lauterkeit schon beinahe wieder lau.

L'Auditori soll so etwas wie Barcelonas Cité de la Musique werden. Der Bau verzögerte sich wegen des Finanzierungsunwillens der Behörden um mehrere Jahre; so ist die Struktur bereits renovierungsbedürftig, noch bevor der Innenausbau abgeschlossen ist. Immerhin hat jetzt hier die vom amerikanischen Dirigenten Lawrence Foster geleitete Orquestra Simfònica de Barcelona i Nacional de Catalunya (OBC) endlich ihren festen Sitz gefunden. Gleichzeitig mit dem Sinfoniesaal wurde im Untergeschoss ein Mehrzwecksaal für 300 bis 500 Zuhörer eröffnet, während ein Kammermusiksaal für 700 Zuhörer noch der Vollendung harrt. Zum Komplex gehören weiter zahlreiche Übungs- und Technikräume. Im Eingangsbereich, dem Moneo mit einem offenen quadratischen Glasschacht, dem Impluvium, einen prägnanten Charakter verliehen hat, soll Barcelonas Musikmuseum untergebracht werden. Dem Architekten hat es besonders die Aussicht angetan, dass auch das Konservatorium sich dereinst hier einrichten wird, damit auch tagsüber Leben in den Tanker kommt. – Für dieses Jahr sind bereits über 200 Konzerte gebucht. Zu den ersten Gastkünstlern gehörten Jessye Norman, Madredeus, Michael Nyman und Jordi Savall: ein Hinweis darauf, dass l'Auditori sich verschiedenen Musikrichtungen öffnet und nicht nur mit dem Palau und dem Liceu, sondern auch mit kleineren Konzertsälen in Konkurrenz tritt.

Neue Zürcher Zeitung, Fr., 1999.03.26



verknüpfte Bauwerke
Konzerthaus Barcelona

03. März 1999Markus Jakob
Neue Zürcher Zeitung

Rationalismus mit Rundungen

Valencia, die drittgrösste Stadt Spaniens, stand stets im Schatten von Madrid und Barcelona. Dabei ist ihre urbane Entwicklung schon durch die frühen rationalistischen Einflüsse bemerkenswert. Heute versucht sich die Provinzmetropole zu profilieren, indem sie sich mit Namen wie Calatrava, Foster und Grassi schmückt. Interessanter ist aber der Blick auf das Stadtganze.

Valencia, die drittgrösste Stadt Spaniens, stand stets im Schatten von Madrid und Barcelona. Dabei ist ihre urbane Entwicklung schon durch die frühen rationalistischen Einflüsse bemerkenswert. Heute versucht sich die Provinzmetropole zu profilieren, indem sie sich mit Namen wie Calatrava, Foster und Grassi schmückt. Interessanter ist aber der Blick auf das Stadtganze.

Das Stadtzentrum von Valencia ist eines von Europas imposantesten städtebaulichen Ensembles rationalistischen Zuschnitts. Ein ganzer Musterkatalog der zwanziger und dreissiger Jahre, wiewohl nicht frei von Beaux-Arts- und Art-déco- Einflüssen, verleiht der Plaza del Ayuntamiento und einigen umliegenden Strassen ihr Gepräge. Zu den Merkmalen dieser neun- bis zwölfgeschossigen Blockrandbebauungen gehören elegant gekurvte, an die Stromlinienformen Mendelsohns erinnernde Fassaden. Es gibt hier kaum eine Ecke, die wirklich eckig ist. Weitere Beispiele dieser Vorliebe für sanfte Rundungen, die gut zu Valencias Ruf einer sinnlichen Stadt passt, findet man auch in jüngeren Stadtteilen.

Gebauter Populismus

An diesen alles andere als puristischen, dafür um so fulminanteren Beginn der Moderne knüpften seit Mitte der fünfziger Jahre wieder einzelne qualitativ hochstehende Bauten an. Ihre Entwerfer aber blieben weitgehend anonym - wie einst der Emigrant Rafael Guastavino, den kaum ein Architekturlexikon verzeichnet, obwohl seine Ziegelgewölbe im New York der Jahrhundertwende Furore machten -, bis Santiago Calatrava als erster valencianischer Architekt zu Weltberühmtheit gelangte: auch er in erster Linie Ingenieur, und auch er in der Emigration. Nun hat Valencia den Wahlzürcher heimgeholt. Einer ersten Brücke über den Río Turia folgte 1996, erneut in Verbindung mit einer Brücke, die Metrostation Alameda: Zu dem märchenhaften Weiss der Gaudíschen Trencadís-Mosaike, in die Calatrava die Halle gekleidet hat, kontrastiert das geisterbahnwürdige Geheul, sooft ein Zug in sie einfährt.

Das war lediglich das Präludium zu einer ganzen Reihe von Calatrava-Architekturen, die zurzeit in Valencia als Ciudad de las Artes y de las Ciencias Gestalt annehmen. Stanislaus von Moos hat in Zusammenhang mit diesem monumentalen Komplex auf Le Corbusiers nie zur Ausführung gelangten Palast der Sowjets hingewiesen, für den wiederum ein mögliches Vorbild Pisa - der Dreiklang Dom - Baptisterium - Campanile - war. Auch Calatrava konfiguriert drei Bauten auf einer Achse, wobei der ursprünglich projektierte 382 Meter hohe Kommunikationsturm schliesslich durch ein (auch nicht gerade kleinlich geratenes) Opernhaus ersetzt wurde. Bereits fertiggestellt ist das Mittelstück, ein Planetario genanntes Imax- Kino in Form eines Auges, das seine gläsernen Lider mit ihren Stahlwimpern über der hermetischen Halbkugel des Projektionssaals auf- und zuklappen kann. Östlich davon wächst, ungleich mächtiger, das durch seine Reihung von Stahlrippen an ein Saurierskelett erinnernde Museo de las Ciencias heran. Es soll noch vor den 1999 fälligen Lokal- und Regionalwahlen eröffnet werden.

Dieses verblüffende Ensemble biomorpher Strukturen war von Anfang an auf Wählerreflexe, auf die Sensationslust braver Konsumenten zugeschnitten: gebauter Populismus. Geplant noch unter der sozialistischen Regionalregierung, wurde es 1996 von den neuen konservativen Machthabern umgehend als grössenwahnsinnig vom Programm gestrichen, zum Entsetzen des örtlichen Baugewerbes. Wenig später konnte seine Auferstehung gefeiert werden, nur diesmal - obwohl Valencia eben seinen neuen Musikpalast eingeweiht hatte - mit einem weiteren Konzerthaus anstelle des Turmbaus. In Rekordzeit geplant und auf den bereits gelegten, eigentlich zu knapp bemessenen Fundamenten aufbauend - daher der eiförmige Aufriss mit Auskragungen von über fünfzig Metern -, dürfte dieses Auditorium zu Calatravas überspanntesten Projekten zählen: sowohl als statisches Bravourstück als auch durch die skulpturale Extravaganz der seitlichen Betonschalen, über die sich eine zweihundert Meter lange Dachzunge wölbt. Neben diesem liegenden weissen Ei nehmen sich die Werke eines Guastavino und selbst die des Katalanen Gaudí moderat aus. Eine andere Tradition, der sich Calatravas Werke als ihre postmoderne Überspitzung zuordnen lassen, ist der valencianische Rationalismus, der das Ornament nie scheute.

Der Egomane, der Calatrava zweifellos ist, hat in der «Stadt der Künste» für sämtliche nicht von eigener Hand stammenden künstlerischen Interventionen vorsorglich eine Höhenbeschränkung durchgesetzt. Erklärten Gegnern dieses Künstlerarchitekten, die ihn am ehesten noch als Brückenbauer goutieren, mag es ein Trost sein, dass zu dem Ensemble - da es im einstigen Flussbett des Río Turia liegt - auch zwei neue Brücken gehören. So wird Calatrava bald vier Übergänge über einen Fluss gebaut haben, der gar kein Fluss mehr ist und der auch früher nur ein periodisch anschwellendes Rinnsal war. 1957 verursachte er jedoch eine Katastrophe solchen Ausmasses, dass die Franco-Administration die Umleitung des Turia zur nationalen Aufgabe erklärte. Sie hinterliess Valencia ein nacktes, allmählich zu einem linearen Park ausgestaltetes Flussbett. Als Reminiszenz an die Vergangenheit sind denn auch die Wasserflächen zu verstehen, die die Calatrava- Bauten einfassen und die in den östlich daran anschliessenden Parque Oceanográfico überleiten.

Bauten am Tranvía de la Malva-rosa

Valencia ist keine zimperliche Stadt. Als Verkehrshölle hat es Weltniveau. Nun verspricht es sich von der Ciudad de las Artes - in einer an sich schon futuristisch anmutenden Umgebung aus 40geschossigen Wohntürmen und riesigen Shopping Malls - kulturellen Imagegewinn. Aber gleichzeitig verspielt es gerade seinen Ruf, das beste moderne Kunstzentrum Spaniens zu beherbergen. Das 1989 eröffnete IVAM (Instituto Valenciano de Arte Moderno) macht den Kontrast zur Grandiloquenz der Gegenwart um so schmerzlicher bewusst, als auch dieses einst ungemein präzise Projekt seit dem politischen Wechsel in provinzieller Gefälligkeit dahindämmert. Wenn irgendwo der kulturpolitische Opportunismus des heute dominierenden Partido Popular deutlich wird, dann in Valencia. Hier waren sich die Konservativen selbst dafür nicht zu schade, einen absurden Sprachstreit vom Zaun zu reissen, indem sie die valencianische Spielart des Katalanischen als eigene Sprache von diesem abzugrenzen versuchten, entgegen der Ansicht sämtlicher Linguisten - nur um Gefühle zu schüren und politisch auszuschlachten, die im Grunde ihrem auf Spaniens Einheit pochenden Credo widersprechen.

Umstritten ist auch ein weiteres urbanistisches Grossprojekt: die Verlängerung der hundert Meter breiten Avenida Blasco Ibáñez bis ans Meer. Man kann Valencia nicht begreifen ohne seine Beziehung zu seinem weitläufigen, einige Kilometer vom Stadtkern entfernten Strand. Nun sind eben die alten Vergnügungs- und Kanaillenviertel dort durch die Vollendung dieser grössten aller städtischen Achsen und mehr noch durch die in der Folge um sich greifende Spekulation bedroht. Es gibt Argumente für und wider einen solchen urbanistischen Kraftakt. Den unglücklichsten Kompromiss hat einmal mehr die Stadtregierung gefunden: die Schneise soll geschlagen, das Alte mithin zerstört werden - aber die grandiose Avenue wird nur noch halb so breit gebaut.

Parallel zu diesem «paseo de Valencia al mar» verläuft der ebenso klassische, heute zur Linie 4 der Metro aufgewertete Tranvía de la Malva-rosa. Diese Strassenbahn führt streckenweise durch unbebautes Gebiet, wenn auch nicht gerade Orangenhaine, wie sie für das Land charakteristisch sind. Dafür durchquert man in halbstündiger Fahrt zwei weitere städtische Entwicklungszonen. Zunächst den Nou Camp, ein Universitätsgelände: hier sollen unter anderem Bauten von Siza und Miralles entstehen. Jüngst fertiggestellt wurde die Bibliothek von Giorgio Grassi mit ihrer siebengeschossigen, ganz mit Bücherwänden ausgekleideten Halle: ein sehr schöner Grassi, der sich allerdings - postmoderne Unverschämtheit - mitten aus einem ihn umzingelnden, ungeschlacht gemauerten und schrecklich abweisenden Parkhaus erhebt. Am andern Ende der Linie 4 ist es der diesen Sommer eröffnete Kongresspalast von Norman Foster, der den Stadtrand prägt. Im Grundriss linsenförmig (ein clin d'œil an Calatravas Imax-Auge? Oder sollte sich vielmehr Calatrava mit seinem im Grundriss gleichfalls linsenförmigen Operentwurf für Fosters Anleihen bei seiner Reichstagkuppel revanchiert haben?), erscheint einem dieser Bau, wiewohl ein mittelmässiger Foster, nachgerade als Inbild architektonischer Vernunft: des in Valencia zuweilen vermissten Masses der Dinge.

Neue Zürcher Zeitung, Mi., 1999.03.03

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